Читать книгу Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer - Страница 7
Оглавление2. KAPITEL
Ohrensausen und Vergänglichkeit
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„Bist du allein?“
„Ja.“
„Bist du noch im Nachthemd?“
„Ja.“
„Ich liege noch im Bett, mmh.“
„Ich mache mir gerade einen Kaffee.“
„Ich denke an dich. Rate mal, was da passiert.“
Eva hörte Karl am anderen Ende schnurren. Seine Stimme war schläfrig träge. Sie goss Wasser in die Kaffeekanne. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und beschmierte ein Brot mit Butter. Sie war maulfaul. Karl stöhnte.
„Kommst du heute Nachmittag? Ich will mit dir schlafen.“ Eva fiel das Telefon von der Schulter (wegen des Schmierens), sie fing es im Flug auf. „Ich muss jetzt Schluss machen, Karl, ich muss mich fertig machen.“ Sie biss ins Brot und drückte das Sieb herunter. Karl rief jeden Morgen an.
„Kommst du?“
„Ich weiß nicht.“
Eva rechnete. Bis um drei würde sie im Auktionshaus arbeiten. Sie müsste sich etwas ausdenken, weshalb sie später nach Hause käme.
„Ich könnte nur kurz, ich muss auch sehen, ob ich die Kinder unterbringen kann“, sagte sie und goss sich Kaffee ein.
„Besser kurz als gar nicht“, säuselte Karl. „Mein Schwanz ist ganz hart.“
„Du armer Mann“, sagte Eva. „Na gut, ich komme, so um halb vier.“
Es hat Zeiten gegeben, dachte Eva, da hätte ich es nicht erwarten können. Da bin ich in meinem Leben herum wie ein Tiger im Käfig.
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Orizzonte, Meridiano, Giovanni Colombo. Sibylle betrachtete die Fotos der Schiffe im Hafen von Sciacca, die diese Namen trugen. Es war noch früh, aber mild, ein schöner Morgen Ende April. Sie musste erst am Nachmittag in die Praxis, ins hektische Neukölln, das ihr nach den Ferien hässlich und heruntergekommen erschien. Sie saß in ihrer neuen roten Jacke aus Sizilien auf der Bank vor der Apostel-Paulus-Kirche und wartete darauf, dass eines der Cafés öffnen würde. Sie hatte ihren rosa Schal ins Haar gebunden, weil es sich dann so anfühlte, als wäre es länger, und trug eine Sonnenbrille. In Neukölln genierte sie sich, wenn sie sich zurechtmachte. Hier nicht. Es war ein Stadtteil für alle.
Sie sah von den Fotos auf. In den Straßen war nicht viel los. Auf dem Balkon des Hauses gegenüber saß eine Katze. Die Fenster waren leer, die Leute schliefen noch. Die Ozonschicht wurde dünner, die Arbeitslosigkeit nahm zu, nächste Woche würde Sibylles Mutter kommen und für Wirbel sorgen, doch hier schliefen die Dreißig- bis Vierzigjährigen am Morgen bis um zehn. Ab elf würden sie herauskommen und frühstücken gehen. Sie verdienten ihr Geld im Schlaf. Dachte Sibylle. Und erschrak: Ich sehe ja genauso aus!
Sibylle schämte sich oft, wenn sie nichts Nützliches tat. Dafür gab es keinen Grund, sie arbeitete viel, von neun bis vier in der Praxis und abends zu Hause, wenn sie Abrechnungen machte, oder am Wochenende eine Fortbildung. Auf dem Heimweg holte sie die Kinder ab, die von acht bis nachmittags um fünf eine Ganztagsschule besuchten, kaufte mit ihnen zusammen ein und kümmerte sich um Familie und Haushalt. Ludwig kam meistens erst spät aus der Klinik.
Die Einzigen, die hier am Morgen unterwegs waren, waren einige türkische Frauen mit Kopftuch. Sie gingen mit ihren Einkaufstaschen zu den Obst- und Gemüsegeschäften, um schwer beladen und leicht schwankend wieder nach Hause zu laufen und offenbar Unmengen von durchaus gesunden Speisen zuzubereiten. Sie hatten etwas Zeitloses, wie ihr Stadtteil. Unbeschadet von den Wirren der Zeit, immer in Mode und jenseits der Mode, jeden Wandel sanft verwandelnd: So war Schöneberg. Ludwig liebte es sehr. Er wollte auf keinen Fall wegziehen. Hier im alten Westen, zwischen den belebten Straßen mit den Bioläden und Kneipen, indischen und italienischen Restaurants, afrikanischen Bars, neuen Bagelläden und alten Dönerimbissen, fühlte er sich jung und zugehörig. Jederzeit konnte er losgehen, ins Gioccosa um die Ecke, auf einen Cappuccino, den die Kellnerin mit ihrem Piercing in der Unterlippe für ihn besonders breit „Kappuuutsch“ aussprach. Oder mit der Familie auf eine Pizza ins Gioia, gleich gegenüber, an warmen Sommerabenden. Sie konnten draußen sitzen; niemand störte sich an den Kindern; andere hatten auch welche.
Manchmal stand Ludwig, kurz bevor er loszog, auf dem Balkon. Sah wie ein Feldwebel mit vorgerecktem Brustkorb stolz lächelnd auf das Häusermeer, die Dächer der Jahrhundertbauten, die ihn, und das war von unschätzbarem Wert, in keiner Weise an die grauenhaften Reihenhäuser in Recklinghausen erinnerten, wo er groß geworden war. Er wusste nicht, wie sehr er in dieser Haltung seinem Vater glich, einem korrekten, gut aussehenden Bundeswehroffizier, mit dem er seit Jahren nicht gesprochen hatte. Manchmal gucken uns die Eltern aus der Kopfhaut, gerade wenn wir uns weit entfernt von ihnen glauben.
Ludwig zog nach solchen Blicken über die Dächer ein geringeltes oder gestreiftes T-Shirt an, fuhr mit der Hand durch die sich allmählich ausdünnende, daher kürzer geschnittene Lockenpracht, die er jeden Abend durch eine Massage mit Birkenwasser pflegte. Er sprengte etwas Aftershave ins Gesicht, fasste kurz an den Gürtel, ob Leatherman und Pieper fest saßen, lief ungeduldig die Treppen hinunter, um dann gemächlich durch die Straßen seinem Ziel entgegenzuschlendern.
Sibylle liebte diese Auftritte Ludwigs. Zugleich war etwas in ihnen, das sie wütend machte, das sie nicht zu benennen wusste und das sie hin und wieder zu spöttischen Bemerkungen hinriss. Ein kleiner Neid vielleicht? An guten Tagen küsste Ludwig sie einfach auf die krause Stirn und zog sie mit; an schlechten fertigte er sie mit ein, zwei kühlen Sätzen ab, was sie wiederum mit einem knappen jetzt sprichst du wie dein Vater quittierte, worauf Ludwig die Tür zuschlug und verschwand. Rituale sind etwas Wunderbares.
Ich fühle mich nicht jung, wenn ich die jungen Dinger in den Kneipen sehe, dachte Sibylle jetzt auf ihrer Bank in der Ende-April-Sonne. (Sie sah ausgesprochen elegant aus, mit Tuch und Brille, was bedeutete da schon jung?) Sie hatte die Kinder zur Schule begleitet und war langsamer als sonst durch die Straßen zurückgegangen. Schlendernde Frau am Morgen, an den Bäumen erstes Grün, so zart und fein, dass das Sonnenlicht hell und tanzend hindurchfiel. Ein einzigartiges Licht. Sie hatte die milde Luft eingeatmet, war verdutzt stehen geblieben: Die Schuhreparatur hatte das Fenster umdekoriert. Ein einziges Paar roter Frauenschuhe stand da. Auf der ganzen Fläche vor dem altmodischen, halbhohen Vorhang, der die Einsicht in den Laden verhinderte. (Alles auf alt zu trimmen war eine neue Mode.) Die Schuhe wirkten klobig, mit schweren Absätzen, wie eigentümliche Gefäße. Worauf warteten sie? Auf ein Paar Frauenfüße? Nein. Die roten Schuhe sahen so aus, als warteten sie auf etwas anderes, Größeres. Ganz allein standen sie da im Fenster und warteten.
Sibylle hatte sich regelrecht losreißen müssen. Sie hatte ihre Bilder im Fotogeschäft abgeholt; es machte schon um acht Uhr auf. Die Gesichtsfarbe des Verkäufers wurde immer gelblicher. Er sollte einmal seine Leber untersuchen lassen, hatte Sibylle gedacht, sich aber jeden Kommentar verkniffen. Ludwig hatte selbstverständlich eine Digitalkamera, von Ebay, doch Sibylle hielt an ihrem alten Fotoapparat fest und hoffte, dass es nicht allzu bald unmöglich werden würde, Abzüge machen zu lassen.
Sie hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Unordnung wartete dort auf sie, schmutzige Wäsche und Rechnungen. Sibylle hasste Unordnung. Das Au-pair sollte erst einmal aufräumen. Zu dumm! Sie hatten gar kein Au-pair mehr! Plötzlich bekümmerte sie der Gedanke, dass sie die nächsten zehn, zwanzig Jahre nach Neukölln in die Praxis fahren müsste. Neukölln war auch so unordentlich. Sibylle stand noch immer unter dem Schock der Rückkehr aus Sizilien. Jedes Mal, wenn sie aus den Ferien in ihre Altbauwohnung zurückkehrte, erschrak sie. Wie improvisiert alles wirkte, sie kühl und ausdruckslos ansah. Jedes Mal begann sie eine Diskussion mit Ludwig, wie sehr sie sich ein eigenes Haus wünschte, und wie anders dort alles sein würde. Dann nahm der Alltag wieder Besitz von ihr, die Wohnung füllte sich mit Leben, sie vergaß.
Sie würde sich um eine Putzfrau kümmern müssen. Jetzt aber wollte Sibylle erst einmal hier auf der Bank sitzen, den schönen Morgen genießen und ihre Fotos betrachten. Sie las noch einmal die Namen der Schiffe im Hafen von Sciacca und dachte an ihre nächtliche Unterhaltung mit Stefan. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie schloss die Augen hinter den dunklen Gläsern, wartende rote Schuhe blitzten auf, Stefans schmales Gesicht mit dem auffallenden, roten Mund. Sie sah sich in seiner Umarmung. Schüchtern, scheu, voll Wärme, so wie sie es hin und wieder träumte. Eine innige Umarmung, keine hitzige, sexuell aufgeladene. Aus solchen Träumen erwachte sie zufrieden und melancholisch zugleich. Sie lösten ein ähnliches Gefühl aus wie ihre Tagträume vom Leben auf dem Land, die ihr aus unerfindlichen Gründen peinlich waren, trotz der ewigen Diskussionen über ein Haus, genauso wie Ludwigs Wunsch, eines Tages auszuwandern; sie empfand eine leise Scham, als handelte es sich um die Aussteigerwünsche eines halbwüchsigen Jungen, der sie mit rau quietschender Stimme in die Klasse krächzte. Eines Erwachsenen nicht würdig, dachte sie. Aber trugen nicht alle Menschen ein solches Bild von sich selbst im Innern? Ein Sehnsuchtsbild, das alles in sich verdichtete, was man gern sein wollte, wie man das Leben gern verbringen wollte? Für die eine war es eine Schlittschuhläuferin, die im altmodisch langen Mantel, die Hände in einen Muff gesteckt, auf einem See ihre Achten fuhr, ihre Spuren ins Eis kratzend, das in der Sonne leise knackte, vorwärts, rückwärts, der Atem in der kalten Luft vor dem Mund. Einer anderen war es die Schwimmerin, die sich geradlinig durchs schimmernde hellblaue Wasser bewegte.
Und für sie selbst? Sibylle musste nicht lange nachdenken. Für sie selbst war es die Reiterin, die auf einem braunen, gelenkigen Pferd durch Wald und Wiesen galoppierte, das heißt, es war vor allem das körperliche Gefühl, an das Sibylle dachte, den beweglichen Rücken des Tieres unter sich, mal ruppiger, mal weicher. Sie dachte weniger an die Landschaft, die sie durchquerte, (obwohl sie oft den Frühlingswind wusste, junges Grün), sondern vor allem das Gefühl ihres Körpers auf dem des Tieres, in der intensiven Bewegung, die Muskeln des Pferdes, das Auf und Nieder beim Traben, das Nachgeben und wieder Anpressen ihrer Beine.
Ihre Versuche, diesem Bild eine Wirklichkeit zu geben, waren im letzten Jahr gescheitert. Sie hatte vor dem sechshundert Kilogramm schweren Wesen Angst bekommen, das nervös von ihr geführt an den Zügeln ging und auf jedes Geräusch reagierte. Das sie schubste und versuchte, vorneweg zu gehen, während der Reitlehrer ihr von hinten immer wieder zurief, sie müsse unbedingt führen. Die Angst, die fast eine Art Ehrfurcht war, hätte sie vielleicht mit der Zeit überwinden können, nicht jedoch die Reaktion ihrer Haut und Schleimhäute: Nach fünf Minuten begann sie zu niesen, was das Pferd mit gespitzten Ohren schadenfroh zur Kenntnis nahm, und nach einer halben Stunde breitete sich ein grässlicher Ausschlag auf ihrem Hals, im Gesicht und an ihren Unterarmen aus, juckend und rot. Dass die Nase ständig lief und sie in Gegenwart des amüsierten Pferdes schniefen und niesen musste, hätte sie hingenommen, doch die Quaddeln, die sich rasch zu Erhebungen auswuchsen, waren unerträglich. Sie dankte dem Lehrer, verabschiedete sich und bedauerte es zutiefst, diese Sehnsucht in der Fantasie verschließen zu müssen.
Sibylle dachte plötzlich, dass es eine hübsche Idee wäre, die Freunde zu einer Art Urlaubsnachbereitung einzuladen, zu einem Essen. Sie steckte die Fotos in die vollgestopfte Tasche, grub ihr Handy heraus und tippte Evas Nummer ein. Drückte auf den roten Knopf, bevor es klingeln konnte. Sie spürte ein sonderbares Sausen im Ohr.
Es hatte ihr gefallen, mit Stefan über Musik zu reden und nicht immerzu über medizinische Probleme. Ludwig wurde in Evas Gegenwart oft angenehm gelöst, er lachte oder brummte wie ein Bär. Sie hatten miteinander geschlafen. Sie hatte dabei an ‚Die vierte Hand‘ von John Irving gedacht, worin dem Helden ein Löwe die Hand abbiss. Genaugenommen hatte sie an den Arzt gedacht, der ihm die Hand wieder annähte. Irving erzählte hundert Seiten lang nur von ihm, als hätte er den Mann mit der Hand ganz vergessen. Das fand Sibylle zunächst verwirrend, dann aber schön. Sie vertraute Irving, las alle seine Bücher. Sie las überhaupt gern Neuerscheinungen.
Sibylle spürte Tränen aufsteigen. Sie spürte, dass sich ihr Bauch aufblähte. Seit ihrer Rückkehr litt sie an Verstopfung. Sie wollte auf keinen Fall darüber grübeln, weshalb und wieso; sie würde mit dem Kaffee ihr probates Mittel herunterspülen, sanft und zuverlässig. Sie wollte an etwas Schönes denken. Sie wollte die Ferien noch ein wenig nachwirken lassen, bevor sie zu ihren Kranken in Neukölln fuhr.
