Читать книгу Ableismus - Tanja Kollodzieyski - Страница 6
Оглавление01:
ABLEISMUS – DER VERSUCH EINER DEFINITION
Anders als Strukturen wie Rassismus oder Sexismus ist Ableismus in Deutschland als Begriff in weiten Teilen der Öffentlichkeit noch unbekannt. Wenn er aber doch einmal auftaucht, wird er oft mit „Behindertenfeindlichkeit” übersetzt. Das ist problematisch, da Behindertenfeindlichkeit lediglich einen Teil des Spektrums von Ableismus darstellt.
Ableismus wird im Wesentlichen von zwei Seiten bestimmt. So beschreibt er auf der einen Seite eine gewisse Wahrnehmungs- und Erwartungshaltung von nicht-behinderten Menschen gegenüber behinderten Menschen. Feindliche Gesinnung kann ein Teil davon sein, muss es aber nicht. Es geht darum, wie nicht-behinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderung bewerten; welche Bilder und Stereotypen sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. Diese Bilder müssen nicht notwendigerweise aktiv geformt werden, viel eher nehmen diese passiv Gestalt an durch Unwissenheit, subjektive Erfahrungen oder Falschinformationen in den Medien. Gerade diese passiv erzeugten Bilder sind ein großes Problem, weil kaum über sie nachgedacht wird. Die Folge davon ist, dass sie nicht hinterfragt, sondern als Tatsachen betrachtet werden.
Ableismus entsteht also dann, wenn nicht-behinderte Menschen es als gesetzt erachten, dass ihre Vorstellungen die Realität abbilden. Es ist dabei unerheblich, ob diese Bilder negativ oder positiv gezeichnet sind.
Die unbemerkte Lücke zur Realität ist daher ein wesentliches Spezifikum des Ableismus’.
Auf der anderen Seite hängt Ableismus stark davon ab, wie eng oder breit unser Verständnis von Normalität ist. In Deutschland etwa haben wir eine Norm, die Menschen mit Behinderung nicht berücksichtigt. Egal ob in den Nachrichten, der Politik oder auf Veranstaltungen: Menschen mit Behinderungen werden selten gezeigt und gleichzeitig so gut wie nie angesprochen, egal ob als Leser*innen, Kund*innen oder Wähler*innen.
Behinderte Menschen mit Karriere- oder Kinderwunsch oder vielleicht sogar beidem gelten in Deutschland immer noch als Exot*innen. Sehnsüchte, Pläne und Meinungen werden ihnen abgesprochen. Als „abhängige Wesen” sollen sie der Mehrheitsgesellschaft Dankbarkeit zeigen, überhaupt leben zu dürfen. Hauptsache ist, sie machen sich nicht bemerkbar. Sauber, satt und still.
Wie andere Diskriminierungsformen beruht auch der Ableismus auf Macht und Unterdrückung. Diese Unterdrückungen äußern sich im Ableismus aber weniger offensiv feindlich, als darin, behinderte Menschen nicht ernst zu nehmen und ihr Wissen in Abrede zu stellen. Bedürfnisse und Wünsche werden nicht erfragt, sondern übergangen. Es ist für behinderte Menschen daher ein langer und kräftezehrender Weg, eine eigene Stimme zu erlangen.