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1. Großvaters Geschichte

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Die dunkle Staubwolke am Horizont verkündete unheilvolles. Hunderte Hufe stampften durch den Staub der weiten Ebene, wirbelten ihn durcheinander, so stark, dass sich ein dunkler Film über die Sonne legte und hinterließen tiefe Abdrücke in dem weichen Boden. Sie waren noch weit entfernt und so konnte Laya sie vom obersten Turm der Stadtmauer beobachten, ohne Angst haben zu müssen. In einigen Tagen würden sie hier sein und dann würde sich Laya mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und allen Frauen, Kindern, Alten und Kranken in den unterirdischen Gewölben der Stadt verbergen, während die Männer draußen um ihr Leben kämpften. Nach einiger Zeit würden sie dann wieder abziehen, nachdem sehr viele Männer getötet worden waren oder sie... nein, diesen Gedanken wollte Laya nicht zu Ende denken, denn bisher war es den wilden Reitern noch nie gelungen in die Stadt einzudringen.

Der Horizont war jetzt zum Stillstand gekommen, die Sonne warf glitzernde Lichter auf den noch immer aufgewühlten Boden und auch wenn man sie nicht mehr sehen konnte, spürte Laya die Gefahr, die hinter den flachen Sandhügeln lauerte. Die Barbonier oder wilden Kerle, wie sie im Volksmund genannt wurden, waren schreckliche Menschen: Sie überfielen Städte, plünderten, raubten, töteten alle Männer und verschleppten die Frauen und Kinder als Sklaven in ihr Heimatland. Sie hatten wilde Haare, lange Bärte, wuschen sich nie und sollten sogar ihre eigenen Kinder verspeisen. Sie lebten in Höhlen im Dreck, konnten nicht lesen und auch nicht schreiben und das Beste wäre, man würde sie in ein großes Loch werfen und haufenweise Erde darüber schütten. Das sagte zumindest der Stadtrat Hiaundu, der schon zwei Söhne an die wilden Kerle verloren hatte. Der Staub am Horizont legte sich nun wie ein Schleier wieder auf die Erde und man konnte das gewöhnliche Hitzeflimmern der Sonne sehen.

„He Laya, du gehst besser nach unten, wenn die Barbonier angreifen hast du hier nichts verloren!“ hörte Laya hinter sich die Stimme des Wachmannes Greb, dem sie es zu verdanken hatte, diese aufregenden Momente auf dem Turm erleben zu dürfen. Sie sprang mit einem großen Satz alle Treppen auf einmal hinab und stand Greb auf der Mauerbrüstung gegenüber. Er wirkte gewaltig in seiner Uniform mit dem goldenen Stadtwappen und seinem Gewehr in der Hand, aber sein Gesicht sah schmal, müde und traurig aus und verriet so das Gegenteil.

„Warum greifen sie an?“ fragte sie ihn und erntete einen verständnislosen Blick, denn mit dieser Frage hatte Greb wohl nicht gerechnet. Schon lange Zeit hatte niemand mehr nach dem Warum gefragt.

„Wie meinst du das?“ rettete sich Greb in eine Gegenfrage, weil er offenbar nicht wusste, was er antworten sollte.

„Warum greifen sie an?“ wiederholte Laya ihre Frage und machte dabei einige Schritte in Richtung der Treppe, die nach unten führte.

„Es sind die wilden Kerle“, antwortete Greb, als wäre das Erklärung genug.

„Das weiß ich doch!“ rief Laya ungeduldig, „Ich meine was haben wir ihnen getan?“

Darauf wusste auch Greb keine Antwort, zuckte mit den Schultern und setzte seinen Rundgang fort, um das unangenehme Gespräch zu beenden. Es war schon immer so. Seit Laya denken konnte, waren die Eronier und die Barbonier miteinander verfeindet und sie mussten sich verstecken und um ihr Leben fürchten, sobald die Staubwolken am Horizont auftauchten und solange sie sich erinnern konnte waren junge Eronier ausgezogen, um dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Früher hatte der Großvater ihr Geschichten erzählt, von einer Zeit in der mal Frieden geherrscht haben sollte in diesem Land, aber das war schon so lange her, dass sich nur noch der Großvater ihres Großvaters daran erinnerte.

