Читать книгу Krisendemokratie - Tamara Ehs - Страница 8

Оглавление

Krisenzeiten seien die »Stunde der Exekutive«, bekam man in den ersten Tagen der CoViD19-Krise in vielen Kommentaren zu lesen und zu hören. Ein Blick auf die zahlreichen, stets eilig einberufenen Pressekonferenzen und die mediale Omnipräsenz von Regierungsmitgliedern mag diese Schlussfolgerung nahelegen; doch allein auf die österreichische Bundesverfassung besehen, stimmt sie nicht. Das B-VG kennt im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen nämlich kein umfassendes Notstandsrecht, sondern verpflichtet die Regierung, sich auch in Ausnahmesituationen, in denen schnelles Handeln geboten ist, dem parlamentarischen Verfahren zu fügen und den normalen Gesetzgebungsweg zu gehen. Einzig wenn der Nationalrat – zum Beispiel aufgrund der plötzlichen und gleichzeitigen Erkrankung von mehr als zwei Drittel seiner Abgeordneten – nicht zusammentreten kann, dann und nur dann dürfte der Bundespräsident auf der Grundlage des Artikels 18 Absatz 3 B-VG »zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit« Notverordnungen anstelle von Gesetzen erlassen. Aber auch in diesem Fall wäre er an einen Vorschlag der Bundesregierung gebunden, der wiederum mit dem »Ständigen Unterausschuss des Hauptausschusses« abgestimmt sein muss; im »Ständigen Unterausschuss« sind alle Parlamentsparteien gemäß den Mehrheitsverhältnissen vertreten.

Jede auf diese Weise erlassene Notverordnung muss unverzüglich dem Nationalrat vorgelegt werden, der dann vier Wochen Zeit hat, um entweder an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen oder die Bundesregierung zu verpflichten, die Verordnung sofort außer Kraft zu setzen. Demnach könnten auch in der größten Not und höchsten Dringlichkeit weder Bundesregierung noch Bundespräsident allein und eigenmächtig handeln. Denn die österreichische Verfassung gliedert alle Staatsorgane in ein »System rechtstechnischer Maßnahmen, die den Zweck haben, die Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen zu sichern«, schrieb schon ihr maßgeblicher Autor Hans Kelsen. Ins B-VG sind durch die Gewaltenverschränkung auch und gerade für den Krisenfall Vorsichtsmaßnahmen eingebaut, um einen Alleingang der Exekutive zu verhindern. Niemals dürfe es parlamentslose Zeiten geben, warnte Kelsen.

Mit dem Ziel, die Bundesregierung und den Bundespräsidenten erst gar nicht in die Verlegenheit kommen zu lassen, Notverordnungen in Anspruch zu nehmen, entschloss sich der Nationalrat in der Sitzung vor Ostern für seine Verkleinerung in Relation zu den gegebenen Mehrheitsverhältnissen und trat mit nur 96 Abgeordneten zusammen. Mithilfe dieser Maßnahme sollte der seuchenhygienische Sicherheitsabstand zwischen den einzelnen Nationalratsabgeordneten gewährleistet werden, um vor Ort Ansteckungen und folglich eine Grundlage für die Verwendung des Artikels 18 Absatz 3 bis 5 B-VG zu verunmöglichen. Mit 96 Personen waren noch immer genug Nationalratsabgeordnete anwesend, um Verfassungsgesetze zu beschließen. Für einen normalen Gesetzesbeschluss hätte auch die Anwesenheit von bloß 61 Abgeordneten, also einem Drittel, genügt.

