Читать книгу Die Erbsenkönigin - Sylvia Obergfell - Страница 5
Ein hinterhältiger Arzt und eine schwere Prüfung
ОглавлениеIn dieser Nacht konnte die Königin nicht einschlafen, dabei schlummerte sie sonst immer wie ein Murmeltier. Zu viele Gedanken schossen ihr im Kopf herum. Die ganze Zeit versuchte sie sich auszumalen, was morgen wohl auf sie zukommen würde, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht.
„Da steckt bestimmt irgendeine Gaunerei dahinter!“ hatte der Koch gemutmaßt, als sie sich heute Abend verabschiedet hatten und wahrscheinlich hatte er Recht.
Die Erbsenkönigin erhob sich und tappte nervös in ihrem Zimmer im Erbsenturm umher. Sie betrachtete ihre neu entworfene weiße Bettwäsche mit hunderten kleinen Erbsen darauf, sie lies ihren Blick an der Wand entlang wandern, an der viele schön gerahmte Fotos von Erbsen, Erbsenfeldern und ihr selbst hingen. War sie verrückt? Sie trat zum Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Ihr dunkelbraunes halblanges Haar umrahmte den runden Kopf, ihre Backen hatten eine gesunde rötliche Farbe und die haselnussbraunen Augen strahlten Ruhe und Zufriedenheit aus. Sie war immer eine glückliche Frau gewesen. Nie hatte sie ihre Erbsenbesessenheit als etwas Schlimmes erlebt, im Gegenteil, ihre kleine Macke hatte ihr Leben bereichert.
„Ich werde mir von niemandem sagen lassen, was ich zu tun habe!“ sprach sie also zu ihrem Spiegelbild und nahm sich fest vor, am nächsten Tag alle Prüfungen zu bestehen. Doch schon früh am nächsten Morgen wurde die Erbsenkönigin durch eine völlig außer Atem geratene Haushälterin geweckt, die mit lautem Getöse ins Zimmer gestürmt kam und aufgeregt rief:
„Königin, Königin kommt schnell! Jemand versucht eure Erbsenfelder zu zerstören.“
Das Gesicht der Haushälterin, das ähnlich dem der Königin sehr rund war, glühte vor Aufregung, ihre erbsengrün-weiß gestreifte Schürze war wohl in aller Eile gebunden worden, denn sie hing reichlich schief. Die Königin blinzelte verschlafen, doch dann wurde ihr bewusst, was die Haushälterin soeben gesagt hatte. Mit einem großen Satz sprang sie aus dem Bett, zog sich schnell ihr Kleid von gestern Abend über und hetzte die Treppe hinunter, die Haushälterin immer dicht auf den Fersen. Sie verließen das Schloss und gingen schnellen Schrittes hinüber zu den Erbsenfeldern, die friedlich im ersten Morgenrot dazuliegen schienen. Ein paar Arbeiter waren schon auf den Beinen und sahen fassungslos dabei zu, was sich auf ihrem Feld abspielte. Ein großer, hagerer Mann mit kurzen grauen Haaren, Hakennase und abstehenden Ohren war damit beschäftigt mit einer Hacke sämtliche Erbsensprosse aus dem Boden zu entfernen. Er trug graue Stoffhosen und ein dunkelblaues Hemd. Nie zuvor hatte die Erbsenkönigin ihn gesehen, er musste von weit her angereist sein.
„Wer ist das?“ fragte sie deshalb die Arbeiter, aber diese schüttelten nur den Kopf oder zuckten mit den Schultern. Empört und wütend über soviel rohe Gewalt, die ihren geliebten Pflanzen angetan wurde, rief die Königin laut:
„Hallo Sie da, würden Sie es freundlicherweise unterlassen meine Pflanzen zu zerstören!“
Doch der Fremde reagierte überhaupt nicht auf ihre Worte, im Gegenteil er setzte seine Arbeit seelenruhig fort.
