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Kapitel 3
ОглавлениеVon diesem Tag an ging Misha jeden Tag in die Fußgängerzone und spielte. Er bekam richtig Spaß daran und machte eine neue Entdeckung: Er konnte sein Spiel mit seinen Gedanken beeinflussen. Wollte er etwas Trauriges hören, spielte er etwas trauriges, hatte er Lust auf etwas fröhliches, erklang ein fröhliches Lied. Er bekam immer viel Geld, so dass er sich genügend zu essen und zu trinken kaufen konnte und sein Vater meistens zufrieden war. Ans Stehlen dachte er schon gar nicht mehr, denn erstens hatte er keine Zeit mehr dazu und zweitens war er nicht mehr darauf angewiesen. Der Rummel war inzwischen weitergezogen, aber Misha verbot sich selbst über die Märchenfrau nachzudenken. Er ging jetzt öfters ins Café, denn dort gefiel es ihm richtig gut und inzwischen hatte sich sogar die Frau hinter der Theke an ihn gewöhnt. Außer Misha gab es noch eine Frau, die fast jeden Tag da war, einen Kaffee trank und die Leute beobachtete. Sie war mittleren Alters, hatte halblange, blonde Haare, ein schmales Gesicht, aber einen beleibten Körper und trug einen Pelzmantel. Eines Tages kam sie zu Misha herüber und sagte: „Ich habe dich spielen hören, du kannst es wirklich gut.“
Misha, der etwas scheu gegenüber Fremden war, sagte nichts, sondern sah sie abwartend an. Sie sah edel aus in ihrem Pelzmantel.
„Gefällt er dir?“ wollte sie wissen, wohl seinen Blick deutend.
Sie trug einen grell rosa Lippenstift und ihre Augen waren schwarz umrandet. Misha sagte immer noch nichts, denn eigentlich wollte er in Ruhe gelassen werden, aber die Frau gab nicht so schnell auf.
„Er ist aber nicht echt“, plapperte sie weiter und lachte, als hätte sie etwas Witziges gesagt, dann wurde sie wieder ernst. „Mein Name ist Valerie. Valerie Tsanovka“, stellte sie sich vor, „Ich arbeite in einer Musikschule und habe dich spielen hören. Wer hat dir das beigebracht?“
Misha war eigentlich nicht bereit etwas von seiner Flöte zu erzählen, weil er um sein Geheimnis fürchtete, aber schließlich sagte er, wohl auch weil er ein bisschen angeben wollte: „Ich mir selber.“
Valerie sah ihn an, als glaube sie ihm nicht, aber das war ihm gleichgültig, er wollte dass sie ging.
„Weißt du was eine Musikschule ist?“ fragte sie plötzlich.
Misha schüttelte den Kopf.
„Dort bekommen Kinder Musikunterricht. Sie lernen ein Instrument zu spielen und manche von ihnen werden große Musiker und geben Konzerte vor Hunderten von Leuten“, erklärte sie.
Misha verstand nicht so recht, was das mit ihm zu tun hatte.
„Wir suchen immer talentierte Kinder und ich denke du bist eines. Vielleicht hast du mal Lust bei uns zu spielen“, fuhr Valerie fort.
„Nein ich spiele auf der Straße“, entgegnete Misha, der auf keinen Fall wollte, dass jemand herausfand, dass er gar nicht spielen konnte.
„Aber du könntest damit noch sehr viel mehr Geld verdienen“, warf Valerie ein, „du könntest von der Straße wegkommen.“
Es störte Misha, dass jeder gleich annahm er würde auf der Straße leben, deshalb sagte er böse: „Ich lebe nicht auf der Straße, ich lebe bei meinem Vater.“
„Ok, ok.“ Valerie hob beruhigend die Hände, „Ich will dich nicht drängen. Hier ist meine Karte mit meinem Namen und der Adresse der Schule. Vielleicht überlegst du es dir ja noch, dann komm einfach vorbei.“
Sie legte die Karte vor ihn auf den Tisch und durchquerte schnellen Schrittes das Café. Misha sah ihr hinterher, wie sie durch die Tür trat und schließlich verschwand. Er sah auf die Karte, die schon etwas abgenutzt aussah und las: VALERIE TSANOVKA; MUSIKSCHULLEHRERIN. Darunter stand eine Adresse die schon leicht verblichen, aber noch gut zu lesen war. Obwohl Misha eigentlich nicht vorhatte, jemals dorthin zu gehen, steckte er die Karte in seine Tasche, dann verlies er das Café. Draußen war es schon dunkel und wie immer bitterkalt, deshalb beschloss er nach Hause zu gehen. Er stellte sich vor, wie es war vor Hunderten von Leuten zu spielen und in seinem Kopf formten sich Bilder. Überall würden Plakate hängen mit der Aufschrift: MISHA; MEISTER DER FLÖTE oder DER BESTE FLÖTENSPIELER ALLER ZEITEN; HEUTE BEI UNS. Alle Leute kämen fein angezogen, die Damen in wunderschönen Kleidern und die Herren in teuren Anzügen. Misha würde auch einen Anzug tragen, vielleicht mit einer Fliege.
