Читать книгу Der neue Landdoktor Box 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 6
Оглавление»Das war knapp!«, rief Sebastian Seefeld, der junge Arzt, der erst vor zwei Wochen die Praxis seines Vaters in Bergmoosbach übernommen hatte. Er hatte sich nur mit einem geschickten Sprung zur Seite vor der Radfahrerin in Sicherheit bringen können, die ihm während seines morgendlichen Spaziergangs auf einem schmalen asphaltierten Weg entgegenkam.
»Tut mir leid, ich wäre schon noch ausgewichen!«, erwiderte die Frau auf dem pinkfarbenen Mountainbike. Sie war ganz in weiß gekleidet, trug einen rosa Sturzhelm und hatte einen hellblauen Rucksack aufgeschnallt.
»Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen!«, antwortete Sebastian, aber das hörte sie nicht mehr. Die Straße war abschüssig, und sie war schon ein ganzes Stück entfernt. Ich denke, auf den Waldwegen werde ich keinen rasenden Radfahrern ausweichen müssen, dachte er und verließ die Straße.
»Kann ich Ihnen helfen?« Sebastian unterbrach seinen morgendlichen Spaziergang, als er die junge Frau bemerkte, die einen Leiterwagen mit sechs Milchkannen beladen einen steilen Weg hinunterzog.
Sie musste offensichtlich ihre ganze Kraft aufwenden, um den Wagen abzubremsen, damit er ihr nicht davonsauste. Immer wieder stemmte sie sich mit ihren schweren Gummistiefeln in den sandigen Boden, um den Wagen zu verlangsamen.
Was ist denn mit den Frauen in Bergmoosbach los? Wollen sie alle irgendeinen Rekord brechen? Wer ist am schnellsten am Ziel oder wer transportiert die schwerste Last? Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte er erschrocken.
Der Bauch der Frau, der sich unter der Latzhose nach vorn wölbte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie hochschwanger war. Er überlegte nicht lange, bog in den Weg ein und rannte ihr entgegen.
»Sabine?«, fragte er überrascht, als sie aufschaute und ihn mit ihren matten hellen Augen anschaute.
»Grüß dich, Sebastian, dass du mich noch erkennst«, entgegnete Sabine Mittner, zog die Bremse des Wagens an und wischte sich mit dem Arm über ihre verschwitzte Stirn.
»Wir sind jahrelang zusammen zur Schule gegangen, warum sollte ich dich nicht erkennen?«
»Ich habe inzwischen drei Kinder und erwarte das vierte, das verändert. Du hast dich auch verändert, du bist noch attraktiver geworden, Herr Doktor Seefeld«, sagte sie lächelnd und betrachtete den jungen Mann in der schwarzen Jeans und dem weißen Hemd. »Ich habe es nicht glauben wollen, als sie im Dorf erzählten, dass du die Praxis von deinem Vater übernehmen wirst. Wer gibt Toronto auf und zieht nach Bergmoosbach, habe ich mich gefragt.«
»Vielleicht weiß ich dieses Leben auf dem Land inzwischen besser zu schätzen, nachdem ich so viel Zeit in der Großstadt zugebracht habe.« Er konnte es nicht leugnen, er fühlte sich in diesem hügligen Tal am Fuße der Allgäuer Alpen noch immer zu Hause.
Das Dorf inmitten von buckligen Wiesen und Weiden, die Häuser mal tiefer, mal höher gelegen, wie in seine ganz eigene Gebirgslandschaft eingebettet. Der in der Sonne funkelnde See, die glitzernden Weiher, der Bach, der in einer Quelle oben in den Bergen entsprang, durch das Dorf rauschte, am anderen Ende des Tals in einer Schlucht verschwand und sich irgendwann mit einem größeren Gewässer vereinigte, der Duft nach Moos und Heu, alles erschien ihm unendlich vertraut.
»Was ist?«, fragte Sebastian besorgt, als Sabine sich gegen einen Baum lehnte und ein paar Mal tief durchatmete.
»Gar nichts, es ist alles gut, ich muss dann auch weiter.«
»Kann dein Mann das mit den Milchkannen nicht übernehmen?«
»Das Dach der Scheune ist undicht. Anton muss es reparieren, es kann doch jederzeit regnen.«
»Anton Mittner?«
»Richtig, die Unzertrennlichen aus der Schulzeit sind immer noch unzertrennlich«, antwortete Sabine mit einem Lächeln, das Sebastian zeigte, dass sie ihren Anton liebte.
»Gut, dann werde ich dir helfen.«
»Ich mache das schon«, versuchte sie, die Hilfe des jungen Arztes abzuwehren.
»Auf keinen Fall. Du bist doch schon im neunten Monat, da sollte man sich solche Anstrengungen nicht mehr zumuten.«
»Wir sind auf dem Land, da geht es nicht immer nach Vorschrift, daran wirst du dich wieder gewöhnen müssen, Sebastian.«
»Nicht an so etwas.« Er löste die Bremse des Leiterwagens und zog ihn den Weg hinunter. »Werden die Milchkannen noch an derselben Stelle wie früher abgeholt?«, erkundigte er sich, während sie das Waldstück durchquerten, das die Aussiedlerhöfe vom Dorf trennte.
»An der Bushaltestelle am Ortseingang, das hat sich nicht verändert.«
»Wann warst du das letzte Mal zur Vorsorgeuntersuchung?«, fragte Sebastian, als Sabine sich mit beiden Händen an den Rücken fasste, so als hält sie Schmerzen.
»Es ist alles in Ordnung, das Kleine hat noch ein bisschen Zeit«, wich sie seiner Frage aus.
»Bei wem warst du denn zur Kontrolle? Bei einem Arzt in der Stadt?«
»Nein.« Sabine schüttelte den Kopf. »Die meisten gehen doch jetzt zu Anna.«
»Anna?«
»Anna Bergmann, unsere Hebamme.«
»Bei ihr warst du?«
»Hm«, antwortete Sabine kaum hörbar, »alle mögen Anna, weißt du, sie ist eine umsichtige einfühlsame Person«, sprach sie schnell weiter.