„Vielleicht hat er Euch nicht verstanden.“
Die Haushälterin trat unruhig von einem Bein auf das andere, denn sie wusste, dass die Erbsenkönigin kurz vor einer Explosion stand. Noch aber konnte diese sich beherrschen. Sie schritt vorsichtig durch das Feld auf den seltsamen Eindringling zu. Direkt vor ihm blieb sie stehen, packte entschlossen den Arm, mit dem er die Hacke führte und wiederholte ihre Worte. Der Fremde sah auf. Er hatte durchdringende blaue Augen, die gar nicht so recht zum Rest seines Körpers zu passen schienen.
„Lassen Sie meinen Arm los!“ befahl er, unbeeindruckt von den Worten der Königin. Die Königin jedoch war von seinen Worten so überrumpelt, dass sie ihnen tatsächlich Folge leistete. Augenblicklich setzte der Fremde sein Tun fort, gerade so, als gäbe es die Königin nicht. Das war zu viel. Diesmal ließ sich die Erbsenkönigin nicht so einfach abwimmeln. Sie machte einen Schritt nach vorne, entriss dem Mann die Hacke und stieß ihn zur Seite. Er taumelte leicht, fing sich aber gleich wieder, auf seinem Gesicht erschien ein entrüsteter Ausdruck.
„Also ich muss schon sagen“, empörte er sich, „Ist das eine Art miteinander umzugehen?“
Die Königin hielt, ohne auf seine Worte einzugehen, die Hacke mit eisernem Griff, nicht dass er auf die Idee kam, sie ihr wieder wegzunehmen.
„Wie kommen Sie dazu meine Felder zu zerstören?“ fragte sie, noch immer wütend.
Plötzlich zog der seltsame Mann einen kleinen Block und einen Stift aus seiner Hemdtasche. Er schlug den Block auf und kritzelte etwas darauf, dann sah er wieder die Königin an. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den die Königin nicht deuten konnte.
„Ich habe genug gesehen“, behauptete er.
Mit diesen Worten ließ er die verdutzte Königin stehen, verließ das Feld und wandte sich Richtung Schloss. Da kam endlich auch wieder Bewegung in die Königin, sie folgte dem seltsamen Mann, auch die Haushälterin schloss sich ihnen an. In der Eingangshalle trafen sie auf die drei schlauen Herren und den Koch, der noch ein wenig verschlafen wirkte. Der Fremde wandte sich sofort an die drei schlauen Herren und begrüßte sie herzlich. Der Königin schwante böses.
„Was ist hier eigentlich los?“ fragte sie scharf.
„Königin“, sprach der Dicke der drei Herren, „das ist Dr. Nerv. Ich glaube Ihr habt schon seine Bekanntschaft gemacht.“
Er grinste schadenfroh. Die Erbsenkönigin spannte sich und blickte den Arzt böse an. Sie hatte doch nichts Falsches getan, sie hatte nur versucht ihr Eigentum zu beschützen.
„Ich stelle fest“, bilanzierte Dr. Nerv und blickte dabei auf seinen Zettel. „Unkontrollierte Wutanfälle, extreme Verlustangst und unnatürliche Hingabe an ein Gewächs!“
„Aber…“, begann die Haushälterin, doch die Erbsenkönigin unterbrach ihren Protest, indem sie sanft die Hand auf ihren Arm legte.
Sie wusste, dass die drei schlauen Herren und der Arzt sich gegen sie verschworen hatten und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, bei diesen Tests nur verlieren zu können, dennoch wollte sie noch nicht aufgeben.
„Vielleicht habt Ihr ja auch eine Prüfung die ich bestehen kann und über die ich vorher Bescheid weiß oder habt Ihr Angst, es könnte schlecht für Euch ausgehen?“
Herausfordernd blickte sie Dr. Nerv an, doch dieser ließ sich so einfach nicht aus der Ruhe bringen.