„Was ist Frieden?“ hatte sie damals gefragt.

Schnell lief Laya die schmalen Stufen hinunter und wurde sofort von einer Woge des Stadtlärms empfangen. Die Stadt war laut und überfüllt. Überall tummelten sich die Menschen, die aus dem ganzen Land geflohen waren, um in einer der letzten sicheren Städte Unterschlupf zu finden. Die Stadtbewohner hatten alle freundlich aufgenommen, aber die Zimmer waren so überfüllt, dass viele auf der Straße leben mussten, das Essen wurde knapp, weil es auf dem Land nur noch wenige Bauern gab und die vielen Verwundeten konnten von den wenigen Ärzten nicht ausreichend versorgt werden. Jetzt lag eine düstere Stimmung über der Stadt, alles rannte kreuz und quer durcheinander, Mütter schrien, Kinder weinten, Soldaten brüllten und die Männer versuchten sich gegenseitig Mut zuzusprechen. Laya drängelte sich durch eine Gruppe Frauen, die gerade dabei war, sich um die letzten Brote zu streiten, denn man konnte ja nie wissen, wie lange der Kampf dauern würde, umging ein provisorisches Zelt, das irgendjemand dort aufgebaut hatte und rammte einige Soldaten, die einen Verletzten auf einer Trage transportierten.

„Kinder sollten in diesen Zeiten lieber zuhause bleiben!“ rief der eine ihr grimmig zu, schüttelte die Faust und verlor dabei beinahe die Trage aus seiner anderen Hand. Laya streckte ihm die Zunge heraus und rannte schnell davon. Sie kam jetzt in eine schmale Gasse, in der der Menschenschwarm merklich nachließ und atmete erleichtert aus. Die Häuser strahlten Dunkelheit und Kälte aus, obwohl sie voller Menschen waren und Laya lief schnell bis zur vertrauten Eichenholztür mit dem Löwenkopf als Klopfer. Sie klopfte dreimal und fragte sich, warum die Menschen ihre Türen nicht einfach offen ließen. Fast konnte man meinen, sie hätten mehr Angst vor sich selbst, als vor den wilden Kerlen, aber in diesen Tagen waren natürlich auch viele Plünderer und Diebe unterwegs. Hinter der Tür näherten sich hastige Schritte und ein schmales, aber sehr hübsches Gesicht mit tiefen schwarzen Augen, feinen Wimpern und einem vollen roten Mund sah heraus. Sofort lag ein Vorwurf auf dem Gesicht ihrer Schwester, während sie die Tür ganz öffnete und Laya eintreten ließ. Obwohl ihre Schwester nur drei Jahre älter als Laya, mit ihren siebzehn fast selbst noch ein Kind war, war sie diejenige, die sich zuhause um alles kümmerte. Sie bemühte sich um die Kleinen, besorgte das Essen, wusch und putzte, tröstete ihre Mutter, die nicht mehr imstande war für ihre Kinder zu sorgen, seit sich ihr ältester Sohn sich entschlossen hatte in den Krieg zu ziehen und sie war trotzdem immer hübsch und voller Leben. Sie hatte eine zierliche Figur, lange schwarze Haare und die Männer der Stadt liefen ihr reihenweise hinterher, weshalb es ihr auch nicht schwer fiel immer an die besten Lebensmittel, Kleider und Schuhe zu gelangen. Laya war immer im Schatten ihrer Schwester gestanden, auch früher schon. Ihr Gesicht war weder zart noch schön, hatte buschige schwarze Brauen und eine kleine Stupsnase, ihr Haar war dunkelbraun bis schwarz und fiel wild um ihre Schultern, nie wäre ihm eingefallen so schön glatt und gewellt wie bei ihrer Schwester herunter zu wogen und ihre Figur war zu knochig. Aber das war nicht das Einzige, was sie von Shaina unterschied. Sie waren zwei gänzlich unterschiedliche Menschen. Shaina war immer der Liebling der Familie gewesen, schon als Kind war sie perfekt, hatte immer alles richtig gemacht, nie etwas angestellt, nie eine Regel gebrochen, während Laya dauernd in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte und ständig gegen die Autorität der Eltern rebellierte. Laya folgte ihrer Schwester hinüber zu einer weiteren Tür, die ins Erdgeschoss führte, im Obergeschoss wohnten schon längst andere Leute, Flüchtlinge, die Schreckliches hinter sich hatten. Sie betraten die große Wohnküche, in der ein Herd, ein großer Holztisch mit Stühlen, ein alter dunkler Schrank und ein abgenutztes Sofa standen. Ein flauschiger Teppich bedeckte den Boden, auf dem der kleine Per saß und mit ein paar Klötzen spielte. Shaina sagte nichts, sondern wandte sich dem Herd zu und rührte in einem Topf, aber Laya kannte den stummen Vorwurf in ihrem Blick: Warum bist du nicht hier, um mir zu helfen? Sie gab ihrem zweijährigen Bruder einen Kuss, setzte sich auf einen der Stühle und sah ihrer Schwester eine Weile zu.

