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Die Geschichte von Wilhelm Andere

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ßilberling Hach, dann will ich mal anfangen. Ja, ja, der gute alte Wilhelm – zunächst nur das jüngste beziehungsweise sechzehnte Kind einer stinknormalen Bergarbeiterfamilie. Am Freitag, dem ersten April des Jahres 1881 wurde das Licht der Welt erblickt. Allzu viel hatte er davon allerdings zunächst nicht, aber auch rein gar nichts, befördert worden in die Tiefen der Kohlengruben, sobald er auch nur ansatzweise kriechen und krabbeln konnte.

Kriechen und Krabbeln war gutgesagt, Kriechen und Krabbeln, eigentlich mehr wie ein passendes Stichwort. Und das von morgens bis abends, in den engen Stollen nämlich, und zumeist hatte er mit den für die winzigen Finger viel zu großen Pickel Brocken und Gestein aus massivsten Wänden zu hauen. Blutblasen und Schürfungen, Blessuren aller Art an allen möglichen und unmöglichen Körperpartien an dem stets für sein Alter viel zu klein geratenen Kerl, zudem wurde dem völlig aus farbloser und hoffnungslos verschmutzter Haut und Knochen Bestehenden von der Arbeitspeitsche des Oberschichtführers Friedel von Friedrich zugesetzt. Dabei spielte es beileibe keine Rolle, ob es sich um ein etwaiges Nachlassen des Arbeitstempos handelte, beziehungsweise Arbeitspensums, oder um Erschöpfungserscheinungen im Allgemeinen, schlicht und ergreifend, welche hin und wieder durch ein gelegentliches Einnicken Ausdruck verliehen wurde. Nicht selten entglitt der Pickel den kaputten Kinderhänden, doch bei all den größeren und kleineren Verfehlungen war ihm das Pflichtgefühl von Friedel von Friedrich gewiss. Mehr wie das, der Schwung mit der Peitsche wurde stets mit Worten des Aufforderns begleitet. Wurde am Ende nicht schließlich vorausgegangen? Vorbildlich? Mit gutem Beispiel?

Friedel von Friedrich Beweg endlich deinen faulen Arsch – oder brauchst du mal wieder eine Extraeinladung!

ßilberling Wenn man gerade in solchen Fällen in Wilhelms hoffnungslos verdrecktem Gesicht überhaupt noch was erkennen konnte, war‘ s ein verlegenes, beinahe schon peinlich berührtes Lächeln. Die Hiebe wurden ertragen mit einem leisen, leichten Winseln, halbwegs zumindest, kurzem Schlucken, schmerzhaft war es für Ihn zu allem besonders, wenn er mit den von geplatzten Blasen übersäten Handflächen den Stil seines Pickels wieder zu umklammern hatte.

Zu Wilhelms Vater, der in einen der Nebenschächte es immerhin zum Hauptschichtführer gebracht hatte, pflegte Friedel von Friedrich ein durchaus kollegiales, freundschaftliches Verhältnis, durchaus, durchaus, was Wilhelm, dem kleinen Jungen alles andere wie zu Gute kam. Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil, beileibe, oft schüttete von Friedrich beim gemeinsamen Feierabendschoppen sein Herz aus, über den faulen Knirps, demzufolge Wilhelm auch noch vom väterlichen Ledergürtel gemaßregelt wurde.

Doch irgendwann hatte der viel zu Schmächtige den viel zu vielen Strapazen Tribut zu zollen, so dass er bereits im zarten Alter von sechs von Stadtpfarrer Kühnert gesalbt wurde. Doch gegen alle Erwartungen erholte er sich, von ärztlichen Prognosen ganz zu schweigen, und für wenige Wochen hatte wohl zum ersten Mal in seinem Leben das von der Mutter liebevoll gesäuberte Gesicht so etwas wie Farbe erfahren. Erleichtert konnte er nach dieser Phase der Genesung und Erholung zurück in den Schacht geschickt werden. Und natürlich begrüßte auch Friedel von Friedrich die Wiederkehr freudig, selbst Wilhelms Pickel lag noch immer an der haargenau gleichen Stelle im Stollen, wo er etliche Zeit zuvor Blut und Staub ausgespuckt hatte.