„Aber sicher Königin. Folgt mir in den Speisesaal.“
Sie stiegen die Treppe hinauf zum Speisezimmer, vor der Tür blieb Dr. Nerv stehen und bat die anderen Anwesenden draußen zu warten. Er stieß die Tür auf und bedeutete der Königin einzutreten. Ein himmlischer Geruch von frischen Erbsen stieg der Königin in die Nase, auf dem Tisch stand eine Schale mit ihrer Leibspeise.
„Nun Königin“, sprach Dr. Nerv, „Ihr müsst eine Stunde in diesem Raum bleiben, ohne diese Schale mit köstlichen Erbsen anzurühren.“
Mit den Worten des Arztes begann auf einmal der Magen der Erbsenkönigin laut zu knurren, denn sie hatte ja noch nicht einmal gefrühstückt. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, aber sie durfte jetzt nicht schwach werden. Schnell trat sie durch den Raum hinüber zum Fenster, um dem himmlischen Geruch zu entgehen. Um das Schloss herum herrschte wie immer geschäftiges Treiben. Arbeiter, Händler oder von weit her angereiste Besucher waren auf den Wegen rund um das Schloss unterwegs. Die Erbsenkönigin beobachtete zwei Frauen mit geflochtenen Körben, die ganz in ihr Gespräch vertieft schienen, doch da waberte schon wieder der Duft der frischen Erbsen in ihre Nase. Mit einer hastigen Bewegung riss sie das Fenster auf, um den Geruch zu vertreiben, aber es war schon zu spät. Ihr Magen meldete sich wieder und die Vorstellung von Erbsengeschmack in ihrem Mund ließ sie schwach werden, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte stark zu bleiben. Aber sie war nun mal die Erbsenkönigin, wie hätte sie da jemals einer Schüssel Erbsen widerstehen können? Bevor sie richtig wusste wie ihr geschah, hatte sie die Schale leer gegessen. Wie köstlich das schmeckte und auch ihr Magen war endlich zufrieden, trotzdem fühlte sich die Erbsenkönigin schuldig, als sie auf die leere Schüssel starrte. Sie hatte keine zehn Minuten durchgehalten! Dr. Nerv nahm inzwischen seinen Zettel aus der Tasche und machte sich Notizen.
„Zwanghafte Nahrungsaufnahme“, stellte er fest, als sie wieder bei den anderen vor der Tür standen.
Die drei schlauen Herren lächelten zufrieden, der Koch und die Haushälterin blickten fragend drein. Die Erbsenkönigin war zornig und enttäuscht, sie konnte nicht verhindern, dass ein paar große Tränen über ihre Wange kullerten.
„Tiefe Depression“, bescheinigte ihr Dr. Nerv und fügte an, er habe nun genug gesehen. „Ihr solltet Euch in Behandlung begeben!“ riet er der Königin zum Abschluss.
Die Königin fand keine Worte mehr. Traurig stieg sie die Treppe hinauf in den Erbsenturm um ihre Sachen zu packen, denn sie wusste, dass sie vorerst verloren hatte. Ihr blieb nichts anderes mehr übrig, als mit ihrem Koch und der Haushälterin in eine kleine, ärmliche Hütte zu ziehen. Von nun an gab es keine Erbsengerichte mehr im Schloss und auch keine lustigen Feste. Die drei schlauen Herren ließen alle Erbsenmöbel in den Keller tragen, alle Erbsenbilder von den Wänden abhängen und sie kauften dafür neue, teure Möbel. Auf dem Feld hinter dem Schloss wurden keine Erbsen mehr angebaut, denn die Drei ließen dort Tennisplätze errichten, um ihrem Lieblingssport nachgehen zu können. Fremde Besucher kamen nur noch selten, denn die drei schlauen Herren luden nur noch wichtige Staatsoberhäupter ein, außerdem hatte niemand mehr eine Freude daran, dass Schloss aufzusuchen. Die Erbsenkönigin saß derweil mit ihren zwei treuen Angestellten in ihrer Hütte. Der Koch und die Haushälterin machten trübe Gesichter, sie schimpften und meckerten über die drei schlauen Herren.