„Es werden immer mehr Menschen, die draußen auf der Straße leben müssen.“

Laya hatte diese Bemerkung eigentlich nur so dahin gesagt, aber Shaina fuhr herum und fühlte sich sofort angegriffen.

„Unsere Mutter braucht Ruhe und keine Horde Menschen, die hier alles durcheinander bringt!“

Sie hatte durch ihre vielen Beziehungen dafür gesorgt, dass in ihrem Haus nur der obere Stock mit Flüchtlingen besetzt wurde.

„Sie ist nicht die Einzige, die Schreckliches erlebt hat! Überhaupt hat sie noch gar nichts richtig Schreckliches erlebt!“ Kaum ausgesprochen taten Laya ihre Worte schon wieder leid. Sie schaffte es einfach nicht, sich mit ihrer Schwester zu unterhalten, ohne einen Streit anzufangen. Shainas Augen funkelten vor Zorn, aber sie ließ sich nicht dazu hinreißen zu schreien oder auszurasten, sondern sie sagte ganz ruhig:

„Deine Mutter hat ihren Mann verloren und sie weiß nicht wo ihr Sohn ist, also nimm etwas Rücksicht.“ Sie drehte sich wieder zum Herd um und Laya erhob sich, um den Raum zu verlassen, denn länger hielt sie es hier nicht aus. Die Wohnküche führte zu einem schmalen Gang, von dem aus man das Zimmer ihrer Mutter, das Zimmer ihrer Geschwister und das Zimmer, das sie sich mit Shaina teilte, erreichen konnte. Sie öffnete die Tür zum Zimmer ihrer Mutter, das sehr klein war und nur ein winziges Fenster besaß, bei dem auch noch die Vorhänge zugezogen waren. Es gab ein Bett, einen Schrank und einen Sessel, in dem ihre Mutter saß, zugedeckt mit einer Wolldecke. Tagein, tagaus saß sie da und starrte vor sich hin, ihr Gesicht war eingefallen, die Haut welk und im Haar zeigten sich die ersten grauen Strähnen. Sie sah nicht aus wie eine Frau Ende vierzig.

„Hallo, Mama.“ Laya gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich nebenan auf das Bett. Ihre Mutter regte sich nicht, die Stille lastete schwer und Laya hatte wie immer, wenn sie zuhause war, das Gefühl zu ersticken.