Doch die erste Schicht nach der Unterbrechung war alsbald mit neuerlichen Verzögerungen verbunden. In der Tat klopfte Wilhelm minutenlang auf einer einzigen Stelle des Massivs vor ihm, ohne das irgendwas nur bröckelte. Bis sich endlich dann doch kleine Sprünge bildeten, kleine Risse, so dass er am Ende auf das Ursächliche der Unnachgiebigkeit stieß. Kleinste Kohleteile fielen nun aus der Wand, bis etwas mehr und mehr hervorschimmerte: ein Blechkästchen war es.

Wilhelm Andere Oh!

ßilberling Noch bevor Wilhelm ein weiteres Mal mit der Wimper zucken konnte, oder mit was Anderem, spürte er von Friedrichs Peitsche auf dem eigentlich endlich einmal einigermaßen ausgeheilten, kleinen Rücken.

Friedel von Friedrich Wilhelm, du faules Miststück, genügt es nicht, dass du dich wochenlang gedrückt hast!

ßilberling Völlig ungeachtet vom Oberschichtführer oder einem jeglichen anderen gelang es Wilhelm, das Kästchen aus den Arbeitstiefen des Arbeitsschachts bis in die Keller des elterlichen Bergarbeiterhauses zu schmuggeln, wo es hinter einem lockeren Ziegel zwischen zwei Regalen versteckt werden konnte. Sehr gut sogar, kaum emporgestiegen aus dem Keller wurde er vom Vater über einen geschmackvoll verarbeiteten Stuhl gelegt, um das kindliche Gesäß nach allen Lederregeln der Gürtelkunst zu verdreschen, nach Strich und Faden wohlgemerkt, galt es nicht immerhin, die Trödelei bei der Arbeit zu tadeln? Und das gleich am ersten Tag nach der nahezu absoluten Gesundung, und von welchem einer wie der von Friedrich aufopfernd zu berichten wusste? Vater Andere drosch während dem Akt des Ahndens so sehr ein, so dass der Stuhl samt kleinen Knaben an Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Wilhelm kroch hinterher auf allen Vieren, freilich mit einem leicht ins Verlegene neigende Grinsen, freilich, freilich, ein Winseln, ein klein wenig, und fing an zu piepen. Etwas was sich beileibe nicht zum aller ersten Mal abspielte, wenn er windelweich geprügelt worden war. Nicht mehr wie ein Anflug kindlicher Anmut, dazu auch noch in väterlicher Gegenwart, dem dies allerdings genauso viel berührte wie ein irgendwo in China umgefallener Reisbeutel. Wahlweise Mongolei oder Thailand, doch Wilhelm gelang es, sich aufzurappeln. Dann breitete er die Ärmchen aus, und fing an – gleichsam wie ein Vogel – auf – und ab zu schwirren. Oder ein Flugzeug.

Wilhelm Andere Piep! Piep! Piep!

ßilberling So wie immer verließ der Vater genervt den Raum, so wie immer, nicht ohne das Zuknallen der Türe zu vergessen. Etwas total anderes hatte es freilich mit dem Kästchen auf sich, und in welchem Wilhelm von nun an seine persönlichen Habseligkeiten aufbewahrte: ein halbes DutzendGlasmurmeln, die schimmerten, sobald sie nur ein klein wenig gegen das Licht gehalten wurden; dreischäbige, abgenutzte Würfel sowie die Reststummel einiger Buntstifte. Wesentlicher Bestandteil seiner Sammlung drei zusammengefaltete Zeichnungen, und auf einer hatte er einen übergroßen blauen Vogel gestrichelt, den er einfach nur „Piep“ nannte. Sowie ein orangefarbener Fisch, der einfach nur „Blubb“ hieß.