»Das sollte sie in ihrem Beruf auch sein.« Anna war sicher eine dieser älteren Damen, ein bisschen füllig, immer freundlich und mit einer mütterlichen Seele, die den werdenden Müttern viel Mitgefühl entgegenbrachte. »Aber wie auch immer, du solltest mit in meine Praxis kommen, wir könnten einen Ultraschall machen, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist.«
»Es ist wirklich alles gut. Was das Kinderkriegen betrifft, da bin ich recht erfahren, wie du dir denken kannst.«
»Ich kann dich nicht zwingen, dich untersuchen zu lassen, aber wenn etwas sein sollte, dann melde dich«, bat er sie, als sie den Wald verließen und die Bushaltestelle nur noch ein paar Meter entfernt war.
»Weißt du eigentlich, dass du der Schwarm aller Mädchen in der Schule warst?«, lenkte Sabine ihn wieder ab.
»Du übertreibst«, antwortete er lachend.
»Tue ich nicht.« Sie betrachtete das ebenmäßige Gesicht des jungen Mannes, die hellen grauen Augen, die in einem aufregenden Kontrast zu seinem dunklen Haar standen. »Es tut mir leid, was mit deiner Frau passiert ist«, sagte sie und streichelte ihm mit aufrichtigem Mitgefühl über den Arm. »Es ist furchtbar, wenn ein Mensch so früh gehen muss.«
»Emilia und ich haben eine schlimme Zeit hinter uns, wir mussten erst lernen, ohne Helene zu leben.«
»Wie alt ist deine Tochter?«
»Vierzehn.«
»Ein schwieriges Alter.«
»Allerdings«, stimmte Sebastian ihr zu. Er hatte in letzter Zeit einige Kämpfe mit Emilia ausgetragen. »Ich mache mich dann auf den Weg, pass auf dich auf, Sabine, grüß Anton von mir«, verabschiedete sich Sebastian von seiner ehemaligen Klassenkameradin, nachdem er den Leiterwagen abgestellt hatte und Sabine sich auf die Bank setzte.
»Danke für deine Hilfe«, sagte sie und nickte ihm freundlich zu.
Sebastian wandte sich noch einmal um, als ihm der Lastwagen der Molkerei entgegenkam. Er hielt vor der Haltestelle an, ein kräftiger Mann im blauen Overall stieg aus, und bedeutete Sabine, dass sie sitzenbleiben sollte, während er den Inhalt der Milchkannen in den Tank des Lastwagens füllte.
Wieder fasste sich Sabine mit flackerndem Blick an den Rücken. Sebastian hatte schon einige Geburten miterlebt, und seine Erfahrung sagte ihm, dass es bei Sabine nicht mehr lange dauern würde.
Von der Bushaltestelle waren es nur wenige Meter bis zu seinem Elternhaus, in das er und Emilia nun zurückkehrt waren. Es lag auf einem sanft ansteigenden grünen Hügel am Ende des Dorfes. Eine Treppe führte durch den blühenden Steingarten zum Wintergarten, einem mit roten Schindeln überdachtem Glasbau. Er war die Verbindung zwischen dem Garten und dem Haus mit seinen lindgrünen Fensterläden. Aufgeteilt in Erdgeschoss, ersten Stock und ausgebauten Dachboden bot es genug Platz für eine große Familie.
Durch den Wintergarten ging es in die weite Diele mit der geschwungenen Treppe aus Kiefernholz, die hinauf in den ersten Stock führte. Als sein Urgroßvater die erste Landarztpraxis der Gegend eröffnete, war die Diele das Wartezimmer gewesen, und die Sprechstunde fand im Wohnzimmer statt. Aber das war lange her.
Am Ende der Diele lag die Küche. Die Fenster, nach Osten und Süden ausgerichtet, hatten dort bis zum späten Nachmittag Sonne. Wie immer knarrte der Dielenboden, als er den großen hellen Raum betrat, und Traudel, die gute Seele im Haus der Seefelds, die am Herd stand, wurde sofort auf ihn aufmerksam.
»Heute warst du aber recht lang fort«, sagte sie und musterte Sebastian mit ihren sanften dunklen Augen.
»Ich habe Sabine Mittner getroffen, wir haben uns ein bisschen unterhalten«, klärte er Traudel auf, warum er später kam als sonst.
»Es muss doch bald so weit sein bei ihr.«
»Davon gehe ich aus. Ich finde, sie sollte sich in ihrem Zustand mehr Ruhe gönnen.«
»Auf einem Hof muss eben jeder mitanpacken«, seufzte Traudel, fummelte kurz an der Schleife der weißen Schürze herum, die sie zu ihrem dunklen Dirndl trug, und wandte sich wieder der Pfanne mit den Rühreiern zu.
»Offensichtlich ist das so.«
»Gefällt dir unsere Küche nicht?«, fragte Traudel, als Sebastian sich gedankenverloren umschaute.
»Doch, sie ist wirklich schön geworden«, sagte er schnell, weil er wusste, wie stolz Traudel auf ihr frisch renoviertes Reich war.
Nachdem feststand, dass Sebastian die Praxis übernehmen würde, hatte sein Vater den Umbau beschlossen. Die abgehängte Holzdecke wurde ausgebaut, um den Raum heller und luftiger zu gestalten, die Wände bekamen einen rein weißen Rauputzanstrich, das schwere Büffet aus Eichenholz und der dunkle Küchenblock waren einer hellen Landhausküche mit verglasten Hängeschränken und modernen Küchengeräten gewichen. Nur der rustikale Esstisch und die mit dunklem Leder bezogenen Stühle hatten die Erneuerung überlebt.
»Auch auf dem Land sind die Leute durchaus zu Veränderung bereit«, sagte Traudel.
»Solange du dich nicht veränderst.«
»Geh, Bub«, kicherte sie, als Sebastian sie auf die Wange küsste.
Auf Traudel ließ er nichts kommen. Sie war die Cousine seiner Mutter und kam ins Haus, als seine Mutter kurz nach seiner Geburt starb. Traudel schenkte ihm ihre ganze Liebe und unterstützte seinen Vater, wo sie nur konnte. Traudel hatte dafür gesorgt, dass die Sonne im Haus der Seefelds wieder schien, und dafür auf eine eigene Familie verzichtet.
