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Marc Bielefeld


"Das Segelschiff war mein Ausknopf"


Vor vier Jahren, es war Anfang April, fiel die Tür meiner Wohnung hinter mir ins Schloss. Ich hatte das Apartment in Hamburg vergeben. Hatte meine Sachen aussortiert, verstaut, im hohen Bogen in den Müll geschmissen. Seitdem lebe und arbeite ich, mit Ausnahme der kältesten Wintermonate, auf einem alten Segelschiff.

Ich wollte weg vom Irrsinn der Büros, vom Gekreische der Stadt

Weg von den Autos, Ampeln, Schildern und Sphären der lauten und ewigen Botschaften. Ich wollte das Geschwätz der Politiker nicht mehr hören, die Talkshows nicht mehr sehen. Die Nachrichten, die Reklame, die Mails, die Werbung, die rasenden Menschen. Dachte am Ende, das könne vielleicht nicht schaden: sich ein klein wenig davonmachen. Ich hatte und habe kein Haus am Meer oder auf dem Land. Also zog ich mich auf mein altes Boot zurück. Das Segelschiff war mein Ausknopf. Das Schiff schwimmt. Es segelt, wohin ich will.

Über zwei Jahre hatte ich früher bereits auf kleinen Booten zugebracht

Fast vier Jahre lebe ich nun auf dem größeren Schiff. Eine fast elf Meter lange Lion Class mit einem zwölf Meter hohen Mast, erbaut 1964 in Hongkong. Ein schlichtes Schiff aus Holz, zwei weiße Segel, eine kleine Kajüte, vier gemütliche Kojen und ein kleiner ausklappbarer Tisch, an dem ich arbeiten und schreiben kann. Was für ein wunderbares Heilmittel gegen eine Welt, die zu großen Teilen aus Hast, Geschrei und Überfluss besteht.

Ich kaufte das Schiff in Schottland und holte es dort ab

Segelte zu den Hebriden, nach Nordirland, durch den Kaledonischen Kanal in den Highlands mit ihren weiten Hügeln, Bergen und grünen Graten. Schafe gab es dort, gute Steaks und guten Whisky und wenig Menschen. Anschließend blies der Wind das Boot quer über die Nordsee, nach Dänemark, zu den Inseln, an die deutschen Küsten. Die Welt zieht nunmehr mit maximal sieben Knoten an mir vorbei. Das sind nicht mal 14 km/h.

7 m² Freiheit

Das Schiff ist von innen nicht besonders groß. So manches Badezimmer in einer Stadtwohnung zählt mehr Quadratmeter. Doch statt gegen eine Zimmerdecke blicke ich meistens in den Himmel. Wolken, Regen, Hagel, Sonne. Seevögel, Möwen. Keine Grenze, kein Lärm. Abends brennen die Petroleumlampen in der Kajüte. In den Nächten knatschen die Festmacherleinen wie ein gemütlich schnarchender Opa. Man muss sich so ein altes Segelschiff vorstellen wie eine kleine schwimmende Holzhütte. An Bord gibt es alles, was ich benötige, auf kleinstem Raum. 120 Liter im Wassertank, Staufächer für Brot, Marmelade, Milch, Obst, Säfte, Sirup, Wein und Rum.

Natürlich sind all die nautischen Utensilien stets dabei

Seekarten, Navigationsunterlagen, Kursdreiecke, Seehosen, Schwimmwesten, Stiefel, Fernglas, die Seenotraketen. Ich habe Besteck auf dem Schiff, Teller, drei Töpfe, eine Pfanne, einen Zwei-Flammen-Kocher, befeuert mit Methylalkohol. Manchmal kommt Besuch an Bord, in einem der Häfen, wo ich gerade weile. Oft bin ich allein, und das ist gut so.


Immer sind auch Bücher an Bord, das Brot für den Kopf

50, hundert von ihnen kann ich problemlos mitnehmen. Ich lese viel. Ich habe nun Zeit. Habe neun Monate lang in keinen Fernseher geschaut und kaum in einem Magazin, einer Zeitung geblättert. Manchmal höre ich über den Weltempfänger die Nachrichten.

Das reicht völlig. Man verpasst nichts

Im Gegenteil, es klingt sogar merkwürdig und mutet fast ein bisschen witzig an, wenn man nach Monaten der Abstinenz mal wieder die Nachrichten hört. Oder an einem Kiosk die Schlagzeilen liest. Es ist, als würde man sich in eine bekannte Endlosschleife einklinken. In diese ewig blökende Maschinerie, die noch immer den gleichen Matsch produziert. Es ist der Sog eines bunten, lauten, leeren Loches. Mit dem Boot, zum Glück, lässt sich einfach davonsegeln.