Sie zwang sich, an den Markt von Sciacca zu denken, auf dem sie die frischen Fische geholt hatten, an den Geschmack der Vorspeisen in dem Restaurant, in dem sie den letzten Abend gefeiert hatten, die Wanderung, die sie an einem der wärmeren Tage am Strand unternommen hatten. Immer wieder tauchte Stefans Gesicht auf, sein Lächeln, seine Bescheidenheit, seine Aufmerksamkeit, wenn er ihr am Tisch einschenkte oder den Salat reichte. Er hatte nicht geflirtet, gerade deshalb konnte sie es genießen; keine beunruhigenden Gefühle kamen auf und machten den Urlaub mit den Freunden kompliziert. Das Leben fühlte sich oft genug verworren und unüberschaubar an; sie liebte es, wenn alles seine Ordnung hatte. Manchmal allerdings beschlich sie die leise Frage, ob dies denn wirklich alles sein sollte.
Sie holte das Heft ‚Arzt und Kunst‘ aus ihrer Tasche und blätterte darin. Es war erstaunlich, wie manche ihrer Kollegen die Zeit fanden, großformatige Bilder zu malen. Wann machten sie das bloß? Einer malte Frauen, die an Geräte angeschlossen waren und dabei ihre Formen verloren wie die Sanduhren von Dalí in der Wüste; einer zerschnitt mit dem Pinsel magere Körper und fügte sie in schrillen Neonfarben neu zusammen; und eine Hautärztin, die auf dem Foto die Zähne bleckte, malte naive Köpfe, aus denen unheimliche Rankpflanzen wucherten und in deren Augen sich öde Hochhäuserblocks spiegelten.
Sibylle blätterte schnell fort von diesen Bildern und wandte sich den medizinischen Reportagen des Magazins zu. Die Tabellen waren optisch aufgepeppt, und die Berichte über Tests mit Naturheilpflanzen lasen sich, als handelte es sich um Expeditionen ins ewige Eis. Sibylle fing an zu lachen. Was für einen Vogel hatten sie denn da aufgetrieben, für den die Beschreibung von gastrointernen Vorgängen ein Abenteuer war? Sie würde Ludwig am Abend daraus vorlesen; er lächelte immer abfällig, wenn sie über die pflanzlichen Mittel sprach, die sie ihren Patienten empfahl. Sie las eine Menge Bücher über alternative Medizin und Hausmittel. Sie versteckte sie unter dem wackligen Sofa, das sie aus ihrer Studentenbude in ihr Zimmer in der gemeinsamen Wohnung mitgebracht hatte. Dort lagen auch, hinter den anderen versteckt und von Staubmäusen bedroht, Bücher mit Titeln wie ‚Krankheit als Chance‘, ‚Der Körper – dein Weg‘, ‚Die Weisheit der Steine‘ und ähnliche Werke, die Ludwig ohne Zögern als esoterische Scheiße bezeichnen würde.
Plötzlich fand Sibylle es ärgerlich, wie oft Ludwig über sie spottete. Plötzlich dachte Sibylle noch intensiver an Stefan, der mit ihr so freundlich über die Madonna von Palermo gesprochen hatte, eine Holzfigur, die bei einer Geburt aus Mitgefühl für die werdende Mutter echte Tränen geweint hatte.
Das nächste auf Hochglanzpapier besprochene Mittel war das Keuschlamm, das agnus castus, eine altbewährte Heilpflanze in sämtlichen Fällen von Hormonstörungen. Der Autor genierte sich, von Gebärmüttern und Brüsten zu sprechen. Sibylle las Verächtlichkeit heraus. Sibylle war es schon oft aufgefallen, dass Männer, die über Menstruationsbeschwerden schrieben, etwas Süffisantes oder etwas Mitleidiges hatten. Als haftete den Worten etwas Unerlaubtes, gar Glitschiges an. Auch bei Unfruchtbarkeit und den hormonellen Umstellungen auf dem Weg in die Wechseljahre schien eine gewisse Verunsicherung zu herrschen, welcher Ton denn der angemessene sei. Noch schlimmer wurde es allerdings zu Sibylles Vergnügen, ging es um die delikaten Störungen der Erektion. Erst dank des bewundernswerten Einsatzes des ehemaligen Fußballers Pélé konnte das Problem öffentlich angesprochen werden, das heißt in Anzeigen und Fachartikeln.
Sibylle liebte das keusche Lamm. Sie gab es Frauen, die sich Kinder wünschten. Sie nannte es aus Jux Keu-Schlamm. Schließlich erhöhten alle möglichen Arten von Schlamm die Fruchtbarkeit. Im letzten Jahr hatte sie eine Schauspielerin als Patientin gehabt, die glaubte, an einer Magen-Darm-Grippe zu leiden. Die Schauspielerin war schwanger. Mit Zwillingen. Sie war ganz aus dem Häuschen geraten. Sie erzählte Sibylle, dass sie jahrelang trotz heftigen Kinderwunsches nicht schwanger geworden sei. Sie könne es gar nicht begreifen. Sie habe in den letzten Monaten hart gearbeitet. Sie spiele die Marie in Büchners ‚Woyzeck‘ an mehreren Abenden in der Woche. Sie müsse bei jeder Vorstellung für längere Zeit in einem Schlammloch auf der Bühne liegen.
Sibylle hatte angefangen zu lachen. Der Schlamm, hatte sie gerufen, es liegt am Schlamm! Die Schauspielerin hatte etwas beleidigt reagiert, war jedoch am Ende des Jahres mitsamt ihren Babys zu Sibylle gekommen. Sie berichtete ihr kichernd, dass das Theater in diesem Jahr einen enormen Sonderposten für Schwangerschaftsvertretungen aufzubringen hatte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen (die Hormone). Drei Maries, die sie vertreten hatten, waren ebenfalls schwanger! Sibylle witterte einen potenten Woyzeck hinter dieser ungeheuren und offenbar alle Beteiligten überraschenden Kinderschwemme. Doch diese Umstände zu erkunden war ihr leider nicht vergönnt.
Das Keuschlamm war wie der ebenso keusche Mönchspfeffer äußerst effektiv, wenn den Frauen vor der Menses die Brüste zu platzen schienen und sie über alles und nichts in Tränen ausbrachen oder Kopfschmerzen aus heiterem Himmel bekamen, wenn ihre Eier, unregelmäßig produziert, allzu lebhaft sprangen und sie an allem verzweifeln ließen, auf dem holprigen Weg ins Alter. Derselbe Mönchspfeffer, der jungen Frauen zu Kindern verhalf, half ihnen später kostenoptimiert, mit dem Keine-Kinder-mehr-kriegen-Können klarzukommen. Sibylle war jetzt zweiundvierzig und spürte manchmal gewisse Veränderungen. Zu gegebenem Zeitpunkt würde sie für sich selbst auf jene Mittel zurückgreifen.
Zunächst aber sah sie voller Freude, dass die Cafébesitzerin an der Ecke die Türen ihres Reiches aufschloss; sie konnte es kaum erwarten, eine schöne Schale sanft gerösteten Kaffee mit perfekt geschäumter Milch zu trinken und – was sie sich nur zweimal im Monat gönnte – ein buttrig knuspriges Croissant hineinzutunken.
Aufgeregt und nun doch mit einer gewissen Entschlossenheit kramte sie ihr Handy aus dem vielseitigen Inneren ihrer Handtasche. Sie rief Eva an und lud sie und Stefan auf dem Band, das ansprang, zum Fondue am Samstag ein. Die Fotos seien fertig. Sie ließ Stefan grüßen. Sie spürte wieder das Sausen im Ohr und wurde ein bisschen rot.
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Eva saß im Nachthemd auf ihrem und Stefans Bett. Sie hatte die Vorhänge aufgezogen und das Fenster geöffnet. Die Vögel zwitscherten. Die Luft strömte angenehm in den Raum. Sie hörte das Telefon klingeln. Das Band sprang an. Sie hatte nach dem kurzen Gespräch mit Karl Kaffee, Brot und Tageszeitung ins Bett mitgenommen. Sie überflog die üblichen Kriegs- und Krisenberichte, das übliche Wir-kennendas-schon-Alles im Kulturteil. Heute brachte Stefan die Kinder in die Schule und in den Kindergarten; sie musste erst um zehn bei Spoerli antreten. Eva war gereizt bei der Vorstellung eines hektischen Rendezvous mit Karl.
Karl Ebeling war sechsundfünfzig Jahre alt, Gebrauchtwagenhändler und viel in Osteuropa unterwegs. Er hatte eine Halbglatze, die Eva äußerst anziehend fand, ein Meerjungfrauentattoo am rechten Oberschenkel, sehnsüchtige graue Augen und so eine Art, die Hände an Evas Beinen heraufwandern zu lassen, die sie immer wieder „aber Herr Karl!“, seufzen ließ. Sie hatten seit vier Jahren ein Verhältnis. Am Anfang hatte es Eva fast den Verstand gekostet; sie fühlte sich, als hätte man ihr die Haut abgezogen, nackt, empfindlich, aufgewühlt. Die Kinder waren noch klein und forderten alles von ihr; ihre Nächte waren unterbrochen; durch die ständige Übermüdung geriet sie in einen luziden Zustand, in dem sie sich um so mehr nach körperlicher Liebe sehnte. Ihre Erfüllung erforderte allerdings eine abenteuerliche Organisation des Alltags.
Eva war sich sicher, dass Karl sich in sie verliebt hatte, weil ihr Busen so dick war; sie hatte Lucie damals noch gestillt, sie war gerade fünf Monate alt. Karl hatte ihren Busen hingebungsvoll gestreichelt. Als der Busen wieder kleiner wurde und Eva vom vielen Stress ganz dünn, bevorzugte Karl es allerdings, sie mit Blick auf ihren Rücken zu lieben.
Karl hatte angehalten, als sie mit einem geplatzten Reifen am Straßenrand zwischen Berlin und Kleinmachnow stand. Sie hatten den Reifen gewechselt, tiefe Blicke und die Telefonnummern. So hatte es begonnen. Es hatte leidenschaftlich begonnen. Eva hatte gedacht, Karl würde der Vater ihres vierten Kindes. Sie hatte es Stefan gesagt. Es wird vorübergehen, hatte Stefan gesagt, bleib bei mir. Dann hatten sie vor dem Fernseher gevögelt. Ich will nicht, dass du dich trennst, hatte Karl gesagt. Und sie hatten in seinem großen, frisch bezogenen Bett gevögelt. Und so war es geblieben. Karl hatte zwei erwachsene Kinder und lebte von seiner Frau getrennt. Er hatte sich nie scheiden lassen.
In der letzten Zeit schien es für Eva immer schwieriger zu werden, Zeit für den Herrn Karl zu finden. Seine Wohnung fing an, seltsam zu riechen, nach Staub und abgestandener Luft.
Eva warf die Zeitung auf den Boden und blätterte ungeduldig in einem Kunstband über August Macke. Sie suchte etwas. Wüsste sie nur, was. Rastlos überlegte sie, wohin sie als Nächstes gern reisen würde und welches Zimmer im Haus sie in den Farben Mackes streichen könnte. Als könnte sie damit gegen das seltsame Gefühl angehen, das sie seit einiger Zeit immer wieder befiel, sich zu schnell oder zu langsam durch das Leben zu bewegen. Sie betrachtete ihre Höhle, in der sie sich in letzter Zeit oft fortträumte oder sich einrollte und schlief.
Die Wände des Zimmers waren in einem warmen Braunton gehalten, Schrank und Nachtschränke aus dunklem Holz, und über dem Bett schwebte ein Baldachin, den sie in einem satten Orange gefärbt hatte und an dessen Seiten rostrote Gaze in großzügigem Schwung herabhing, in der vermutlich Heerscharen von Staubmilben hausten und sich über sie lustig machten. Goldgemusterte, grüne und orange Kissen türmten sich am Kopfende, die Tagesdecke lag seit Tagen zerknüllt am Fußende. An den Wänden hingen neben dem mit Lebensratgebern, Romanen und Reiseführern vollgestopften Bücherregal asiatische Münzpuppen, die sie keineswegs aus Bali mitgebracht, sondern vom Flohmarkt am Siebzehnten Juni, und ein türkischer Kelim, den sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Die Nachttischlampen waren aus buntem Glas und für abendliches Lesen zu funzelig. Hinter dem Bett an der Wand hatte sie durchschimmernden Stoff aufgehängt, der den Zeltcharakter des Ganzen betonen sollte. Ja, ein Zelt für liebende Nomaden sollte dieses Bett sein, eine Insel in der Brandung des Gewöhnlichen, ein Ort des Rückzugs für erregte Begegnungen zwischen Mann und Frau, die sich immer wieder neu voller Lust und Zärtlichkeit entdeckten. Die aus diesem geheimnisvollen Raum der Seufzer und flüsternden Stimmen an die Oberfläche des Alltags auftauchten und mit strahlender Energie Schulbrote, Waschmaschinen, Steuererklärungen, Aldi-Einkäufe und Orchesterproben bewältigten.
So etwa hatte sich Eva es jedenfalls gedacht, und allen Ernüchterungen zum Trotz konnte und wollte sie von dieser Hoffnung nicht lassen. Nach Ermutigung suchend sah sie zum Lüsterweibchen hinauf, das oben an der Decke schaukelte, eine alte Schiffsfigur in der Form eines beschwanzten Meerweibchens, dessen nackter Oberkörper zart geschnitzt war und dessen Augen sie unternehmungslustig anzublitzen schienen.
Anka hatte ihr die Figur zum fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt, sie hatte sie in einem alten Trödelladen in Hamburg gefunden. Ihre Schwester Anka, die nur fünfzehn Monate nach Eva auf die Welt gekommen war, hatte zu dieser Zeit zwei Semester am Institut für Meeresbiologie in Hamburg Vorkehrungen zum Schutz bedrohter Meerestiere studiert, bevor sie sich in Tübingen mit der Bedeutung wasserreinigender Pflanzen für Rieselfelder in extrem trockenen Ländern befasste. Sie hatte sich mit neunzehn in den militanten Greenpeace-Aktivisten Leon verliebt und sich bei mehreren spektakulären Einsätzen mit ihm anketten lassen: vor das EU-Parlament in Brüssel gegen den Robbenfang, an das Eingangstor des neuen Reaktors in Wackersdorf, an das Geländer des Walfischbeckens im Kopenhagener Zoo, an eine Erdölstation in der Nordsee. Nachdem Leon sie eines Nachts im Schlaf mit Handschellen an sein Bett gekettet hatte, hatte sie ihn umgehend verlassen. Eine Serie von Paläontologen und Recyclingexperten war gefolgt. Anka zapfte ihr Wissen an, stellte das ihre nicht kleinlich zur Verfügung und beglückte sie mit ihrer unkomplizierten Körperlichkeit.
Wenn sie sich verliebte und wenn es zu Ende ging, rief sie Eva an. Sie redete dann ohne Punkt und Komma. Wenn sie „Evachen“ ins Telefon flötete, wusste Eva, dass sich Ende und Anfang der Liebe unglücklich überschnitten und Anka bald mit ihrem Rucksack vor der Tür stehen würde. Anka fand es praktisch, bei den Männern zu wohnen. („Wozu soll ich eine eigene Wohnung haben, wenn wir die Nächte ohnehin zusammen verbringen? Für tagsüber brauche ich keine Wohnung, ich bin unterwegs!“) So ergaben sich hin und wieder obdachlose Übergangssituationen. (Sie zahlte übrigens immer einen Anteil an der Miete.) Eva freute sich. Sie liebte ihre kleine Schwester über alles, und auch Sina war begeistert von ihrer ulkigen Tante. Im Gegenzug konnte Anka Eva entlasten, sie hütete die Kinder, damit sie schnell und ohne die drei im Wagen oder auf dem Arm einkaufen konnte, sie bot Zubettgehbetreuung, wenn Stefan in der Oper war und Eva einmal zu Nora, Karl oder einem anderen Menschen wollte.