Die anderen beiden Bilder hatte er geschenkt bekommen, eine davon von Reimi, seinem Freund, doch handelt es sich hierbei um nicht mehr wie ein hoffnungslos krakeliges Kindergekrakel. Ein wildes in Grün gehaltenes Meer aus Strichen, rauf und runter, hin und her, nicht mehr. Auf einem uralten, hoffnungslos verschrammten Schemel gehockt beschaute Wilhelm das dritte der Bilder, stundenlang, das er von Paula, einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft gekriegt hatte. Die Paula mochte er sehr, und sie ihn, auf einem Tisch war ein übergroßer Apfel dargestellt. Eingerahmt von zwei Stühlen, auf einem saß sie selbst, auf dem anderen er. Und während Wilhelm das Bild betrachtete, betrachtete und betrachtete, immer wieder betrachtete, immer und immer wieder, träumte er mit offenen Augen, wie es werden hätte werden können. Wenn sie groß genug und dann heiraten hätten können. Was für ihn so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Und alles, was er in der Grube verdiente, würde er dann immer nur ihr geben, so dass sie immer genügend zu essen hätte.

Nichtsdestotrotz gedieh Wilhelm weiter kärglich heran, und mit fünfzehn spuckte er Staub und Blut wie nie zuvor. Und wieder Mal war es Stadtpfarrer Kühnert, der sich bis vor das Krankenbett begab, in welchem im Laufe der Jahre zwei seiner Brüder auf durchaus vergleichbare Art und Weise eingegangen waren. Zu nachtschlafender Zeit hatte sich Reimi dann bis zu Wilhelm herangeschlichen, ihn aus dem Haus geschleppt, an einem kleinen Fenster gegenüber war Paulas Silhouette zu erkennen.

In kurzer Zeit hatten sich die Beiden bis nach Rotterdam durchgeschlagen, wo sie vom liebenswürdigen Frachtkapitän Henry Toshack an Bord genommen wurden. Übelkeit waren kein Ausdruck, eine nach der anderen, die ersten Stunden auf See verbrachte Wilhelm mehr an der Reling denn in der Kombüse, wo ihm im Gegensatz zur Grube wenigstens die einen oder anderen Sonnenstrahlen gewiss waren. Beim tagtäglichen Kartoffel schälen. Beziehungsweise Gemüse putzen – hach!

Abends an Deck jedoch schaute er sehnsüchtig in die Weiten des Atlantiks, entfernte man sich doch mehr und mehr von der Heimat, Stunde für Stunde, ganz traurig blickte er zu den hell erleuchteten Sternen am Firmament auf, und spätestens dann konnten Tränen nicht mehr zurückgehalten werden, wenn Johnny, der Steuermann, die Ziehharmonika zur Hand genommen hatte.

Johnny, der Steuermann My Bonnie!

ßilberling Und Johnny war es unterm Strich auch, von dem Wilhelm das Binden von Seemannsknoten erlernte, ganz zu schweigen von den einen oder anderen Geheimnissen der Navigation, dass Teilen von Tabak und Rum nicht zu vergessen. Zudem wurden ihm und Reimi sogar etwas Schreiben und Lesen beigebracht; ach, was sag ich überhaupt, in den darauffolgenden Jahren entwickelte sich aus dem ewig kränkelnden, stets viel zu blassen Bergarbeiterjungen Wilhelm der Seebär von einem Mann, dessen Gestalt durchaus mit den eines eineinhalbfachen Gewehrschrankes hätte verglichen werden können. Das große und kleine Einmaleins der Seefahrerei angeeignet, jawohl, vom ABC ganz zu schweigen. Fleiß und Ausdauer waren kein Ausdruck, Zielstrebigkeit und unbändiger Ehrgeiz und Wille, eine Seemanns - Sprosse nach der anderen wurde erklommen, und so war es schließlich alles andere wie ein Wunder, als ihn eines Tages und nach nur wenigen Jahren auf hoher See das Kapitänspatent verliehen wurde. Ja, und längst waren es die sieben Meere, die ihm zur Heimat geworden waren, und stets eilte ihm sein Ruf voraus, in den Häfen überall auf der Welt, in den Kneipen an den Docks, wo in den seltensten Fällen die Nächte einsam verbracht wurden, ganz im Gegenteil. Zu Shantys spielte er mit der Ziehharmonika auf, und etwas Besonderes war es für Wilhelm Anderer, als nach etlicher Zeit auch mal wieder vor Hamburg der Anker von einen seiner Schiffe geworfen wurde.

