Читать книгу Das Jahr, als ich anfing, Dudelsack zu spielen - Tanja Köhler - Страница 5

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Kapitel 1 In Bewegung kommen. Neues beginnen. Einen Anfang machen.

»Dudelsack zu spielen ist für mich ein Lebensgefühl, ein Sinnbild. Er steht für die Freiheit, jederzeit das tun zu können, was ich möchte. Und es auch zu tun.«

»… Du machst waaaas?«

»Ich lerne Dudelsack.«

»Wie kommst du denn auf dieeeee Idee?«

»Es ist keine Idee. Es ist ein Wunsch. Ein Wunsch, den ich mir erfülle und den ich schon lange in mir trage. Schon sehr lange. Vielleicht schon seit Kindheitstagen.«

Wenn ich erzähle, dass ich Dudelsack lerne, dann schaue ich den Menschen in die Augen. In ihnen kann ich es sehen: Verwunderung. Aber auch ehrliches Interesse. Und ein Gefühl, was ich zwischen Sehnsucht und Neid verorte. Neid nicht im Sinne von Missgunst, sondern ein positiver Neid. Eher im Sinne von Sehnsucht und Respekt. Respekt vor meinem Tun und Sehnsucht nach der Umsetzung eines eigenen Wunsches.

»Ja! Und ich spiele nicht irgendeinen Dudelsack. Sondern ich spiele ›The Great Highland Bagpipe‹ – den großen schottischen Highland-Dudelsack. Den, den man aus Filmen kennt!«

Nach diesen Worten bin zumindest ich vollkommen begeistert. Begeistert nicht nur für das Instrument, sondern auch von mir selbst. Begeistert davon, dass ich es tue: Dudelsack spielen. Am liebsten würde ich ihn dann rausziehen und loslegen. Das geht aber leider nicht, weil ich ihn auf meinen vielen Geschäftsreisen nie dabei habe. Da würde ich von jedem Hotel eine hochrote Karte angezeigt bekommen. Stellen Sie sich nur vor: Sie liegen entspannt in Ihrem Hotelzimmer und plötzlich ertönt aus dem Zimmer nebenan ein ohrenbetäubender Lärm. Die EU erwägt nicht aus Jux und Tollerei die Einführung einer Gehörschutzpflicht für professionelle Dudelsackspieler. 120 Dezibel sind schon gewaltig. Vor allem, wenn man nicht mit ihnen rechnet.

»Und seit wann spielst du Dudelsack?« Ich zögere, weil ich etwas verberge, mich schäme. Meine offizielle Antwort lautet: »Ich nehme seit Januar 2015 Unterricht.« Reaktion: »Ist ja cool!« Oft plätschert das Gespräch dann aus. Was würde wohl passieren, wenn ich die wahre Antwort geben würde? »Seit einem denkwürdigen Moment in Schottland und einem Blick auf einen Zollstock.«

Ich gebe zu, es ist mir peinlich, darüber zu schreiben, denn irgendwie ist es »spooky« – unheimlich. Es passt nicht zur seriösen Unternehmensberaterin und Vortragsrednerin. Es passt aber vielleicht zu mir. Zu der Tanja.

Wir waren im April 2014 mit Freunden in Schottland. Ein Urlaub mit Uraltfreunden aus Kindheitstagen. Am zweiten Tag besichtigten wir das William Wallace Monument in der Nähe von Stirling. Den Ort, an welchem der schottische Freiheitskämpfer William Wallace mit seinen Highlandern die englischen Soldaten erfolgreich in die Flucht geschlagen hat. Diese Schlacht ist die historische Vorlage für den Film Braveheart mit Mel Gibson in der Hauptrolle. Ich weiß noch gut, dass ich 1995 Rotz und Wasser geheult habe, als der Film in die Kinos kam.

Direkt neben dem William Wallace Monument steht ein Gedenkstein. Darauf zu sehen ist ein Schwert, das im Boden steckt. Während meine Freunde Fotos von der Aussicht machten, ging ich zu diesem Stein hin. Und dann kam er, der Moment. Und er hört sich wahrlich ziemlich unwirklich an. Ich schaute diesen Stein an und hatte plötzlich das Gefühl, dass ich zu einer anderen Zeit schon mal hier gewesen bin. Ich sah das richtige Schwert im Boden stecken. Und ich hörte einen Dudelsack. Mehr nicht.