Anka hatte ein Bett auf dem Dachboden. Sie hatten dort zwei Paar Lederschlittschuhe gefunden, die für die Kinder zu groß und den Schwestern zu klein waren, und einen alten Pappkoffer mit Spielzeug, von dem sie nicht so recht wussten, ob dies aus den Dreißigerjahren oder aus der DDR der Fünfzigerjahre zurückgeblieben war: ein Kochherd, Autos, ein aufziehbarer Blechfrosch. Sie hatten alles aufgehoben, und nur, wenn Anka kam, durften die Kinder dort oben spielen. Damit es etwas Besonderes blieb. In Ankas Abwesenheit betrat niemand diesen verstaubten Raum voller Spinnweben und Insektenleichen, und Eva putzte ihn erst, wenn ihre Schwester sich ankündigte. Anka hatte dort eine Kiste deponiert, in der sie ein paar wichtige Gegenstände ihres Lebens aufbewahrte: ihre ersten selbst gekauften Bergsteigerstiefel, ihr erstes Mikroskop, Pflanzen- und Tierbücher aus der Schulzeit, die Vogelbücher ihrer Mutter, Fotos von ihren Freunden, Briefe, Fahrkarten. Während Eva zum Ballettunterricht gehüpft war, hatte Anka es vorgezogen, mit Gummistiefeln durch den Schlamm zu waten. In dem Jahr, in dem Eva ihr Praktikum bei Sotheby’s in London absolvierte und lernte, Antiquitäten zu katalogisieren und zu archivieren (um später bei Frau Spoerli besonders gründlich Silber putzen zu können), studierte Anka die Endlichkeit der Ozeane und die Prognostik von Umweltkatastrophen.
Du bist ein Wandervogel wie Mama, sagte Eva manchmal. Lass mich mit Mama in Frieden, sagte Anka, fort ist fort. Nur in seltenen Momenten, wenn es sehr spät war und sie alles durchhatten und sehr viel getrunken, flüsterten die beiden jungen Frauen miteinander über ihre Mutter, die so gern in den Wäldern umhergelaufen und eines Tages nicht mehr wiedergekommen war. Zwischen Weihnachten und Neujahr, Schnee war gefallen, getaut, gefallen. Anka war siebzehn, Eva kurz vor dem Abitur. Doch sonst wollte Anka vom Vogelweh ihrer Mutter nichts wissen, so wie Eva nicht über ihre Liebeswirren sprach.
Eva nickte dem Lüsterweibchen zu. ‚No risk, no fun‘, seufzte sie und stand auf. Keiner ihrer Kollegen, keine ihrer Kolleginnen bei Spoerli würde sich so einrichten wie Eva. Bei ihnen waren Möbel, Vorhänge und Teppiche in einem einheitlichen, eleganten Stil gehalten; Biedermeier wurde bevorzugt. Eva war ohnehin eine Ausnahmeerscheinung in der Branche, in der die meisten dem eigenen Geschlechte zugetan und ohne Nachwuchs waren und sich daher gern und mit einer gewissen Milde in der Stimme nach Evas Kindern erkundigten. Eva war sich nicht sicher, ob diese Nachsicht ihr galt, die ihrem Fortpflanzungsdrang so offenkundig nachgab, oder ihnen selbst, die ihm auf immer entsagt hatten. Nur Frau Spoerli senior, die immerhin eine Tochter und diese auch in ihr Geschäft eingebunden hatte, lächelte manchmal melancholisch, wenn sie darüber sprach, dass sie nun wohl keine Enkel mehr bekommen würde. Ihre Tochter nämlich, über deren Entstehen wenig bekannt war, liebte Frauen.
Die reinen leuchtenden Farben Mackes passten so wenig in Evas schummriges Schlafzimmer wie sie selbst an diesem Tag ins hell ausgeleuchtete Auktionshaus, in dem dreißig Kronleuchter blinkten und die übereinander ausgelegten Teppiche, die dicht an dicht gehängten Bilder, die Vitrinen mit dem Silber, den Gläsern und dem Porzellan, die Meisterstücke aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Schreibkommoden und Sekretäre aus dem neunzehnten, die Schränke und Kommoden aus dem Süddeutschen, Norddeutschen und die filigranen Sitzmöbel aus Frankreich, so gut es ging, beleuchteten. Sie beleuchteten auch, leider etwas fahl, die Gesichter der Besucher, die sich an den Tagen vor der Auktion in den Ausstellungsräumen drängten. Sie ließen ihre Falten schärfer hervortreten und machten ihre Haare, die spärlicher wurden, einzeln sichtbar, darunter die weißliche, manchmal schuppige Kopfhaut, und sie zeigten jeden Fussel und jede abgewetzte Stelle an zu lange getragenen Jacken und Mützen. Tatsächlich kamen im Herbst und Winter, bis ins Frühjahr hinein, auffallend viele Mützenträger zu Spoerli. Es waren graue, noch häufiger aber karierte Sportmützen mit einem schmalen Schirm über der Stirn, die die Männer trugen, und oft passte der Stoff zu den ebenso auffallend häufig bevorzugten karierten Tweedjacken, unter denen nicht selten noch eine karierte Weste hervorlugte. Die jüngeren Männer kamen in Cordhosen und Rollkragenpullovern, im Sommer in offenen Hemden. Aber jetzt, Ende April, war es noch recht frisch.
Recht frisch hatte Frau Fanny Schattenfroh, die langjährige, unentbehrliche, wenn auch zu Kapriziösem neigende Angestellte von Elsbetha Spoerli, diese Woche ihr Haar aufschwärzen lassen, und viel Festiger verhalf der beachtlichen Hochfrisur zu energischem Stand, während Spoerli die Jüngere seit Jahr und Tag ihre immer dünner werdenden Haare offen trug, als wäre sie ein siebzehnjähriger Hippie. Die Tochter wirkte wie der blasse Schatten der imponierenden Mutter, und es schien, als erkämpfte sie sich ihr Daseinsrecht jedes Mal erneut, wenn sie hinter dem Computer Platz nahm, um die Kalkulationen des Hauses zu betreuen. Wieland, der nur wenig älter war als Eva, hatte die Haare gleich ganz geschoren, und Albrecht pflegte einen altmodisch vollen, langsam ergrauenden Studentenschnitt der späten Siebziger. Tatsächlich hatte er Kunstgeschichte studiert, aus seinem Studentenjob war eine feste Anstellung im Hause Spoerli geworden.
Evas Blick blieb in der letzten Zeit häufiger an der Haarpracht anderer Menschen hängen; sie verzeichnete die Spuren des Verfalls und der Täuschung, während sie mit sich selbst noch an jedem Morgen vor dem Spiegel haderte, ob sie dem beginnenden Verlust ihres rostbraunen Tons mit Cremes entgegentreten sollte. Sie beobachtete auch, wie sich die Zähne der Menschen veränderten, wie sie einen gelblichen, in höherem Alter bräunlichen Schimmer annahmen, wie Lücken dämmerten und Kappen golden aufblitzten. Sie registrierte eine gute Pflege ebenso erbarmungslos wie eine nachlässige, und vielleicht war es diese allmählich obsessiv werdende Beschäftigung mit dem natürlichen Verfall, die ihren Widerwillen gegen das mit alten Dingen angefüllte Auktionshaus erregte. Als suchte sie nach einem Ausgleich, sah sie sich auf ihren Wegen nach Häusern um, die aus Glas und Beton gebaut waren. Doch wozu, sie hatten ihr Häuschen aus den Dreißigerjahren, das bestenfalls den Anbau einer verglasten Veranda, viel nötiger jedoch einen neuen Anstrich vertragen könnte. Seltsam, früher war es gerade die Patina des Vergangenen, die sie zu ihrer Arbeit verlockt und ihr Freude bereitet hatte, ob Schmuck, getragene Kleider vom Flohmarkt oder angestoßene Möbel. Nichts Neues, Unbenutztes mochte sie, mit Ausnahme von Büchern. Bei Büchern hatte sie es am liebsten, wenn sie noch in ihrer Plastikfolie eingeschweißt waren, wenn sie sie als Erste öffnen und abziehen durfte, wenn sie an den Seiten schnuppern konnte, die noch nach dem Druck rochen.
An diesem Morgen spähte sie geradezu verzweifelt nach jüngeren Menschen. Sie wäre schon mit einem dieser kinderlosen Paare in ihrem Alter zufrieden gewesen, in deren Salon genannten Wohnzimmern Kronleuchter hingen und die immer noch eine ausgefallene Recamière oder einen aparten Sekretär suchten, auf dem sie die in Silber gerahmten Porträts ihrer Familie oder beeindruckend große Vasen mit Lilien, Gladiolen und anderen einst verborgene Sinnlichkeit signalisierenden Gewächsen aufstellten.
Eva ließ die Blicke schweifen.
Fanny Schattenfroh war offenbar wild entschlossen, den Frühling beherzt anzugehen. Sie trug ein giftgrünes Kleid, das ihre reifen Formen hervorhob; an ihren Ohrläppchen, die allmählich labberig wurden wie die eines indischen Elefanten, glitzerten zwei Diamanten mit Jadeeinlage, passend zum Kleid, in der Form zweier verspielter Delfine. Das Gesicht hatte sie mit rosa Rouge und etwas zu hellem Puder bestäubt, und ihren Gang bestimmten spitze grüne Schuhe, die Eva an das angestrengte Lächeln der Callas denken ließen. Vielleicht hatte sie Krach mit Spoerli der Jüngeren gehabt; die beiden ließen einander links liegen, und Spoerli die Jüngere sah sorgenvoll aus. Die beiden ungleichen Frauen hatten sich im Bund gegen die Seniorin miteinander befreundet. Brigitta Spoerli die Jüngere lebte allein; ergebnislos suchte Eva in ihrem Gesicht nach früherer Schönheit; eine unglückliche Liebe, so munkelte man, habe es mit dreißig verwüstet. Jedes Mal, wenn Eva sie ansah, murmelte sie die einzigen Zeilen eines Liebesgedichts, die sie sich jemals hatte merken können:
Wenn vierzig Winter deine Stirn umdrängen,
der Schönheit Flur voll Furchen steht, verheert,
und deiner Jugend Kleid, dran so viel Augen hängen,
ist Plunder, Kram, und keinen Groschen wert.
Worüber sie nicht nachgedacht hatte, war die Tatsache, dass es in Shakespeares Sonett um die endliche Schönheit eines Menschen ging, der offenbar nicht im Gesicht seines Kindes fortleben wird oder will, sondern nur in den Versen eines Dichters, der dies an anderer Stelle eine rechte Verschwendung schalt. Zu Anfang herrschte an diesem Morgen wenig Betrieb; ein hanseatischer Händler beschäftigte Eva seit einer dreiviertel Stunde damit, jeden Meißenteller, jede Meißenschale, jeden Meißenkrug einzeln aus den Vitrinen zu holen und ihm zu zeigen. Er war zum ersten Mal da und offenbar von einem Jagdfieber befallen, das ihn überraschte und verzückte. Seine zerfurchten Wangen glühten, das weiße, wallige Haar, das sich unordentlich im Nacken kräuselte (vermutlich hatte er keine Frau, die ihn regelmäßig von hinten sah und zum Friseur schickte), leuchtete geradezu, und manchmal musste er sich mit einem weißen Stofftaschentuch den Schweiß von der gewölbten Stirn wischen.
Er hatte sich aus dem Internet die Listen der Auktion ausgedruckt (offenbar wusste er nicht, dass Spoerli den eigens für jede Auktion hergestellten Katalog gern verschickte) und ging nun alle Positionen mit Eva durch. Er stellte sich immer dichter neben sie, wenn sie sich ein wenig recken musste, um eine Schale oder einen Obstteller vorsichtig aus dem oberen Teil der Vitrine zu nehmen. Zu allem Überfluss musste sie ihm noch die Kammer zeigen, in der all jene geblümten und mit Gold verzierten Tassen, Teller, Suppen und Beilagenschüsseln in hohen Metallregalen aufbewahrt wurden, die in längst verblichenen Großfamilien an Sonntagen die Tafel zum Durchbiegen gebracht hatten. Geschirre, auf und in denen köstlicher Fisch, duftende Kartoffeln, die nach baltischem oder friesischem Großgrundbesitz schmeckten, geschmorte Möhrchen, Kalbsbraten mit Pilzsoße und andere Leckereien darauf gewartet hatten, vorgelegt, vertilgt, verspeist und verdaut zu werden, um daraufhin gestapelt, gesäubert, erneut gestapelt und fortgeräumt zu werden, und für die in den offiziellen Ausstellungsräumen unbedingt Platz geschaffen werden müsste, da doch das Interesse an großbürgerlicher bis adliger Lebenskultur in den letzten Jahren deutlich wiedererwacht war.
Nicht nur das. Seit einiger Zeit schossen in der Stadt Adlige selbst wie Pilze in einem feuchten Spätsommer aus dem Boden; vorbei waren die Jahre des inneren Exils, in denen man seinen Titel besser verschwieg und die Stammbaumtafeln auf dem Speicher verwahrte. Sie kamen aus allen Winkeln, beriefen sich auf verarmte Vorfahren im Ostpreußischen, insbesondere im famosen Baltikum, in dem es von kultivierten Großtanten und -onkeln nur so wimmelte; eine Region, die es fast mit der berühmten Bukowina aufnehmen konnte, in der angeblich die Hühner mit ihren Krallen Hölderlin-Verse in die sandige Erde kratzten. Die Adligen trafen sich zum Austausch von Osterrezepten und Pomeranzenschnaps, schmähten Nestbeschmutzer, die es wagten, anstößige Romane über ihre Kreise zu veröffentlichen (ja, auch Frau von Plessen fand ihre Nachfolgerinnen), und trugen auf ihre stets die Form wahrende Weise zum kulturellen Aufschwung der Stadt das Ihrige bei. Eva beneidete sie um ihre Kenntnis einer um Jahrhunderte zurückreichenden Familiengeschichte. Und natürlich verliebte sie sich immer wieder in zauberhaft gebildete Wesen, die es unter ihnen gab und denen ein letzter stiller Rest eines längst untergegangenen Europas anhaftete wie ein leichtes, sehr altes und doch immer noch verführerisches Parfüm.
Ob liebenswürdig oder eingebildet, sie alle brauchten ordentlich Geschirr. Denn Erbe hin, Erbe her, die meisten materiellen Dinge waren im Krieg verloren gegangen, und bei den beliebten kulinarischen Großtreffen wollte man schließlich nicht von Ikea-Tellern speisen. Auch wenn es nicht möglich war, dieselben Stücke in den Händen zu halten wie einst Tante Liliane oder Großmutter, sollten sie wenigstens daran erinnern. Aus all diesen Gründen und in jedem Fall also hätte Frau Spoerli gut daran getan, für diese Dinge draußen Platz zu schaffen, damit sie, Eva, nicht mit hanseatischen Händlern hier in der engen Kammer ihren Mittwochvormittag verbringen musste. Die Haltung des Hanseaten wurde immer fiebriger, er beugte sich immer mehr vornüber, zu Evas nicht besonders dickem, noch dazu von ihrem dezenten grauen kurzen Spencer versteckten Busen. Eva spürte seinen Atem, der nach den gestrigem Salat mit feingehackten Zwiebeln roch, und plötzlich hatte sie genug.
„Ich muss mich einen Moment entschuldigen“, sagte sie, und drängte den Mann aus der Kammer, der ein entsetztes „aber wir sind doch noch gar nicht fertig“ ausstieß.
„Ich muss mich um eine Kundin kümmern, die sich angekündigt hat, ich werde meinen Kollegen bitten, er wird dann mit Ihnen in die Kammer zurückgehen.“
Er wird dort sieben Leichen finden, dachte sie grimmig, von sieben durch Evahand gemeuchelten Hanseaten, und sie zerrte den aufgeregten Mann hinter sich her zu Julius Rehweiler, den sie flehend ansah.