Alle Leute würden sagen: „Was für ein hübscher Junge“ oder „Ich wünschte, das wäre mein Sohn.“
Sein Vater würde in der ersten Reihe sitzen, natürlich auch im Anzug und ihm zurufen: „Ich bin stolz auf dich.“
Sobald die ersten Töne erklängen, wäre der ganze Saal hin und weg und hinterher würden ihm alle versichern, dass er der beste Spieler der ganzen Welt sei und er würde zu den reichsten Leuten zum Büffet eingeladen werden, wo es Pasteten und Braten, Kuchen und Eis geben würde...
„He Misha“, rief jemand hinter ihm, mitten in seine Gedanken hinein und er erkannte hinter sich den alten Oleg, der vor seinem Laden stand und ihm zuwinkte. Misha hatte vor lauter träumen gar nicht bemerkt, dass er hierher gelangt war, aber wenn er nun schon mal hier war, konnte er Oleg einen kurzen Besuch abstatten, also ging er hinüber. Er begrüßte Oleg, der wie immer seine alte Fellmütze über dem grauen Haar trug und viele graue Stoppeln im Gesicht hatte. Er trug diese Mütze immer, egal ob drinnen oder draußen, er hatte sie schon im Krieg angehabt und dort hatte sie ihm immer Glück gebracht, wie er erzählte. Der alte Oleg bat Misha herein. Sie gingen durch den Laden, der wie immer mit allem möglichen Gerümpel voll stand, nach Holz roch und so überfüllt war, dass man sich in dem ohnehin viel zu kleinen Raum kaum bewegen konnte. Dahinter lag das Büro, welches noch viel kleiner war und aus einem Ofen, einem Regal, einem Tisch und zwei klapprigen Holzstühlen bestand. Auf dem Tisch standen eine Kanne Tee und ein Becher.
„Hier, trink etwas!“ befahl der alte Oleg und schenkte ihm mit zittrigen Händen Tee in den Becher. Der warme Tee tat gut, man konnte fühlen, wie er als warmer Strahl die Kehle hinunter in den Magen floss und den Körper von innen wärmte.
„Warst lange nicht mehr hier“, stellte Oleg fest, der seine Hände über den alten Holzofen hielt, der in der Ecke stand.
„Hm“, machte Misha, „Hab jetzt was anderes.“
Der alte Oleg hob die Augenbrauen.
„Das ist ja was neues“, meinte er, „sag bloß dein Vater geht wieder arbeiten.“ Misha schüttelte den Kopf, nahm den letzten Schluck aus dem Becher und stellte ihn auf den Tisch.
„Na, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen“, bohrte Oleg weiter.
„Ich spiele Flöte“, gab Misha zur Antwort.
Oleg sah ihn ein bisschen zweifelnd an. „Du kannst doch gar nicht Flöte spielen.“
Misha war allmählich genervt, denn erstens wollte er gar nicht alles erzählen und zweitens ging es Oleg auch gar nichts an, was er tat.
„Hab`s mir selber beigebracht“, log er, damit Oleg endlich mit seiner Fragerei aufhörte.