Ja, ja, viele, viele Jahre waren ins Land gegangen, als tatsächlich mal wieder hanseatischer Boden betreten wurde, und sogleich suchte er die von Marie - eine seiner Lieblingsdirnen - betriebene Hafenkneipe auf. Und umso größer die Wiedersehensfreude, umso kleinlauter stahl Wilhelm Andere am nächsten Morgen sich von ihrer Bettkante hinfort, um sich an den Docks von einem Fischkutter bis nach Liverpool überbringen zu lassen.

Nachdem man sich vor mittlerweile über einem Jahrzehnt aus den Augen verloren hatte, sahen er und Johnny sich zum ersten Mal wieder. In einem Pub versanken die beiden Seeleute in Nostalgischem. Bei Tabak und Rum.

Johnny, der Steuermann Weißt du noch? Damals, im Hafen von Rotterdam?

ßilberling Von Johnny erfuhr Wilhelm zum Beispiel auch, dass Toshack sein Kapitänsamt längst an den Nagel gehängt und sich zur Ruhe gesetzt hatte. In den darauffolgenden Tagen und Wochen war kein Lokal vor ihnen sicher, mit oder ohne Ziehharmonika, kein Pub, mit oder ohne Dirnen auf dem Schoß, bis Wilhelm irgendwann dann doch zurück nach Hamburg hatte müssen. An den Docks dort wurde sein nächstes Schiff, welches er nach Buenos Aires überführen sollte, bereits tüchtig beladen. Doch in der Lieblingskneipe eröffnet ihm Marie andere Umstände, in welchen sie sich befand.

Marie Ach, Wilhelm. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich!“

ßilberling Etwas, was für Wilhelm Andere völlig außer Frage stand. Hoch und heilig versprach er es, er war sowieso nicht unbedingt einer gewesen, der sich von einer jeglichen Verantwortung gedrückt hätte. Und das womöglich auch noch hemmungslos, zudem konnte er locker auf über die Meeresjahre üppig Zurückgelegtes zurückgreifen, um Marie ausreichend Unterstützung zu gewähren – Marie und dem künftigen Kind. Die total unerwarteten Vatervorfreuden hatten in dem Seebären Glücksgefühle der ganzen Art und Weise ausgelöst, so wie er davon in seinem bisherigen Leben bestenfalls geträumt hatte. Zudem mochte er die Marie auch noch, am selben Tag, an welchem er es von ihr erfuhr, gab er bei der Reederei den Kapitänsauftrag nach Argentinien zurück. Schweren Herzens, denn zu sehr war er Seefahrer gewesen – hach. Auf der anderen Seite, mit Leib und Seele, seinem exzellenten Ruf hatte er es schließlich zu verdanken, beziehungsweise außerordentliche Beliebtheit, dass innerhalb der Reederei niemand so richtig böse mit ihm war. Beziehungsweise nachtragend, ganz im Gegenteil, jawohl, auf viel Verständnis stieß er für das persönliche ernst nehmen väterlicher Pflichten.

Mitarbeiter der Reederei Ach, Herr Andere, wenn nur alle Väter so wären!