„Es ist sehr viel los draußen, so viele Leute habe ich noch nie gesehen. Und auf dem Turm war ich oben und habe aus der Stadt gesehen. Ich weiß, du und Shaina ihr seid dagegen, dass ich dort hinauf gehe, aber es ist der einzige Ort, an dem man etwas Ruhe haben kann.“

Immer noch blieben das Gesicht und der Körper ihrer Mutter regungslos und Laya hätte gerne geschrien, ihre Mutter angebrüllt, sie solle etwas sagen, aber ihr Mund wollte nicht und sie fühlte sich leer und hilflos.

„Die wilden Kerle sind da, ich habe sie gesehen. Es wird nicht lange dauern und sie werden angreifen!“ Laya wusste, dass ihre Schwester ihr streng verboten hatte, über dieses Thema zu ihrer Mutter zu sprechen, aber es waren die einzigen Worte, die eine Reaktion auslösen konnten. Ein Zittern lief durch den Körper ihrer Mutter und ihr blasses Gesicht wurde noch fahler. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber wieder und rang plötzlich nach Atem. Sie begann zu wimmern und plötzlich stand Shaina im Zimmer. Sie hielt einen Teller mit dampfender Suppe in der Hand, sah aber sofort, was passiert war und stellte ihn achtlos zur Seite. Mit zwei Schritten war sie bei ihrer Mutter, nahm ihre Hände und redete beruhigend auf sie ein, aber ihre Mutter wollte sich nicht so schnell beruhigen. Sie umklammerte Shainas Handgelenke und murmelte unverständliche Wörter vor sich hin, dann begann auf einmal ihr Körper zu zucken, sie riss ihre Augen weit auf und fiel dann gänzlich in sich zusammen. Shaina streichelte ihren Arm und ihre Wangen und allmählich kehrte ihre Mutter wieder in den alten Zustand zurück. Laya saß atemlos da und war unfähig sich zu rühren. Der Blick, den ihre Schwester ihr zuwarf, löste sofort heftige Schuldgefühle bei ihr aus. Was hatte sie da bloß getan. Ihre Schwester war nicht diejenige, die schrie oder schimpfte oder gewalttätig wurde, aber sie brauchte Laya nur anzusehen und schon fühlte sich diese, wie der schlechteste Mensch auf der Welt. Laya hielt es nicht länger aus, sie sprang ruckartig auf und flüchtete nach draußen. Sie stürmte durch die Wohnküche und hielt erst im Vorraum inne. Sie überlegte einen Augenblick, dann stieg sie die Treppe in den oberen Stock hinauf, denn hinaus in diese überfüllte Stadt wollte sie auf keinen Fall und für den Turm war es jetzt zu spät, außerdem konnte sie dort oben mit dem Menschen reden, der ihr am meisten bedeutete. Laute Stimmen drangen aus den einzelnen Zimmern, die Leute saßen überall, sogar im Gang, schliefen, spielten oder unterhielten sich. In der provisorischen Küche versuchten einige Frauen etwas zu kochen, es stank fürchterlich, denn sie besaßen nur einen alten Holzofen. Die allgemeine Aufgeregtheit war auch hier zu spüren, ohne Zweifel hatte sich die Nachricht von der Ankunft der wilden Kerle wie ein Lauffeuer verbreitet. Laya drängte sich rücksichtslos durch die vielen Menschen, trat dabei auf Füße, Beine, Hände und Arme und erreichte schließlich das letzte Zimmer, in dem es ein klein wenig ruhiger zuging. Es war ein kleiner Raum mit einer Fensternische. Es gab zwei Betten, auf dem Boden waren zudem Matten und Decken ausgelegt und ganz hinten stand ein alter Sessel, in dem ein noch älterer Mann mit schlohweißen Haaren, verrunzeltem Gesicht und gebücktem Rücken saß. Trotz seines Alters waren seine Augen wach und lebhaft und sein Geist ungebrochen. Laya musste lächeln, als sie ihren Großvater sah und mit zwei großen Schritten war sie bei ihm. Shaina hatte hunderte Male versucht ihren Großvater zu überreden nach unten zu ziehen, damit er seine Ruhe hatte, aber er hatte immer abgelehnt.