„Damit kann man niemals genügend Geld verdienen“, meinte dieser, „Was sagt denn da dein Vater?“
„Ich verdiene mehr Geld als vorher“, gab Misha trotzig zurück, „und solange Geld da ist, ist auch mein Vater zufrieden.“
Oleg zuckte mit den Schultern, dann sagte er: „Du weißt ja, dass ich dir immer gutes Geld bezahlt habe für deine Sachen.“
Misha wusste nicht so recht, was Oleg damit meinte, aber er verstand die Erwachsenen sowieso meistens nicht. Allerdings begann er sich langsam etwas unbehaglich zu fühlen, deshalb sagte er schnell: „Es ist spät, ich muss heim“, und bevor Oleg antworten konnte war er durch den Laden und zur Tür hinaus. Es war noch gar nicht spät und plötzlich hatte Misha keine Lust mehr nach Hause zu gehen. Er irrte eine Weile umher, die Hände tief in den Taschen, bis seine Hände zufällig die alte Karte in die Hand bekamen, die er vorhin eingesteckt hatte. Misha zog sie heraus, sah darauf und stellte fest, dass er die Straße kannte. Es war eine noblere Gegend, früher war er dort manchmal zum Stehlen gewesen, hatte aber nie viel erbeutet. Wie von selbst schlugen seine Beine die Richtung ein und einige Zeit später stand er vor einem großen Gebäude, welches als Eingang eine große, hölzerne Tür besaß. In manchen Fenstern brannte noch Licht, es musste also noch jemand da sein. Eigentlich hatte Misha nicht vorgehabt hineinzugehen, aber da er jetzt hier und es außerdem bitterkalt war, siegte doch die Neugier. Die Tür war schwer, lies sich aber leicht öffnen und führte in einen hohen, schmalen Gang mit weißen Wänden. Eine Frau kam Misha entgegen, die einen vornehmen Mantel trug und ein kleines Mädchen mit einem Geigenkasten bei sich hatte. Die Kleine hatte ebenfalls einen hübschen, dicken Mantel an, dazu Lackschuhe und sah ihn mit großen dunklen Augen an, aber die Mutter zog sie schnell weiter. Misha kam sich irgendwie fehl am Platz vor, trotzdem ging er weiter. Überall hingen Bilder von Kindern, die ein Instrument spielten und alle in schicke Kleider oder Anzüge gekleidet waren. Ein Bild fiel Misha besonders ins Auge: Es zeigte einen Jungen etwa in seinem Alter, der auf einer Flöte spielte. Misha betrachtete es eine Weile und stellte sich vor, dass er es war, der anstelle des Jungen dort stand.
„Gefällt es dir?“ fragte eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken stellte er fest, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Valerie Tsanovka hinter ihn getreten war. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst, aber das ging natürlich nicht, also musste er mit ihr reden, aber ihm fiel nichts ein. Valerie nahm ihm diese Entscheidung ab, indem sie sagte: „Ich freue mich, dass du doch gekommen bist. Soll ich dir mein Zimmer zeigen?“
Misha nickte und Valerie führte ihn den Gang entlang, ein paar Treppen hinauf und schließlich in ein hübsches helles Zimmer mit riesigen Fenstern. Misha hatte noch nie ein solch schönes Zimmer gesehen. Auf dem Fensterbrett standen allerlei Pflanzen, in der Ecke ein großer Tisch mit Stuhl, an der Wand hingen überall Bilder von Flöte spielenden Kindern, gemalte und fotografierte und an der rechten Wand stand ein wunderschönes schwarzes Klavier.
„Hier unterrichte ich“, erklärte Valerie und machte eine weitausholende Geste. Misha war ein wenig eingeschüchtert aufgrund all dieser Herrlichkeit, deshalb sagte er nichts, sondern sah sich nur staunend um.
„Du kannst etwas spielen, wenn du willst“, schlug Valerie vor, „Hier drin hört sich das noch viel besser an, als draußen auf der Straße.“
Misha wollte eigentlich ablehnen, doch da berührte seine Hand, die immer noch in der Tasche steckte, die Flöte und ihn durchströmte ein warmer Puls. Er konnte doch spielen. Niemand würde sehen, dass seine Finger von alleine die Löcher fanden. Er zog die Flöte aus der Tasche, blies vorsichtig hinein und tatsächlich: Hier drinnen, in diesem hohen weiten Raum, klang alles noch viel schöner. Seine Angst war wie weggeblasen, seine Finger hüpften über die Löcher und die Töne sirrten durch die Luft. Wieder gab es für ihn nichts anderes mehr als die Musik, es gab nur ihn und seine Flöte und wahrscheinlich hätte er noch ewig weitergespielt, wenn Valerie ihn nicht unterbrochen hätte.
