Читать книгу Die große Stille - Ted Chiang - Страница 10
ОглавлениеSie stehen vor einer schweren Entscheidung …
Warnung. Diesen Text bitte aufmerksam lesen.
Inzwischen haben Sie vermutlich einen Prognostiker zu Gesicht bekommen – wenn Sie das hier lesen, wird man bereits Millionen von ihnen verkauft haben. Aber falls nicht: Es handelt sich um ein kleines Gerät, das in etwa wie die Fernentriegelung Ihres Autos aussieht. Eigentlich besteht es lediglich aus einem Knopf und einer großen grünen LED. Wenn man auf den Knopf drückt, blinkt das Lämpchen auf. Genauer gesagt: Das Licht blinkt eine Sekunde, bevor man den Knopf drückt.
Nach Aussage der meisten Leute fühlt sich das anfangs wie ein seltsames Spiel an, ein Spiel, bei dem man nach dem Blinken den Knopf drücken muss – im Grunde kinderleicht. Versucht man aber, diese Regel zu umgehen, merkt man, dass das nicht möglich ist. Will man den Knopf drücken, bevor man ein Licht gesehen hat, leuchtet das Lämpchen auf, und wie sehr man sich auch beeilt, man drückt den Knopf immer erst eine Sekunde später. Wartet man einfach ab und nimmt sich vor, den Knopf nach einem Blinken nicht zu drücken, bleibt das Lämpchen dunkel. Egal, was man tut, immer leuchtet die LED schon vor dem Drücken auf. Man kann einen Prognostiker nicht überlisten.
Das Herz jedes Prognostikers ist ein Schaltkreis mit einer negativen Zeitverzögerung – diese schickt ein Signal in die Zeit zurück. Wie bedeutsam diese Technik wirklich ist, wird man erst sehen, wenn Verzögerungen von mehr als einer Sekunde erreicht werden, aber darum geht es bei dieser Warnung nicht. Wichtig ist hier Folgendes: Prognostiker führen uns vor Augen, dass es so etwas wie den freien Willen nicht gibt.
Es sprach schon immer vieles dafür, dass der freie Wille eine Illusion ist. Einige Argumente basierten auf physikalischen Tatsachen, andere auf reiner Logik. Die meisten Leute geben zu, dass man dem nichts entgegensetzen kann, aber niemand akzeptiert je wirklich die Schlussfolgerung daraus. Die eigene Erfahrung des freien Willens wiegt zu schwer, als dass sie sich von bloßen Argumenten außer Kraft setzen ließe. Man muss die Wahrheit selbst erlebt haben, und genau diese Erfahrung verschafft einem der Prognostiker.
Typischerweise spielt ein Mensch tagelang wie besessen mit dem Prognostiker, führt ihn Freunden vor und probiert alles Mögliche aus, um das Gerät auszutricksen. Und auch wenn irgendwann das Interesse scheinbar erlischt, gelingt es niemandem zu vergessen, was dieses Gerät impliziert – während der folgenden Wochen setzt langsam die Erkenntnis ein, was die Unveränderlichkeit der Zukunft bedeutet. Nachdem sie begriffen haben, dass ihr Wille keine Rolle spielt, wollen manche Menschen gar keine Entscheidungen mehr treffen. Wie Heerscharen von Bartleby dem Schreiber hören sie auf, überhaupt etwas zu tun. Am Schluss muss ein Drittel der Menschen, die mit einem Prognostiker spielen, in eine Klinik eingewiesen werden, weil sie nicht mehr essen. Das Endstadium ist der akinetische Mutismus, eine Art Wachkoma. Die Patienten folgen Bewegungen noch mit den Augen und ändern gelegentlich die Körperhaltung, aber sonst tun sie nichts mehr. Die Fähigkeit zur Bewegung ist zwar noch vorhanden, doch die Motivation dazu ist verschwunden.
Bevor die Leute mit Prognostikern zu spielen begannen, war akinetischer Mutismus sehr selten und stets das Ergebnis einer Schädigung des singulären Kortex. Inzwischen verbreitet er sich wie eine kognitive Seuche. Früher hat man über Gedanken, die den Denkenden vernichten, spekuliert, über unaussprechliche Schrecken aus dem Reich Lovecrafts oder einen Satz von Gödel, der die menschliche Logik zerstört. Nun zeigt es sich, dass wir den wahren tödlichen Gedanken schon lange kennen: die Vorstellung, dass der freie Wille nicht existiert. Er war nur ungefährlich, solange niemand an ihn glaubte.
Die Ärzte versuchen, mit den Patienten zu reden, während sie noch ansprechbar sind. Wir alle hätten früher ein glückliches, ausgefülltes Leben geführt, argumentieren sie, und damals hätten wir schließlich auch keinen freien Willen gehabt. Wieso sollte sich jetzt irgendetwas ändern? »Was Sie im letzten Monat getan haben, war nicht selbstbestimmter als das, was Sie heute tun«, sagt ein Arzt möglicherweise. »Sie können sich weiter so verhalten wie früher.« Die Patienten antworten ohne Ausnahme: »Aber jetzt weiß ich es.« Und einige sagen danach nie wieder etwas.
Manche werden einwenden, wenn der Prognostiker eine solche Verhaltensänderung bewirke, beweise das, dass wir eben doch einen freien Willen hätten. Ein Automat könne nicht den Mut verlieren; nur ein denkendes, bewusstes Wesen sei dazu fähig. Dass manche Individuen in akinetischen Mutismus verfielen und andere nicht, zeige nur, wie wichtig es sei, Entscheidungen zu treffen.
Leider ist diese Argumentation fehlerhaft: Jedes beliebige Verhalten ist mit dem Determinismus vereinbar. Das eine dynamische System mag in ein Attraktionsbasin fallen und schließlich an einem bestimmten Punkt enden, ein anderes ohne absehbares Ende chaotisches Verhalten zeigen, und doch sind beide vollkommen deterministisch.
Ich sende diese Warnung aus einer Zeit, die von Ihnen aus gesehen gut ein Jahr in der Zukunft liegt. Es ist die erste längere Nachricht mittels Schaltkreisen, die über eine negative Verzögerung von Megasekunden verfügen. Weitere Botschaften werden folgen, in denen es um andere Probleme gehen wird.
Mein Rat an Sie lautet: Tun Sie so, als würde der freie Wille existieren. Es ist unbedingt notwendig, dass Sie sich so verhalten, als wären Ihre Entscheidungen von Bedeutung, auch wenn Sie wissen, dass das nicht wahr ist. Die Realität ist unerheblich; was zählt, ist Ihr Glaube, und der Glaube an die Lüge ist die einzige Möglichkeit, dem Wachkoma zu entgehen. Der Fortbestand der menschlichen Zivilisation hängt von nun an von der Selbsttäuschung ab. Vielleicht war das ohnehin nie anders.
Und doch weiß ich natürlich, dass vorherbestimmt ist, wer in akinetischen Mutismus verfallen wird und wer nicht – denn schließlich ist der freie Wille eine Illusion. Niemand kann etwas dagegen tun – keiner kann es sich aussuchen, welche Wirkung der Prognostiker auf ihn haben wird. Einige von Ihnen werden ihr erliegen und andere nicht, und dass ich Ihnen diese Warnung sende, wird nichts daran ändern. Wieso also habe ich es getan?
Weil mir nichts anderes übrig bleibt.