Ich nenne diesen Moment seitdem den denkwürdigen Moment. Denkwürdig im Sinne von wert, auf einer anderen, tieferen Ebene darüber nachzudenken und eine Antwort zu finden. Eine Antwort, die mich in Bewegung bringt.

Dieser denkwürdige Moment in Schottland war der Anstoß, der Impuls für mich, etwas Neues in meinem Leben zu machen. Auf den ersten Blick nichts wirklich Großes. Eben nur: Dudelsack spielen.

Nun ist es heraus. Und es fühlt sich gar nicht so peinlich an, wie ich gedacht habe. Und ja!, wenn mir zuvor jemand von einem solchen Gefühl berichtet hätte, so hätte ich diese Person sicherlich mit einem freundlichen, aber durchaus skeptisch-abwertenden Aha! in die Esoterikecke gesteckt.

Und nein!, Sie müssen nun keine Angst haben, dass dieses Buch Sie in diese Gefahr bringen wird.

Es gibt viele denkwürdige Momente in unserem Leben. Manchmal ist es eine solche Begebenheit. Manchmal ist es eine beiläufige Bemerkung oder eine einzige richtige Frage, die einem mehr oder weniger zufällig gestellt wird. Das, was sie von anderen Augenblicken in unserem Leben unterscheiden, ist, dass sie uns dazu bringen, etwas Neues zu beginnen. In Bewegung zu kommen.

Ein ganz normaler Zollstock oder die Frage »Ist es zu spät? Bin ich zu alt, um Dudelsack zu lernen?«.

Ein schottisches Sprichwort

Sieben Jahre. Die Schotten sagen, es dauert sieben Jahre, bis man den Dudelsack spielen kann. Und nach sieben Jahren steht man dann am Anfang.

Höchstwahrscheinlich werde ich in meinem Leben nie eine begnadete Dudelsackspielerin werden. Und ich werde erst recht nicht beim legendären Edinburgh Military Tattoo mitwirken. Lassen Sie sich von dem Wort nicht verunsichern. Es handelt sich nicht um eine Massentätowierung in der schottischen Hauptstadt. Mich persönlich hat das Wort Tattoo am Anfang auch irritiert. Warum? Tatsächlich sind die meisten Dudelsackspieler, die ich bis dato kennengelernt habe beziehungsweise beobachten konnte, reichlich tätowiert. Aber keine Sorge. Tattoo bedeutet lediglich Musikschau. Gut möglich, dass wir den Begriff in den 1980er-Jahren irgendwann mal in der Schule im Englischunterricht hatten. Aber das ist lange her und hatte für mich damals keinerlei Bedeutung. Vergessen also erlaubt. Wie so vieles, was damals gelehrt wurde.

Einmal im Jahr, immer im August, findet in Edinburgh das größte schottische Musikfestival statt. Der Platz direkt vor Edinburgh Castle verwandelt sich dann in eine riesige Bühne für mehr als 1000 Musiker und Tänzer und für über 8500 Zuschauer. Die Stadt ist erfüllt von den Klängen Hunderter Bagpipes. Wer das live miterleben darf, dem ist Gänsehaut gewiss.

Um in dieser Liga Dudelsack mitzuspielen – okay –, dafür bin ich sicherlich zu alt. So gut und so präzise werde ich nie spielen können. Aber für mich – für mich ganz allein –, für mich kann ich es tun. Für mich bin ich nicht zu alt.

Gefühlsmäßig stehe ich derzeit in der Mitte meines Lebens. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich 47. Geboren 1968. Auch wenn ich erst zum Ende der geburtenstarken Jahrgänge auf die Welt kam, so gehöre ich doch noch zur sogenannten Generation der Babyboomer.

47! Das Bergfest habe ich schon hinter mir. Deutlich sogar. Zumindest wenn es nach dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden geht. Dort werden Jahr für Jahr Daten und Fakten rund um die Entwicklung der deutschen Bevölkerung herausgegeben. Männer in Deutschland haben statistisch gesehen eine Lebenserwartung von durchschnittlich 78 Jahren. Wir Frauen immerhin vier Jahre mehr: 82.

