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Der Abend des 16. Juli 1918

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Seit April wohnten wir bereits im Haus des Militäringenieurs Ipatjew in Jekaterinburg. Die Bolschewiken hatten es extra beschlagnahmt, um uns hier unterzubringen. Die Villa war relativ geräumig, weiß, von klassizistischem Stil und befand sich am Rande der Stadt. Ihre eigentliche Schönheit wurde jedoch durch einen riesigen Bretterzaun und drei bedrohliche Maschinengewehre auf dem Dach verschandelt. Die Fenster hatten die Rotgardisten zudem mit weißer Farbe getüncht, damit niemand uns, die unglücklichen Gefangenen, sah. So verlieh man dem wundervollen Bau äußerlich den Charme einer Baracke.

Sie war somit zu unserem Gefängnis umgestaltet worden. Da sowohl dreißig Bewacher als auch die Dienstboten darin ebenfalls untergebracht waren, standen meiner Familie nur sehr wenige Zimmer zur Verfügung. Das ließ alle Mitglieder noch enger zusammenrücken. Wir waren eine kleine Insel inmitten eines feindlichen Meeres.

Eine Einheit feindseliger Rotgardisten hatte uns von Tobolsk aus hierher gebracht, nachdem die aufständischen Kosaken die Roten aus Sibirien zu vertreiben drohten. Die aufkeimende Hoffnung auf Befreiung zerschlug sich so für uns. Wir waren unseren Bewachern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. 78 Tagen lebten wir nun hier. Angst und heimliches Hoffen bestimmten unseren Alltag. Jeden Einzelnen davon hatte ich gezählt.

Rasputins Voraussagen erwiesen sich als richtig. Seit seinem Tod hatte sich unsere Lebenssituation kontinuierlich verschlechtert. Papa hatte Rasputin nicht gerächt und dessen Mörder lediglich aus Petersburg verbannt. Die Deutschen schlugen unsere Armeen und in Russland brach die Revolution aus. Wir Romanows waren zu Gefangenen im eigenen Land geworden und Papa hatte abgedankt. Anstelle einen Prinzen zu heiraten, flickte ich die Socken oder Fußlappen unserer Bewacher. Fast alle unsere Verwandten waren ebenfalls inhaftiert oder sogar ermordet worden. Russland hatte inzwischen unter den Bolschewiki den Krieg ganz verloren und einen erniedrigenden Friedensvertrag mit den Deutschen geschlossen, der diesen große Teile Russlands und die gesamte Ukraine überließ.

Lenin und seinen roten Kumpanen hatte der Krieg aber trotzdem viel gebracht. Die Deutschen bezahlten ihn und er festigte mit dem deutschen Gold seine eigene Macht in Zentralrussland. Er war diesen ohnehin dafür dankbar, dass sie ihn 1917 über Finnland nach Russland eingeschleust hatten. Nur so hatte er zum Führer der proletarischen Revolution aufsteigen können.

Papa hatte, obwohl er gar nicht mehr Zar war, den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit unterzeichnen müssen. Das Deutsche Reich hatte darauf bestanden. Mama meinte, dass sich der deutsche Kaiser, unser Großonkel, dadurch nur versichern wollte, dass wir überhaupt noch lebten. Unser Leben war eine der deutschen Bedingungen für diesen schandvollen Vertrag gewesen. Die Verwandtschaft mit dem deutschen Kaiser hatte uns bisher offenbar gerettet.

Durch eine geheime Nachricht des kaiserlichen Botschafters, des Grafen von Mirbach-Harff, erhielten wir vor einiger Zeit die Mitteilung, dass der deutsche Kaiser bereit war, wirklich alles für unsere Befreiung zu tun und ein Sonderkommando beauftragen wollte. Leider weigerte Papa sich, diese Hilfe zu akzeptieren. Wilhelm der II. tat es ohnehin wohl mehr für Mama als für seinen Cousin. Man munkelte, dass der Kaiser noch immer unsere Mutter liebte. Auch er hatte einst um die Hand meiner Mutter angehalten. Diese hatte sich jedoch für unseren Vater entschieden, obwohl alle Seiten dagegen waren.