Die Vorsichtsmaßnahmen des Nationalrats sowie des B-VG sind institutionelle Mittel, um die Gefahr einzudämmen, dass Krisen zum Einfallstor für den autoritär verwalteten Ausnahmezustand werden. Obwohl auch in Österreich das Parlament traditionell – bis auf die kurze Zeit der sogenannten »Expertenregierung« unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein – von der engen Verbindung zwischen Regierung und Regierungspartei(en) gekennzeichnet ist, kommt ihm als Ort der Öffentlichkeit eine besondere Bedeutung zu. Denn aufgrund der medialen Omnipräsenz von Kanzler, Vizekanzler und Minister*innen erhält das Regierungshandeln insbesondere im Krisenmodus überragende Aufmerksamkeit. Bleibt zudem das kritische Hinterfragen durch Medienvertreter*innen aus, stellt sich rasch ein Bild der Alternativlosigkeit ein. Diesem mit einem eigenen Maßnahmenkatalog und als Korrektiv entgegenzutreten, gelingt Oppositionsparteien dann nur, wenn ihnen das Parlament als Bühne zur Verfügung steht. Die Politikwissenschaft spricht deshalb von der »Tribünenfunktion« des Parlaments. Insbesondere der Nationalrat stellt den Ort dar, an dem Debatten und Entscheidungen öffentlich werden müssen. »Hier ist die Regierung verpflichtet, zu kommen, Rede und Antwort zu stehen und sich den parlamentarischen Verhaltensregeln zu unterwerfen. Dies ist von so großer Bedeutung, weil es für den Bereich der Regierungen und Verwaltungen keine Tradition (und Theorie) der Öffentlichkeit und geregelten Debatte gibt«, erinnert der Mitarbeiter der Parlamentsdirektion Christoph Konrath.

Die Verpflichtung der Regierungsmitglieder, Rede und Antwort zu stehen, findet ihre gesetzliche Grundlage im Zitationsrecht des Nationalrats (Paragraph 18 GOG), das allerdings als Mehrheitsrecht ausgestaltet und daher auf die Stimmen von Regierungsparteien angewiesen ist. Als Bundeskanzler und Regierungsmitglieder dem Nationalrat Ende April zwar ihre weiteren Maßnahmen in der CoViD19-Krise darlegten, danach aber den Saal verließen, ohne die Debatte anzuhören, stellten Abgeordnete der Oppositionsparteien einen entsprechenden Antrag auf (verkürzt genannt) »Herbeischaffung«, der allerdings keine hinreichende Unterstützung fand. Der von Oppositionsparteien und kritischen Beobachter*innen oft getadelten – weil als »Missachtung des Parlaments« interpretierten – Abwesenheit von Regierungsmitgliedern (sei sie nun eine tatsächlich physische oder wegen übermäßiger Handynutzung vermutete geistige Abwesenheit) ist schließlich kaum beizukommen.

Der Nationalrat hat mittlerweile aber auch einige Kontrollrechte, die nur von einer Minderheit der Abgeordneten, also mitunter alleine von den Oppositionsparteien, wahrgenommen werden können. Das gegenüber der Öffentlichkeit wichtigste Instrument stellt wohl der Untersuchungsausschuss dar. Seit 2015 ist seine Einsetzung als Minderheitenrecht ausgestaltet; schon ein Viertel der Abgeordneten (das heißt mindestens 46 Personen) kann ihn beantragen und so die Geschäftsführung der Bundesregierung in bestimmten Angelegenheiten genau überprüfen. Mit Untersuchungsausschüssen ergreifen Oppositionsparteien eine Möglichkeit, der medialen Dominanz der Regierungskommunikation entgegenzutreten. Nach der Akutphase der CoViD19-Krise begannen sich ab Anfang Mai die Stimmen zu mehren, einen »Corona-Untersuchungsausschuss« einzusetzen. Dieser solle nach dem »Ibiza-Untersuchungsausschuss« und nach Ablauf eines Jahres, also im Frühling 2021, anfangen, die von der Regierung gesetzten Maßnahmen zu untersuchen.