Eine Frage, die ich dem Publikum bei meinen Vorträgen stelle, lautet: »Wenn man einen Zollstock öffnet und insgesamt vier Elemente vor sich liegen hat, welche Zentimeterzahl steht dann da?« Wenn ich diese Frage zum ersten Mal stelle, sehe ich in viele irritierte Gesichter. Was soll diese Frage? Was hat sie mit dem heutigen Thema »Veränderungen« zu tun? Ich stelle die Frage dann ein zweites Mal. Und jetzt sehe ich, wie sich die Menschen über das innere Auge einen Zollstock vorstellen und Element für Element aufklappen. Oft mit den entsprechenden Handbewegungen. Klapp – klapp – klapp. Und dann kommen die ersten Zurufe. 60 Zentimeter! 100 Zentimeter! 80 Zentimeter! Und irgendwann ist sie dabei. Die richtige Antwort. Hätten Sie es gewusst? Sie lautet 82.

Da ist sie wieder, die Zahl: 82. Eine denkwürdige Zahl, wie ich finde. Lassen Sie uns dazu eine kurze Übung machen. Legen Sie für einen Moment dieses Buch zur Seite und holen Sie sich bitte einen Zollstock. Wenn Sie gerade unterwegs sind und keinen zur Hand haben, holen Sie diese Übung einfach später nach.

Legen Sie nun den Meterstab vor sich hin und klappen Sie ihn bitte so auf, dass vier Elemente vor Ihnen liegen. Im linken Blickfeld die null – im rechten die 82 Zentimeter. Sie entsprechen 82 Lebensjahren. Wie gesagt: ein statistischer Mittelwert.

Legen Sie nun Ihren linken Zeigefinger auf die Zahl, die Ihrem jetzigen Alter entspricht. Nehmen Sie sich Zeit für einen Blick zurück. Wie viel Zeit ist schon vergangen? Was alles ist in Ihrem Leben schon passiert? Von wann bis wann gingen Sie in die Schule? Was waren besonders schöne Momente und wann waren diese auf der Zeitachse? Und wie alt waren Sie bei besonders traurigen Anlässen?

Und nun der Blick nach vorne, in die Zukunft: Wie viel liegt noch vor Ihnen? Was wird noch geschehen? Was soll alles noch geschehen? Welche Dinge wollen Sie während Ihrer aktiven Berufszeit anpacken, welche haben Zeit bis zur Rente?

Apropos Rente: Lassen Sie bitte den linken Zeigefinger auf Ihrer Alterszahl liegen und legen Sie Ihren rechten Zeigefinger auf die Zahl, bei welcher Sie in den Ruhestand gehen wollen beziehungsweise sollen. Ich wiederhole jetzt einfach meine Frage von eben: Welche Dinge wollen Sie noch während Ihrer aktiven Berufszeit anpacken? Reicht die Zeit? Oder müssen Sie bald loslegen, wenn’s bis zur Rente noch klappen soll?

Wenn heute mein letzter Tag wäre, würde ich dann noch Dudelsack lernen wollen?

82 beziehungsweise 78. Was wäre, wenn die statistische Alterserwartung auf Sie gar nicht zutrifft? Wenn Sie nicht so alt wie der Durchschnitt werden? Was wäre, wenn zum Beispiel morgen Ihr letzter Tag wäre?

Meine Vortragskollegin Ulrike Scheuermann bringt in ihrem Buch den Leser dazu, diesen unfassbaren Gedanken konsequent weiterzudenken. Würde ich – Tanja Köhler – dann noch anfangen, Dudelsack zu spielen? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich möchte mir meinen eigenen Tod auch nur widerstrebend vorstellen. Aber wenn ich mich doch trauen würde, ihn anzudenken, könnte es sein, dass ich zumindest ein einziges Mal in meinem Leben den Brummbass der drei Bordunpfeifen des Dudelsacks zum Erklingen bringen möchte.

Definitiv angenehmer ist die andere Denkrichtung, die Richtung »langes Leben«. Denn ich persönlich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich älter als 82 werde. Deutlich älter. Schließlich ist meine Oma auch 96 Jahre alt geworden. Wieso sollte es bei mir anders sein?

Selbst als Psychologin unterliege ich mit dieser Denkweise einem häufig auftretenden Denkfehler: der sogenannten »kognitiven Dissonanz«. Bedeutet: Wir Menschen reden uns gerne die statistischen Tatsachen schön. Als Gegenbeweis führen wir dann einen, maximal zwei Präzedenzfälle auf. Wir ahnen zwar, dass diese Beispiele eher die Ausnahme als die Regel sind, aber das ist uns tatsächlich mehr oder weniger egal. Die Gegenbeispiele sind in ihrer Wirkung nämlich mächtiger, viel mächtiger sogar. Und so wischen wir die wahrgenommenen Unstimmigkeiten in unserem Kopf einfach so weg, als ob sie kleine Brotkrümel auf unserem Frühstückstisch wären.