Zu groß war bis heute Papas Enttäuschung über den Verrat des deutschen Kaisers. Dieser hatte Russland 1914 den Krieg erklärt. Vater wollte lieber sterben, als sich von Wilhelm dem II. helfen zu lassen.

Mamas eindringliche Bitten, hier an die Kinder zu denken, nutzten nichts. Sein Stolz stand ihm leider im Wege. Mama wiederum vermochte ihren Gemahl nicht zu verlassen und schlug eine von Lenin in Aussicht gestellte eigene Ausreise mit allen Kindern ebenfalls aus. Sie liebte ihren Mann. Lenin hatte dem Berliner Kaiser angeboten, alle deutschen Familienmitglieder ins Reich zu schaffen. Nur unseren Vater wollte er richten. Dieser war für ihn an allen Problemen Russlands schuld. So waren wir Gefangenen in unserem Schicksal fest aneinander gebunden.

Erst die Nachricht von der Erschießung unsers Onkels Michail vor einem Monat ließ Papa seine Haltung ändern. Zuvor hatte er offensichtlich nicht wirklich geglaubt, dass man ihn und auch uns ermorden wollte. Er kannte sein Russland nicht.

Leider wurde der für uns agierende Graf von Mirbach-Harff am 07. Juli durch ein Attentat in Moskau ermordet. Dadurch schien ein gutes Ende nun nicht mehr möglich. Mama rechnete durch Rasputins Prophezeiung mit dem Schlimmsten und versuchte uns mit religiösen Gesprächen Mut zu machen.

Papa und ich wussten, dass sie dem Glauben zum Trotz die Kapseln dabei hatte. Das angeblich wunderschöne Himmelreich stand also doch hinter dem Leben hier zurück. Sie trug sie an ihrer Brust, sodass es selbst Papa nicht gelang, ihr diese zu entwenden. Er war der Meinung, das Blut wäre die größte aller Sünden. Der Tod wiege dagegen leicht.

Was gab es da noch zu sagen?

Seit Rasputins Ermordung und der gemeinsamen Fahrt in die geheime Schatzkammer hatte Mama nicht mehr mit mir über die Ampullen gesprochen. Für wen sie die zweite bestimmte, wusste ich nicht. Das blieb bis jetzt ihr Geheimnis. Ich verstand jedoch, wenn sie mir das Mittel gab, war unser Tod nah.

Unser Bruder würde wohl nie ein Zar werden. Vielleicht war das auch besser so. Das böse, hinterhältige und grausame Russland verdiente einen so guten Menschen wie ihn ohnehin nicht.

Wir bekamen inzwischen nur noch das gleiche Essen wie die Bewacher. Diese Gleichmacherei gehörte zu unserer Erniedrigung. Das Abendessen war zwar auch heute karg und einfach, jedoch hatte der freundliche Koch den Wunsch meiner jüngeren Schwester, Maria, erfüllt und zusätzlich russische Plinsen mit Apfelstückchen in der Pfanne gebraten. Solche Abwechslungen waren selten geworden. Er konnte sich dadurch schnell den Ärger des neuen Kommandanten zuziehen.

Ljoschka und ich hatten die Plinsen bisher noch nicht angerührt. Mein Bruder mochte sie gar nicht und ich hatte mir die Leckerei für den Schluss aufgespart.

Pawel Medwedew, der die Außenwachen befehligte, trat in den Raum, der uns als Esszimmer und Wohnzimmer gleichzeitig diente. Seine Augen musterten unseren Tisch. Interessiert schaute er auf die Küchlein und strich nachdenklich über sein stoppeliges Kinn. Sein Gesichtsausdruck wurde gierig, er sagte jedoch nichts. Man ahnte aber, dass er selbst gern ein solches Küchlein gegessen hätte.

„Herr Kommandant, dürfen wir Ihnen eine Plinse anbieten?“, fragte ich diesen direkt.