»Gefrühstückt wird heute auf der Terrasse, dein Vater und unser Madl werden sicher gleich herunterkommen.«
Sebastian wollte gerade nach draußen gehen, als er die leichten schnellen Schritte seiner Tochter auf der Treppe hörte.
»Guten Morgen, Papa!«, rief Emilia gut gelaunt, als sie kurz darauf in die Küche kam.
»Guten Morgen, mein Schatz, hast du gut geschlafen?«
»So ruhig, wie es hier ist, würde ich den ganzen Tag verschlafen, wenn Traudel nicht mit dem Geschirr in der Küche herumklappern würde.«
»Willst du mir etwa sagen, ich sei zu laut?« Traudel musterte das große schlanke Mädchen in der engen Jeans und dem weiten langen T-Shirt mit dem Namen der Fußballmannschaft, für die Emilia in Toronto gespielt hatte.
»So etwas denke ich nicht einmal. Das Geschirrklappern erinnert mich doch nur daran, dass es hier immer etwas Gutes zu essen gibt.« Emilia warf das lange kastanienfarbene Haar zurück, legte den Arm um Traudel und fischte ein Stück gebratenen Schinken aus den Rühreiern, das sie genüsslich in den Mund steckte.
»Nicht mit den Fingern«, ermahnte Traudel das Mädchen, aber es klang nicht wirklich zurechtweisend. Emilia war ihr Augenstern, ihr Sonnenschein, ihr verzieh sie einfach alles.
»Was hältst du davon, wenn wir in den nächsten Tagen etwas Neues zum Anziehen für dich kaufen?«, schlug Sebastian vor, der seine Tochter betrachtete. Seitdem sie in Bergmoosbach angekommen waren, trug Emilia ausschließlich Jeans und T-Shirts mit dem Namen ihrer Fußballmannschaft.
»Gefällt dir nicht, was ich anhabe?«
»Gegenfrage, seit wann lehnst du solch ein Angebot ab?«
»Du wirst mich nicht in ein Dirndl oder so etwas zwängen.«
»Nein. Das habe ich auch gar nicht vor.«
»Verstehe, du meinst, ich sollte mich allmählich von meinem alten Leben verabschieden, von diesem Leben«, entgegnete sie aufmüpfig und zupfte an ihrem T-Shirt.
»Vielleicht findest du einen neuen Fußballverein.«
»In diesem Kaff spielen Mädchen aber nicht Fußball.«
»Das nimmst du an. Du hast dich doch noch gar nicht umgehört. Überhaupt solltest du den Kontakt mit Gleichaltrigen suchen. Oder willst du keine neuen Freunde?«
»Was soll ich mit denen anfangen, die hier wohnen? Mich zu ihnen auf den Traktor setzen und zur Heuernte fahren? Danke, nein«, erklärte Emilia und rümpfte die Nase.
»Ich brauche jetzt einen Kaffee«, sagte Sebastian und ging hinaus in den Garten. Manchmal fragte er sich schon, ob er den richtigen Ton fand, wenn er mit Emilia sprach, oder ob er vielleicht unabsichtlich ihre Gegenwehr herausforderte.
Die Terrasse vor der Küche war mit dunkelgrauen Natursteinen gepflastert und von bunt blühenden Blumenbeeten und duftendem Sommerflieder umgeben. Der Hügel, auf dem das Haus stand, wölbte sich in einer sanften Rundung bis zur Straße hinunter, und der kurzgeschnittene tiefgrüne Rasen verlieh ihm etwas Majestätisches.
Sebastian befestigte das blaue Polster, das von einem der vier Stühle gerutscht war, und setzte sich an den gedeckten Tisch, auf dem bereits eine Kanne Kaffee, eine Karaffe mit Orangensaft und ein Körbchen mit knusprigen Brötchen stand.
»Du machst dir zu viele Gedanken um mich, Papa«, sagte Emilia, die kurz nach ihrem Vater auf die Terrasse kam.
»Du bist meine Tochter, ich werde mir immer Gedanken um dich machen«, entgegnete Sebastian und goss sich eine Tasse Kaffee ein.
»Spaß macht das sicher keinen, sich ständig Sorgen zu machen«, seufzte Emilia, ließ sich in den Stuhl neben ihn fallen und streckte die Beine aus.
»Emilia…«
»…sitz bitte gerade«, vervollständigte das Mädchen den Satz ihres Vaters.
»Braves Kind«, sagte Sebastian lachend, als sie seiner Aufforderung sofort folgte.
»Papa, ich glaube, du musst deine Patienten besser erziehen, sonst sitzen sie irgendwann noch die ganze Nacht in unserem Hof.« Emilia legte ein Brötchen auf ihren Teller und zerteilte es mit einem Messer.
»Wie kommst du jetzt darauf?«, fragte Sebastian.
»Weil dort schon wieder jemand herumsitzt.«
»Entschuldige mich.«
»Wir frühstücken, Papa«, verkündete Emilia mit vorwurfsvollem Blick, als Sebastian aufstand.
»Ich bin gleich zurück«, sagte er. Wer sich so früh auf den Weg zu ihm machte, den musste etwas Ernsthaftes quälen.
Er ging um das Haus herum und lief den weißen Kiesweg entlang, der zu dem hellen Backsteinbau im Hof führte, in dem die Praxis untergebracht war. Ein gepflasterter Weg, breit genug, damit auch ein Krankenwagen ihn passieren konnte, verband den Hof mit der Straße.
Vor dem Eingang der Praxis standen zwei weiße Holzbänke, die von den Patienten im Sommer als Wartezimmer genutzt wurden. Er hatte keine Ahnung, was Emilia gesehen hatte, aber an diesem Morgen waren die Bänke noch leer. Er wollte schon wieder gehen, als er die Frau wahrnahm, die im Schatten der alten Ulme stand, die einen Teil des Hofes mit ihrer Krone überdachte. Er hatte den Eindruck, als wollte sie sich vor ihm verbergen.
»Guten Morgen, Frau Mechler«, sagte er, als er sie erkannte.