Ich weiß also, dass ich 96 Jahre alt werde. Mindestens! Genügend Zeit, um das Dudelsackspiel so richtig zu erlernen. Und wer weiß? Vielleicht stehe ich eines Tages beim Edinburgh Military Tattoo auf der Esplanade vor Edinburgh Castle und spiele auf meiner Great Highland Bagpipe »Scotland the Brave« – die bekannteste der drei inoffiziellen schottischen Nationalhymnen.

Oder sogar das bekannte »Highland Cathedral«, selbstverständlich nur als Solo-Piperin. Unrealistisch? Egal! Ich unterliege gerne diesem Denkfehler. Er tut mir gut. Mir gefällt der Gedanke, dass ich noch viel Zeit zur Verfügung habe. Zeit, alle die Dinge zu machen, die ich in meinem Leben noch machen möchte. Und wissen Sie, was ich richtig cool fände? Wenn Sie im Publikum sitzen würden, währenddessen Sie gerade Ihren lang gehegten Traum eines Schottlandurlaubs verwirklichen!

Ein Gespür für die Zeit bekommen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

In Bewegung kommen

Gezielte Fingerübungen verhelfen dem Dudelsackspieler, die nötige Beweglichkeit, Kraft und Koordination der Finger zu entwickeln. Nur mit geübten Fingern lassen sich die Stücke schön spielen.

Ich brauche nicht zu erwähnen, dass es gut ist, dass wir nicht wissen, wann wir sterben werden. Dieses Wissen braucht kein Mensch. Zumindest keiner, der normal tickt. Aber wir tun gut daran, uns die statistischen Zahlen und typischen Denkfehler bewusst zu machen, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, wie viel Zeit uns potenziell noch zur Verfügung steht.

Wenn ich das Zollstockexperiment mit jungen Menschen mache, freuen sich diese stets über den noch unverbrauchten Zeitstrahl. Bei solchen Langzeitaussichten kann schon mal bei dem einen oder der anderen die Orientierung verloren gehen. Die Vorstellungskraft für die vor einem liegende Zeit fehlt. Das war bei uns, als wir jung waren, nicht anders. Doch auch bei jungen Menschen gelingt das Zollstockexperiment.

In einem meiner Vorträge in der Berliner Kalkscheune fragte ich eine junge Frau, wie alt sie sei. 23! Ich fragte sie, was sie in ihrem Leben gerne so machen möchte. Ihre Antwort: »Auf jeden Fall für eine längere Zeit ins Ausland gehen! Und einen guten Abschluss im Studium. Und Kinder und Familie möchte ich auch!« Ich fragte sie, ob sie bei Letzterem eine innerliche Zahl verspürt, bis wann sie gerne ein Kind hätte. Ihre Antwort nach kurzer Überlegung: »So mit 27 Jahren!« Wir schauten wieder auf den Zollstock. Ihr Zeigefinger lag ruhig auf ihrer Alterszahl 23. Ich bat sie, ihren anderen Zeigefinger auf die 27 zu legen. Überrascht schaute sie auf die kurze Zeitspanne, die ihr nur noch zur Verfügung stand, um ins Ausland zu gehen und ihr Studium fertig zu machen. Sie schaute mich an und meinte: »Hmmm … dann muss ich mich wohl langsam an die Planung für Amerika machen!« Was die junge Frau tatsächlich daraufhin gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber sie hat sicherlich ein Gespür für die verfügbare Zeit bekommen.

Junge Menschen legen beim Zollstockexperiment den Zeigefinger frisch und frech auf ihre Alterszahl. Zielgerichtet. Sich ihrer Jugend bewusst. Bei uns Älteren hingegen beobachte ich in den allermeisten Fällen eine kreisende Fingerbewegung. Als ob unser Finger ein Rotorblatt eines Hubschraubers wäre. Wenn die entsprechende Alterszahl dann entdeckt wird, »ditscht« bei vielen der Zeigefinger nur einmal kurz auf dem Zollstock auf, um unverzüglich wieder in die Luft zu gehen. Zollstöcke können scheinbar ziemlich heiß sein! Einige Zeigefinger weigern sich sogar, zu landen. Könnte es sein, dass einige von uns die Tatsache wegleugnen wollen, dass wir nun auch zu den Älteren gehören? Auch wenn wir uns ganz und gar nicht so fühlen. Ich glaube, keine Generation vor uns hat sich wirklich alt gefühlt. Es ist die Arroganz der Jugend, dies zu denken.