Nur wenn der Winter anbricht, die bittere Kälte, muss das Schiff aus dem Wasser

Das Eis könnte den Lack zerstören, den Rumpf womöglich zerquetschen. Ich wohne dann bei Freunden, ziehe mürrisch und nur kurz wieder in das eine Zimmer meiner Wohnung. Im März aber müssen die Planken schon wieder geschliffen und lackiert werden. Im April geht es wieder los - raus aufs Wasser, zurück in Sicherheit.


Was geschieht?

Der Blick in die Weite ist eines der Geschenke meines kleinen Orts- und Behausungswechsels. Nicht mehr auf all die Hauswände starren, keine Türen, keine Autokolonnen, nicht mehr das Schnappen nach Parkplätzen. Auf dem Meer existieren diese Phänomene der Vollgasgesellschaft nicht mehr. Der Mensch darf stillhalten, lauschen. Man döst bei diesem Bootsleben auch nicht ein. Sobald der Sturm kommt, fliegen die Fetzen.

Das größte aller Geschenke bei meinem Dasein zur See ist Lebenszeit

Jedoch auch Zeit zum Arbeiten. Denn ich bin weiß Gott kein Privatier, kein Aktienfüchslein mit hübsch gefülltem Konto. Darum arbeite und schreibe ich als Journalist und Autor an Bord auch weiterhin - und dies sogar mehr und, vielleicht, sogar besser. Sitze auf der Koje, neben der Kombüse und darf mich den Texten mit Ruhe widmen. Wann ich will, wann es am besten läuft. Meistens in den sehr frühen Morgenstunden.


Ich habe einen Laptop, einen Surfstick

In Küstennähe und in den Häfen funktioniert das Netz in der Regel gut. Zweimal am Tag wähle ich mich in die unsichtbare Welt hinterm Horizont hinein, lese und schreibe meine E-Mails. Zweimal am Tag eine Viertelstunde. Das reicht. Mehr nicht. Mehr macht mich blöd. Es raubt mir das Leben.

Mittags gehe ich schwimmen

Segele hierhin, dorthin, in die nächste Bucht, zum nächsten Hafen. Matjesbrötchen essen, mit einem Fischer quatschen. Doch siehe da: Es bleibt noch immer Zeit übrig! Denn wie viel Zeit stehlen einem die Büros, die Mails, die Stadt, die Smartphones, das Fernsehen, die ewigen Ablenkungen unserer bimmelnden Welt? Ich würde inzwischen schätzen, dass all das einem glatt die Hälfte eines jeden Tages stiehlt. Wenn man nicht aufpasst, die Hälfte eines ganzen Lebens.

Ich brauche wenig

Die Seesachen, zwei Paar Jeans, einige T-Shirts, drei dicke Pullis, zwei Paar Turnschuhe. Das genügt. Auch diese Reduktion schenkt einem Zeit - und vielleicht noch das eine oder andere. Nicht mehr das Streben nach Mehr, das Umgebensein von tausend Dingen, nicht mehr die gewohnten Reize diktieren die Tage. Alles wie weggewischt. Dem Wasserbewohner geht nach all den Monaten vielmehr eine ganz andere Betrachtungsweise durch den Kopf.


Wie lange kann man sich unserer gehetzten Gesellschaft entziehen - ohne etwas zu verpassen?

Schon die Frage ist falsch. Wie lange muss man sich von dieser gehetzten Gesellschaft bedröhnen lassen - um am Ende alles wirklich Wichtige verpasst zu haben? Diese Frage trifft es schon eher.

Ich liege gerade in einem kleinen Hafen an der deutschen Küste

Ich sehe einen Fischer, eine fette Möwe mit einem Hering im Schnabel, ein paar alte Dampfer und viele Masten. Vielleicht segele ich morgen zurück nach Dänemark, zu den Inseln. Ich muss niemanden fragen, auf niemanden warten. Muss keinen Koffer packen, an keiner Ampel stehen. Ich müsste nach getaner Arbeit nur die Leinen los machen, die Segel setzen und ein bisschen mit den Windgöttern plaudern.


Marc Bielefeld:

Wer Meer hat, braucht weniger

Über den Rückzug auf ein altes Segelboot.

Ludwig Verlag



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