»Guten Morgen, Doktor Seefeld«, entgegnete sie leise und machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, es ist noch recht früh, gehen Sie nur zu Ihrer Familie, ich wollte gar keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Das ist in Ordnung, Frau Mechler, ich nehme mir ein paar Minuten Zeit, setzen Sie sich.« Sebastian war nicht entgangen, dass sie mit den Tränen kämpfte, so konnte er sie unmöglich allein lassen. »Was haben Sie, Frau Mechler?«, erkundigte er sich, nachdem sie auf der Bank Platz genommen hatte.
»Mit dem Schlafen klappt es nicht mehr, Herr Doktor, jede Nacht liege ich wach und denke an meinen Josef. Er ist doch vor einem halben Jahr von uns gegangen, wissen Sie. Kinder haben wir ja keine und sonst ist da auch niemand, der mir wirklich nahe steht. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was ich noch auf dieser Welt soll.«
»Weinen Sie nur, lassen Sie Ihren Kummer erst einmal heraus, wir werden schon etwas finden, was ihre Traurigkeit vertreibt.« Sebastian setzte sich neben Frau Mechler und hielt ihre Hand, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Er wusste, wie weh es tat, den Menschen an seiner Seite zu verlieren. Er konnte sich genau daran erinnern, wie es ihm den Boden unter den Füßen wegzog, als die Polizei ihn damals aus dem Bett klingelte und er von dem Unfall erfuhr, der Helene das Leben gekostet hatte. »Wissen Sie, Frau Mechler, Sie haben noch so viel Liebe zu verschenken, und es gibt bestimmt Menschen, die diese Liebe gern annehmen würden. Das ist doch ein Grund, um noch ein wenig Zeit auf dieser Erde zu verbringen«, sagte er und drückte sanft ihre Hände. »Sie dürfen nicht mehr so viel allein sein, das ist das Wichtigste.«
»Weil die Gedanken dann immer kreisen, ich weiß.«
»Was meinen Sie, wollen wir beide darüber nachdenken, wie wir Ihre Lage verbessern können?«
»Sie meinen, es wartet noch ein wenig Freude auf mein altes Herz?«, fragte Frau Mechler, und als sie Sebastian anschaute, zeigte sich ein schüchternes Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Wir finden etwas, ganz sicher.«
»Danke, Herr Doktor Seefeld, ich fühle mich schon ein bisschen leichter. Was doch so ein paar Worte ausmachen können.«
»Das ist der Sinn der Sprechstunde, in vielen Fällen ist ein Gespräch immer noch die beste Therapie.«
»Das hat Ihr Vater auch immer gesagt. Wissen Sie, gerade die älteren von uns hatten ihre Bedenken, ob ein junger Arzt sich überhaupt noch die Zeit für Gespräche nehmen wird. Heutzutage muss doch alles schnell gehen, und dann diese vielen Geräte, an die sie uns anschließen und die uns durchleuchten.«
»Manchmal lässt sich das nicht vermeiden.«
»Ich weiß, aber zuerst kommt das Gespräch.«
»So werden wir es auch weiterhin halten«, versicherte Sebastian seiner Patientin.
»Grüßen Sie Ihren Herrn Vater von mir.«
»Das mache ich gern, und wir sehen uns in den nächsten Tagen wieder, um über unser gemeinsames Vorhaben zu sprechen.«
»Sie meinen, dass ich etwas finde, was mir Freude macht?«
»Das meine ich, Frau Mechler, also dann, auf bald.«
»Auf bald, Herr Doktor.«
»Du machst das gut, mein Junge.« Benedikt Seefeld ging aus alter Gewohnheit noch immer jeden Morgen vor dem Frühstück erst einmal in den Hof, um ein paar Worte mit den Leuten zu reden, die dort auf den Beginn der Sprechstunde warteten.
»Beobachtest du mich etwa, Vater?«, fragte Sebastian.
»Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«
»Du kannst es nicht lassen, nicht wahr?«
»Nicht so ganz«, gab Benedikt schuldbewusst zu.
»Deine Patienten vermissen dich auch, besonders die älteren Damen. Frau Mechler hätte sich sicher auch gern mit dir unterhalten, sie lässt dich übrigens grüßen.« Sebastian konnte verstehen, dass die Damen seinen Vater vermissten. Er war eine beindruckende Erscheinung, groß und sportlich, mit silbergrauem Haar, dunklen Augen und einem Lächeln, dem so manche nur schwer widerstehen konnte.
»Einige brauchen eben noch eine Weile, bis sie sich an dich gewöhnt haben, aber ich denke, die meisten sind bereits recht zufrieden mit dir.«
»Wenn das nicht so wäre, dann wäre dein Plan gescheitert.« Sebastian wusste sehr gut, dass sein Vater sich nicht allein aus Altersgründen aus der Praxis zurückgezogen hatte. Er hatte gehofft, ihn und Emilia auf diese Weise dazu zu bringen, dass sie nach Bergmoosbach zurückkehrten, und damit hatte er letztendlich auch Erfolg gehabt. »Sie vermisst dich auch«, sagte er und winkte Gerti Fechner, die von der Straße heraufkam.
Gerti war die Sprechstundenhilfe der ersten Stunde in der Praxis Seefeld. Dreißig Jahre lang hatte sie Benedikt tatkräftig unterstützt, und nun ließ sie Sebastian, den sie hatte aufwachsen sehen, an ihrer Erfahrung teilhaben und umsorgte ihn mit der gleichen mütterlichen Zuneigung wie Traudel.
Gerti liebte deftiges Essen und hausgemachte Kuchen, und im Laufe der Jahre war sie dabei recht rundlich geworden. Aber das bremste sie nicht aus. Mit flottem Schritt marschierte sie den Weg von der Straße herauf. Alles an Gerti strahlte Ordnung aus. Das kurze dunkle Haar war akkurat gekämmt, der graue Faltenrock, die weiße Bluse gestärkt und gebügelt, die schwarzen Halbschuhe poliert und sogar die betagte braune Umhängetasche schien gründlich gewienert.
»Guten Morgen«, sagte sie mit einem fröhlichen Lächeln, und in ihren hellblauen Augen zeigte sich ein Strahlen, als sie ihre beiden ›Doktoren‹, wie sie Vater und Sohn nannte, voller Zuneigung ansah.
»Guten Morgen, Gerti«, antworteten Sebastian und Benedikt und erwiderten ihr Lächeln.