„Er ist genau so stur wie du!“ pflegte ihre Schwester immer zu sagen.

Laya und ihr Großvater waren seelenverwandte, da war sie sich ganz sicher, denn er war der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete. Er wusste immer einen Rat, konnte gut zuhören und erzählte die spannendsten Geschichten, denn er war als junger Mann viel durch die Welt gereist.

„Du bist genau wie dein Großvater!“ hatte ihre Mutter ihr früher immer vorgeworfen.

Laya stand nun direkt vor dem Sessel und begrüßte ihn. Der alte Mann nahm ihre Hand und tätschelte sie.

„Mein Mädchen, komm setzt dich zu mir!“

Laya machte es sich auf der breiten Armlehne bequem. Ihr Großvater sah sie forschend an und wusste sogleich, dass etwas passiert war.

„Ihr habt euch wieder gestritten!“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, aber Laya nickte trotzdem und seufzte.

„Ich glaube Shaina und ich passen einfach nicht zusammen und mit Mutter wird es immer schlimmer. Ich habe eine solche Wut auf sie, ich möchte sie anschreien und schütteln, dabei sollte ich mich um sie kümmern und nett zu ihr sein.“

Ihr Großvater sah eine Weile zwei Kindern zu, die versuchten sich aus Decken und Stühlen eine Höhle zu bauen.

„Die Zeiten sind schwer. Es geht nicht nur dir so. Ich glaube wir alle möchten gern schreien und irgendjemanden schütteln.“

Er drehte den Kopf und sein Blick schien in weite Fernen zu schweifen.

„Ich habe kein gutes Gefühl“, murmelte er, „Nein diesmal wird es nicht gut gehen, die Zeiten sind zu düster!“

Laya rutschte unruhig auf der Lehne umher. So hatte sie ihren Großvater noch nie reden hören, er hatte den Leuten immer Mut gemacht, hatte ihr immer versprochen, dass es anders werden würde.

„Aber Großvater...“

Der alte Mann hob die Hand und Laya verstummte.

„Ich weiß, es wird nicht aufzuhalten sein, aber du musst dich vorsehen mein Kind. Du musst dich verstecken, lass dich nicht gefangen nehmen, sonst bist du verloren!“

Laya starrte ihren Großvater an. Bisher war der alte Mann immer klar bei Verstand gewesen, konnte es sein, dass sein Verstand langsam nicht mehr funktionierte?

„Großvater?“, fragte sie, „Was redest du denn da? Es wird nichts passieren!“

Wieder starrte der Großvater eine Zeitlang vor sich hin, dann begann er ruhig und klar zu sprechen.

„Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Hör mir gut zu, es ist eine wichtige Geschichte. Vor vielen Jahren, zu der Zeit als mein Großvater noch ein kleiner Junge war, gab es einen Mann namens Caleb. Er war ein Geschichtenschreiber und hatte viel über die Geschichte unseres Volkes aufgeschrieben. Aber zu dieser Zeit brach der Krieg aus und damit dem Feind keine Informationen in die Hände fielen, wurde beschlossen alle Bücher zu verbrennen, die irgendetwas über die Eronier verrieten. Alle waren damit einverstanden, nur Caleb nicht. „Wir können nicht unsere gesamte Geschichte auslöschen!“ rief er, aber die anderen wollten es nicht hören und versuchten, ihn dazu zu zwingen, seine Bücher herzugeben.“

Der Großvater wurde von einem Hustenanfall unterbrochen und Laya fragte sich, was an dieser Geschichte so wichtig sein sollte, hörte aber weiterhin gespannt zu.