Was ist Ihr Dudelsack?

Erinnern Sie sich, wie es bei Ihnen war? Als Sie selbst jung waren? Egal ob zehn, 13 oder 15 Jahre alt. Wie wurde in Ihrer Familie damit umgegangen, wenn Sie mit strahlenden Augen von Ihren Zukunftswünschen berichtet haben? Haben sich Ihre Eltern begeistert Ihre Pläne angehört und gemeinsam mit Ihnen an Ihren Träumen gearbeitet? Oder hat sich eine gut gemeinte Hand auf Ihre Schultern gelegt und gesagt: »Dafür hast du noch viel, viel Zeit! Du hast das ganze Leben vor dir! Wer weiß, was bis dahin ist! Jetzt mach erst mal … und dann sehen wir weiter.«

Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber ich bin mir fast sicher, dass meine Eltern eher zur letzten Version tendierten: »Wer weiß, was bis dahin ist …« Diese Worte waren bestimmt nicht böse gemeint und für Ende der 1970er/Anfang der 1980er nur logisch. Von Megatrends und gesellschaftlichen Zukunftsthemen war damals keine Rede – zumindest bei uns zu Hause nicht. Internet konnte sich ebenso noch niemand vorstellen, obwohl Serien wie »Raumschiff Enterprise« schon frühzeitig auf diese Entwicklung hinwiesen.

So sehr ich mich auch anstrenge, ich bekomme nur noch einen vagen Zugang zu meinen Jugendträumen, Wünschen und Sehnsüchten. Wie sieht es bei Ihnen aus? Wissen Sie noch, was Sie damals machen wollten, wenn Sie mal »erwachsen« wären? Ich glaube, dass es nicht nur mir so geht. Wir haben unsere Träume vergessen; das, für was wir früher gebrannt haben und was wir alles so erleben wollten. Ich finde das schade, aber nicht wirklich schlimm. Die Welt ändert sich und vieles im Leben wird vergessen. Das eigentlich Fatale ist, dass der gut gemeinte Satz unserer Eltern oder Lehrer sich zu wiederholen scheint. Im prall gefüllten Kalender zwischen beruflichen und privaten Terminen werden aktuelle Wünsche, Träume und Veränderungsvorhaben auf der Zeitachse nach hinten geschoben. »Dafür habe ich noch viel, viel Zeit … Ich stehe in der Mitte meines Lebens, und das halbe Leben liegt ja noch vor mir!«

Achtung! Denkfehler! Kognitive Dissonanz! Machen wir es uns ruhig noch einmal bewusst. Auch wenn ich 1988 im schriftlichen Matheabitur null Punkte hatte. Für diese Rechnung brauche nicht einmal ich einen Taschenrechner: Die Hälfte von 82 ist 41 und die Hälfte von 78 ist 39. Wir haben also die Mitte unseres Lebens schon deutlich überschritten.

Liegt dann nichts näher, als dass wir endlich beginnen, uns unseren Wunschprojekten zu widmen? Ich meine damit nicht, dass wir gleich alle aus unserem heutigen Leben aussteigen sollen. »Fürs Aussteigen sind wir nämlich scheinbar zu feig!«, sang Peter Cornelius in den frühen 1980ern. Ich gebe zu: Das würde mich persönlich auch überfordern. Darum geht es auch gar nicht. Es geht um die scheinbar kleinen Dinge, die das Leben schön machen. Wie zum Beispiel, den Dudelsack spielen zu lernen.

Was würden Sie gerne tun? Finden Sie so schnell keine Antwort darauf? Dann holen wir einfach eine andere Perspektive herein. Was würde mir Ihr Partner sagen, was Sie gerne machen würden? Oder – noch besser – falls Sie Kinder haben: Was würden mir Ihre Kinder sagen, welche Veränderung Mama oder Papa am liebsten herbeiführen würden?