Als sie ihn am Arm berührte fuhr Misha erschrocken zusammen, aber sie lächelte gleich und meinte: „Man merkt, dass dir das Spielen Spaß macht“, dann zog sie aus der Tasche, die sie über die Schulter trug ein Heft und fragte: „Sag mal, kannst du eigentlich auch Noten spielen?“
Sie zeigte Misha eine Seite mit geraden Linien, auf die schwarze Punkte gemalt waren. Misha hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und schüttelte den Kopf. „Hm“, meinte Valerie, „wie wäre es, wenn ich dir ein paar Noten beibringen würde?“
Das Angebot klang verlockend, er bekam die Chance öfters in diesem wunderbaren Haus einzukehren und Valerie, die ihm gut gefiel, öfters zu sehen, aber natürlich konnte er das nicht annehmen, denn dann musste er ja zugeben, dass er gar nicht richtig spielen konnte.
„Ich kann das nicht bezahlen“, antwortete er deshalb, aber Valerie gab nicht so schnell auf.
„Das macht nichts“, meinte sie, „Ich schlage dir ein Geschäft vor. Am Freitagabend ist ein Vorspiel. Du spielst etwas für mich und im Gegenzug gebe ich dir ein paar Unterrichtsstunden.“
Misha traute seinen Ohren nicht, davon hatte er doch geträumt, vor so vielen Menschen zu spielen, aber jetzt, da er die Chance dazu hatte bekam er plötzlich Angst, also schüttelte er entschieden den Kopf.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, versuchte Valerie es noch einmal, „Wer so gut spielen kann, sollte es andere hören lassen.“
Plötzlich fiel Misha ein, was die Märchenfrau damals zu ihm gesagt hatte: „Die Leute werden dir zuhören.“
Und es stimmte. Die Leute auf der Straße waren alle reihenweise stehen geblieben, um ihm zuzuhören.
„Wann ist dieses Konzert“, fragte er Valerie.
„Es ist morgen um fünf Uhr. Du kannst aber schon ein bisschen früher kommen, sagen wir um vier“, gab Valerie zur Antwort, „Komm einfach hierher, dann werde ich dir alles Weitere erklären.“
Misha nickte, verabschiedete sich von Valerie und ging wieder hinaus. Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Die Märchenfrau musste eine gute Fee oder so etwas gewesen sein, denn seit er die Flöte hatte, passierten die wunderbarsten Dinge. Er bekam viel Geld, er musste nicht mehr stehlen, er fror nicht mehr in der Kälte, er konnte im Café sitzen und jetzt sollte er sogar ein Konzert geben. In dieser Nacht schlief Misha wunderbar und er träumte davon, wie die Leute ihm zujubelten und immer mehr von ihm hören wollten, wie er ganze Hallen füllte und schließlich in einer wunderschönen Villa mit Pool und Dienstboten lebte, wie die Leute vor seiner Tür Schlange standen, um ein Autogramm zu bekommen...doch ein polterndes Geräusch riss ihn aus seinen Träumen und durch seine schlaftrunkenen Augen konnte er seinen Vater wahrnehmen, der vor seinem Bett umherlief. Auf einmal fiel Misha ein, dass er vor lauter Gedanken vergessen hatte die Flöte in seinem Schuh und seinem Leistenversteck zu verbergen. Sein Herz machte einen gewaltigen Sprung und sein Atem ging plötzlich schneller. Er musste sich eiligst etwas einfallen lassen, aber da war es schon zu spät. Sein Vater hielt bereits seine Jacke, die auf dem Boden in der Ecke gelegen hatte in der Hand und begann die Taschen zu durchsuchen.
„Bitte“, hoffte Misha im Stillen, „bitte lass ihn die Flöte nicht finden“, aber er wurde nicht erhört, denn schon hatte sein Vater sie in der Hand.
Mit einem Satz war Misha aus dem Bett, vergessend dass er sich schlafend stellen wollte und schrie: „Das gehört mir!“
Sein Vater fuhr erschrocken herum, dachte aber nicht daran die Flöte herzugeben, sondern hielt sie mit der einen Hand fest und versetzte Misha mit der anderen einen Stoß, so dass dieser nach hinten fiel.