ßilberling Ja, ja, jawohl, so war er wirklich, Bewunderung, die ihm entgegen schnappte, und so gewährten sie ihm einen kleinen, stupiden Schreibtischjob in einem der Büros an den Docks. Für die Archivierung von ausrangierten Frachtbriefen und anderen Kram, auf dem Standesamt fungierte Johnny als Trauzeuge. Freilich, freilich, wer sonst auch, und natürlich nutzte man die Gelegenheit für die Nächte zum Tage machen ausgiebig. Und Marie sollte sich mehr wie einmal beschwert haben, weil Wilhelm mehr Zeit mit Johnny verbrachte. Am Stammtisch ihrer Hafenkneipe. Anstatt mit ihr im schmucken Zweizimmerappartement. Die sich oberhalb des Lokales befand, und Wilhelm Andere großzügig und nach Maries Wünschen mit funkelnagelneuen Eichenmöbeln ausstatten ließ. Zum neuen Job kam es allerdings zunächst nicht, denn kaum, dass sich Wilhelm nach Johnnys Verabschiedung aus Hamburg zu Marie zurückbegeben hatte, wedelte sie ein frisch eingetrudeltes Schreiben unter die Nase. Vom Kreiswehrersatzamt wohlgemerkt, denn die Zeit war heran gebrochen, in welcher sein kaiserlicher Namensvetter am Aussenden von Soldaten gewesen war. Natürlich wurde Wilhelm Andere zur Marine herangezogen, selbstverständlich, selbstverständlich, bei einen der ersten Ausritte auf dem nun militärischen Seeweg wurde man von einem englischen Kriegsschiff beschossen. Die Restbestände der Mannschaft irrten tagelang in einem hoffnungslos überladenen Rettungsboot umher, bis sie von einem deutschen Kreuzer aufgefischt werden konnten. Der schwer am Bein verwundete Wilhelm Andere wäre um Haaresbreite verblutet, von irgendeinem Lazarett hinkte er etliche Monate später zurück in den Krieg, wo er von nun an in einer Schreibstube irgendwo an der Westfront dienen durfte.

Im Spätherbst des Jahres 1918 dann hinkte Wilhelm Andere dann wieder zurück nach Hamburg. Dort begab er sich zunächst an die Docks, um nach all den Kriegsjahren endlich wieder Seeluft atmen zu können, frei nach dem Motto „Seebär bleibt doch Seebär, selbst wenn man an der Westfront irgendwo in Frankreich am Versauern war – mehr oder minder“. Während der Zeit der Waffengänge war es ihm nicht einmal vergönnt gewesen, beziehungsweise gelungen, nach Hause zu kehren. Nicht ein einziges Mal, umso verzückter war Wilhelm Anderer, als er zum ersten Male sein im Kinderbett friedlich schlummerndes Söhnchen Heinrich in Augenschein nehmen konnte. Hingegen schwer erkrankt war Marie, am ständigen Husten, am Röcheln, eine Woche vor Heiligabend fand die Beisetzung statt. Noch am Grabe wurde geschluchzt.

Maries Mutter Das arme Kind – was wird jetzt nur aus ihm!“

ßilberling Bedingt durch Maries Erkrankung war das Lokal unter ihr schon vor etlicher Zeit geschlossen worden, völlig unabhängig von solchen Dingen, beziehungsweise anderen zückte er noch am Abend nach der Beerdigung, und nachdem er Heinrich zu Bette gebracht hatte, die Feder. Und unmittelbar nach den Festtagen erhielt er Antwort, von seiner Schwester Isabella nämlich, und der invalide Wilhelm, der Dank einer üppigen Seemanns - Pension mehr wie ausgesorgt hatte, seine Ersparnisse nicht zu vergessen, zögerte nicht eine Minute, packte die Koffer, nahm das Söhnchen an die Hand, und zerrte es bis zum Bahnhof. Ein gutes Vierteljahrhundert war nun wohl inzwischen verstrichen, als er mit Reimi Reißaus nahm von daheim, ein gutes Vierteljahrhundert, und mit jeder der ihm ehemals so vertrauten Fassade wurde ihm dann schummriger zumute. Und die Knie butterweich und butterweicher, als sich endlich sein Elternhaus vor ihm auftat. Auf der Schwelle warteten bereits vier oder fünf der Schwestern samt Ehemännern und einer nicht unerheblichen Schar von Kindern unterschiedlichster Größe, und nicht nur Isabella, die Älteste von ihnen, war am offenen Schluchzen.

Isabella Sieh da, der kleine Wilhelm – ach, da bist du ja endlich wieder!