Papa nickte anerkennend und Mama lächelte mir zu. Zwar mochten wir unsere Bewacher nicht, bemühten uns aber ihnen gegenüber um Höflichkeit. Vater Grigorij hatte uns gelehrt, dass alle Wesen von Gott kämen, und so müssten wir sie respektieren, auch wenn sie uns im Moment negativ gegenüberstanden.

Man sah, dass der Rotgardist mit sich rang. Medwedew wollte wohl keine Geschenke der „Ausbeuter“ annehmen, andererseits war die Lust auf den seltenen, köstlich duftenden Leckerbissen groß.

Er trat zum Tisch und griff sich mit seinen schmutzigen Fingern – so als gehörte sie ihm ohnehin – die vor mir liegende Plinse.

Ein Ungar, der sich auf jüdische Art an der Seite zwei längere Zöpfe hatten wachsen lassen, trat ebenfalls ein. Da die Ungarn zumeist kein Russisch sprachen, redeten wir sie auf Deutsch an. Das beherrschten die meisten von ihnen, da es zudem die erste Amtssprache in ihrem Land war. Ungarn war ein Teil Österreichs.

Wir alle beherrschten recht gut Deutsch und auch Französisch. Mama gab sich sehr viel Mühe, uns ihre Muttersprache beizubringen. Wir sollten auf diese Weise nicht vergessen, dass wir solche Wurzeln hatten. Seit Papas Abdankung hatte sie die freie Zeit für weiteren Sprachunterricht genutzt. Scheinbar hoffte sie innerlich doch auf ein dortiges Exil.

„Möchten Sie vielleicht auch ein Küchlein?“, wagte ich den Ungarn trotz Medwedews Unverfrorenheit zu fragen.

„Aber gern, Madam!“, antwortete der Mann in korrektem Deutsch.

„Was tuschelt ihr da?“, fuhr der Kommandant der Außenwache uns auf Russisch an. Es war ihm suspekt, dass er unsere Unterhaltung nicht verstand.

„Wir haben ihm nur ebenfalls eine Plinse angeboten“, versuchte Mama die Situation zu erklären.

Der Aufgebrachte knurrte unzufrieden, schritt aber nicht ein, als ich dem Ungarn die Plinse von Alexej reichte. Dieser verspeiste sie dankbar.

„Schmeckt sehr gut!“ Er ließ es sich für den Moment nicht nehmen, höflich zu sein.

Medwedew brummelte so etwas wie: „Verfluchtes deutsches Gesindel!“

Dann wandte er sich an den jüdischen Ungarn:

„Habe ich dir das erlaubt?“, fuhr er ihn an.

Doch der verstand scheinbar kein Russisch oder tat listigerweise zumindest so. Er aß unbeeindruckt weiter. Wir mussten unwillkürlich schmunzeln.

Die Ungarn waren Kriegsgefangene, die die Bolschewiken gegen das Geschenk der Freiheit in ihre Garden gepresst hatten. Einige hatten zuvor gegen das gleiche Versprechen in der früheren Zarenarmee gedient. Unter den Bewachern waren etwa zehn Ungarn. So wollte man sicherstellen, dass nicht etwa russische Bewacher die Seiten wechselten und uns bei der Flucht halfen. Der neue Kommandant nahm an, dass wir den Ungarn egal und sie deswegen besser für die Bewachung geeignet wären. Dabei hatte Jurowski aber übersehen, dass die Ungarn meist Deutsch sprachen.

Er selbst unterhielt sich mit den ungarischen Wächtern auf Jiddisch, da die meisten von diesen und auch er es aufgrund ihrer Herkunft beherrschten. Da viele Bolschewiki wie Lenin, Trotzki und auch Swerdlow durch solche Wurzeln miteinander verbunden waren, glaubten viele unserer Adeligen in der Revolution eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung zu erkennen.

Der Ungar und sein Hauptmann verließen das Zimmer wieder. Sie hatten nur nach uns sehen wollen. Wir atmeten befreit auf.

„Lasst uns ein wenig lesen!“, schlug Mama vor.

Wir erwiderten nichts. Andere Ablenkungen gab es im Moment nicht. Etwas Trost war immer gut.