In Österreich, wo ein allgemeines Informationsfreiheitsgesetz noch immer auf sich warten lässt und auch die parlamentarische Kontrolle überwiegend nachgängig ausgelegt ist, wäre es aber von Vorteil gewesen, in solch einer politischen Ausnahmesituation bereits ein begleitendes Kontrollinstrument zu etablieren. Aus demokratiewissenschaftlicher Sicht umso bedauerlicher war es, dass der Nationalrat nicht gleich zu Beginn der Krise einen »Coronaauschuss« eingesetzt hatte, um die COVID-19-Maßnahmengesetze der Regierung einer ergänzenden kritischen Reflexion zu unterziehen. Gleichzeitig mit dem Allparteienbeschluss der Ermächtigungsgesetze hätte ein Allparteienausschuss seine Arbeit aufnehmen können. Vorzugsweise unter der Vorsitzführung einer*eines Oppositionellen hätte jener Ausschuss in Permanenz nach den wertenden Kriterien und Entscheidungsgrundlagen der Regierung gefragt und diese öffentlich gemacht. Rechtlich hätte es sich um einen Unterausschuss gehandelt. Für dessen Einrichtung hätte man aber nicht nur eine Mehrheit in einem bestehenden Ausschuss (zum Beispiel im Finanz- oder Gesundheitsausschuss), sondern wohl auch eine Verfassungsänderung gebraucht, weil der Unterausschuss besondere Rechte (etwa auf Vorlage von Dokumenten und auf Öffentlichkeit) beanspruchen würde. Mit genügend politischem Druck und Einigkeit hätte die Opposition diesen Unterausschuss im Austausch mit dem »nationalen Schulterschluss« wohl durchsetzen können.

Solch ein begleitendes Kontrollinstrument hätte unter anderem Einsicht in die Beratungsprotokolle der Taskforce Corona gefordert, die der Öffentlichkeit schließlich nur durch Whistleblower und Leaks an Zeitungen zugänglich wurden. Parlamentarische Kontrolle dient der Informationsgewinnung und deren Veröffentlichung; sie ist außerdem »das einzige (formelle) Mittel der Parlamentarier*innen […], um an Informationen aus dem Bereich der Regierung zu gelangen. Damit wird sie zu einer primären Wissensressource in diesem Bereich«, so Christoph Konrath weiter. Leider gehört es nicht zum Selbstverständnis des österreichischen Nationalrats, dass die Abgeordneten der Regierungsparteien »ihre« Regierung einer Überprüfung unterziehen. Das Ausbleiben solch einer Kontrolle veranlasste Kritiker*innen der Parlamentswirklichkeit wie den ehemaligen oppositionellen Nationalratsabgeordneten Alfred J. Noll, den Nationalrat beziehungsweise vor allem die Abgeordneten der Regierungsparteien abermals als »Erfüllungsgehilfen der Regierung« zu bezeichnen.

Obwohl die österreichische Verfassung kein Ausnahmerecht kennt, hatte das Parlament durch umfassende Ermächtigungsgesetze das Ruder aus der Hand gegeben, sodass sich die CoViD19-Krise doch noch zur »Stunde der Exekutive« wandelte. Denn zu den politischen Inhalten, die aufgrund der im COVID-19-Maßnahmengesetz vom 16. März in den Paragraphen 1 und 2 festgehaltenen Verordnungsermächtigung gesetzt wurden, hatte das Parlament fortan nichts mehr zu sagen. Es hatte sich selbst aus dem Spiel genommen, das Heft aus der Hand gegeben und vom Inhalt der Politik, der doch eigentlich seine Hauptbeschäftigung darstellen sollte, verabschiedet. Die zunehmende »Exekutivierung« des politischen Geschehens ist zwar nicht neu und wird auch längst politikwissenschaftlich beklagt; die Krise zeigte diese Entwicklung jedoch in einer Verdichtung und Klarheit, die Demokrat*innen erschaudern lassen muss: Noch nie wurde so wenig Politik durch das Parlament gemacht wie in jenen Tagen. Manfred Matzka, vormals Präsidialchef des Kanzleramts und zuletzt Berater von Bundeskanzlerin Bierlein, verglich die CoViD19-Ermächtigungsgesetze, die ohne gründliche parlamentarische Debatte und noch dazu in Sammelgesetzen eilig in Kraft gesetzt worden waren, gar mit dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917, auf dessen Grundlage 1933 der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt und der Austrofaschismus nach der politischen auch gesetzliche Realität wurde.