„Herr Rehweiler ist unser Experte für Porzellan“, sagte sie, und Herr Rehweiler (der im übrigen eine seinem schläfenmelierten Alter modisch angemessene Kurzhaarfrisur trug) begriff. Es machte ihm nichts aus, den Kunden zu übernehmen, und Eva verschwand erst einmal in der Toilette (es gab nur eine). Sie hasste sie, weil sie aus dem Kanal nach männlichem Urin roch (eine Behauptung Evas, über die es regelmäßig Streit gab). Sie liebte sie, weil es der einzige Raum in diesem Haus war, in dem sie für einen kurzen Augenblick allein sein konnte. Sie lauschte ihrem eigenen Plätschern, puderte die Nase, zog den Lippenstift nach, sprach einen Bannfluch auf den Hanseaten und sich selbst halblaut Mut zu und warf sich wieder ins Getümmel.
Inzwischen war es voll. Eva sah sich um; die üblichen älteren Herrschaften, er mit Brille, vor einem Landschaftsbild oder dem Kupferstich eines historischen Berliner Gebäudes oder Parks in die Hocke gehend, seiner Gattin Nummer und Eindruck diktierend, dabei die benachbarten Aktdarstellungen kennerhaft begutachtend, sie, seine Anmerkungen in einen flachen Taschenkalender eintragend, freundlich und amüsiert, weil sie genau wusste, wohin seine Blicke schielten, und sie es ihm gönnte, von ganzem Herzen, denn auch zu ihr war er aufmerksam und liebevoll, was kümmerten sie die nackten frischen Dinger auf den fremden Bildern, sollte er nur Lust gewinnen, es würde ein charmanter Nachmittag, nach dem Likörchen oder dem Sherry. Sympathische Menschen, fand Eva, diese waren ihr die liebsten Kunden, unaufdringlich, respektvoll, und manchmal kauften sie sogar, obwohl sie immer wieder lächelnd sagten: Das können wir uns sowieso nicht leisten, aber schön ist es trotzdem, und die in Eva immer die Frage wachriefen, ob sie so ihr Leben verbringen könnte, mit diesen zahlreichen Beschäftigungen, die der Mensch sich so sucht, um seine Zeit zu gestalten. Sparen, um schöne Dinge zu kaufen, schöne Dinge suchen, in schönen Dingen leben, sie abstauben und pflegen, alle drei Monate bei Spoerli vorbeischauen, einmal unter der Woche zum Vorbereiten, und dann noch einmal am Samstag, wenn die eigentliche Versteigerung stattfand.
Manche fangen früh damit an, dachte sie und beobachtete Meierling, ein hohes Tier in der Senatsverwaltung, der gerade hereinkam, wie immer im dunkelblauen Mantel, korrekten Hosen mit Bügelfalte und den guten Budapester Schuhen. Er grüßte in unbestimmte Richtungen, klappte seinen Schirm zusammen und verstaute ihn in der großen Vase im Eingang. Er lief ein wenig hektisch an Möbeln und Bildern und Frau Schattenfroh vorbei, die gerade in Hoffnung auf einen Handkuss des hohen Besuchs ihre Rechte leicht vorgestreckt hatte. Wer weiß, welchen wichtigen Termin er vorgeschützt hatte, um vom Alexanderplatz hierher zu eilen und nach Gegenständen Ausschau zu halten, für die er am Samstag die Hand heben würde. Er musste eine riesige Wohnung haben oder aber Stühle als Geburtstagsgeschenke mitbringen, so viele Stühle hatte er in den letzten drei Jahren erstanden, zumeist Biedermeier, nicht zu teuer, aber auch nicht die ganz billigen, mit glänzenden gestreiften Bezügen, geschwungenen Beinen und aus eher dunklem Holz, Mahagoni oder Kirsche. Oder er stattete sein Büro damit aus, das wusste Eva nicht, damit er in den holzgetäfelten Räumen des mit der Stilsicherheit des alten Ostens ausgestatteten Roten Rathauses wenigsten ein kleines Fleckchen Erhabenheit und an bessere Zeiten anknüpfendes Geschichtsbewusstsein vorfinden würde.
Meierling war ein attraktiver Mann, dessen Frisur Eva auf ungemütliche Weise an Filme der Dreißigerjahre erinnerte und deren Farbe er gewiss auch schon hin und wieder auffrischte; er gehörte zu jenen Homosexuellen, die ihre Neigung offenbar als leichten Makel empfinden, den sie durch besonders konventionelle Umgangsformen wettzumachen suchen. Da mochte Eva lieber Typen wie Wieland oder Rehweiler, die entweder kein Aufhebens darum machten oder einen lustvollen Hang zum Exzentrischen zeigten. Nun ja. Frauen machten Aufhebens um ihre Sexualität, warum sollte man dies den Männern nicht auch zugestehen.
Meierling stand jetzt nervös vor der Vitrine mit den Varia und ließ sich zu Evas Überraschung von Albrecht ein silbernes Schminkkästchen von Boucheron, 1935, zeigen. Eva konnte es von Weitem erkennen, weil sie die Vitrine eingeräumt hatte. Es war wunderschön, sie hatte es von allen Seiten bewundert. Blumen und Vogelmotive waren aus dem Silber ausgestanzt und an manchen Stellen vergoldet; innen, wenn man es aufklappte, gab es zwei leere Lippenstifthüllen, zwei aufklappbare Fächer für Puder und Rouge sowie ein Abteil für drei, vier Zigaretten und ein kleines Feuerzeug. Vom aufklappbaren Spiegel fehlte die Hälfte. Ein Gegenstand, den zu tragen jeder Frau den verruchten Charme einer Marlene Dietrich brachte; ungewöhnlich für einen Verwaltungsbeamten. Hatte sie sich in ihm getäuscht? Hatte er eine heimliche Geliebte? Hatte er einen Geliebten, der sich hin und wieder mit weiblichen Utensilien schmückte? Würde dieser das Etui im „Wintergarten“ bei einer Vorstellung dezent aus der Tasche ziehen, um mit einem Blick in den halben Spiegel die Personen in seinem Rücken zu beobachten?
Womöglich war es ein Künstler, den Meierling verehrte und in dessen Garderobe er nach dem Ende der Vorstellung oder, noch reizvoller, in der Pause, ein Rendezvous hätte? Würde er mit seinen gepflegten Händen dem geschminkten Mann – oder doch einer Frau – in der engen Korsage an den seidenbestrumpften Beinen entlangtasten dürfen, um das Geschlecht zu erkunden? Würde er sein Gesicht unter dem Tüllrock vergraben und mit erhitztem Kopf und zerzaustem Haar wieder auftauchen, während der Artist dabei das Kästchen in den Händen hin- und herwenden würde? Das war gemein. Eva korrigierte ihre Fantasie. Natürlich wäre der Artist verzückt von Meierlings Künsten und würde nur einmal leise stöhnen, es ist Zeit, komm, die Pause ist gleich zu Ende. Meierling stand lächelnd vor Eva, Eva sah sein Zahngold, seinen weichen Mund.
„Ich habe heute leider nicht viel Zeit“, sagte er.
„Ich weiß“, entfuhr es Eva, „die Pause ist zu Ende.“ Meierling zog fragend die Augenbrauen zusammen. „Welche Pause?“ Er schüttelte ihr kräftig die Hand und verließ eilig das Auktionshaus. Und Eva wandte sich einer langjährigen Kundin zu, die lächelnd auf sie zukam, während sie den jungen Mann in schwarzen Jeans im Auge behielt, der ein wenig zu lange vor der geöffneten Vitrine mit den silbernen Feuerzeugen stand.
Es war wie eine Sucht, sich immerzu Geschichten auszudenken. Früher hatte Eva sich zu jedem Gegenstand, der durch ihre Hände ging, eine Geschichte ausgedacht. Zuvor aber hatte sie die Leute befragt, die die Gegenstände brachten, woher sie sie hätten, was sie damit verbänden, bis Frau Spoerli sie eines Tages beiseite nahm.
„Liebes Kind“, hatte sie gesagt und sie über ihre Brille hinweg mitleidig angesehen, „die Leute werden ihre Liebe zu den Dingen wiederentdecken, wenn Sie sie so befragen. Dann packen sie sie wieder ein und schleppen sie nach Hause. Das wäre doch nicht in unserem Sinne, oder?“
Von einer geradezu unerträglichen Flut von Vorstellungen wurde Eva befallen, wenn ganze Nachlässe ins Haus kamen, wenn sie die Zusammenstellung all der Dinge sah, die ein Mensch sein Leben lang gesammelt und um sich herum zu einem Universum gemacht hatte. Schwindelig war ihr davon geworden. Aber nach ein paar Jahren geschah etwas, das sie lachen machte: Sie erkannte in den Nachlässen Gegenstände wieder, die die Verstorbenen im Hause Spoerli gekauft hatten. So schließt sich der Kreis, hatte sie damals festgestellt. Und irgendwie hatte sie das beruhigt.
Sie räumte am Ende dieses Besichtigungstages die Vitrinen aus und half, sie in der Reihenfolge in den Aufbewahrungsräumen unterzubringen, in der sie bei der Auktion abgerufen würden, das heißt rückwärts, die letzten Nummern zuerst. Früher, früher, dass ich dieses blöde Wort so oft denke, als wäre ich mit allem fertig. Der Vormittag hatte sie selbst überrascht. Wann hatte sie zuletzt bei der Arbeit an heimliche Rendezvous gedacht? Wann zuletzt hatte sie sich mitten unter den umherschauenden Menschen gewünscht, einer der temperamentvollen Teppichhändler vernaschte sie in der Kammer, an den wackeligen hohen Regalen? Hatte sie nicht einmal mehr Wünsche? Was war denn los mit ihr? Sie kannte sie alle, nur zu gut, den eleganten Herrn Muamer mit dem dicken Silberring, den ungepflegten Herrn Dcindcíc, der ein Albaner war, den sichtbar alternden Herrn Wridlitschek, der neuerdings mit immer jünger werdenden Frauen kam. Früher hatte sie sich so etwas vorgestellt, und nicht nur vorgestellt, wie sie ein Bein hochzog und um einen schlang, diesen oder jenen fremden Mann, und sie hatte sogar hin und wieder daran gedacht, wenn sie mit Stefan schlief, und wenn sie kam, dann hatte sich über ihr das gute Porzellan in Flugscheiben und fliegende Untertassen verwandelt und war schmetternd und klirrend zu Boden gekracht. So liebte sie doch das Leben! Laut und ungehorsam, voller Scherben, an denen sie sich schneiden konnte, auch wenn sie darüber lachte. Und was tat sie? Sie sortierte alten Krempel!
Stefan hatte leider nicht viel übrig für irgendwelche Aufregungen beim Sex; er brauchte Platz und Ruhe, machte sich aber lustig über Eva, wenn sie im Schlafzimmer Kerzen anzündete. Eva wusste nicht, wie schwer er die Sache mit Karl nahm; manchmal plagte sie ein schlechtes Gewissen; manchmal wurde sie wütend über Stefans Gelassenheit und zweifelte an ihrem Mann, sie fragte sich, ob er all seine erotischen Fantasien wirklich abgeschafft und vergraben hatte. Das wäre in der Tat bedenklich, aber sie hatte keinen großen Ehrgeiz, seine Vorstellungskraft zu wecken oder ihn mit irgendwelchen Strategien zu verführen. Er hatte zu oft Nein gesagt, sollte er damit anfangen. Manchmal fing er ja an damit, aber jetzt war sie mit Neinsagen beschäftigt, und irgendwann würden sie alt und grau zusammen im Bett liegen und über die verlorene Zeit jammern, und dann würde sich Stefan über sie beugen und mit sanften Lippen küssen und er würde viel langsamer kommen als jetzt und alle Stellen wissen, die er bei ihr zu berühren hätte, kurz, sie würden ein spätes, aber erfülltes Liebesleben haben. Seit Nora vom Koffer ihres Vaters erzählt hatte, den er einmal bei ihr vergessen und in dem sie eine Packung Kondome gefunden hatte, wusste Eva: Es gab ein Liebesleben auch mit siebzig.
So oder so, schloss Eva ihre wirren Gedanken, die Dinge brauchen alle viel zu lange, um wieder ins Gleichgewicht zu gelangen. Sie knöpfte ihren grünen Mantel zu, band das gestreifte Tuch um, warf allen Kusshändchen zu und verließ das Haus Spoerli. Was soll’s, dachte sie und lief, plötzlich grundlos vergnügt, durch die nachmittäglichen Straßen zur S-Bahn, auf dem Weg zu einem kurzen Stelldichein mit Karl.
· 4 ·
„Die Musik ist von allen Künsten die flüchtigste, und doch hinterlässt sie bleibende Eindrücke. Sie bewegt die Seele, sie klingt nach. Sie ist die rätselhafteste der Künste und dem Erotischen die nächste. In diesem Sinne, genug gedacht.“
Tobias, der Mann mit der Es-Klarinette, warf eine Münze in den Kaffeeautomaten und grinste, jaja, machten Stefan, Ernst, Tobias und Matthias, so isses. Das war die Klarinettengruppe. Sie standen in der Probenpause im gelb gestrichenen Flur, der nach Zigaretten und Putzmittel und einer undefinierbaren Substanz roch, die sie Musikerschweiß nannten. Die Klarinetten, die Bläser, die Geiger, alle standen sie herum oder saßen auf den Metallstühlen, die wie Gartenstühle aussahen, bissen in ihre Stullen, tranken Automatengetränke und scherzten. Ihre Probenzeit war streng reglementiert: alle eineinhalb Stunden eine Pause von fünfzehn Minuten. Tobias war klein und hatte vorwitzige kleine Augen; er trug rote Hemden und rote Pullover und gab sich gern rebellisch. Er war Stefans ältester Freund in der Komischen Oper; ein munterer, etwas bissiger Mann Ende dreißig. Mit ihm saß Stefan am liebsten in der Kantine, wenn sich bei Premierenfeiern alle anderen im Foyer unter die Gäste mischten. Sie spielten auch privat zusammen; mit von der Partie waren Ernst, der Bassklarinettist, und ein Klarinettist von der Deutschen Oper. Sie spielten in Kneipen in Berlin, in alten Schlössern in Brandenburg, sie spielten Klassik und Modern, von Bach bis Brubeck.
Tobias’ Ausführungen bezogen sich augenzwinkernd auf das sich anbahnende Verhältnis zwischen dem Bratschisten Heinrich und der nervösen Flöte, wie sie sie nannten, Elena. Sie war erst dreiundzwanzig und neues Ensemblemitglied. Sie hatte glühende Wangen und helles langes Haar. Auch Stefan fand sie nett. Sie hatte ihn schon kindlich offen angelächelt. Er war ein gut aussehender Mann. Um die Wahrheit zu sagen, Elena schwankte noch zwischen Heinrich und Stefan. Zu beider tief melancholischen Augen fühlte sie sich hingezogen; beider Blick löste in ihr den unwiderstehlichen Impuls aus, sie retten zu wollen. Ja, auch die jungen Frauen von heute waren nicht frei von dieser Krankheit. Allein, es fehlte Elena noch an Erfahrung. Es musste sich zeigen, ob sie auf ein weiteres Wahrnehmungsorgan als ihre Augen würde vertrauen können, um zu erkennen, dass Stefan keineswegs so melancholisch war wie sein Blick es glauben machte (ein Irrtum übrigens, dem selbst seine Frau Eva aufsaß).
„Willkommen“, sagte Ernst, der diese letzte feine Witterung aufgenommen hatte, zu Elena, „im Bäumchen-Bäumchen-Wechsel-dich-Verein.“ Elena, zu romantisch wiederum für diese Art der Desillusionierung, fand die Bemerkung des älteren Kollegen nicht komisch. Sie fand die älteren Kollegen überhaupt eher unkomisch. Sie wandte sich ab, zu einem anderen Grüppchen, und sah sich von Heinrich freundlich und offen begrüßt.
„Mensch, Ernst“, sagte Stefan, „jetzt hast du sie vergrault!“
„’s ist besser so“, seufzte Ernst und sah dem Mädchen gewichtig hinterher. Tobias verbeugte sich zu Ernst hin. „Habe Dank, habe Dank, du Retter guter Seelen.“ Er schubste Stefan vielsagend an.