„Außenkommandant Medwedew hat heute besonders böse geschaut“, stellte Alexej nachdenklich fest.

Mein Bruder wirkte noch sehr mitgenommen von den Entbehrungen der letzten Monate. In Tobolsk war er beim Schlittern auf dem Eis gestürzt und musste seitdem im Rollstuhl sitzen. Ohne Rasputin war die Gefahr, dass er an einem Hämatom aufgrund seiner Bluterkrankung starb, zu groß.

Die Angst, seine kürzlich Erkrankung in Tobolsk und die Belastungen der letzen Monate erschwerten seine Genesung zusätzlich. Wie sollte ein Vierzehnjähriger diese Bedrohungen alle verarbeiten?

„Das bildest du dir nur ein“, lenkte Papa ihn ab.

„Er ist immer etwas übellaunig!“

„Ich lese heute freiwillig“, bot Tatjana sich an.

Sie wollte sich immer etwas vor Mama hervortun. Ich hatte mich damit abgefunden. Es gab heutzutage wahrlich Wichtigeres als die Rangordnung unter Geschwistern.

Papa hatte mich als Älteste ohnehin immer etwas bevorzugt. Da brauchte ich nicht eifersüchtig sein. Außerdem gab es zwischen mir und ihm ein ganz besonderes Band. Wir waren so etwas wie Seelenverwandte und verstanden uns auch ohne Worte. Mama hielt mir deswegen manchmal vor, ich liebe ihn mehr. Das war aber nicht so. Es war eine andere Liebe.

Die Not und die Ängste der Verbannung hatten uns beide tatsächlich noch mehr zusammengeführt. Papa ließ das Tatjana aber nicht merken. Oft schauten er und ich uns nur an und wir sahen alle Gedanken im Gesicht des anderen. Das bedurfte keiner Worte mehr. Die Tränen in unsere Augen verbargen wir jedoch vor den anderen. Auch diese Räson verband uns.

Tatjana ging in ihr Zimmer, um die Bücher zu holen. Unsere kleine Gruppe saß wortlos und wartete.

Plötzlich hörten wir dumpfen Kanonendonner. Die Scheiben klirrten, als versuchten sie ein Lied zu singen. Erschrockene Blicke wanderten zu den weiß getünchten Fenstern. Allerdings konnte man durch diese nicht hinaussehen.

Mama wirkte aufgeregt, ein Hoffnungsschimmer belebte ihr Antlitz. In Papas Gesicht spiegelten sich dagegen Sorgen wider.

„Was bedeutet das?“, wagte Anastasija zu fragen. Sie war meine jüngste und auch aufgeweckteste Schwester.

„Die Front rückt näher“, erklärte Papa. „Still!“

Weiterer Donner drang an unser Ohr.

„Kam das von der anderen Seite?“, fragte Mama mit großen Augen.

Papa wirkte nervös. Dies übertrug sich natürlich auf uns.

„Ich glaube, ja“, murmelte er auf weitere Böller lauschend.

„Es kommt von drei Seiten. Sie schließen die Stadt ein!“, erklärte er.

Die Röte des Gesichtes zeigte seine Erregung.

Tatjana trat ein. Sie hatte mehrere Bücher dabei. Ich erkannte die Buchrücken.

Die Werke hatte uns Mama geschenkt. Es waren „Das Leben und die Wunder des Heiligen Gerechten Symeon von Werknjaja Tura“ und „Der Trost im Tode derer, die unseren Herzen nahe sind.“

Zum Glück hatte sie nicht das langweilige Buch „Die Wohltaten der Gottesmutter an die Menschheit durch ihre heiligen Ikonen“ mitgebracht. Das war eines der besten Schlafmittel und passte nicht zur jetzigen Stimmung.

„Habt ihr das auch gehört?“, stieß sie beim Eintreten aufgeregt hervor.

Tatjana ging barfuß, da enge Schuhe sie wegen ihrer Spreizfüße oft drückten. Mama sah das nicht so gern. Sie fand solches Benehmen für eine Warentochter unwürdig. Hier im Ipatjew-Haus hatte sie ihren Protest jedoch aufgegeben und sich mit unserem Niedergang abgefunden.