Vielleicht gibt es auch etwas, mit dem Sie am liebsten aufhören würden? Vor über zehn Jahren habe ich mit einer Berliner Freundin die Zollstockübung gemacht. Sie hatte ein Gewerbe auf Kleinstunternehmerregelung angemeldet. Kommunikationstrainings. Um finanziell über die Runden zu kommen, hatte sie zusätzlich noch drei weitere Jobs. Damals war sie Anfang 30. Verheiratet. Zwei lebende Kinder, ein totes Kind! Wie es dazu kam? Meine Freundin hatte auf dem Weg in die Berliner Charité in der Hektik einen Unfall gebaut. Ihr jüngstes Kind starb dabei. Eigentlich wollte sie mit der Kleinen in die Notaufnahme, weil sie einen schweren Asthmaanfall hatte. Das zusätzlich Tragische dabei: Es ist schon schlimm genug, wenn das eigene Kind stirbt. Aber wenn man auch noch für den Tod des geliebten Kindes von der Justitia verantwortlich gemacht wird, trifft es einen noch härter. Das eigene Schuldempfinden wird von außen bestätigt. Meine Freundin lernte mit dem Tod ihrer Tochter umzugehen. Sie sprach mit Therapeuten und anderen verwaisten Eltern und fand über die Zeit für sich einen Weg, das Geschehene zu akzeptieren und zu verarbeiten.

Ihr Mann ging allerdings anders mit dem Unglück um. Er zog sich zurück, schaute viel fern. Horrorfilme. Obwohl die unterschiedlichen Verarbeitungswege sie voneinander trennten, blieben sie dennoch zusammen. Vereint im Unglück. Und beide litten darunter. Meine Freundin traute sich nicht, sich zu trennen, weil »man trennt sich nicht, wenn man zwei kleine Kinder und ein totes Kind hat. Dann bleibt man erst recht zusammen.« Sie sprach mit mir über ihre Lage. Ich ließ sie den Finger auf den Zollstock legen und fragte sie, wie alt sie sei: 33! Und dann fragte ich sie, was sie glaubt, wie lange ihr Mann braucht, um für sie wieder ein echter Partner sein zu können. Sie fand keine Zahl. Und dann fragte ich sie, wie lange sie noch vorhat, in dieser Situation weiter zu leiden. Zwei Wochen später trennte sie sich.

Nicht immer ist es – wie in der Situation meiner Freundin – so klar, welche Veränderung eigentlich ansteht, damit es weitergeht. Damals löste die Veränderung durch die Trennung ein Erdbeben aus. Die Erschütterungen waren überall deutlich spürbar und hatten zum Teil massive Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Auch beruflich. Es kam zuerst zu einer Verschlimmerung der gesplitteten Arbeitssituation. Aber alles, was erschüttert wird, lockert an anderer Stelle wieder auf und fördert Ungeahntes zutage. Und so kam die Möglichkeit, sich neu zu sortieren und zu entwickeln.

Meine Freundin führt heute erfolgreich ein kleines Coaching-Institut und hat insgesamt fünf Mitarbeiterinnen, Tendenz wachsend. Zudem gibt es seit einiger Zeit einen neuen Lebenspartner an ihrer Seite.

Wenn sich der Nebel lichtet, um was geht es dann? Ist der Dudelsack ein Dudelsack?

»Schottland – das Land der Schafe, des Whiskys und der Dudelsäcke. Und freilich auch des Nebels. Kaum ein anderes Land wird mehr mit Nebel in Verbindung gebracht als Schottland. Es gibt ihn zu jeder Jahreszeit. Oft undurchdringlich wie eine fette Sahnesuppe. Im Nebel kann man nicht ausmachen, woher die Klänge eines Dudelsacks kommen. Sie hören sich aber Furcht einflößend an, wenn man nicht darauf vorbereitet ist. Das war Teil der Kriegsstrategie der Highlander. Die Feinde sollten Angst haben. Sich nicht trauen, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Wenn sich der Nebel in Schottland jedoch lichtet, so wird der Blick auf zum Teil unglaublich bizarre Landschaften frei. Und dann spürt man, wo man sich wirklich befindet.«

Den Dudelsack zu erlernen bedeutet für mich nicht, einfach ein Instrument zu spielen. Würde es mir lediglich darum gehen, hätte ich wieder mit Klavier oder Gitarre begonnen. Ein Privileg der Babyboomer war es, dass wir in unserer Jugend fast alle ein oder mehrere Instrumente lernen durften. Viele von uns vielleicht – ohne es so gefühlt zu haben – sogar mussten. Ich nenne dieses Phänomen »Instrumenten-Delegation«: Weil unsere Eltern in den entbehrungsreichen Zeiten des Zweiten Weltkriegs selbst keine oder nur wenig Möglichkeit dazu hatten, mussten wir an ihrer Stelle ein Instrument lernen. Schließlich gehörte man nicht mehr zu den armen Schluckern, und zudem wirkte sich das Erlernen eines Instrumentes positiv auf die Entwicklung des Kindes aus.