»Ich habe gerade die Mechler Pia getroffen. Sie war geradezu euphorisch, dass du die Open-Air-Sprechstunde vom Herrn Doktor fortsetzt«, wandte sie sich direkt an Sebastian, den sie außerhalb der Praxis duzte, weil sie ihn schon als Kind gekannt hatte.
»Ich habe auch nicht vor, sie abzuschaffen. Ich halte sie für eine gute Einrichtung.«
»Mei, Herr Doktor, das hätten Sie ihm schon ausreden sollen. Oder wird die Zeit jetzt aufgeschrieben, damit ich was zum Abrechnen habe?«, fragte Gerti und schaute Benedikt abwartend an.
»Wir plaudern doch nur ein wenig mit den Nachbarn, Gerti«, verteidigte Benedikt Sebastian und sich. »Sobald jemand die Praxis betritt, kann er ohnehin nicht mehr an dir vorbei.«
»Zum Glück, sonst könnten wir bald Konkurs anmelden.«
»Solange wir dich haben, passiert das sicher nicht«, sagte Sebastian, legte den Arm um Gertis Schultern und drückte sie liebevoll an sich.
»Du machst mich ganz verlegen«, murmelte sie.
»Und solange ich hier im Haus bin, werden die beiden nicht verhungern!«, rief Traudel, die mit einer Pfanne in der Hand um die Ecke schaute. »Die Rühreier werden kalt, würden die Herrschaften sich bitte herbemühen!«
»Ich würde mich beeilen, sonst versalzt sie euch noch das Essen«, sagte Gerti, während sie den Schlüsselbund für die Praxis aus ihrer Umhängetasche fischte.
»Bis später, Gerti«, sagte Sebastian.
»Einen schönen Tag, Gerti«, verabschiedete sich Benedikt.
»Danke«, antwortete sie und wischte mit der Hand über die Lehne der Bank, die neben dem Eingang der Praxis stand. »Das muss noch mal gewischt werden«, seufzte sie.
Wen auch immer sie mit der Reinigung ihrer Praxis beauftragten, Gerti war es nie gut genug.
»Traudel und Gerti tragen immer noch ihre kleinen Kämpfe aus, daran wird sich wohl nie etwas ändern«, stellte Sebastian fest, als er und sein Vater zur Terrasse zurückgingen.
»Jede verteidigt ihr Revier, aber das sind nur Scheingefechte. Ich versichere dir, wenn irgendjemand einen Angriff auf unsere Familie starten würde, dann wären die beiden eine verschworene Gemeinschaft.«
»Dann leben wir in einer uneinnehmbaren Festung?«, fragte Sebastian lächelnd.
»Das möchte ich meinen, wir werden von zwei gestandenen Frauen beschützt, das ist die beste Festung, die wir uns wünschen können, mein Sohn«, sagte Benedikt mit einem liebevollen Lächeln, das diesen beiden Frauen galt.
*
Sebastian hatte sich nach der Nachmittagssprechstunde auf das alte schon ein wenig versessene Ledersofa im Wohnzimmer gelegt. Der gemütliche Raum mit dem grünen Kachelofen und dem Ohrensessel mit dem Rosenmuster hatte einen Durchgang zur Küche. Als Sebastian noch ein Kind war, spielte er an langen Winterabenden in diesem Zimmer, genoss die Wärme des Kachelofens und schaute Traudel in der Küche zu. Ich will nur ein paar Minuten die Augen schließen, dachte er. Das Wartezimmer hatte sich an diesem Tag einfach nicht leeren wollen. Am Vormittag gaben sich die Patienten die Klinke in die Hand und am Nachmittag auch. Gerti hatte ihm versichert, dass es ein außergewöhnlicher Tag war. Vielleicht lag es an der herannahenden Schlechtwetterfront, die sie seit Tagen im Radio ankündigten und die am Abend das Tal erreichen sollte. Da so viele über Kreislaufbeschwerden klagten, lag der Verdacht nahe.
Sein Vater war mit Traudel und Emilia zu einem Biohof im Nachbartal gefahren, der einem Freund von Benedikt gehörte. Traudel wollte dort einkaufen, und Emilia, die sonst lieber im Garten lag und Musik hörte, hatte sich aus irgendeinem Grund dazu durchgerungen, die beiden zu begleiten. Sie wollten gegen halb acht zurück sein. Ein paar Minuten kann ich noch liegen bleiben, dachte Sebastian, als er auf die Uhr schaute. Traudel hatte einen Auflauf vorbereitet, den er eine halbe Stunde vor ihrer geplanten Rückkehr in den Ofen schieben sollte.
Was ist das?, dachte er, als er irgendwann durch einen lauten Knall geweckt wurde und hochschoss.
Der Himmel vor seinem Fenster war nachtschwarz. Wenig später jagte ein Blitz über den Horizont, dem ein krachender Donner folgte. Sebastian schaute auf die Standuhr, die neben der Tür zur Diele stand. Es war bereits neun Uhr vorbei, er hatte beinahe zwei Stunden geschlafen. In der Küche war niemand, und im Haus brannte auch kein Licht. Wo waren Emilia, Traudel und sein Vater abgeblieben?
Er wählte Emilias Handynummer, aber die Leitung brach sofort zusammen. Das Gleiche passierte ihm, als er es auf dem Telefon seines Vaters versuchte. Traudel besaß kein Handy, noch weigerte sie sich strikt, eines zu benutzen. Wie hieß dieser Biohof? Während er versuchte, sich an den Namen zu erinnern, durchforstete er den Kalender, der in der Küche hing, nach einem Hinweis. Traudel trug wichtige Termine immer dort ein. Aber sie hatte für diesen Tag nur »Einkaufen« notiert.
Das Gewitter war jetzt genau über dem Tal. Blitz und Donner wechselten im Sekundentakt, und der Wind nahm stetig zu. Schon flogen kleinere Äste von den Bäumen im Garten am Küchenfenster vorbei. Sebastian unterbrach seine Suche nach der Telefonnummer. Er musste die Fensterläden schließen, damit die Scheiben nicht zu Bruch gingen, wenn das Unwetter noch stärker wurde. Nachdem er die Fenster im Erdgeschoss gesichert hatte, lief er hinauf in den ersten Stock und danach ins Dachgeschoss. Im Arbeitszimmer seines Vaters sah er den Flyer eines Biohofes auf dem Schreibtisch liegen. Er nahm ihn mit in die Küche, griff nach dem Telefon, das in der Ladestation auf dem Fensterbrett stand, und wählte die Nummer des Biohofes. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich dort jemand meldete.