„Wir sind doch nicht taub!“, erklärte Alexej stolz.

Alle lachten bis auf Papa. So ausgelassen war die Stimmung schon lange nicht gewesen. Hoffnung erfüllte endlich wieder unsere Herzen.

„Radola Gajda“, flüsterte ich.

Niemand von uns durfte diesen Namen laut aussprechen. Die Eltern erröteten und sahen vorsichtig zur Tür.

Der junge General war der erfolgreiche charismatische Führer der Tschechischen Legion und jetzt unsere letzte Hoffnung. Die Tschechische Legion war auf die Seite der Weißgardisten übergelaufen und nun deren schlagkräftigste Einheit. Der Bürgerkrieg hatte also auch den Ural erreicht.

Durch den Frieden mit den Deutschen und deren Eroberung der Ukraine waren die Versorgungswege nach Zentralrussland erheblich gestört. Die Bolschewiken wollten die Tschechische Legion entwaffnen, da die Deutschen das forderten. Die Entente wollte dagegen die Kriegsgefangenen ausschiffen und nun gegen die Deutschen und Österreicher in den Krieg ziehen lassen. Russland war der ehemalige Verbündete.

Als diese sich weigerten, die Waffen abzugeben, beschlossen die Rotarmisten alle Verweigerer zu erschießen. In einem Sturm der Entrüstung erhoben sich darauf die kriegserfahrenen tschechischen Einheiten und schmetterten ihre weniger erprobten Gegner nieder. Tschechen und Weißgardisten hatten sich verbündet und kämpften nun gemeinsam. Niemand hatte das bis vor Kurzem für möglich erachtet.

Es schien fast so, als würde es den Angreifern gelingen, Jekaterinburg zu befreien. Sie attackierten nun die Stadt und damit unser Gefängnis. Das war gewagt.

Mit diesem unerwarteten und schnellen Vorstoß hatten die Bolschewiken und auch wir nicht gerechnet. Die Revolutionäre glaubten immer alles besser zu wissen und hatten ihren Gegner offensichtlich unterschätzt.

Wurden wir vielleicht doch noch im letzten Moment gerettet? Vielleicht würden wir doch noch die ersehnte Freiheit erlangen.

„Wird er es schaffen?“, fragte Alexej mit kindlicher Freude.

Wir sahen Vater an. Der war der einzige militärische Experte.

„Unsere Bewacher sind sehr nervös. Einige werden freundlicher, als wenn sie sich mit uns gut stellen wollten. Das spricht für eine einschneidende Veränderung.“

„Aus welchen Himmelsrichtungen kommt der Donner?“ Mama wollte es genau wissen. Worauf zielte die Frage?

„Auch aus dem Westen“, antwortete Papa.

„Sie kreisen die Stadt ein und unterbrechen die Versorgungswege. Es sieht nicht gut für die Roten aus!“

Mama lief feuerrot an.

„Was bedeutet das für uns?“ Maria verstand die Zusammenhänge nicht. Sie war zu jung für militärisches Denken.

„Das heißt, dass ihre Nachschublinien unterbrochen sind und sie uns nicht mehr nach Westen abschieben können“, erklärte ich. Schließlich hatte ich selbst ein Regiment befehligt und war auch in Taktik geschult.

Ljoschka sah Papa eindringlich an. Sein Gesicht war feuerrot.

„Papa, ich will, dass du mit uns das Land verlässt, wenn wir befreit werden! Du sagst doch, ich wäre nun der Zar. Ich befehle es dir!“

Papa schaute Alexej mit feuchten Augen und voller Liebe an.