„Wozu brauchst ne Flöte“, lallte er. Sein Atem stank furchtbar nach Alkohol und er konnte kaum noch stehen, aber Misha wusste, dass er gerade in diesem Zustand Bärenkräfte entwickeln konnte.
Er fühlte Angst und Wut zugleich, aber die Wut war ein bisschen stärker, also schrie er: „Gib das her! Das gehört mir und geht dich gar nichts an!“, aber sein Vater achtete gar nicht auf ihn, sondern brabbelte vor sich hin: „Geld machen...spielt keiner Flöte“, dann wandte er sich Richtung Tür, die Flöte noch immer in der Hand.
Misha wollte hinterher, doch plötzlich verspürte er die Angst, die jedes Mal kam, wenn sein Vater in diesem Zustand war und er fühlte sich wie gelähmt, unfähig sich zu rühren. Er wollte seinem Vater die Flöte aus der Hand reißen, war aber nicht mal fähig etwas zu sagen. Heiße Tränen der Wut und Enttäuschung liefen über seine Wangen, wobei er mehr wütend auf sich selbst war, als auf seinen Vater, weil er die Flöte einfach vergessen hatte. Er fühlte sich schwach, klein und unnütz und alles schien auf ihn einzustürzen. Langsam sank er auf seinem Bett nieder und schloss die Augen, um nichts mehr von dieser Welt zu sehen. Nach einer Weile beruhigte sich sein Herzschlag, sein Atem ging ruhiger. Er überlegte was zu tun sei. Vielleicht gelang es ihm die Flöte zurückzuholen, wenn sein Vater schlief oder vielleicht konnte er morgen früh vernünftig mit seinem Vater reden. Er lauschte, es war kein Geräusch aus den anderen Zimmern zu hören, aber er musste sich trotzdem noch eine Weile gedulden. Er versuchte an etwas Schönes zu denken, aber das trieb nur wieder die Tränen in seine Augen, weil seine Traumbilder einfach so verpufften. Seine Augen drohten ihm zuzufallen, er war hundemüde, dennoch hielt er sie mit aller Gewalt offen. Als er eine Weile gewartet hatte und kein Geräusch mehr aus der Wohnung zu hören war, stand er auf und schlich auf Zehenspitzen hinaus in den Hausflur. Sein Vater schlief im Wohnzimmer, halb auf dem Tisch, halb auf dem Sofa, die Flöte war aber nirgends zu sehen. Misha durchsuchte das Wohnzimmer, sah in alle Schränke, durchsuchte die Taschen seines Vaters, der sich nicht mehr rührte, suchte am Boden und auf und unter dem Tisch, aber nirgends war sie zu finden. Er sah im Gang nach, im Schlafzimmer seines Vaters, in der Küche und im Bad. Je länger er suchte, umso größer wurde seine Verzweiflung, aber von der Flöte keine Spur. Wieder stiegen Tränen in seine Augen, auch wenn er sich verzweifelt dagegen wehrte. Was sollte er Valerie sagen? Er konnte doch auf keiner anderen Flöte spielen und er würde niemals wegkommen aus dieser Wohnung und von diesem Vater, der nichts als Trinken im Kopf hatte. Langsam ging Misha zurück zu seinem Bett, lies sich darauf fallen und starrte durch den Schleier seiner Tränen zur Decke. Er sah keinen Konzertsaal mehr, sondern einen kleinen, reichen Jungen, der von seinen Eltern zum Geburtstag seine Flöte geschenkt bekam, obwohl er gar nicht darauf spielen konnte. Irgendwann war Misha so müde, dass ihm die Augen zufielen und als er sie wieder aufschlug war bereits heller Tag. Voller Panik sprang er aus dem Bett, denn wenn er zu lange geschlafen hatte war sein Vater vielleicht schon weg und mit ihm die Flöte. Eiligst zog er sich seine Kleider über und lief hinüber ins Wohnzimmer, aber schon im Gang bemerkte er, dass die Schuhe seines Vaters nicht da waren und seine letzte Hoffnung erlosch. Was sollte er bloß tun? Er kämpfte damit nicht schon wieder zu weinen und überlegte, was sein Vater tun würde, wenn er die Flöte zu Geld machen wollte. Wahrscheinlich würde er sie zum alten Oleg bringen. Ja, das war seine Chance. Wenn der alte Oleg die Flöte hatte, konnte er sie vielleicht zurück kaufen. Schnell lief Misha in sein Zimmer und nahm alles Geld aus seinem Versteck mit, dann verlies er die Wohnung. Draußen war es nicht mehr ganz so kalt und es schneite leicht, die Bäume, Häuser und Autos waren schon weiß gefärbt. Normalerweise hätte sich Misha gefreut, denn er mochte Schnee, aber heute hatte er keine Augen dafür. Er lief hindurch, ohne überhaupt recht zu begreifen, dass es schneite und sein Schritt war so schnell, dass er schon kurze Zeit später vor Olegs Laden stand. Die Tür öffnete mit einem lauten Bim – Bam und schon konnte Misha die Fellmütze des alten Oleg hinter einem riesigen Holzschrank, der fast mitten im Raum stand, erkennen. Olegs Gesicht sah um die Ecke und als er Misha erkannte machte er ein paar Schritte auf ihn zu.