Damit im auf diese Weise selbst verursachten »Verordnungsstaat« (Alfred J. Noll) wenigstens die Opposition noch ansatzweise ihrer Kontrollfunktion nachkommen kann, ist es notwendig, dass Parlamente alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um überhaupt zusammentreten zu können. Die parlamentarische Demokratie benötigt die physische Begegnung, um auch für die Bevölkerung sichtbar zu sein und Gegenentwürfe sowie Korrektive zur Regierungspolitik in den diskursiven Prozess zu bringen. Der Rechtswissenschafter Uwe Volkmann von der Goethe-Universität Frankfurt kritisierte, dass zwar in vielen Parlamenten während der CoViD19-Krise ein notdürftiger Betrieb aufrechterhalten worden war, »wenn auch nicht in einem unmittelbar politischen Sinne, das heißt als Austrag grundsätzlicher Alternativen, sondern auf die technisch-administrativen Fragen der Erreichung eines als alternativlos anerkannten Ziels bezogen«. In der pluralistischen Demokratie ist keine Maßnahme alternativlos. Doch gerade in angstbesetzten Krisensituationen wie angesichts CoViD19 neigten selbst ansonsten kritische Journalist*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zur Schockstarre und zum Eintritt in den nationalen Schulterschluss des »Team Österreich«. Auch die Oppositionsparteien trugen diese gelebte Negation der pluralistischen Demokratie beinahe einen Monat lang mit. Umso wichtiger war es, dass die Tagungsfähigkeit trotzdem aufrecht erhalten wurde, wenn auch die parlamentarische Kontrolle nur mit Verzögerung einsetzte.

Der österreichische Nationalrat traf sich während der Coronakrise entweder in geschrumpfter Zusammensetzung oder auf zwei Stockwerke verteilt, um genügend physischen Abstand sicherzustellen. Andere Parlamente wie etwa jenes der Schweiz wichen auf einen größeren Raum aus und traten im Messegelände der Bern-Expo zusammen; wieder andere nutzen Videokonferenzen, um die »virtuelle Anwesenheit aufrechtzuerhalten. Es geht um die Selbstbestimmung der freien Abgeordneten und um die Selbstbestimmung der Gesellschaft«, bekräftigten die Politologen Bernhard Weßels und Wolfgang Schröder. Ein eParlament ist zwar angesichts der erwähnten Tribünenfunktion suboptimal, aber immer noch besser, als seiner faktischen Selbstausschaltung zuzustimmen, wie dies in Ungarn geschehen ist, oder sich, wie es das australische Parlament anfänglich vorhatte, bis August zu vertagen und die CoViD19-Agenden einem demokratisch wenig legitimierten Krisenstab zu übertragen. Angesichts der zahlreichen, oftmals übereilten Selbstbeschränkungen von Parlamenten trat die Interparlamentarische Union (IPU) auf den Plan und bot Informationen für Parlamente in Zeiten einer Pandemie an. Ihre Website gab einen Überblick über alle infrastrukturellen und technischen Maßnahmen, die Parlamente weltweit nutzten, um weiterhin zusammentreten zu können. Zwei Handlungsanleitungen der IPU befassen sich zudem mit der Genderdimension der CoViD19-Krise sowie mit dem Thema Menschenrechte.