»Kugler Hof, guten Tag«, hörte er eine Frau sagen.
»Sebastian Seefeld, guten Tag, können Sie mir sagen, ob mein Vater bei Ihnen ist? Hallo?!«, rief er, als die Verbindung abbrach. Er wartete einen Augenblick, bevor er es erneut versuchte, aber die Leitung blieb tot. Weder auf dem Festnetz noch auf den Handys konnte er seine Familie erreichen, egal, wie oft er diese Nummern wählte.
Um herauszufinden, was da draußen los war, schaltete er das Radio ein. Es hieß, dass durch das schwere Unwetter einige Funkmasten umgekippt seien. Das war vermutlich der Grund, warum die Leitungen zusammengebrochen waren. Aber er war nicht wirklich beruhigt. Vielleicht waren sie bereits unterwegs gewesen, als das Unwetter losbrach, und steckten nun irgendwo fest. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und seine Atmung sich beschleunigte. Da war wieder diese Angst, die er empfunden hatte, als er in der Nacht von Helenes Unfall den Polizisten gegenüberstand.
»Ich muss mich zusammenreißen«, sagte er laut. Sein Vater und Traudel würden kein Risiko eingehen, sie kannten die Gefahr dieser Unwetter, die sich zwischen den Bergen fingen.
Der nächste Donner rollte über das Tal hinweg, und Sebastian versuchte, sich erneut davon zu überzeugen, dass es Emilia, Traudel und Benedikt gut ging. Da es nicht funktionierte, dachte er schon daran, sich auf die Suche nach ihnen zu machen, als der Sturm noch an Stärke zunahm. Ein schwerer Ast krachte gegen einen Fensterladen in der Küche. Vorsichtig öffnete er das Fenster und schaute durch die Ritzen des Holzladens hinaus. Der Wind tobte über die Wiesen und Felder, trieb Äste und entwurzelte Bäume vor sich her. Jetzt dort hinauszugehen, das wäre Selbstmord. Er hoffte inständig, dass in den nächsten Stunden niemand seine Hilfe als Arzt benötigte.
Er drehte das Radio lauter und legte sich wieder auf das Sofa. Er musste warten, bis der Sturm abflaute. Nach zwei Stunden war der Spuk endlich vorbei, draußen wurde es wieder ruhiger. Nach den nächsten vergeblichen Versuchen, seine Familie zu erreichen, beschloss er, zum Kuglerhof zu fahren. Er ging in die Küche und machte sich einen Kaffee, um ein bisschen wacher zu werden. Er hatte gerade den ersten Schluck getrunken, als jemand mit beiden Fäusten gegen die Holzladen der Terrassentür hämmerte.
Im ersten Moment wich er erschrocken zurück. Wenn jemand etwas von ihm wollte, warum läutete er nicht einfach an der Haustür.
»Hallo, Doktor Seefeld! Sebastian! Ist jemand da?!«, hörte er gleich darauf einen Mann rufen. So verzweifelt, wie er sich anhörte, befand er sich in einer Notlage.
Vorsichtig zog Sebastian die Terrassentür auf und klappte den Laden zur Seite. Ein völlig durchnässter Mann in Latzhose, Pullover und Gummistiefeln starrte ihn aus angstvollen Augen an.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sebastian.
»Du musst mitkommen, Sebastian, schnell, mit meiner Sabine stimmt was nicht. Das Baby will kommen, aber es geht einfach nicht«, sagte der Mann, dem das Wasser aus seinen krausen Locken tropfte.
»Anton?«, fragte Sebastian, weil er seinen ehemaligen Schulkameraden nicht wirklich erkennen konnte. Die harte Arbeit, die er jeden Tag verrichten musste, hatte ihn wohl schnell altern lassen.
»Ja, ich bin’s, komm mit, es pressiert.«
»Ich fahre dir hinterher«, sagte Sebastian, nachdem er seine Notfalltasche geholt hatte.
»Das geht nicht, du musst mit mir kommen, auf dem Weg zu unserem Hof liegen umgestürzte Bäume. Deshalb können wir auch keinen Krankenwagen rufen. Du bist unsere einzige Rettung, Sebastian.«
»Aber wie bist du hierhergekommen?«
»Damit.« Anton deutete auf den Traktor mit der überdachten Kabine, der auf dem Rasen vor dem Haus stand.
»Gut, dann mit dem Traktor«, sagte Sebastian.
»Geht es?«, erkundigte sich Anton, nachdem er auf den Fahrersitz gestiegen war und Sebastian auf den Beifahrersitz kletterte.
»Ja, alles gut, wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf. Warte kurz«, bat Sebastian, als sein Handy surrte. »Fahr los«, forderte er ihn gleich darauf auf, als er sah, dass nur eine SMS eingegangen war, die ihn aber glücklicherweise von seinen Sorgen um seine Familie befreite.
»Wegen des Unwetters werden wir auf dem Kuglerhof übernachten. Mach dir keine Sorgen, habe dich lieb, Emilia.«
*
Die Fahrt mit dem Traktor erschien Sebastian endlos lang. Krampfhaft hielt er seine Tasche umfasst und klammerte sich an den Haltegriff neben seinem Sitz, während Anton den Traktor an den Hindernissen vorbeisteuerte, die die Straßen und Wege blockierten.
Der Mittnerhof lag außerhalb des Dorfes inmitten von Feldern und Weiden. Auch in der Dunkelheit konnte Sebastian sehen, dass der Hof zwar aufgeräumt und sauber war, der Putz aber von den Mauern des Wohnhauses blätterte und die Stallungen und Scheunen dringend neue Dachabdeckungen benötigen.
»Wohin?«, fragte er, als Anton den Traktor vor der Haustür zum Stehen brachte und er das Gefährt endlich verlassen konnte.
»Hier entlang.« Anton stieß die schwere Eichenholztür auf.