„Ich weiß, es war falsch, zu bleiben. Verzeiht mir! Diesmal komme ich mit. Es soll nicht an mir scheitern. Russland will uns nicht mehr. Ich verspreche es dir, wir fliehen!“

Wir konnten die Freude nicht mehr unterdrücken und fielen uns schluchzend in die Arme. Zum Glück sah uns niemand von den Bewachern. Ich gab Papa einen Kuss und flüsterte in sein Ohr: „Endlich!“

„Olga hat gesagt, dass sie Radola Gajda heiraten will, wenn er uns befreit“, verriet Tatjana meine kindlichen Fantasien. Nun ja, wen sollte ich sonst in dieser Zeit heiraten? Ein Held musste her. Schließlich war ich schon 21.

Alle lachten.

„Meinetwegen auch das!“, stimmte Papa zu. „Da gibt es Schlimmeres!“

„Ich nehme dich beim Wort!“, sagte ich scheinbar ernst.

„Ich weiß“, erwiderte Papa. Seine Stimme klang traurig. Er hatte mir eigentlich einen wahren Prinzen zugedacht.

Mama schwieg. Hatte sie etwas dagegen?

„Vielleicht sehen wir bald Oma wieder?“, murmelte Alexej. Er hing sehr an ihr. Sie war als Einzige von unserer Familie in Sicherheit und hielt sich in der von den Deutschen besetzten Ukraine auf.

„Lasst uns still beten“, schlug Mama vor. „Ihr wisst, wofür!“

Wir alle begannen inbrünstig und leise es zu tun. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Der Kommandant Jakow Michailowitsch Jurowski kam herein und musterte uns kritisch. Er wollte anscheinend wissen, wie seine Gefangenen den sich nähernden Kanonendonner aufnahmen. Als der Eintretende uns auf diese Weise beschäftigt sah, schloss er zufrieden die Tür.

„Fang an, Tatjana“, forderte meine Mutter, nachdem wir unsere Gebete abgeschossen hatten.

Tatjana wählte nun eines der Bücher und begann daraus vorzulesen.

Unsere Gedanken folgten aber kaum dem Text, sondern waren nach draußen gerichtet. Es klang so, als würde der Donner wirklich lauter. Vereinzelt hörte man auch weit entferntes Maschinengewehrfeuer.

Da Mama merkte, dass wir nicht so recht bei der Sache waren, schickte sie uns fort. Sie meinte, nur unsere Gebete hätten Gott dazu bewogen, General Gajda zu schicken. Wir sollten umso eifriger beten.

„Geht heute etwas früher auf eure Zimmer. Nicky und ich wollen noch etwas unter uns sein und Karten spielen.“

Die beiden nutzten solche Gelegenheiten, um in entspannter Atmosphäre über wichtige Dinge zu sprechen, welche nicht für unsere „Kinderohren“ bestimmt waren.

Papa erhob sich und umarmte jeden von uns. Als er mich küsste, flüsterte er: „Denk an den Wolf in der Ecke!“

Daran hatte ich in meiner Euphorie noch nicht gedacht. Ein in die Ecke getriebener Wolf ist besonders gefährlich. Die Bolschewiki könnten uns töten, bevor sie eine Befreiung zuließen.

Meine Hoffnung brach weg wie das Holz eines morschen Dachbodens. Für einen Moment wurde mir schwindelig und das Herz zog sich schmerzhaft und eisig zusammen. Es war dieses Gefühl, als hätte man Schwindel und fiele gleichzeitig in ein unendliches Loch. Furchtbare Angst erfüllte mich. Wir waren doch viel zu jung zum Sterben.

Alle anderen lächelte Papa an, als müssten sie nichts fürchten. Seine wirklichen Sorgen verbarg er vor ihnen. Angst schnürte trocken und kalt meinen Hals zu. Ich konnte aber mit niemandem darüber sprechen. Alle Geschwister fühlten sich für den Moment so glücklich. Man durfte ihnen das nicht nehmen. Wie schwer musste diese Last für Papa sein?

Nachdem unsere Eltern ihr Kartenspiel beendet hatten, lasen Tatjana und Mama einander vor dem Schlafen noch aus dem Buch des Propheten Amos vor. Voller Gedanken wälzte ich mich im Bett, konnte nicht einschlafen und lauschte gleichzeitig angstvoll dem Kanonendonner.

Zarin der Vampire. Blut der Sünde + Böse Spiele: Doppelband

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