„Na, weißt du“, sagte Stefan. Er wurde rot.
Ernst war ein Mann mit trockenem Humor. Er hielt gern Vorträge über allgemein menschliche Themen. Kürzlich erst hatte er seine Freunde bei mehreren Flaschen Bier über das wichtige Thema der Heimlichkeiten belehrt.
„Viele Menschen haben Geheimnisse“, hatte er gesagt und sich über die wachsenden Geheimratsecken gestrichen, „manche verheimlichen ihren Partnern oder sich selbst Träume und Wünsche oder Sorgen, und manche Menschen verheimlichen sich selbst, unglücklich oder verliebt zu sein. Manche verheimlichen ihren Kindern, wie es war, als sie gezeugt wurden. Manche Mütter verheimlichen ihren Kindern, dass es einen Mann gegeben hat, den sie sehr liebten, lange bevor sie zur Welt gekommen sind, und der fortgegangen ist, um Geld zu verdienen oder das Leben zu lernen. Und der zu spät zurückgekommen ist, als diese Mutter nämlich aufgegeben und den Vater ihrer Kinder geheiratet hatte, die dann späterhin natürlich glaubten, dieser sei die große Liebe ihres Lebens.“
„O Mann, du machst mich fertig“, hatte Stefan gesagt, „wie kann man nur so komplizierte Gedanken haben! Du bist schlimmer als Eva!“
Ernst hatte gekichert. „Das kam früher öfter vor, als du glaubst“, sagte er. „In unserer Generation ist die Liste derer, die wir liebten, freilich etwas länger. Fällt sie deshalb mehr oder weniger ins Gewicht? Das vermag ich nicht zu sagen. Manche verheimlichen …“, und er hatte unverdrossen seine Gedanken ausgebreitet.
Tatsächlich war es nicht leicht, irgendwelche Liebeshändel in der Oper geheim zu halten, wenn man täglich so eng miteinander arbeitete. Die Kollegen deckten einander gegenüber den Gesponsen daheim; untereinander aber waren sie wachsam und eifersüchtig. Obwohl sie immerhin hundert waren (die Sängerinnen und Sänger, Regieassistenten, Bühnenarbeiter und so weiter waren eine Welt für sich, grenzüberschreitende Verbindungen waren eher die Ausnahme), waren die Kreuzungsmöglichkeiten begrenzt. Sie liebten Witze. Witze entkrampften komplexe Verhältnisse. Witze über die anderen Musikergruppen zum Beispiel. Geigerwitze. Bratschenwitze. Die Bratscher galten als die Ostfriesen unter den Musikern. Das war ungerecht, aber was ist an Witzen schon gerecht. Es gab auch Witze über Sex. („Was ist das Gemeinsame an einem Bratschensolo und einer vorzeitigen Ejakulation?“ – „Du fühlst es kommen, und du kannst nichts dagegen machen.“) Witze, wenn es sein musste, über Gott. Witze über Gott und die Neue Musik kamen am besten. Aber zurück zum Getränkeautomaten an diesem Morgen im April. Den hatten wir fast vergessen.
„Na, Matthias, haste die Koffer schon gepackt?“ Ernst wandte sich an den ersten Klarinettisten, Stefans Freund und engsten Mitmusizierenden. Sie wirkten wie Brüder, waren beide groß und dunkelhaarig. Wenn sie spielten, wiegten sie ihre Oberkörper immer parallel zueinander hin und her, wie Schilf im Wind. Matthias winkte ab.
„Mach’s mir nicht schwerer, als es ist“, sagte er.
„Was musste dich auch in eine amerikanische Mieze verlieben“, sagte Tobias, „hier gibt’s doch nette Mädels wie Sand am Meer.“
Alle lachten. Tobias hatte seit Jahren keine Freundin gehabt; die Frauen fanden seinen bissigen Humor schrecklich.
„Erzähl doch mal“, sagte Matthias.
„Wir Klarinettisten“, sagte Tobias grinsend, „sind gemütliche, nette Menschen, freundlich und introvertiert. Wann werden die Frauen das endlich begreifen?“
„Die Frauen begreifen es“, sagte Ernst, „das ist es ja. Sie wollen lieber einen ekelhaften Macho. So einen wie dich!“
Alle lachten. Sie führten dieselbe Unterhaltung alle vier Wochen.
„Apropos. Wie war’s überhaupt in Sizilien?“, fragte Tobias.
„Nett“, sagte Stefan, „ganz nett.“
Seine Freunde nickten. Bei Gelegenheit würde er sicher mehr erzählen. Ein dürrer Leptosom schlurfte vorbei, in Jeans und Holzfällerhemd, er krümmte seinen Oberkörper mit dem leichten Bauch, sodass er aussah wie ein S, das spazieren geht. Ein bisschen wie Karl Valentin.
„Schmidt ist im Anmarsch“, sagte Stefan, „es geht weiter.“
Der Probensaal brummte. Es war ein heller, großer Raum, der früher als Ballettsaal gedient hatte, in der Mitte ein großes, flaches Podium aus Holz. Hundert Musikerinnen und Musiker saßen auf ihren Plätzen und stimmten ihre Instrumente. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Manchmal steckten sich die Musiker Dämpfer in die Ohren. Der Lärm durchlief den ganzen Körper, alles vibrierte. Stefan mochte diesen Zustand. Er schob die Ärmel hoch und schnitzte ein neues Blatt für das Mundstück zurecht. In der kühlen Jahreszeit trug er bei den Proben dickere und dünnere schwarze Rollkragenpullover; er fror leicht, wenn er lange saß und nicht so häufig Einsätze hatte. Da fiel schon mal der Kreislauf ab. Er musste oft warten. Er hörte dann zu. In seinem geöffneten Koffer steckte ein Foto von Lucie, David und Sina und ein Bild mit einem Klarinettisten, das Sina mit fünf für ihn gemalt hatte (die meisten Instrumentenkoffer sahen aus wie eingerichtete Wohnzimmer, angefüllt mit Souvenirs).
Otar Georgidis, der georgische Gastdirigent, kam im verknitterten, grauen Polohemd und ungebügelten, weiten, grauen Hosen; auch sein graues Haar war unordentlich gelockt, sein Gesicht schlaflos, verlebt, mit markanten Magenfalten zwischen Nase und Mund. Er beugte sich leicht vor, als hörte er mit dem Oberkörper. Stefan fand seine Augen rätselhaft, halb träumend, halb wach, halb nach innen, halb nach außen gewandt. Er erkannte nicht, wie ähnlich sie seinen eigenen waren.
Georgidis schlug mit dem Taktstock gegen den Notenständer und begann. Sie bereiteten die Premiere von Schostakowitschs Oper ‚Lady Macbeth von Minsk‘ vor. Georgidis ging zügig durch das Stück; er musste zwischendurch noch zu Proben mit den Londoner Philharmonikern.
„Er macht alles so schön locker und trocken“, sagte Stefan zu Ernst, „das gefällt mir.“
Ernst nickte. Er machte Notizen in seine Noten.
„Ich finde ihn ein bisschen schnell, aber o.k. Jedenfalls ist er nicht so ein Karrieretyp wie unser Petrowicki“, sagte Ernst und fuhr mit dem Taschentuch über die sich lichtende Stirn. Ernst schwitzte leicht. Auch Stefan war mit den Noten beschäftigt. Er sah durch, was der Vorgänger an Notizen hinterlassen hatte, und markierte sich die schwierigen Stellen und längere Pausen.
„Kannst du dir da ein Zeichen machen“, sagte er zu Matthias, der neben ihm saß. Bei längeren Pausen machten sie sich gegenseitig auf ihre Einsätze aufmerksam. Für alle Fälle.
„Ist gut“, sagte Matthias.
Das Orchester war unruhig. Sobald einer die Zügel lockerließ, wurden die Musiker von einem unwiderstehlichen Drang befallen, ein Schwätzchen nach links und eines nach rechts zu halten. Die Trompeten, die durch die Bank gemusterte Hemden zu gemusterten Jeans und Vorne-kurz-hinten-lang-Frisuren („Vokuhila“) trugen, tauschten Termine aus; sie hantierten mit ihren Kalendern.
„Die Trompeten und Hölzer zuerst, bitte. Wir machen alles verry fast, verry harrd. Taajajam“, sagte Georgidis, „ropopopo muss das hier kommen.“
Er sprach ein Kauderwelsch aus Englisch, Russisch und Deutsch, durchzogen von italienischen Bezeichnungen.
„It’s so great to be with such good musicians“, sagte er, „so we can do something special. Wir machen die letzte Note der Phrase als ein schönes rubato.“
„Was meint er?“, fragte Tobias. „Ick kann keen Englisch.“
„Er sagt, du bist ein Supertyp und sollst super spielen.“ Ernst fühlte sich als ältester Holzbläser verantwortlich. Er kannte Tobias’ Anwandlungen.
„Wie’s in den Wald rein ruft, so schallt es heraus.“
Tobias kicherte. Tobias brauchte eine gewisse Autorität, dann fühlte er sich glücklich und frei. Georgidis machte ihn nervös. Stefan hingegen mochte diese Art. Er fand den Georgier sympathisch, unprätentiös. Sie spielten den Anfang der Oper, als handelte es sich um Zirkusmusik, wobei der ganze Zirkus besoffen war. Ein großer schwankender Clown. Nicht so pathetisch wie Stefan es von Plattenaufzeichnungen her kannte. Die Ouvertüre schwankt und eiert, dachte er, wie das Sowjetreich schon damals.
„Staccatissimo molto“, rief Georgidis, „hahaha“. Er stieß das hahaha aus und horchte. „Nein, nein, nein, das war zu schnell! Noch mal! Die Piccolo war sehrrr schön, tatitatatam!“
Die Geiger waren dran, andere tuschelten.
„Schschsch“, machte Georgidis, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. „Die Basstrompete kann hier lauter!“
„Die Trompeten sind zu laut“, rief einer der Geiger.
„Die Tuttischweine haben immer was zu meckern“, sagte Ernst.
Er wartete auf seinen Einsatz. Tuttischweine wurden die Geiger genannt. Sie galten als die Herdentiere des Orchesters: Eine Herde von ganz großen Künstlern, wie Ernst gern erklärte.
„Hopp hopp hopp“, feuerte Georgidis dieselben an, „molto molto brrr.“ Er federte dabei und sprang.
„Er denkt wohl, sie sind Pferde“, sagte Tobias.
„Hahaha“, sagte Stefan. Er versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren. Es war ein aberwitziges, hochkomplexes Stück. Es war schwierig, alles zu hören, wenn man drin war. Er hasste es, wenn die anderen so wenig dabei waren.
„Das pizzicato gut so. Wir machen alles ganz kurz, nur an bestimmten Stellen machen wir es lang, wenn es hingehört. Verry harrd, verrry fast. Wir spielen das zwischen sentimental und comique. Ja? Am Anfang senza emotions, später piano dolce.“
Er dirigierte mit verhaltenen Bewegungen des Stocks, dafür sprang sein kräftiger Körper mit, der seltsam entspannt wirkte, fast als würde er vergnügt auf einem Trampolin hopsen. Zugleich war er vollkommen bei sich. Ein sonderbares Schauspiel. Er wirkte so, als wäre er da und ganz woanders. Tobias machte das verrückt; Ernst beobachtete das Geschehen abwartend; Matthias war gleichmütig wie immer; Stefan fühlte sich ausgesprochen wohl und angesprochen. Senza emotions. Ohne Gefühl. Später leise, süß. Er muss uns nicht dauernd zur Aufmerksamkeit zwingen, dachte er, er vertraut auf die Musik und uns. Das heißt, Stefan empfand so, er dachte selten in Worten. Ohne Worte dachte er: Das mag ich.
Die Posaunen spielten volle Kraft.
„Das ist Konvention“, rief Georgidis, „das können wir ganz anders!“
Er ist wirklich gut: Stefan hörte es, empfand es als Schwingung, er nimmt Schostakowitsch beim Wort, er nimmt ihn auseinander, die extremen Wechsel und Sprünge. Es fing an, ihm Spaß zu machen. Die ganze Zerrissenheit seiner Zeit kommt zum Vorschein, dachte er, es ist fantastisch. Die Oper war Anfang der Dreißigerjahre entstanden und gleich nach den ersten Aufführungen von Stalin abgesetzt worden. Sie war zu anarchisch, sie konnte womöglich anarchische Kräfte mobilisieren.
„Hab ich Mozart gehört? War da eben Mozart?“
Alle lachten. Die Posaunen spielten leiser, decrescendo.
„Die Trompeter sind schon wieder zu laut“, rief die erste Geige, ein begabter, artiger junger Mann.
„Stimmt gar nicht! Die Geigen sind zu laut“, rief jetzt einer der Trompeter. Unterdrücktes Gekicher.
„Jajaja. Das muss so sein. Ist es möglich, das etwas tiefer zu spielen? So jetzt Celli und Fagotti fortissimo, Geigen pianissimo.“
„Was gibt das denn?“ Tobias funkelte angriffslustig mit den Augen, er machte einen Buckel wie ein aufmüpfiger Zwerg. Irgend etwas provozierte ihn. „Warum kann das nicht ein Russe dirigieren? Das ist ihr Schostakowitsch.“
„Du alter Rassist“, sagte Ernst, „jetzt halt mal deinen Schnabel.“
Tobias und Ernst waren in der DDR groß geworden. Stefan nicht. Er hatte nur seine Großeltern in der Märkischen Schweiz gehabt (die mit der Gartenwirtschaft).
Tobias machte Grimassen. Es gab Gemurmel. Stefan verfolgte gebannt die Entwicklung. Die Musik hatte etwas Beunruhigendes. Schostakowitsch hatte die Oper geschrieben, bevor er nach altkommunistischer Manier Selbstkritik üben und allem westlichen „Formalismus“ abschwören musste. Damit das Volk mich versteht und lieb hat und versteht, dass ich es verstehe und lieb habe. So hatte er es – sinngemäß – dem ZK-Plenum in einem offenen Brief geschrieben.
Die Sänger kamen herein, in Jeans und karierten Hemden. Sie setzten sich auf die Stühle seitlich des Podiums und lasen die Zeitung oder tuschelten. Frau Blomstedt, die Sopranistin, stellte sich auf der anderen Seite des Orchesters in Position. Sie trug schwarze Hosen und einen wild gemusterten schwarz-weißen Pullover. Ihr Haar war blond gesträhnt und kurz, ihr Gesicht hart ausformuliert. Auf der Bühne trug sie oft schwarze Perücken. Sie war sehr zierlich und hatte eine enorme Stimmkraft; selbst in Phrasen, bei denen Schostakowitsch die Dissonanzen aufs Äußerste zuspitzte. Sie passte gut in die Rolle der eigenwilligen Katerina, die es in ihrem eingeengten Leben krachen lässt. Die aus dem Milieu herauswill und dafür über Leichen geht. Sie hielt beim Singen die gefalteten Hände halb an die Wange, halb über das Ohr gelegt. Es war, als holte sie die Kraft aus der Hüfte: an bestimmten Stellen schleuderte sie sie in abgehackten Bewegungen vor, fast unheimlich sah das aus. Stefan mochte sie gern. Er trank manchmal einen Kaffee mit ihr. Oder einen Wein. Aber nicht so gern in der Kantine; denn über Musiker, die mit den Sängerinnen zusammensaßen, wurde gelästert. Gewisse Barrieren sollten doch geachtet werden.
Der lange Mann alias Karl Valentin im Holzfällerhemd kam herein. Schmidt. Er sang den Schwiegervater von Lady Macbeth. Er stellte sich neben das Orchester, schob das Becken noch weiter vor als beim Spazierengehen, kreuzte die Arme vor der Brust und setzte ein.