„Caleb gelang es eines dieser Bücher zu verstecken, in dem fast die ganze Geschichte unseres Volkes niedergeschrieben war, aber bald wurde ihm die Sache zu gefährlich, denn die Stadträte ließen ihn ausspionieren. So flüchtete er eines Nachts mit dem Buch und reiste durch viele Länder, um einen Ort zu suchen, an dem er es sicher verwahren konnte.“

„Hat er diesen Ort gefunden?“ wollte Laya wissen, aber ihr Großvater schüttelte den Kopf.

„Man erzählt sich, dass er bis nach Seeburg gelangt ist, ein prächtiges Schloss auf dem die Herrscher des Seenlandes leben, aber sicher weiß es niemand.“

Eine Weile war es still, dann fragte Laya: „Warum erzählst du mir diese Geschichte?“

Ihr Großvater nahm ihre beiden Hände und sah sie fest an.

„ Dieses Buch ist das letzte, in dem unsere Geschichte steht. Heute haben die Leute vergessen, dass es auch mal bessere Zeiten gab. Aber in diesem Buch steht alles! Das darfst du nie vergessen! Was auch passiert, denk immer daran, dass unser Volk eine Geschichte hat!“

Laya wurde es etwas zu viel der Belehrungen, sie wollte auf andere Gedanken kommen.

„Erzähl mir etwas über diese Seeburg!“ forderte sie, doch ihr Großvater schüttelte den Kopf.

„Ein andermal. Lass mich ein wenig ausruhen und mach dir keine Sorgen. Alles wird gut werden.“

Er schloss die Augen und Laya erhob sich, um nach unten zu gehen. Sie drängelte sich durch die Menschen, verließ die Wohnung und lief die Treppen hinunter. In der Küche war niemand mehr, nur der Topf der das Abendessen enthalten hatte, stand einsam auf dem Herd. Die Suppe war schon kalt, trotzdem nahm sich Laya einen Teller, denn in diesen Zeiten musste man jede Nahrung, die man kriegen konnte zu sich nehmen. Wahrscheinlich bekam sie einige Tage nichts Warmes mehr zu essen, da machte es nichts, wenn sie sich jetzt schon mal daran gewöhnte. Sie setzte sich an den Tisch und dachte über die Worte ihres Großvaters nach, während sie ihre Suppe löffelte. Vielleicht wurde er wirklich langsam etwas verrückt, aber hatte sie es nicht selber gespürt? Wenn man durch diese Stadt lief, konnte man es überall spüren: Die Menschen waren verzweifelt! Nach so vielen Jahren Krieg schien niemand auch nur einen Funken Hoffnung zu besitzen, das war es, was sie gespürt hatte, als sie durch die Straßen gegangen war. Laya hatte den letzten Löffel verschlungen, stellte den Teller zur Seite und ging hinüber zu ihrem Zimmer. Sie fand es schön so viel Platz und Ruhe zu haben, auch wenn sie wusste, dass es egoistisch war. Es würde für einige Zeit die letzte Nacht sein, die sie in ihrem Bett verbringen würde. Die Leute hatten sich daran gewöhnt mit dem Rhythmus der Angriffe zu leben. Sah man die wilden Kerle am Horizont auftauchen, wusste man, dass man noch einen Tag und eine Nacht Zeit hatte. Am darauffolgenden Tag wurden die Vorbereitungen getroffen und am Abend ging es dann hinunter in die Keller und Gewölbe unter der Stadt. Shaina war auch schon im Bett und las in einem Buch. Laya mochte keine Bücher, denn ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass darin ausschließlich von den Heldentaten der Soldaten berichtet wurde. Es gab auch verbotene Bücher, aber es war zu gefährlich sie zu lesen, außerdem war es sehr teuer sie zu bekommen. Laya hätte gerne das Buch gelesen, welches ihr Großvater in seiner Geschichte erwähnt hatte, denn schon immer hatte sie es interessiert, wie es in einer Zeit ohne Krieg zugegangen war.