Ein wesentlicher Punkt, den Parlamente im Rahmen der Krisengesetzgebung sowie bei der Kontrolle ihrer Umsetzung laut IPU beachten müssen, betrifft die Befristung der Maßnahmen, vor allem wenn sich um die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten handelt. Da der Grat zwischen Missbrauch und Notwendigkeit ein schmaler und die Gefahr der Indienstnahme von Krisen für die Ausweitung staatlicher Kontrollmaßnahmen über den aktuellen Zeitpunkt hinaus nicht zu unterschätzen ist, muss jedes Gesetz eine sogenannte Sunset Clause beinhalten, also den Tag seines Außerkrafttretens benennen. Die österreichischen COVID-19-Maßnahmen wurden großteils mit 31. Dezember 2020 befristet. Gemäß Fachdossier der Parlamentsdirektion war dies dadurch begründet, dass Regelungen nur vorübergehend gebraucht wurden, wenig Zeit für die Vorbereitung war und einzelne Bestimmungen in Grundrechte eingriffen; Letzteres dürfe aufgrund der Bundesverfassung nur kurzfristig passieren.

Die Idee der Sunset Legislation stammt aus dem angloamerikanischen Rechtsraum. Sie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Befristung darin, dass Gesetze nicht einfach nach Zeitablauf außer Kraft treten; vielmehr ist die Befristung mit dem Zweck verbunden, begleitend zu evaluieren, ob die gesetzten Ziele erreicht werden konnten. Die Intention ist eine bessere staatliche Regulierung. In Krisenzeiten dient die Sunset Legislation dazu, Maßnahmen in kurzen Zeitabständen vom Parlament überprüfen zu lassen. In der Akutphase der CoViD19-Krise geschah dies beispielsweise im Vereinigten Königreich alle drei Wochen. Österreich hingegen sah keine regelmäßige Überprüfung durch den Nationalrat und auch keine Evaluierung vor.

Eine Befristung schützt allerdings noch nicht vor einer (unter Umständen mehrmaligen) Verlängerung eines Ausnahmegesetzes. Diese Vorgehensweise war in den vergangenen Jahren zum Beispiel in Frankreich im Zusammenhang mit der Antiterrorgesetzgebung zu beobachten: Nach den Terroranschlägen von 2015 war der Ausnahmezustand sechsmal verlängert worden; als ihn die Nationalversammlung dann doch beendete, wurden manche der Notstandsgesetze in die normale Gesetzgebung übergeführt und sind nun fixer Bestandteil der französischen Rechtsordnung. Diese nachhaltige Legalisierung von Normsuspendierungen nennt Matthias Lemke, der im Fachbereich Bundespolizei der deutschen Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung lehrt, »Ausnahmezustand 2.0«. Über das Plausibilisierungsmuster der Insuffizienz, also der Behauptung, dass der bestehende Rechtsrahmen nicht genüge, um auch in Zukunft solch eine Krise und all ihre Folgekosten (zum Beispiel den nächsten Shutdown) zu verhindern, werden der Exekutive dauerhaft mehr Machtmittel zugestanden.

Es ist folglich Aufgabe sowie Kontrollfunktion des Parlaments, realiter insbesondere der Oppositionsparteien, nicht nur auf die Befristung der COVID-19-Maßnahmengesetze zu achten, sondern im Sinne der Sunset Legislation jede einzelne Maßnahme – sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering – und ihre momentane Verhältnismäßigkeit immer wieder aufs Neue der Diskussion zu unterwerfen, vor allem dann, wenn vonseiten der Regierung ihre Verlängerung verlangt wird. Eine praktikable Möglichkeit läge im Vorschlag des führenden US-Verfassungsrechtlers Bruce Ackerman, jede Verlängerung an ein höheres Zustimmungsquorum zu binden: Gründete das erste Gesetz auf einer einfachen Mehrheit, müsste seine Verlängerung schon eine Zweidrittelmehrheit erlangen, jede neuerliche Befristung eine Dreiviertel-, schließlich Vierfünftelmehrheit usw.