„Sie ist so jung“, schmetterte er, „sie ist so toll. Sie kann nicht schlafen, weil sie so jung ist / und voller Begierden.“
Die Musiker unterdrückten nur schwer ein Lachen. Zu lachen war das Ende. Viele Dirigenten fühlten sich verschaukelt, wenn Musiker lachten.
„Wäre ich nur jünger / nur zehn Jahre jünger / ja dann / heiße Nächte hättest du dann / die würd ich dir machen / da wär ich scharf drauf.“
Damen und Herren prusteten los. Georgidis ließ den Taktstock sinken und lachte selbst. Frau Blomstedt war rot geworden. Die Klarinetten schubsten sich an und schielten zu Heinrich dem Bratschisten, der verzückt die nervöse Flöte ansah, die lächelnde Elena. Er war auch rot geworden. Die Geigerinnen, japanisch, tschechisch, deutsch, kicherten.
„Nu guck nich so kritisch, Ronald“, sagte Herr Schmidt todernst zu seinem Kollegen, der neben ihm stand. Ronald sang den Gatten, seinen Sohn also. Herr Schmidt grinste. Er war nicht böse über das Gelächter. Er war es gewohnt. Er wusste, wie ulkig er aussah, wenn er sang. Er war gern komisch.
„Wir wiederholen das noch mal, Detlev“, sagte Georgidis, „aber wir nehmen den Liebhaber gleich dazu, wir machen gleich alles hintereinander weg, ja, Jochen?“
Georgidis sah sich um. Jochen war der Liebhaber.
„Jochen is aufm Klo“, sagte Detlev gedehnt und verursachte eine neue Lachsalve. Er sang noch dreimal den tollen Alten, „die würd ich dir machen, da wäre ich scharf drauf“, er sang es dreimal anders, hitzig, elegisch und schrill. Stefan mochte das Schrille am liebsten. Dann kam eine Passage, die die Klarinetten einleiteten und begleiteten: Katerina gab dem Alten vergiftete Pilze zu essen. Weil er ihr nachstellte und sie tyrannisierte.
„Katerina“, sagte Georgidis, „ gives Pilze with poison to him, and here die Klarinette gives us the aaahhh.“ Er markierte großes heftiges Bauchkrümmen, alle lachten erneut. Die Probe eierte mittlerweile selbst wie besoffen. Alle freuten sich schon darauf, wenn Katerina den Gatten erstechen würde. Wegen des Liebhabers. Ronald spielte sein Erstochen-Werden wie eine Slapstickeinlage.
Stefan setzte die Klarinette an. Gut, dass er das neue Blatt aufgewickelt hatte. Es kam sehr leicht. Er spielte etwas schneller als Matthias und Ernst, von Tobias zu schweigen. Sie setzten ab.
„Mist“, fluchte Ernst.
„Sie waren zu langsam, macht nichts.“ Georgidis sah sie an, nickte.
Sie spielten zwei Phrasen, der Dirigent hörte zu.
„Die Es-Klarinette muss am Anfang viel schneller, kürzer. Mal bitte allein.“
Tobias spielte etwas schneller.
„Schneller“, sagte Georgidis. Tobias spielte.
„So etwa, jetzt im Einzelnen gedehnter.“
Stefan sah mitfühlend zur Seite. Georgidis war offenbar ein Seismograf, der sich versteckte. Es war immer wieder verblüffend, dass den Dirigenten nichts entging. Tobias’ Gesicht war so rot wie sein Pullover. Er fühlte sich ertappt. Er bockte. Er wischte die Klarinette aus. Er versuchte Zeit zu gewinnen.
„Hier steht aber nur forte“, sagte er.
„Jajaja. Karascho. Gut. Steht da. Aber ich. Verstehen Sie, small lips, but legato! In der zweiten Version hat Schostakowitsch das crescendo weggenommen, deshalb leise, zart und ein bisschen traurig.“ (Manchmal sprach Georgidis wunderbar deutsch.)
Tobias knurrte.
„Traurig oder schnell, ja wat denn nun?“
Georgidis sah ihn an. Er legte kurz den Kopf nach hinten, ganz kurz, eine winzige Geste, die man manchmal an balkanischen Männern sieht, hey du, was willst du, sieh dich vor.
Tobias spurte. Die Klarinetten spielten alle noch einmal zusammen. Stefan hatte das Gefühl, er könnte diese Passage der ersten Klarinette auch gut beherrschen; vor Schostakowitsch hatte er jedenfalls keine Angst, er lag ihm. Es war allerdings ein alter Hut, dass die zweite Klarinette dachte, sie sei besser als die erste … Ach! Was musste er immer so zögerlich sein! Sibylle hatte recht: Es würde ihm Spaß machen!
Georgidis zuckte mit den Achseln. Es ist zu banal, um sich darüber aufzuregen, deutete Stefan sein Mienenspiel. Dieser Mann gefällt mir, dachte er, ganz ohne Worte, wirklich, immer mehr.
· 5 ·
Am Samstag darauf war Auktion. Eva hatte den Wecker gestellt. Stefan schlief noch, er hatte Abendproben gehabt. Die Kinder stritten sich bereits lautstark im Wohnzimmer um die Legoplatten, die sie als Unterlage für ihre Häuser und Bauernhöfe brauchten. Das Frühlingslicht fiel angenehm weich in den großen Raum im Erdgeschoss.
„Nicht so laut“, sagte Eva, „Papa schläft.“
„Blöde Kuhen“, schrie Lucie (sie sagte Kuhen statt Kühe, sie liebte dieses Wort). Lucie stand auf dem Stuhl und schrie die andern beiden an. Sie hatte nur ein Hemdchen an. Eva setzte Wasser auf, ging die Treppe wieder hoch und holte Unterhosen, Strumpfhosen und ein T-Shirt für Lucie.
Aber Lucie wollte keine Unterhose anziehen. Eva deckte den Frühstückstisch und hielt ihr jedes Mal, wenn sie an ihr vorbeikam, ein anderes Exemplar vor die Nase.
„Die mit der Naht mag ich nicht!“, sagte Lucie. Eva zeigte ihr eine andere.
„Die ist zu eng! Die gehört Sina! Die hat doofe Blümchen!“
„Jetzt hab ich aber genug“, sagte Eva, „dann bleibst du eben nackt. Ich muss jetzt etwas essen, ich muss heute arbeiten.“
Eva brachte heiße Milch und Kakao und schmierte Brote für die Kinder. Zwischendurch nahm sie einen Schluck aus ihrer Tasse. Sina und David erläuterten ihr mit immer hitziger werdenden Stimmen den Verlauf ihres Streites.
„Ich hatte die grüne Platte zuerst“, sagte David.
„So“, sagte Sina spitz, „wie kommt es dann, dass sie auf dem Boden lag, ganz allein, als ich sie fand?“
David hasste Sinas Ironie, er verstand sie nicht.
„Ich hatte sie zuerst“, schrie er.
„Blöder Kerl!“ Sina warf ihr Marmeladenbrot nach David. Eva schlug auf den Tisch. „Sina!“, brüllte sie. „Es reicht!“
David heulte, stürzte zu Eva, die gerade noch die Tasse absetzen konnte, und krallte sich an ihr fest.
„O nein, bitte nicht!“
Evas Strumpfhose riss.
„Scheiße!“
Stefan tauchte auf.
„Morgen.“
Eva schubste David fort, küsste Stefan flüchtig auf die Wange, „Morgen“, und rannte an ihm vorbei in den Keller, um eine schmutzige Strumpfhose aus dem Wäschekorb herauszusuchen. Nora rief an, hörte das Geschrei und wurde von Stefan vertröstet. Eva kam wieder hoch, mit rotem Gesicht.
„Scheiße“, sagte sie, „ich muss in zwanzig Minuten los.“
„Das sagt man aber nicht“, sagte Sina. Sie zog einen Schmollmund.
Evas Vater rief an und wollte mit Elke (seiner Lebensgefährtin) zum Abendessen kommen; auch er wurde vertröstet.
„Dein Vater sagt dir einen schönen Gruß“, sagte Stefan, „früher hättest du immer gemeckert, dass er keine Zeit für die Familie hat, und jetzt, wo er sie anbietet, willst du gar nichts mehr davon wissen.“
„Alles zu seiner Zeit“, knurrte Eva. „Er denkt immer, jetzt ruf ich, dann hüpfen alle. Blöder Kerl.“ In Wirklichkeit bedauerte sie es; sie freute sich, wenn ihr Vater vorschlug, zu ihnen zu kommen.
„Das sagt man aber nicht“, sagte David.
Stefan blieb die Ruhe in Person; er stieg über Spielsachen, den schlafenden Kater und Wäschekörbe; er trug Eva den Kaffee hinterher und beruhigte David, den er auf dem Arm hielt. Der Kater, den alle Katerchen nannten, schlief am liebsten mitten im Weg, je lauter es war, um so tiefer schien er zu schlafen. Es beruhigte ihn, wenn alle da waren. Die Katze hingegen, Madame Butterfly, saß beleidigt auf dem Fensterbrett und sah hinaus.
„Ich habe Hunger“, sagte Lucie, die inzwischen mit noch immer nacktem Popo auf dem Stuhl saß, „ich will kalten Kakao.“
„Och, Lucie“, sagte Eva, „jetzt habe ich die Milch extra heiß gemacht.“
„Warme Milch riecht komisch.“
Lucie brummte. Stefan summte. Lucie summte mit. Lucie sang viel. Sie saß oft vor dem Radio und sang mit. Eva musste ihr zeigen, wie der Schallplattenspieler und der CD-Player funktionierten. Lucie legte sich Musik auf (am liebsten Mozart) und tanzte dazu. Sie konnte stundenlang zuhören und tanzen.
„Was habt ihr probiert?“, fragte Eva, während sie ihre Strumpfhose anzog.
„Wiederaufnahme ‚La Bohème‘.“
„Wie schön!“
‚La Bohème‘ war eine von Evas Lieblingsopern. Sie musste jedes Mal heulen. Sie fing damit an, wenn Mimi Marcel ansang „Wir sind uns fremd“ und hörte nicht mehr damit auf, bis Mimi starb und der Vorhang fiel. Es war so furchtbar. Jedes Mal.
„Es gibt so vieles, was ich dir möcht sagen“, sang Eva. Lucie klatschte.
„Wie war’s?“
Sie schnürte ihre Stiefeletten und küsste Lucie, die ihren warmen Kakao brav getrunken hatte und ihr jetzt helfen wollte. Sie hielt ihr das Brot hin, damit Eva abbeißen sollte.
„Gut. Herr Liang war bester Laune. Er hat sich mal wieder mit Rohrhammer angelegt. Diesis ist kaine Pohobbe fühü die Bühüne, diesis ist aine Pohobbe fühü das Oochesta“, machte Stefan Herrn Liangs Akzent nach. Er mochte die vielen Dialekte und Sprachen im Haus, und er mochte Herrn Liang. Rohrhammer war der langjährige Regieassistent des Hauses. Er stritt mit fast jedem Regisseur. Er drohte bei jedem Streit zu gehen, machte eine Kurve durch den Publikumsraum und kam zurück zur Bühne.
Eva kicherte, die Kinder freuten sich. In ihrer Vorstellung arbeitete Papa in einem großen Haus mit niedrigen Gängen und dicken Rohren, aus denen Musik quoll.
„Verdammt“, sagte Eva, „ich muss los!“
Sie küsste alle am Tisch, warf einen Blick auf das Durcheinander im Raum und ging. Sie wusste, es würde genauso aussehen, vielmehr schlimmer, wenn sie nach Hause käme; aber die Kinder würden mit Stefan einen wunderbaren Tag erleben. Sie seufzte tief, hörte Stefan und die Kinder ‚O Himmel‘ singen und verließ das Haus, mit dem Brot in der Hand. Draußen roch es nach Frühling, das Gelb der Forsythien leuchtete.
Eine Dreiviertelstunde später betrat Eva in der Stadt das Auktionshaus, als ginge sie nun ihrerseits zu einer Opernpremiere. So viele Auktionen sie schon erlebt hatte, so aufgeregt war sie jedes Mal aufs Neue. Sie trug ihr wirres Haar fest zusammengebunden und hochgesteckt, eine Minute der Konzentration im Rückspiegel ihres alten grauen Volvo („eine fahrende Müllhalde“, hatte Sibylle einmal zu Ludwig gesagt), zu einem grauen Kostüm, dessen Jacke kleine Schößchen bildete. Frau Spoerli senior kam frisch vom Friseur; ihr weißes Haar war hoch aufgetürmt; an ihrem faltigen Hals prangte eine Kette mit böhmischen Granaten. Nicht so kleine Steine waren dies wie an der Kette, die Eva von ihrer Großmutter hatte, sondern dicke Rosetten reihten sich aneinander. Sie war eine Respekt einflößende, elegante Erscheinung mit ihren preußisch geformten achtzig Jahren.
Das Auktionshaus füllte sich. Blondierte, zugeschminkte Damen klapperten bereits in ihren hohen Absätzen über das abgewetzte Parkett oder zeigten nackte Füße in flachen, sportlichen Pumps. Sie trugen Hosenanzüge oder hatten Pullover um die Schultern geschlungen wie auf dem Golfplatz, und ihr Haar war kurz oder mit goldenen Spangen im Nacken zusammengehalten. Es gab auch blondierte Männer, blond das Deckhaar, grau der herausgeschossene Haaransatz. Eva sah ihnen an, ob sie für sich kauften oder Händler waren, wie das zerknautschte Dackelgesicht in der ebenso zerknautschten karierten Jacke; er sah aus wie eine geschrumpfte Ausgabe von Peter Falk alias Colombo. Ständig kamen und gingen Leute, saturierte junge Männer mit hochgeschlagenen Kragen, gelangweilte Gattinnen mit Seidentüchern, dickliche Männer in Lederjacken mit aufgedunsenen Gesichtern und protzigen Uhren am Handgelenk, oder dieser alte Herr, der immer kam, ohne je etwas zu kaufen, der, das wusste Eva, sein Vermögen verspielt hatte und nun dastand, mit einem Koffer in der Hand, die Schnalle zugetuckert, der Griff zerborsten, das Schloss abgerissen, und Schweißperlen auf der Stirn. Einmal Zocker, immer Zocker, da lässt sich gar nichts machen. Eva bot ihm manchmal nach der Auktion einen heißen Kaffee und Kekse an.
Leise rauschte die Klimaanlage, immer wieder klingelte ein Handy. Ein alter Herr setzte sein rosafarbenes Hörgerät ein. Eva, Albrecht und Rehweiler flankierten Frau Spoerli senior, die auf einem Podest mit einem Stehpult stand, und bedienten die Telefone; Spoerli junior hatte wie immer am Computer Platz genommen; neben ihr Frau Schattenfroh, heute im papageiengelben Kaftan mit wattierten Schultern und Perlengehängen in den Ohren. Bald war die Auktion in vollem Gange. Die Schlepper schleppten Tische, Kommoden und Stühle herein; bei den Asiatica rannten die Leute nach vorn, nahmen die Gegenstände in die Hände, kommentierten. Zahlen wurden aufgerufen.
„Gehen wir weiter?“, fragte Frau Spoerli senior launig, „Ihr Zuschlag mit 200, ham wir“, „nee, unter 130 fangen wir gar nicht an, zurück damit.“
Der Hammer fiel, ein Mann rief „485“.
„Nee“, sagte Frau Spoerli senior, „wennse jetzt erst bieten, tut mir leid, das kam zu spät“.
„Ich habe den Zuschlag“, rief ein anderer.