Sebastian fand sich in einer spärlich beleuchteten Diele wieder. Eine dunkle Holztreppe führte nach oben. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, so als befürchtete er, sich an der niedrigen Decke zu stoßen.
Das gehört doch dieser Rekordjägerin auf den Straßen von Bergmoosbach, dachte er, als er beim Hinaufgehen ein pinkfarbenes Fahrrad im Treppenhaus stehen sah. Er zuckte zusammen, als er den alles durchdringenden Schmerzensschrei einer Frau hörte. Das klang gar nicht gut. Sabine hatte bereits drei Kinder geboren, sie konnte Schmerzen aushalten.
»Ich bleibe bei den Kindern in der Küche!«, rief Anton und gleich darauf schloss sich eine Tür im Erdgeschoss.
Er hat Angst, dachte Sebastian.
Sabine lag in einer kleinen Stube am Ende des Flurs. Holzdielen, weiße Vorhänge vor den schmalen Fenstern, ein schöner alter Bauernschrank und ein ausgedienter Esstisch, auf dem gebügelte Wäsche und zwei Schüsseln mit heißem Wasser standen. Den meisten Platz aber nahm das mit einem Rosenmuster bemalte Ehebett der Mittners ein, indem Sabine sich hin und her wälzte und die Fäuste ballte, um den Schmerz zu unterdrücken.
Eine junge Frau saß neben Sabine auf dem Bett und trocknete ihre Stirn mit einem sauberen Tuch. Sie trug eine weiße Jeans und ein weißes T-Shirt und hatte ihr langes braunes Haar am Hinterkopf hochgesteckt. Kein Zweifel, sie war die Radfahrerin, die ihn am Morgen beinahe umgefahren hatte. Aber was machte sie hier? War sie eine Verwandte von Sabine?
»Darf ich nach ihr sehen?«, fragte er höflich und stellte seine Tasche auf den Stuhl neben das Bett.
»Deshalb habe ich Sie rufen lassen.« Die Frau wandte sich ihm zu.
Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Sebastian sich wie gebannt von diesem zarten Gesicht und den grünen Augen, die seinen Blick festhielten.
»Wir haben es mit einer Querlage zu tun«, sagte sie.
»Und woher wissen Sie das?«
»Weil es mein Beruf ist, so etwas zu wissen.«
»Sebastian, das ist Anna Bergmann, unsere Hebamme«, flüsterte Sabine.
Wenigstens ist sie noch bei Bewusstsein, dachte Sebastian und setzte sich neben sie, als Anna ihm den Platz frei machte.
»Haben Sie versucht, das Kind zu drehen?«, fragte er sie.
»Ja, natürlich, leider ohne Erfolg.«
»Wir sollten es noch einmal versuchen.«
Anna schüttelte den Kopf und schaute auf Sabine.
»Seit wann?« Er wusste sofort, was sie meinte, als er Sabine berührte. Ihre Haut glühte, sie hatte hohes Fieber.
»Seit dem Blasensprung vor einer halben Stunde.«
»Können Sie mir assistieren?«
»Ich war OP-Schwester, bevor ich mich zur Hebamme ausbilden ließ.«
»Was ist los?«, fragte Sabine, und die Angst stand in ihren Augen, als sie ihre Hand auf Sebastians Arm legte.
»Ich muss einen Kaiserschnitt machen, Sabine. Du bekommst jetzt eine Narkose, und wenn du wieder wach wirst, dann kannst du dein Baby in den Arm nehmen.« Sebastian streichelte über ihre Wange und sah sie voller Zuversicht an. Er durfte sie nicht spüren lassen, dass ihr Leben und das ihres Kindes auf der Kippe standen.
Sobald während einer Geburt Fieber auftritt und sich eine Infektion ankündigt, bleibt nicht viel Zeit, um das Kind vor Geburtsschäden oder Schlimmerem zu bewahren. Eine halbe Stunde war schon viel zu lang.
»Räumen Sie bitte den Tisch ab und machen Sie es ihr ein bisschen bequem«, wies er Anna an. Für Höflichkeiten hatten sie jetzt keine Zeit.
Anna nickte, machte den Bügeltisch frei, legte eine Steppdecke aus und bedeckte sie mit mehreren Laken, danach versuchte sie den Tisch von der Wand zu ziehen, damit sie um ihren ›OP-Tisch‹ herumlaufen konnten. Sebastian kam ihr zur Hilfe, nachdem er noch einmal die Herztöne des Kindes abgehört hatte.
»Sie wollen das Kind wirklich hier in diesem Zimmer holen?«, sagte sie leise, dass nur er es verstehen konnte.
»Was wollen wir tun? Warten, bis die Straßen geräumt sind? Sie mit dem Traktor ins Krankenhaus fahren? Glauben Sie mir, ich bin mir bewusst, in welcher Lage wir uns befinden.« Dass sie sich nicht in einem Operationssaal befanden, in dem sie alle nötigen Vorkehrungen treffen konnten, das allein war schon dramatisch genug, dazu kam, dass er absolut nichts über Sabines Vorgeschichte und den Verlauf der Schwangerschaft wusste. »Irgendwelche Krankheiten, Allergien, irgendetwas, was ich über Sabine wissen sollte? Frau Bergmann, was ist mit Ihnen? Ruhig atmen, nicht abbauen, ich brauche Sie.« Er packte Anna an beiden Handgelenken und sah ihr direkt in die Augen, als sie plötzlich ganz blass wurde und unregelmäßig atmete. »Gut so, und jetzt gehen Sie zu Anton und sagen ihm, dass wir einen Rettungshubschrauber brauchen. Der Sturm hat sich gelegt, sie können sicher wieder starten. Wenn sein Telefon nicht funktioniert, muss er ins Dorf fahren und er muss ihnen schildern, was wir hier veranstalten«, erklärte er ihr, als sie sich wieder beruhigt hatte.
»Ich bin gleich zurück. Ich sage Anton nur schnell Bescheid, dass niemand hier hereinplatzt«, wandte sich Anna an Sabine, die sie und Sebastian ängstlich beobachtete. Es ist eine Katastrophe, dachte sie, als sie aus dem Zimmer eilte. Sie konnte Sebastian nichts über Sabines aktuellem Zustand sagen. Sabine war doch nur ein einziges Mal bei ihr gewesen.