Zu groß ist nämlich die Gefahr der Gewöhnung an den autoritären Maßnahmenstaat. Über den Aspekt der Gesundheit lassen sich wohl ähnlich viele Grundrechte einschränken wie über den der Sicherheit. Die in den letzten Jahren oftmals überarbeitete österreichische »Sicherheitsarchitektur« hatte über die Plausibilisierung des Kampfes gegen den Terrorismus bereits zahlreichen Grundrechten wie beispielsweise dem Briefgeheimnis neue Grenzen gesetzt, sodass »von manchen Freiheitsrechten seinerzeit nur noch ihre Hülle bestehen blieb«, wie der Berliner Politikwissenschafter Sascha Kneip moniert. Auch für Österreich besteht daher die eigentliche Gefahr nicht in einer vorübergehenden präsidentiellen Notverordnungsregierung, sondern darin, dass sich inhaltlich autoritäre Gesetze in einer grundsätzlich liberalen Demokratie festsetzen und so den Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf Dauer verändern. Der Soziologe Harald Welzer meint hierzu: »Im Katastrophenfall zeigt sich nicht der Ausnahmezustand einer Gesellschaft, sondern lediglich eine Dimension ihrer Existenz, die im Alltag verborgen bleibt.« Die »neue Normalität« wäre demnach der alten Normalität schon eingeschrieben, bloß in ihrer Deutlichkeit noch nicht erfasst gewesen.

Um dieser Bedrohung entgegenzusteuern, ist es unter vielem anderem notwendig, dass die Gesetze ein Begutachtungsverfahren durchlaufen, wodurch nicht nur Stimmen von Interessensvertretungen, akademischen Institutionen oder auch der Zivilgesellschaft Gehör finden können, sondern den Oppositionsparteien mehr Zeit für eine Reaktion eingeräumt wird. Sämtliche CoViD19-Gesetze der ersten Wochen kamen als Initiativanträge von Nationalratsabgeordneten der Regierungsparteien in den Gesetzgebungsprozess. Die von der Opposition unterstützten Beschleunigungsbeschlüsse sowie die Mithilfe von Bundesrat und Bundespräsident ermöglichten ihr schnelles Inkrafttreten. Allerdings fand auf diese Weise kein Begutachtungsverfahren statt. Sein Ausbleiben verhindert zwar nicht das verfassungsmäßige Zustandekommen, sehr wohl aber die Abgabe von Stellungnahmen durch die interessierte Öffentlichkeit.

War es ganz zu Beginn der CoViD19-Krise wohl noch berechtigt gewesen, ausschließlich mit Initiativanträgen zu arbeiten, konnte diese Begründung spätestens Ende April von der Opposition nicht mehr nachvollzogen werden. Sie pochte daher auf ein Begutachtungsverfahren, das ihr die Regierungsparteien mit dem Verweis auf die Dringlichkeit der zu setzenden Maßnahmen (noch) nicht gewähren wollten. Deshalb nutzten die Oppositionsparteien SPÖ und FPÖ im Bundesrat ihr Einspruchsrecht gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates und legten ein Veto gegen einige der neuen Gesetze ein. Da solch ein Veto jedoch bloß aufschiebende Wirkung und zur Folge hat, dass der Nationalrat einen Beharrungsbeschluss trifft, sah Sigrid Maurer, Klubchefin der Grünen im Nationalrat, darin einen »zynischen Sabotageakt«.