„Jawoll“, antwortete die Chefin, spannte ihre Halsmuskeln an und reckte den Kopf vor, als wollte sie ihn kurz aus dem Rumpf herausschrauben, „300, Ihr Zuschlag, wir sind ganz korrekt, und tschüss“, nickte sie den Trägern zu, das nächste Möbel, das nächste Bild, „zum ersten, zweiten, dritten.“
So ging es munter fort. Albrecht machte ein wichtiges Gesicht, wenn er einem Kunden den Zettel mit dem Zuschlag brachte, vorbei an den dicht gedrängten Reihen mit den Plastikklappstühlen, die schmalen Lippen ernsthaft gewellt.
„Nehmen Sie weg“, tönte Frau Spoerli senior, „dekorieren Se se schon mal für die nächste Auktion“, und die Gemeinde kicherte, es war ein Hin und Her der Stimmen und des Gelächters, in einem eigentümlichen, von Frau Spoerli senior dirigierten Rhythmus. Eva liebte diese Musik, und Wieland bewegte sich zu ihr, mit zusammengekniffenem Hintern, wie ein Ballettänzer, durch den Gang zwischen den Stuhlreihen.
„Ach, was haben wir denn hier Schönes“, hörte Eva und lachte, „eine Olympiaplakette von 1936! Na so wat Schönes aber auch! Na kieken Se mal, wie jeschmackvoll die Prägung!“
Die Seniorchefin kicherte. Die beiden Schlepper hielten das Samtkissen mit der Medaille hoch und machten betont ernste Mienen.
„Na, da hab ick ja ooch mitjeturnt“ – der Saal lachte, besonders die Älteren –, „nee, im Ernst, damals in der Schule, da mussten wa alle antreten, ick war ne jute Läuferin“ – anerkennendes „so, so“ im Saal – „ich hab leider keine Medaille gekriegt, nur in der Masse mitjeturnt.“
Frau Spoerli blühte auf, wenn sie halb berlinerte und sich halbwegs um ein ordentliches Hochdeutsch bemühte. Die Stammkunden feuerten sie an, applaudierten.
„Na, nu is aber jenuch mit die alten Jeschichten. Zum ersten, zweiten, dritten.“
Die Träger in ihren weißen Kitteln schmunzelten, brachten Schatullen aus dem 18., Kistchen aus dem 19. und allerlei Schnickschnack aus dem 20. Jahrhundert, Meerschaumpfeifen, Freimaurerdegen, erotische Drucke aus Japan.
„Mmh, sehr fein, eine echte Rarität. Na, meine Herren?!“
Frau Spoerli senior sah über ihre tiefsitzende Brille fragend hinweg in den Raum.
Die Herren beugten sich nach vorn und hoben ihre Hände.
„Was sind denn das für Petschaften“, amüsierte sich die Olympionikin. „Oh, ein Samowar, da is ja sogar alles dran, fehlt nix, na, wie wär’s?“
Manch einer fing nervös zu schmatzen an, wenn das Jagdfieber ihn packte. Die ersten Teppichhändler rückten an; kleine Männer mit dicken Brillanten und goldenen Ringen an den kräftigen Händen, breitbeinig, in ausgewaschenen Jeans, kurz geschorene Häupter, Gesichter wie Krater und Felslandschaften, Kroatien, Albanien, Russland. Paschas, dachte Eva, neuerdings ganz abgeklärt, dabei unattraktiv bis sonst wohin. Ein besonders umfangreicher Händler schnaufte laut, als er sich setzte. Manche müssen allen verkünden, dass sie da sind. Rehweiler zog die Wangen angewidert nach innen. Die älteren Händler, Perser und Türken, wirkten gepflegter. Sie nickten Eva zu. Es roch immer intensiver nach Aftershave.
„Is ja schön, dass sich alle freuen“, rief Frau Spoerli senior in den entstehenden Tumult, „sich wiederzusehen, aber wir müssen jetzt rasch hintereinander, wir haben noch einiges vor!“
Und streng sah sie auf ihre Armbanduhr. Frau Spoerli senior machte nach vier Stunden eine kurze Pause, in der sie eine Tasse löslichen Kaffee trank.
„Der Staub“, entschuldigte sie sich, „ich muss mich sonst zu oft räuspern.“
Eva bewunderte sie dafür. Sie selbst musste immer mal heimlich hinausgehen und in einen Kokosriegel beißen, ein Glas Wasser herunterstürzen oder ein Stück Schokolade in den Mund schieben. An den Dingen klebt eine Geschichte, dachte sie, man spürt sie. Die Musik hat eine Geschichte, auch wenn nicht jede Musik eine Geschichte erzählt. Sie sagt sie im Wechsel von Noten und Stille. Die Architektur spricht ohne Worte. Bilder vermitteln eine Empfindung, wie eine Geste. Sie dachte daran, wie sehr sie es mochte, wenn die Dinge zur Sprache kamen, und lächelte Frau Spoerli an.
· 6 ·
Nach der Auktion („Ich komme dann direkt“) fuhr Eva zu Karl. Sie rannte die Treppen zu seiner Wohnung hinauf und zog noch vor der Tür die Jacke aus. Sie küssten sich atemlos (vom Treppehochrennen), sie legte ihre Nase an seinen Hals, dessen Haut weich und zart war, er schob den Rock ihres Kostüms hoch.
„Lass das andere an“, sagte er und legte sie vorsichtig auf sein Bett. „Du bist bestimmt ein bisschen müde von deiner Arbeit.“
Er streifte ihr langsam Strumpfhose und Höschen herunter und betrachtete Eva anerkennend. „Das sieht sehr schön aus“, sagte er und öffnete die eigene Hose.
Danach lagen sie nackt im Bett und Eva sah die grün gestreiften Vorhänge an und dann sprachen sie über das Bild, das sie vom Bett aus an der Wand sahen: Karls Mutter hatte es ihm geschenkt, eine Landschaft aus verschieden grünen Feldern. „Sie war depressiv“, sagte Karl, „sie hatte fünf Kinder und neigte zu Depressionen.“
„Warum?“, fragte Eva und schmiegte sich an ihn. Karl streichelte ihr Haar. Er schmeckte sie und streichelte sie unermüdlich und ausdauernd. Er redete nie über seine Geschäfte; er erzählte von seinen Reisen und seiner Familie; seinen zahlreichen Tanten, Onkeln, Brüdern und Schwestern, die über die ganze Welt verteilt waren. Eva hörte ihm gern zu. Sie roch auch gern seinen Schweiß. Über ihnen ging jemand hin und her.
„Ich weiß es nicht“, sagte Karl. „Ich war der Jüngste, für mich hatte sie nie Zeit. Einmal bin ich auf allen vieren über den Flur zur Wohnung unserer Nachbarn gekrochen. Die Nachbarin hatte keine Kinder.“
„Auf allen vieren?“, fragte Eva. „Daran kannst du dich erinnern?“
„Nein, natürlich nicht, nur an das Gefühl. Meine Geschwister haben mir das erzählt.“
„Armer kleiner Karl“, flüsterte Eva und streichelte sein Gesicht. Karl hatte den Kopf an ihren Hals gelegt und die Hand auf ihren Bauch.
Erschöpft und leicht staubig riechend kam Eva bei Ludwig und Sibylle in Schöneberg an, die außer Eva und Stefan noch ein weiteres Paar eingeladen hatten, ebenfalls Ärzte, die sie noch nicht kannte. Zu Hause hütete ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft die Kinder.
Eva stieg das holzgetäfelte Treppenhaus hinauf und dachte an ihre eigene Zeit in Mietshäusern. Sie und Stefan hatten in verschiedenen Bezirken gewohnt, meistens in den Hinterhöfen. Sie hatte es geliebt, den anderen Leuten in die Fenster zu schauen, sie stellte sich vor, heimlich in ihren Räumen zu sitzen und ihnen zuzuhören. Sie fand so vieles an den Menschen unbegreiflich. Unbegreiflich blieben ihr auch Ludwig und Sibylle. Sie mochte sie sehr, sie waren so anders, das machte sie neugierig, doch stets blieb da eine unerklärliche Zurückhaltung, anders als mit Nora. Sie hatte sich noch nie allein mit Sibylle verabredet. Ludwig wie Sibylle bewunderten Stefan, den Musiker, und gerieten manchmal in einen Verteidigungszwang, der Eva und Stefan überraschte. Eva hielt bei jedem Treppenabsatz kurz an und warf einen Blick aus dem Fenster hinaus in die erleuchteten Wohnungen hinein, in denen sich die Leute für ihren Abend fertig machten, Fleisch und Gemüse schnitten, Salat zupften, eine Flasche entkorkten, sich umzogen oder einfach auf dem Sofa vor dem Fernseher gammelten. Krisen kommen und gehen, dachte sie, an manchen Dingen ändert sich nichts.
„Die Fotos gucken wir uns beim nächsten Mal an“, flüsterte Sibylle im Eingang und küsste Eva aufs Ohr, „wegen der anderen.“
Seit Sibylle auf neue Weise an Stefan dachte, trieb sie auch etwas Neues zu Eva hin, was sie zugleich fernhielt. Es war eine Art erotischer Identifikation. Küsste sie Eva, berührte sie die Haut, die Stefans Haut berührte. Umarmte sie Eva, hatte sie den Körper im Arm, der Stefans Körper nah war. Sie konnte nicht ahnen, wie selten es solche Berührungen zwischen den beiden gab.
„Wo sind die Kinder?“, fragte Eva, etwas verwirrt von der ungewohnten Körperlichkeit der sonst eher spröden Freundin.
„Es ist so ruhig.“
„Sie schlafen bei Freunden. Hübsch, der Mantel. Grün steht dir gut.“ Sibylle half Eva aus dem Mantel.
„Danke. Wie praktisch, ich meine mit den Kindern. Ist Stefan schon da?“, fragte Eva. Sie warf einen flüchtigen Blick in den Garderobenspiegel. Sie hatte die Haare bei Karl eilig hochgesteckt. Ihr Mund leuchtete, ganz ohne Lippenstift.
„Du bist die Letzte“, sagte Sibylle und ging beschwingt vor Eva ins Wohnzimmer.
Sibylle und Ludwig wohnten seit Jahren in dieser Wohnung; doch jedes Mal hatte Eva den Eindruck, als wäre es nicht ihre Wohnung. Die Einrichtung war wild zusammengewürfelt, ohne miteinander verwachsen zu sein; ein violett-schwarz gemustertes Sofa stand im hinteren Teil des Raumes, davor ein Glastisch, daneben eine Stehlampe mit Aluminiumfuß und einem großen halbrunden Kegel aus Milchglas, die mit der für Evas Empfinden zu hellen Deckenbeleuchtung konkurrierte. Mit modernen Möbeln kannte Eva sich nicht aus, aber wie sie Ludwigs Hang zu extravagantem Understatement kannte, war es ein teures Stück. Günstig erstanden freilich, bei Ebay, wie das Gemälde eines alten Neuen Wilden, das über dem Sofa an der Wand hing und einen Mann darstellte, der auf dem Kopf stand. Er war mit harten schwarzen Strichen konturiert, sein Penis baumelte zwischen den Beinen herunter, worin Eva den Baselitz-Epigonen ausmachte.
Eva begrüßte Ludwig und Stefan mit einem Kuss und schüttelte dem Ärztepaar die Hand. Martina und Hartmut.
„Du bist ja so schick heute“, sagte Ludwig, „im Kostüm!“
„Arbeitskleidung“, sagte Eva und zog die Jacke aus. Ihre helle Bluse war leicht zerknautscht.
Der Tisch im vorderen Teil des Raumes, von dem der lange Flur zur Küche abging, war mit schwarzen Tellern und bunten Papierservietten gedeckt. Soßen und Senf standen in Schraubgläsern neben gestückelten Karotten und Gurken und den Platten mit Fleisch. Eva war enttäuscht; sie hatte ein Käsefondue erwartet. Sie setzten sich sofort zu Tisch und begannen, die Spieße mit dem Fleisch in das siedende Öl zu tauchen. Es roch stark.
„Biokalb, Biolamm, Bioschwein“, sagte Ludwig.
Ludwig schenkte Rotwein in die großen runden Gläser. Biowein. Was sonst.
Langsam kam das Gespräch in Gang. Was machst du, woher kommt ihr, ach so, ach ja, wie schön.
Sibylle wirkte sehr aufgeregt; ihre Wangen glühten. Sie trug ein eng anliegendes schwarzes Kleid mit rosafarbenen Zacken am Ausschnitt und hatte die Haare anders frisiert. Sie leuchtet, dachte Eva, sie sieht weicher aus als sonst. Ob sie schwanger ist? Na, wer weiß. Ludwig hatte ein rotes Hemd angezogen, das locker über die Jeans hing; in seinem äußersten Zugeständnis an modischen Schick hatte er sich stets etwas von der Auflehnung gegen die Recklinghauser Eltern bewahrt, die er spießig nannte. Zusammen mit dem Bunsenlicht unter dem Fonduetopf und den Schraubgläsern verbreitete er eine Atmosphäre, die Eva an Campingplätze denken ließ. Sie war müde, die Dämpfe verursachten ihr nach dem sauerstoffarmen Tag Kopfschmerzen. Sie war froh, dass die anderen sprachen, über Abrechnungsmodalitäten, Punkte, Computersysteme, Stress mit Kollegen in den Krankenhäusern und die ständigen Reformen der Gesundheitsreform. Das Ganze wirkte wie ein Schlagabtausch, um ihre Positionen, ihre Bedeutung in der ärztlichen Hierarchie und ihre Haltungen in medizinischen Grundfragen zu klären. Martina und Hartmut waren im Osten aufgewachsen und hatten dort auch ihre Ausbildungen absolviert; er war Anästhesist. Eva schätzte ihn auf Ende fünfzig. Martina war Anfang vierzig. Sie hatte eine gynäkologische Praxis in Neukölln, Sibylle überwies ihr hin und wieder Patientinnen.
Stefan, der wie zu einer Orchesterprobe einen schwarzen Rollkragenpullover angezogen hatte, hatte die Ärmel hochgeschoben und fuhr sich mit der Hand immer wieder in den Kragen; sein sonst so blasses Gesicht war von der Wärme und vom Essen von einer leichten Röte überzogen. Er wanderte nach innen, das sah Eva. Wenn ihn etwas nicht interessierte, bewegte er sich mit seiner Konzentration einfach in eine ihr unbekannte Richtung. Tatsächlich dachte er auch jetzt an nichts: Er dachte an die Fleischstückchen, die er auswählte, er schmeckte sie auf seiner Zunge, er überlegte, in welche Soße er sie tunken sollte, er hörte zu.
Ob auch er sich ein wenig über ihren Freund wunderte, den sie sonst nur privat erlebten, fragte sich seine ruhelose Eva weiter. Natürlich merkte man Ludwig den Bestimmer an, in seiner Art, immer ein wenig zu dozieren, wenn er etwas reparierte oder erklärte, wie er die preiswertesten Angebote im Internet auf ihre Tauglichkeit einzuschätzen wusste. Manchmal wurde Stefan etwas spitz, wenn sie allzu viel auf Ludwigs praktisches Wissen gab und ihm verzückt lauschte. Im Grunde aber sahen beide in Ludwigs Einmischungen seine Freundschaft, seine liebenswürdige Bitte, ihm mit einer Aufgabe einen Platz zu geben. Als ob er nur da sein dürfte, dachte Eva, wenn er etwas Nützliches leistet. Hier, mit diesem anderen Arzt, sahen sie ihn zum ersten Mal in einem Umfeld, in dem er offenbar unter starkem Konkurrenzdruck stand.