Klavier oder Gitarre spielen? Ich könnte an bestehende Fähigkeiten anknüpfen, und es wäre günstiger, als den Dudelsack zu erlernen. Deutlich günstiger. Mal abgesehen von den Unterrichtskosten: Ein guter Dudelsack beginnt preislich bei circa 1500 Euro – die Skala nach oben hin ist offen. Meine Duncan MacRae Blackwood Bagpipe hat knapp 2000 Euro gekostet. Also warum nicht lieber einfach nur Klavierunterricht nehmen? Mein Jugendklavier steht noch immer bei meinen Eltern im Wohnzimmer; seit dem Ende meiner Klavierkarriere vor über 30 Jahren umfunktioniert zum dekorativen Raumteiler. Oder wieder mit Gitarre starten? Meine Gitarre habe ich zwar vor vielen Jahren verschenkt. Eine neue kostet aber nicht viel und wäre schnell gekauft. Warum also Dudelsack und nicht Klavier oder Gitarre?

Ganz einfach: Anders als der Dudelsack berührten diese Instrumente nie meine Seele. Der Dudelsack bedeutet für mich nicht ein weiteres Instrument. Er steht für mehr. Für sehr viel mehr. Wenn sich der Nebel lichtet, dann ist der Dudelsack für mich ein Lebensgefühl, ein Sinnbild. Er steht für die Freiheit, jederzeit das tun zu können, was ich möchte. Und es auch zu tun. Eine Einladung von mir an mich selbst.

Nebel – im Deutschunterricht haben wir gelernt, dass dieses Wort ein sogenanntes Palindrom ist. Ein Wort, das sich sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen lässt. Dann wird aus Nebel Leben.

Nebelbänke sind überall.

»Um was geht es, wenn sich der Nebel lichtet?« Diese Frage leitet mich in meinem Job. Immer. Jeden Tag. Bei jedem Kunden. Dort treffe ich auf viele Nebelbänke. Ich habe sie für mich in zwei Kategorien unterteilt. Die Nebelbänke des Unternehmens und die Nebelbänke der Angestellten in diesem Unternehmen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie den Blick auf das, um was es wirklich geht, verschleiern. Im Nebel verhüllen.

Ich begleite Unternehmen in Veränderungsprozessen. Der Großteil meiner Kunden sind mittelständische Familienunternehmen. Meistens inhabergeführt und oft schon an die Nachfolgegeneration übergeben. Zumindest auf dem Papier. Auch das ist Teil des Nebels. Auf diese spezielle Nebelbank treffe ich oft. Sie gehört zur ersten Kategorie.

Ich freue mich, wenn ein Unternehmer seinen Weg zu mir findet. Dann ist die erste Hürde genommen. Bereits bei der ersten Kontaktaufnahme bekomme ich eine Ahnung davon, ob es eher ein klarer oder ein undurchsichtiger Weg mit vielen Nebelfallen werden wird. Meinen persönlichen Beratertrumpf habe ich auf jeden Fall immer in der Tasche: Ich nehme nämlich nicht jeden Auftrag an. Das verschafft zumindest mir die nötige Klarheit. Ohne Klarheit keine Veränderung.

Wenn ich vom Unternehmer Signale spüre, dass er bereit ist, bei sich anzufangen und zu schauen, dann begebe ich mich mit ihm in den Nebel und begleite ihn auf seinem Klärungsweg. Erst später kommen die Führungskräfte. Und noch viel später die Mitarbeiter. Meines Erachtens sind viele Veränderungsprojekte von Beginn an zum Scheitern verurteilt, weil an der falschen Stelle mit dem falschen Augenmerk begonnen wird. Tolle Vorhaben verkommen leider zur Farce.

Meine Haltung ist übrigens immer die der Unwissenden. Ich stelle Fragen. Viele Fragen. Auch vermeintliche Tabufragen. Ein Tabu gibt es bei mir nicht. Um das System wirklich zu verstehen, brauche ich mehr als das, was mir da offensichtlich präsentiert wird. Ich muss die Decke, den Nebel lüften dürfen.