„Na“, meinte er grinsend, „dein Vater war wohl doch nicht so begeistert vom Flötenspiel.“
Früher hatte Misha den alten Oleg eigentlich immer gemocht, hatte bei ihm Tee getrunken und gutes Geld von ihm bekommen, aber heute hasste er ihn und wusste nicht einmal genau weshalb.
„Hast du sie?“ fragte er und versuchte seine Aufregung zu verbergen, aber zu seinem Entsetzen schüttelte Oleg den Kopf.
„Hab sie grade verkauft“, antwortete er und zeigte nach draußen. „Dort der Mann, dem der Lastwagen gehört hat sie für seine Tochter gekauft.“
Misha sah nach draußen. Dort stand tatsächlich ein Lastwagen mit großen roten Streifen an der Seite. Oleg schien seine Aufregung nicht zu verstehen und meinte: „He, arbeite doch wieder für mich, vergiss einfach...“, aber Misha hörte ihm gar nicht mehr zu, sondern stürmte aus dem Laden.
„He“, rief ihm der alte Oleg hinterher, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Misha war inzwischen schon auf der anderen Straßenseite angekommen, stellte sich zur Deckung in einen Hauseingang und beobachtete den Laster. Der Fahrer, der wohl derjenige war, der die Flöte gekauft hatte, saß im Führerhaus und las in einer Zeitung. Wie sollte er bloß einem Mann, der die Flöte eben gekauft hatte klar machen, dass er sie wieder zurückhaben wollte? Als Misha noch darüber grübelte, ertönte plötzlich ein lautes Knattern, der Auspuff des Lastwagens stieß eine Rauchwolke aus und das gesamte Fahrzeug ruckelte hin und her. Der Fahrer hatte wohl vor loszufahren und damit raubte er Misha die Möglichkeit alles ganz genau zu überlegen, denn wenn er jetzt nicht schnell handelte, war seine Flöte für immer verloren, deshalb sprang er ohne lange nachzudenken aus dem Schatten des Hauseingangs und stand mit zwei großen Schritten an der Hinterseite des Lasters. Es war nicht schwer auf die Ladefläche zu klettern, denn der Lastwagen hatte hinten nur eine Plane, die noch nicht mal an der Seite befestigt war, sondern locker herunterhing. Misha hoffte nur, dass ihn der Fahrer nicht zum Fenster hinaus oder im Rückspiegel gesehen hatte, aber kaum war er oben ging ein Ruck durch das Fahrzeug und es setzte sich in Bewegung. Anfangs musste sich Misha gut am Rand festhalten, um nicht hin und her zu rutschen, denn der Lastwagen fuhr mal schnell, mal langsam, stoppte und fuhr wieder an, aber nach einer Weile nahm er gleichmäßige Fahrt auf, wahrscheinlich waren sie aus der Stadt heraus und Misha hatte Zeit sich umzusehen. Viel war nicht geladen, außer in der rechten Ecke, in der ein paar Holzfässer standen. Es war ziemlich dunkel hier drinnen und der Boden auf dem Misha saß war sehr schmutzig, zudem roch es merkwürdig, aber er konnte nicht sagen nach was. Jetzt hatte Misha Zeit sich zu überlegen, wie er dem Mann die Flöte abschwatzen konnte. Bei den meisten Leuten war eine Geschichte gut, die Mitleid erweckte, zum Beispiel: „Ich habe die Flöte von meiner Mutter bekommen und nach ihrem Tod ist sie das Einzige, was mich an sie erinnert, aber mein Vater trinkt und hat sie verkauft, um Geld zu bekommen“, oder vielleicht: „Ich habe drei Wochen hart gearbeitet um diese Flöte kaufen zu können, aber gerade als ich das Geld beisammen hatte war sie weg.“
Es gab aber auch Menschen, die sich nicht erweichen ließen, da half es besser ihnen einen Schrecken einzujagen, in etwa: „Ich möchte sie nicht beunruhigen, aber ich kannte das Mädchen, das auf dieser Flöte spielte. Sie war sehr krank und kein anderes Kind durfte in ihre Nähe, weil es so ansteckend war.“