Plötzlich sah Hartmut, ein hagerer Mann mit starken Augenrändern, Eva belustigt an. „Und du arbeitest also in einem Auktionshaus?“
Sie hatten sich zu Anfang darauf geeinigt, sich zu duzen, und doch berührte es Eva seltsam, von ihm so angesprochen zu werden. Sie fand Hartmuts Falten traurig, aber schön, sie erzählten von schlaflosen Nächten und wirren Erinnerungen, die unerwartet in den grün gestrichenen, diffus ausgeleuchteten Krankenhausgängen Gestalt annahmen, auf ihn zu traten und ihn ansprachen und fortgeschickt werden mussten; Geschwister, die jung gestorben, eine fliehende Mutter mit Kindern an der Hand, Volkspolizisten, die ihn streng ansahen, ungeheilte Patienten, die ihm auflauerten. Eva sah Feuer und Keller und stille Dörfer mit kopfsteingepflasterten Straßen, auf denen Kinder spielten, bis die Sonne unterging, und sie spürte einen unangenehmen Druck auf der Brust und trank etwas. Vielleicht kamen die Schatten von den vielen Zigaretten, die er rauchte; er hatte es erwähnt, dass er gleich nach dem Essen mal auf den Balkon raus müsse, weil Sibylle und Ludwig es wegen der Kinder in der Wohnung nicht duldeten.
Eva kaute das Fleisch herunter und tänzelte innerlich. Sie hatte, bevor Hartmut sie ansprach, gerade an Karl gedacht und sich gefragt, weshalb sie in letzter Zeit oft traurig wurde, wenn sie mit ihm zusammen gewesen war. Es war doch eigentlich immer schön, auch heute. Plötzlich hatte Eva Sehnsucht nach ihrer Schwester, die sich in Bolivien herumtrieb und das Leben in Müllstädten erforschte.
„Eva, träumst du?“ Sibylles Stimme. Eva kehrte mühsam in den Raum zurück. Hartmut sah sie erwartungsvoll an.
„Entschuldigt bitte“, sagte Eva.
Die meisten Leute hatten eine merkwürdige Scheu vor Auktionshäusern. Sie hielten sie für elitär, etwas für Frauen, die täglich ihre Brillanten wechselten und deren Häuser in Hochglanzzeitschriften abgelichtet waren. Oder sie dachten an staubige Räume, in denen aus der Mode gekommene Möbel vor sich hin dämmerten. Sie hatten auch eine Scheu vor Eva, wenn sie hörten, dass sie in einem Auktionshaus arbeitete.
„Heute gingen die Teppiche schlechter als sonst“, sagte sie etwas mürrisch, „und Frau Schattenfroh hat kein Wort mit Spoerli junior gewechselt. Spoerli senior hat Witze über ihre Teilnahme bei der Olympiade 1936 gerissen, und bei den japanischen Drucken gab es einen regelrechten Wettkampf.“
„Spoerli senior ist die Chefin“, sagte Stefan. Hartmut sah Eva spöttisch an.
„So eine Frau wie du“, sagte er, „zwischen dem alten Plunder, das zieht bestimmt Kundschaft, was?“
Ludwig sah so finster drein, als wollte er mit dem Motorrad über den Tisch rasen wie ein Halbstarker über den Campingplatz. Eva zog die Augenbrauen hoch.
„Du kannst mich ja mal da besuchen. Dann hast du Ludwig etwas voraus.“
Hartmut wich überrascht zurück, Ludwig wollte schon aufbrausen, doch Eva zwinkerte ihm zu. Ludwig lachte: „Jaja, unbedingt!“
Sibylle stand abrupt auf und begann laut, die Teller zusammenzustellen. Martina, die bis dahin zurückhaltend gewesen war, begann mit großem Elan von einem Kollegen zu erzählen.
„Er hat seine gesamte Praxiseinrichtung in Auktionshäusern ersteigert, stellt euch vor, Tische, Stühle, Teppiche, alles. Am Anfang hatte er kein Geld und fand es da günstiger; und später hat es ihm Spaß gemacht.“
„Ich kenn den Typ genau“, sagte Eva, „den gibt’s öfter, solche Typen gehören zu den Stammkunden. Die können nicht mehr aufhören, die sind wie Spieler.“
Martina war offensichtlich erfreut, dass sich die Situation wieder entspannte. „Genau“, sagte sie, „jetzt kann er nicht mehr aufhören damit und weiß nicht mehr, wohin mit dem Kram. Ich glaube sogar, dass er manchmal Stühle an Patienten verkauft. Seine Praxis sieht aus wie ein vollgestopftes Wohnzimmer, aber für die Patientinnen scheint das gerade einen Reiz zu haben. Ein interessanter Mann übrigens, er ist auf Fertilisation spezialisiert.“
„Fertilisation?“
„Alles, womit du keine Probleme hast“, sagte Ludwig eine Spur zu ironisch zu Eva, der nichts dazu einfiel und die sich plötzlich wünschte, ins Kino gegangen zu sein oder mit Stefan allein in einer Pizzeria zu sitzen. Es nervte sie, dass die Männer ihre Gockelei auf sie ausdehnten; sie fühlte sich wie eine Dame in einem Schachspiel, zum Einsatz gebracht und herumgeschoben. Außerdem rumorte der Herr Karl noch seltsam in ihr.
„Alles, was mit Fruchtbarkeit zu tun hat“, ergänzte Sibylle, die mit einem Tablett aus der Küche zurückkam und den Tisch weiter abräumte. Eva stand auf, um ihr zu helfen, doch sie winkte ab.
„Unerfüllter Kinderwunsch, Samenspender, Hormonbehandlung, in-vitro–“
„Er hat also mit Unfruchtbarkeit zu tun“, sagte Stefan.
„Wie du es nimmst.“
Unvermittelt stand Ludwig auf, kam auf Evas Seite des Tisches und küsste sie. „Tut mir leid, Eva, ich wollte heute nicht streiten, ich weiß auch nicht, was wieder in mich gefahren ist.“
Eva nahm seine Hand. „Es war doch gar nichts“, murmelte sie verwirrt, „es war doch nur so wie immer.“
Und ihr Herz, das schon ein böses spitzes Maul gemacht hatte, öffnete sich voll Wärme. Sie sah Ludwig an, seine blauen Augen und den nicht sehr vollen Bart, und lächelte scheu wie ein Mädchen, dessen Papa wieder gut mit ihr ist.
Unterdessen hatte sich Stefan an Martina gewandt. Er zwinkerte. Wegen der Kontaktlinsen, behauptete er. Hunde, die bellen, beißen nicht, dachte Eva, die es sah. Sie war sich dabei allerdings keineswegs sicher.
„Du kannst uns sicher erklären, was es mit der Stammzellenforschung auf sich hat“, sagte Stefan, „ich würde es gern verstehen.“
Martina nickte ernsthaft. Anders als Ludwig sah sie die neusten Entwicklungen skeptisch; was sie jedoch mehr noch als die Herstellung künstlicher Embryonen zu Forschungszwecken beschäftigte, waren die jungen Menschen, die als erste Retortenbabys gezeugt worden waren und nun nach ihren Spendervätern zu suchen begannen.
„Kürzlich ist eine junge Frau zu mir gekommen, um sich eine Spirale setzen zu lassen. Sie war merkwürdig verhalten, als habe sie etwas auf dem Herzen, und dann hat sie gefragt, wie sie an die Information herankommen könne, wer ihr Vater gewesen sei. Ihre Mutter will es ihr nicht sagen, und sie will auch keinen Streit mit ihr anfangen. Wer will das schon. Aber sie wüsste es so schrecklich gern, was für ein Mensch er wäre, ihr Vater.“
„Was spielt das denn für eine Rolle“, sagte Ludwig, „sie hatte doch einen Vater, der sie großgezogen hat, das ist ihr Vater. Ich glaube nicht, dass das irgend etwas bringt. Gene werden völlig überschätzt.“
„Hatte sie denn einen Vater? Das kannst du doch gar nicht wissen“, sagte Stefan, ungewohnt ärgerlich. (Der weggerannte Vater seiner Mutter saß ihm manchmal quer auf dem Nacken, ein böser Dämon, dem er womöglich ähnlicher war, als er dachte.)
„Was ärgert dich denn daran?“, fragte Eva.
„Nichts.“
„Aber natürlich ärgert dich etwas!“
„Nein, ich finde es nur so seltsam, dass man immer von den sogenannten normalen Verhältnissen ausgeht. Es gibt so viele alleinerziehende Mütter.“
„Ja“, sagte Sibylle, „und es gibt ganz viele alleinerziehende Mütter, die verheiratet sind. Weil die Männer die ganze Zeit arbeiten und bestenfalls Wochenendväter sind, wie zum Beispiel Herr Dr. Ludwig Pätzold, Herr des Krebses und Leiter der onkologischen Station in der –“
„Jetzt wirst du aber ungerecht, Sibylle, ich bin doch wirklich oft zu Hause!“
Evas seismografischer Apparat kam auf Touren. Da war etwas im Gange. Blitzschnell sah sie zu Stefan, der in seinem Teller verschwand, dann zu Ludwig. Ludwig war tiefrot geworden. Das mochte er gewiss nicht, vor allen anderen von Sibylle angegriffen zu werden. Martina und Hartmut wichen zurück, als wollten sie sich unsichtbar machen. Wie Kinder, wenn sich die Eltern zanken. Wir sind gar nicht da, und wir platzen vor Neugier, was jetzt wohl kommt.
„Ach, weißt du, Ludwig“, sagte Sibylle vollkommen entspannt, von ihrem Mut beflügelt, mit einer kleinen Geste über das Haar, „wir haben uns schon so an die Abwesenheit der Männer gewöhnt, wir merken das im Grunde gar nicht mehr. Ich meine, es stört uns nicht.“
Eva, hellwach, sah Sibylle verwundert an. Woher kam denn nun dieser rebellische Zug an ihr? Sie sah zu Stefan. Sie sah zu Ludwig. Ludwig stand schon, nahm leere Flaschen vom Tisch und floh in die Küche. Eva stand auf, raffte zwei letzte Gurkengläser und folgte ihm.
„Lass doch“, sagte Sibylle, „Ludwig, lass doch. Renn doch nicht weg.“
Eva war Ludwig direkt auf den Fersen. In der Küche legte sie ihm die Hand auf die Schulter.
„Ludwig!“ Sie dachte, er würde platzen. Er drehte sich um, alle Spannung wich, er ließ die Schultern fallen, die Mundwinkel, das ganze Gesicht, alles, und sah sie traurig an.
„Weißt du was“, sagte er, „sie hat recht. Und weißt du, was noch schlimmer ist: Ich leide darunter! Aber was soll ich denn tun? Verdammt noch mal, was soll ich tun?“
Eva umarmte ihn wie ein Kind. Er liebte sie in diesem Moment, das fühlte sie, er liebte sie so, dass er sie fest an sich drückte.
„Ist ja gut“, sagte sie, „ist ja gut. Du machst es, so gut du kannst, ich weiß das.“
Eine Liebe, die sie teilte, der sie antwortete, in der Küche zwischen Töpfen, Salatschüsseln und ungespülten Tellern. Sie hätte am liebsten geheult. Sie wäre am liebsten selbst von ihm getröstet worden. Weil es eine vollkommen unkörperliche, und dabei den Körper vollkommen durchdringende Liebe war, eine Liebe, die keine Sprache finden konnte und die beide traf. Gab es womöglich auch eine körperliche Liebe, die nicht erotisch war oder nicht sexuell? Verwirrend war das, so oder so.
Und oh, Ludwig hatte seine innere Auster schon wieder zugeklappt. Verflucht, diese Männer aber auch, vielleicht aber auch zum Glück, wer weiß, wer weiß das alles schon.
„Los, komm“, sagte Eva und schniefte ein bisschen, wie es ihre Art war, „wir gehen jetzt zurück und machen uns einen lustigen Abend.“
Warum eigentlich, dachte sie, warum sage ich das? Warum bleiben wir nicht einfach hier in der Küche und betrinken uns mit Schnaps?
„Geh schon“, sagte Ludwig und kippte Essensreste von den Tellern in den Mülleimer, „ich komme gleich.“
„Nicht gleich“, sagte Eva, „sofort!“
„Nicht, was du denkst“, sagte Ludwig, „ich muss mal wohin.“
„Erst mitkommen, dann pinkeln, los“, und Eva schubste ihn und drückte ihm die Nachtischschüssel in die Hand, und sie gingen zum Tisch zurück, als hätten sie etwas ausgefressen, sehr zum Vergnügen der anderen.
„Hast du von dieser Untersuchung gelesen, nach der dreißig Prozent aller Kinder in Ehen außerehelich gezeugt wurden?“, fragte Sibylle gerade Stefan. Sie war ganz munter. Sie verteilte Teller für die Mousse au chocolat. Martina und Hartmut waren begeistert. Es war besser als Fernsehen. Gleich würde es Bekenntnisse hageln.
„Was?“
„So viele?“
„Nein!“
„Doch!“
Nein, nein, doch keine Bekenntnisse, völlige Fehleinschätzung, alles vorbeigeflogen, wäre ja noch schöner. Sie sahen sich alle an und fingen an zu lachen. Die Klippe war genommen, die Situation gerettet oder wie man sonst noch sagen könnte, obwohl es eigentlich hübsch wäre, mal was anderes, so eine kleine Eskalation, aber gut, man wollte sich doch einmal erholen und amüsieren und überhaupt, das war doch alles gar nicht wirklich. Und na!, rief Eva, wenigstens sehen unsere Kinder Ludwig und Stefan ähnlich, und der Abend wurde lustig, weil die Männer lieber Witze machten und Komplimente, als sich allzusehr auf den Gedanken einzulassen, dass paternitas semper incerta, oder Vaterschaft nur eine legale Fiktion, und dass es vielleicht gut sein könnte, die ganze Fortpflanzerei abzukoppeln vom Natürlichen, unter Kontrolle zu bringen in Gläsern und Labors und künstlichen Gebärmüttern. Und die gleichzeitig erschraken und es doch nicht wollten, nein, nein, um keinen Preis, denn sie liebten ihre Mütter, ihre Wärme, ihre Kälte, ihre Haut und ihren Duft, und allem zum Trotz und überhaupt eben doch und vielleicht sogar ihre Frauen. Und die Frauen wollten nicht, dass ihre Männer zweifelten und traurig würden ob ihrer schrumpfenden und trotz allen Vorsitzen und leitenden Posten womöglich fraglichen gesellschaftlichen Bedeutung und ihre Lust verlören an allem und ihnen, zumal und weil sie selber Angst hatten vor dem, was sie sein könnten, wenn sie einmal zupacken würden und die Augen aufsperren und hören, was in ihren Ohren klang wie der Gesang vergessener Sirenen, und ein richtiger Kampf beginnen würde mit den Männern, und zwar nicht über die Einteilung des Haushaltsgeldes und wohin sie in die Ferien fahren würden und wer sich wie viel Stunden um die Kinder zu kümmern hätte und wessen Arbeit wichtiger wäre und überhaupt, sondern um etwas ganz anderes, richtig Großes, Verwirrendes und Unbekanntes. Und Eva sah Stefan an, und Stefan trank noch ein Glas und noch eins, du lieber Himmel, wie würde sie den nur nach Hause kriegen, am besten, sie übernachteten hier, und er fing an zu erzählen, redete und redete, über Opernregisseure und Dirigenten und Diven, ihre Eigenheiten und die Kostüme, die er bei der Vorstellung nur sehen konnte, wenn sie an den vorderen Rand der Bühne kamen, und die er sich sonst vorstellen musste, wenn er gerade mal nicht spielte, sondern auf dem Blatt die Noten mitlas oder sich hinreißen ließ, mit der Bassklarinette Ernst zu scherzen, der so gern Vorträge hielt, wie erst kürzlich über Heimlichkeiten, und Sibylle lachte und Martina lachte und Hartmut lächelte Eva an und entpuppte sich als freundlicher Kerl und Eva sah Ludwig an und Ludwig Eva und Stefan redete und drehte sich und dehnte sich und lachte auch, und keiner konnte sagen, ob er es nun merkte oder nicht, dass Sibylle ihm die ganze Zeit ganz besonders schöne Augen machte, die sich ihrerseits vollkommen sicher war, er erzählte all dies nur für sie.