Manchem komme ich rasch zu »nah« und es kommt kein Auftrag zustande oder er wird abgebrochen. Auch gut. Klarheit für mich. Auch wenn es manchmal schmerzt und unter der Gürtellinie ist. Als ich einmal einem Topmanager in seinem Nebel zu nahe kam, nahm er seinen Kugelschreiber in die Hand, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sagte zu mir: »Frau Köhler, Sie glauben wohl, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben!« Für mich war das eine unglaublich erniedrigende Situation, denn alle seine Führungskräfte saßen mit im Raum. Das war natürlich das Ende für den Führungsleitbildprozess und gleichzeitig das sofortige Aus für alle meine Aufträge in dieser Organisation.

Drei Monate später vereinbarte ich mit dem Topmanager einen Termin für eine Nachbetrachtung. Das Ereignis nagte an mir. Allein schon um Ruhe für mich zu finden, musste ich in die Höhle des Löwen zurück. Seine Begrüßung: »Wollen Sie sich nun an mir rächen?« Meine Antwort: »Nein! Aber ich möchte verstehen und möchte, dass wir uns an anderer Stelle gut begegnen können.« Seither sind wir uns oft an anderer Stelle begegnet. Der Nachtermin hat sich als wohltuend für beide erwiesen. Was ich daraus gelernt habe? Auch wenn es eine offizielle Einladung zur Klärung des Nebels gibt, kann es sein, dass er binnen kürzester Zeit wieder aufzieht. Dichter und undurchdringbarer als zuvor. Die Organisation hat bis heute kein Führungsleitbild. Zumindest keines, das auch gelebt wird.

Der Unternehmer oder Geschäftsführer, der mir gegenübersitzt, hat in den allermeisten Fällen eines mit mir gemeinsam: Er steht wie ich in der Mitte seines Lebens. Ein erwachsener Mensch. Wo kommt er her? Was hat ihn in seiner Kindheit, in seiner Jugend geprägt? In welchem privaten Umfeld bewegt er sich heute? Wo will er eigentlich hin? Welchen Kampf hat er mit der Vorgängergeneration noch auszufechten? Das sind für mich die wichtigen Fragen. Die üblichen Kick-off-Fragen wie »Was soll die gewünschte Intervention bezwecken?« beziehungsweise »Wohin will das Unternehmen?« sind für mich zunächst nachrangig, auch wenn sie der offizielle Aufhänger zur Kontaktaufnahme mit mir sind.

Auf eine ganze Landschaft von Nebelbänken treffe ich, wenn ich die Führungskräfte eines Unternehmens kennenlerne. Fast alle in meinem Alter. In der Mitte ihres Lebens. Babyboomer. Ein Großteil von ihnen sind Männer. Sie bedienen das Klischee: Familie gegründet, Haus gebaut, Baum gepflanzt. Manchmal sind auch Frauen dabei: Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemeistert und in der Führungsriege gelandet. Ich sitze mit ihnen zusammen und soll ihre Führungskompetenz schärfen und entwickeln. Es überrascht mich schon lange nicht mehr, dass die offiziellen Entwicklungsthemen als Fach- und Führungskraft im Unternehmen rasch in den Hintergrund treten und zum Nebenschauplatz werden. Das eigentliche Entwicklungsthema steckt im inoffiziellen Bereich. Im Privaten. In den allermeisten Fällen kommt es aus den Herkunftsfamilien der Führungskraft. Dazu aber später mehr.

In den wenigsten meiner Aufträge stoße ich gleich zu Beginn auf große Begeisterung. Oft nehme ich die Situation als paradox wahr. Es wird zwar gesagt: »Eine Intervention ist längst überfällig!«, aber gleichzeitig fühle ich: »Aber nicht bei mir, dringe nicht in meine Privatsphäre ein! Ich bin so, wie ich bin, und lasse mich nicht verbiegen!«

Es herrscht eine Skepsis gegenüber Veränderungsprozessen, die mit einer Angst des »Verbiegens« einhergeht. Vor allem, wenn der Veränderungsprozess von einer Psychologin begleitet wird. Meiner Erfahrung nach hilft nur eines: Aufklären und Befähigen. Menschen, die verstehen und nachvollziehen können, wie Veränderung funktioniert, sind aufgeschlossener für den Prozess. Gerade für uns Babyboomer ist es wichtig, genau das zu verstehen. So oft haben wir in unserer Kindheit die Worte gehört: »Frag nicht. Das ist halt so!«

Meine Arbeit beginnt daher immer mit einer Einführung in die Grundprinzipien von Veränderungsvorhaben.

Das Jahr, als ich anfing, Dudelsack zu spielen

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