ßilberling So dass sie sich nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Armen lagen, die Schwäger, Neffen und Nichten nicht zu vergessen. Isabella, die gemeinsam mit ihrem Mann das Haus hielt, überließen Wilhelm wieder das alte Jungenzimmer, welches während der Kindheit mit den Brüdern geteilt wurde; und sogar für Heinrich hatte sie ein Bettchen gerichtet.

Die anderen Schwestern wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft, von den Brüdern lebte nicht ein einziger mehr. Am zweiten Tag des neuen Jahres begab sich Wilhelm dann allein hinter einem kleinen Kirchhof in ihrer Gegend. Einen Küster am Zipfel erwischt, veranlasste der ehemalige Seebär Wilhelm Andere noch am selben Tage, die schlichten Holzkreuze auf dem Grab seiner Eltern gegen einen marmornen Gedenkstein auszutauschen.

Bereits wenige Wochen nach der Rückkehr an dem Orte seiner Wiege war Wilhelm Andere allerdings des Müßiggangs überdrüssig geworden. Mehr wie das, am Gehstock hinkte er durch die engen Straßen und Gassen seiner Heimat, doch sehnte er sich längst zurück nach den Hafenkneipen. Beziehungsweise der guten, alten Seeluft. Abends wurde ihm indes bei einem guten Glas Rotwein von Isabellas Ehemann in durchaus endlosen Monologen die Vorzüge der Russischen Revolution vorgekaut. In allen noch so langweiligen Einzelheiten wohlgemerkt, und nahezu jedes Mal, wenn er ihr altes Jungenzimmer betrat, hielt er vor dem Kinderbettchen inne: der kleine Heinrich, und wie friedlich er schlummerte. Wilhelm fühlte Glück so nahe wie noch nie zuvor in seinem Leben

Doch ob gelangweilt oder nicht, irgendwie verging die Zeit dann doch, und Ostern rückte bereits heran, als Isabella ihren wiedergewonnenen Bruder einmal bat, Kartoffeln aus dem Keller zu holen. Ja, und es war tatsächlich das erste Mal seit der Wiederkehr, dass er herabstieg. Mit Feuchtigkeit im Knopfloch rückte er jenen lockeren Ziegel beiseite, das Kästchen schien seit der Flucht vor jenen zweieinhalb Jahrzehnten von einem jeglichen Kellerschmutz verschont geblieben zu sein. Und scheinbar total unberührt geblieben, und noch größer wurde das Staunen von Wilhelm Andere nach dem langsamen Öffnen: die Stifte, die Murmeln, die Würfel – alles unverändert. Lediglich die Zeichnungen hatten an Vergilbung zugenommen, beim Auseinanderfalten von Paulas Zeichnung hätte es Wilhelm beinahe das Herz zerrissen. Isabella hatte unlängst von Paulas Wegzug erzählt, bereits vor dem Kriege. Und was aus ihr schließlich geworden war, wusste eigentlich niemand. Ein Nachbar hatte gemeint, sie wäre im Kloster gelandet, die Zeichnung war indes doch sehr verblasst. Fast genauso wie Piep und Blubb, und umso mehr wunderte sich Wilhelm Andere über das Kindergekrakelte von Reimi, denn das Papier war blütenweiß und glänzte, so als ob es erst gestern dem Kästchen zugeführt worden wäre. Und auch die Farben der grünen Striche, von oben nach unten, hin und her, waren voller und kräftiger denn je. Dem Wilhelm Andere aber war es so, als ob ein winzig kleines vierblättriges Kleeblatt zu ihm empor schwirrte. Von den grünen Strichen der Zeichnung, eines, zwei, drei, die vielen, vielen grünen Striche, immer mehr, Kleeblätter, immer mehr, vier, acht, sechzehn, immer mehr, zwanzig, fünfzig, hundert, mehr, mehr. Gegen Abend wurde er von Isabellas Poltern an der Kartoffelkiste geweckt.

Isabella „Oh, Wilhelm, kleiner, kleiner Wilhelm. Dass man dich nicht einmal zum Kartoffel holen schicken kann.

ßilberling Am darauffolgenden Morgen packte Wilhelm Andere die Koffer.

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