Viel eher als Sabotage war es aber ein symbolischer Akt, welcher immer dann notwendig wird, wenn besonders deutlich zum Tragen kommt, dass parlamentarische Kontrolle in Österreich vorrangig im Gegensatz von Opposition und Regierung verstanden und kommuniziert wird. Da ein Begutachtungsverfahren nicht erzwungen werden kann und es bei seinem Ausbleiben keine Sanktionsfolgen gibt, handelt es sich bei den Rechtsgrundlagen für die Begutachtung um Soft Law. Zwar sehen sowohl Arbeiterkammer- als auch Wirtschaftskammergesetz die »Einhaltung einer angemessenen Frist zur Begutachtung« vor, und der Verfassungsdienst empfiehlt hierfür sechs Wochen, doch diese Fristen werden schon in Regelzeiten in weniger als 20 Prozent der Fälle eingehalten, wie Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien feststellte. Rechtswissenschafter*in Maximilian Blaßnig und Antonia Reiss weisen folglich darauf hin, dass sich die parlamentarische Demokratie bereits zuvor im Rückbau befand:

»Es entsteht der Eindruck, dass politische Agenden möglichst am Parlament vorbei und ohne öffentlichen Diskurs durchgesetzt werden sollen. Das Paradoxe dabei ist, dass es Parlamentarier*innen (der Mehrheitsparteien) sind, die diese Praxis ermöglichen.«

Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen. Das Begutachtungsverfahren, das immerhin 2017 erweitert wurde, sodass auch Bürger*innen über die Website des österreichischen Parlaments eine einfache Möglichkeit haben, Stellungnahmen zu Ministerialentwürfen einzubringen, vergrößert die Öffentlichkeit der parlamentarischen Diskussion und ermöglicht damit zumindest in Ansätzen eine partizipative Gesetzgebung.

Hinsichtlich des Ziels von Öffentlichkeit und Partizipation sind auch Fragen der Transparenz und Verständlichkeit von Parlamentshandeln zu bedenken. Zu Recht kritisierten die Oppositionsparteien, dass es sich bei den ersten CoViD19-Maßnahmenpaketen ausschließlich um Sammelgesetze handelte. Solch eine Bündelung verkürzt zwar die Abstimmung zeitlich, erlaubt den Nationalratsabgeordneten allerdings kein differenziertes Abstimmungsverhalten. Auf diese Weise können weder Parlamentarier*innen und schon gar nicht Bürger*innen überblicken, worüber abgestimmt wird, zumal Gesetze, denen vor allem Abgeordnete der Oppositionsparteien im Sinne eines »nationalen Schulterschlusses« schnell zustimmen sollen und jene, die sie eigentlich ablehnen wollten, gemeinsam vorgelegt werden. Man kann damit nur dem gesamten Gesetzespaket zustimmen oder alles zurückweisen. Die SPÖ sah bereits vor Jahren in Sammelgesetzen wie dem Budgetbegleitgesetz der ersten ÖVP-FPÖ-Regierung eine Verletzung des rechtsstaatlichen sowie des demokratischen Prinzips und befasste den Verfassungsgerichtshof damit. Der VfGH gab 2004 im Erkenntnis VfSlg 17.173 zwar zu, dass Sammelgesetze »der Erkennbarkeit des Rechts abträglich« seien, sprach aber nicht von Verfassungswidrigkeit.

Der Ausbruch der Oppositionsparteien aus dem von den Regierungsparteien ausgerufenen »nationalen Schulterschluss« war daher weder ein Sabotageakt noch in der Krise unverantwortlich, sondern die Wahrnehmung ihrer demokratischen Verantwortung. Angesichts von ausgebliebenen Begutachtungsverfahren, eilig vorgelegten Sammelgesetzen und der mangelnden Aufnahme von oppositionellen Ideen in (teilweise gemeinsam) beschlossenen Maßnahmen kamen die Oppositionsparteien in National- und Bundesrat schließlich doch noch der von den Regierungsparteien allein ihnen überlassenen Kontroll- und Alternativfunktion nach. Es ist die von der Verfassung übertragene Aufgabe des Parlaments, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen und inhaltliche Alternativen zum Regierungshandeln aufzuzeigen. Da sie in der österreichischen Parlamentswirklichkeit allerdings nur die Oppositionsparteien ausüben, war es bereits vor der CoViD19-Krise angebracht, und ist es nun umso mehr, die Oppositionsrechte zu stärken.

Krisendemokratie

Подняться наверх