Nein, das war vielleicht doch nicht so gut. Misha grübelte lange, kam aber zu keinem Entschluss. Schließlich wurde ihm die Entscheidung abgenommen, als der Lastwagen plötzlich stoppte, die Plane zur Seite gezogen wurde und ehe Misha etwas sagen konnte, ein sichtbar überraschter, aber überaus wütender Fahrer ihn anschnauzte: „Was willst du hier? Scher dich sofort von meinem Lastwagen herunter!“
Der Mann war etwas rundlich, sah aber dennoch recht stark und kräftig aus. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen und an der Seite seiner Stirn, die nur noch spärlich mit Haaren bedeckt war, konnte man eine Ader pochen sehen. Er hob drohend die Faust und lies ein paar Schimpfworte auf ihn niederprasseln, so dass Misha es vorzog zu flüchten, denn in diesem Augenblick hatte er keine Chance seine Flöte wiederzubekommen. Geschickt tauchte er unter den Armen des Mannes hindurch und verschwand blitzschnell um die nächste Häuserecke. Er konnte sich nicht vorstellen, dass so ein wütender Mann eine kleine Tochter zuhause hatte, der er eine silberne Flöte von seinen Reisen mitbrachte. Vorsichtig spähte Misha um die Ecke, denn er wollte den Mann und den Lastwagen auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Der Mann schimpfte noch immer vor sich hin und zerrte wütend an der Plane herum, um sie mit einigen Gummischnüren an der Seite zu befestigen, wobei sie ihm immer wieder aus der Hand rutschte, weil er mehr Zeit damit verbrachte sich aufzuregen, anstatt sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Schließlich schaffte er es und verschwand in dem Gebäude, vor dem er geparkt hatte. Misha las, dass es ein Restaurant war, welches auch Zimmer vermietete, war sich aber unschlüssig, ob der Fahrer nur essen oder tatsächlich dort übernachten wollte. Es musste schon Spätnachmittag sein, denn die Sonne, die sich gerade eben erst ihren Weg durch die Wolken erkämpft hatte, stand schon tief am Himmel. Misha verspürte ein Hungergefühl im Magen, denn er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Zwei Häuser weiter entdeckte er einen kleinen Laden und entschloss sich, den Lastwagen kurze Zeit aus den Augen zu lassen, um sich etwas zu kaufen. Der Laden war klein, besaß aber alles, was das Herz begehrte, so kaufte sich Misha zwei Brötchen, ein Stückchen Käse und leistete sich sogar den Luxus eines Schokoladenriegels, denn er hatte ja genügend Geld dabei. Dazu kaufte er sich eine große Flasche Wasser, um seinen Durst zu stillen. Er schlang alles sehr schnell hinunter, nur die Flasche behielt er in seiner Hand, dann kehrte er auf seinen Platz zurück und spähte um die Ecke. Der Laster stand noch immer am selben Fleck, von dem Fahrer war nichts zu sehen. Misha beobachtete die Sonne, die langsam hinter dem Horizont verschwand, der Fahrer blieb noch immer verschwunden und Misha begann zu frieren, denn mit dem Abend kam auch die Kälte. Misha fing gerade an sich ein wenig zu langweilen, natürlich ohne den Laster dabei aus den Augen zu verlieren, da wurde er plötzlich derb in die Seite gestoßen und war von einer Sekunde auf die andere von drei Jungen umringt. Der, der ihn gestoßen hatte, war fast einen Kopf größer als er, aber ziemlich dünn, der, der direkt vor ihm stand war nur ein wenig größer, aber breit und kräftig und der, der rechts stand war ungefähr so groß wie er und ebenfalls sehr dünn.