„Hallo“, begrüßte sie ihre Schwester, „Was liest du da?“

Shaina sah nicht auf, gab keine Antwort und reagierte auch sonst nicht, wahrscheinlich hatte sie beschlossen ihre Schwester mit Nichtachtung zu strafen. Laya schlüpfte aus ihren Kleider, die wie immer staubig waren, wie alles in dieser Stadt und zog sich ein Baumwollhemd zum Schlafen über, dann bürstete sie ihre Haare, obwohl es nicht viel Sinn hatte und wusch sich mit Wasser aus einer Schüssel neben ihrem Bett, denn das Badezimmer war eigentlich im oberen Stockwerk. Unter der Decke war es kuschelig warm und sehr bequem. Laya blickte hinüber zu Shaina, die so tat, als würde sie sich voll auf ihr Buch konzentrieren, aber in Wirklichkeit genau beobachtete, was ihre Schwester tat.

„Großvater hat mir eine interessante Geschichte erzählt, aber ich nehme nicht an, dass du sie hören willst.“

Wieder kam keine Antwort von Shaina, sie schlug ihr Buch zu, löschte die Lampe und drehte sich zur Wand, um zu schlafen. Laya seufzte, legte sich auf den Rücken und blickte zur Decke. Durch das kleine Fenster fielen winzige Lichtpunkte von draußen herein und malten ein schönes Muster. Laya stellte sich vor, wie die Seeburg aussehen könnte, die ihr Großvater erwähnt hatte.

„Ein prächtiges Schloss“, hatte er gesagt. Bestimmt war sie riesig, hatte vier große Türme und viele kleine Türmchen, außerdem gab es einen wundervollen Garten mit Blumen in allen Farben und großen alten Bäumen. Die Zimmer waren alle groß und mit den schönsten Möbeln eingerichtet, die Krönung war ein riesiger Saal mit langem Tisch und einer Tanzfläche, in dem tolle Feste gefeiert wurden, mit leckerem Essen, Musik und Tanz. Zu Füßen der Burg lag der See, der silbern glitzerte und außen herum gab es kleine Häuser, die nicht so eng nebeneinander gebaut waren, sondern weit voneinander entfernt. Laya fragte sich, ob ihr Großvater diese Seeburg schon einmal gesehen hatte, denn er hatte als junger Mann als Botschafter gearbeitet und war viel in andere Länder gereist. Ihre Mutter hatte immer böse behauptet, dass er das nur getan hatte, um nicht als Soldat in den Krieg ziehen zu müssen. Immer hatte ihr Großvater versucht seinen Sohn auch dafür zu begeistern, aber Layas Vater war wild entschlossen gewesen dem Treiben der wilden Kerle ein Ende zu setzten. Alles was von ihm wieder nach Hause kam, war sein Amulett, das er immer getragen hatte und das er, als er im Sterben lag, einem Kameraden mitgegeben hatte. Jetzt schmückte dieses Amulett den Hals seines ältesten Sohnes und Laya wartete jeden Tag darauf, dass es zurückkommen würde, ohne ihren Bruder.

„Rache ist ein schlechtes Gefühl“, hatte ihr Großvater ihr immer gesagt, „Man zerstört nicht den, den man hasst, sondern sich selbst.“

Auf der Seeburg gab es nach Layas Vorstellungen keinen Hass, sondern nur Freude und Liebe. Die Menschen dort waren fröhlich bunt angezogen und die Zimmer waren mit bunten Bildern und Tüchern geschmückt.

„Einmal im Leben“, dachte sie, „Einmal im Leben möchte ich dorthin reisen und mir alles ansehen und dann möchte ich dort wohnen und nie mehr in meinem Leben Angst haben müssen.“

Sogar ihrer Mutter würde es dort gefallen, sie würde wieder fröhlich reden und lachen, ganz wie früher. Noch konnte Laya nicht wissen, dass sie tatsächlich eines Tages die Seeburg sehen sollte und dass vieles anders war, als in ihren Träumen, aber mit diesen Gedanken konnte sie glücklich und zufrieden einschlafen

Schattenzeit

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