„Na, du bist wohl neu hier“, stellte der, der vor ihm stand fest und fixierte ihn mit seinen großen dunklen Augen.
Misha war überrumpelt und brachte keinen Ton heraus, aber er kam auch gar nicht dazu etwas zu sagen, denn sein Gegenüber packte ihn an seiner Jacke und drückte ihn gegen die Häuserwand. Er war sehr kräftig, so hatte Misha keine Chance sich gegen ihn zu wehren.
„Pass auf“, riet ihm der Kräftige, der versuchte seine Stimme gefährlich klingen zu lassen, was reichlich albern klang, die Situation für Misha aber keineswegs ungefährlicher machte.
„Das hier ist unser Revier, wir wollen keine Fremden und wenn sich doch jemand hier aufhält, gehört sein ganzes Geld uns.“
Misha versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch sobald er sich bewegte, drückte ihn sein Peiniger noch kräftiger gegen die Wand. Seine beiden Begleiter grinsten schadenfroh, aber der Kräftige, der zweifelsohne ihr Anführer war, schnauzte sie sofort an: „Grinst nicht so dämlich, los durchsucht ihn!“
Ihre Gesichter erloschen und der Große riss Misha die Wasserflasche aus der Hand und warf sie achtlos zur Seite, dann begannen die beiden seine Taschen zu durchwühlen und fanden natürlich das ganze Geld. Misha ergab sich in sein Schicksal, auch wenn es in ihm brodelte, er wusste, dass er gegen diese drei nicht ankam, doch plötzlich fiel ihm ein, dass er den Lastwagen im Auge behalten musste. Er versuchte aus den Augenwinkeln hinüber zu spähen, doch aus seiner Position war es unmöglich, um die Ecke zu sehen. Da er kräftemäßig gegen diese Jungen keine Chance hatte, musste er sie anders loswerden, deshalb sagte er schnell: „Das ist alles was ich habe!“
Seine Stimme klang ängstlicher als ihm lieb war und das schien den Drei auch nicht entgangen zu sein.
„Bist aber ganz schön reich“, bemerkte der Kräftige, „bist wohl ein verwöhntes Muttersöhnchen.“
Nicht so sehr diese Beleidigung, sondern vielmehr die Verzweiflung darüber, dass er den Lastwagen nicht mehr sehen konnte, verlieh Misha neue Kräfte, er schaffte es sich mit einem kräftigen Ruck zu befreien und mit einem energischen Stoß seinen Gegner von sich zu weisen, aber sofort waren die zwei anderen bei ihm und rissen ihn zurück. Ehe Misha sich versah wurde er wieder gegen die Hauswand gedrückt, er spürte hart den Beton in seinem Rücken. Vor Wut und Verzweiflung schossen ihm Tränen in die Augen, so sehr er auch dagegen ankämpfte.
„Schaut mal, das Muttersöhnchen weint gleich“, spottete der Kräftige, versetzte ihm noch einen letzten Stoß, der ihn an der Wand entlangschrammen lies, dann war es vorbei, genauso schnell, wie es begonnen hatte. Misha blieb jedoch keine Zeit sich aufzuregen oder zu entspannen, er sprang sofort auf, hastete zur Ecke und sah hinüber zum Restaurant. Die Straße war leer. Misha schloss die Augen, als wollte er es nicht wahrhaben, aber auch als er ein zweites Mal hinsah war kein Lastwagen zu sehen. Misha sank an der Häuserwand hinunter und hielt sich seinen Arm, den er vorher aufgeschürft hatte. Auf einmal spürte er den brennenden Schmerz doppelt so intensiv wie vorher und auch die Tränen konnte er nicht mehr zurückhalten. Er hatte alles verloren: Sein Geld, seine Flöte und er wusste nicht einmal wo er war.