»Wo ist dein Mutterpass?«, wollte Sebastian von Sabine wissen. Wenn der Pass ordentlich geführt war, sollte er ihm weiter helfen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie schuldbewusst.
»Dann muss ich mich auf deine Angaben verlassen.«
»Die Schwangerschaft verlief normal, ich habe keine Vorerkrankungen und keine Allergien«, sagte sie, weil das Wort Allergie während seines Gespräches mit Anna gefallen war.
»Danke. Schaffst du es, den Arm um meinen Nacken zu legen?«, fragte er sie, und als sie nickte, hob er sie hoch und trug sie zum Tisch.
»Du hast das schon gemacht?«
»Bevor ich in Toronto im Krankenhaus gearbeitet habe, war ich einige Jahre in einer Landarztpraxis hoch oben im Norden von Kanada. Dort gab es weit und breit keine Klinik. Wir hatten in der Praxis einen kleinen Operationsraum, alles, was nur irgendwie möglich war, haben wir dort gemacht. Kaiserschnitte waren sozusagen an der Tagesordnung«, beruhigte er sie, während er einen kurzen Blick mit Anna tauschte, die wieder ins Zimmer gekommen war und aus ihrem Rucksack und seiner geöffneten Arzttasche alles zusammensuchte, was sie für den Eingriff gebrauchen konnten.
Was er Sabine gesagt hatte, stimmte, mit dem Unterschied, dass diese Eingriffe, die er durchgeführt hatte, alle geplante Kaiserschnitte waren, auf die er sich vorbereitet hatte. Das war sein erster Notkaiserschnitt, und auch noch in einer absolut ungeeigneten Umgebung.
»Ich bin sicher, ich bin bei dir in guten Händen«, sagte Sabine mit schwacher Stimme und versuchte ein Lächeln.
»Es geht alles gut, das verspreche ich dir.« Er schaute sie noch einmal voller Zuversicht an, bevor er ihr die Narkosespritze setzte.
»Das Telefon funktioniert wieder, Anton versucht die Rettungsleitstelle zu erreichen. Trotzdem war das eben ein riskantes Versprechen«, flüsterte Anna, als Sabine eingeschlafen war.
»Ich werde es halten.« Wenn du dich einmal entschieden hast, einen lebensrettenden Eingriff durchzuführen, dann darfst du keine Sekunde an dieser Entscheidung zweifeln, sonst habt ihr beide verloren, dein Patient und du. Das war der erste Satz, den er von seinem Vater nach seinem bestanden Examen gehört hatte. Es war ein guter Ratschlag.
»Die Herztöne des Kindes werden wieder schwächer.« Anna, die genau wie Sebastian Handschuhe und Mundschutz trug, überwachte den Zustand des Kindes, während er sich auf den Eingriff vorbereitete.
Sebastian nahm zwar wahr, was sie sagte, aber er konnte nicht darüber nachdenken, es gab ohnehin kein Zurück mehr. So wie er es gelernt hatte, setzte er den Schnitt an, ganz ruhig, ohne das geringste Zittern oder Zögern.
»Da ist es«, flüsterte Anna erleichtert, als sie den Kopf des Kindes sah.
»Gleich hast du es geschafft«, sagte Sebastian und kurz darauf holte er den kleinen Jungen ins Leben.
Bevor Anna das Kind übernahm, tupfte sie Sebastian den Schweiß von der Stirn, und sie sah die Erleichterung in seinen Augen. Sie sind grau, grau wie heller Granit, dachte sie und nahm das Kind entgegen, das laut aufschrie, nachdem Sebastian die Nabelschnur durchtrennt hatte. Sie legte den Jungen auf ein sauberes Kissen, das auf dem Bett lag, und versorgte ihn, während Sebastian Sabines Operationswunde schloss.
»Was ist mit dem Kind?«, fragte er, ohne aufzuschauen.
»Die Herztöne sind im Normbereich, Fieber hat er auch keines.«
»Gut.«
»Das ist alles, was Sie dazu sagen? Gut?«
»Verzeihung, aber ich gebe mir gerade große Mühe, dass Sabine mich nicht für meine Nähkunst hasst.«
»Ich denke, Sie muss sich keine Sorgen machen«, versicherte ihm Anna, nachdem sie ihm über die Schulter geschaut hatte.
»Danke.« Sebastian konnte sich noch nicht wirklich entspannen. Erst wenn Mutter und Kind auf dem Weg ins Krankenhaus waren, konnte er die Verantwortung für sie abgeben.
Wenig später kam Sabine wieder zu sich. Er hatte die Narkose so knapp wie möglich bemessen, um sie und das Kind nicht zusätzlich zu schwächen.
»Ist alles gut gegangen?«, fragte sie.
»Ja, Sabine, das ist es. Du hast einen kleinen Jungen.« Behutsam berührte er ihre Stirn. Das Fieber war gesunken, was ihm auch das Thermometer gleich bestätigte.
»Dann müssen wir nicht ins Krankenhaus?«
»Doch, ich möchte, dass ihr euch gründlich untersuchen lasst, damit wir sicher sein können, dass alles in Ordnung ist.«
»Aber es geht uns doch gut. Oder nicht?«
»Bitte, Sabine, ich bestehe darauf.«
»Waren der Kleine und ich schlecht dran? Sag mir die Wahrheit, Sebastian.«
Aus denAugenwinkeln heraus sah er, dass Anna ihn beobachtete.
»Es sah nicht gut aus.« Einem Patienten vor einem notwendigen Eingriff Mut zu machen, bedeutete, seine Lage weniger dramatisch darzustellen, als sie in Wirklichkeit war. Wenn alles überstanden war, kam die Stunde der Wahrheit.
»Das heißt, ihr beide habt uns das Leben gerettet.«
»Nachdem ich die Fahrt auf dem Traktor mit Anton überstanden hatte, war alles andere ganz leicht«, entgegnete Sebastian lächelnd.
»Er hat dich mit dem Traktor geholt?«, wunderte sich Sabine.
»Offensichtlich hast du einiges verpasst.«
»Darf ich mein Kind sehen?«
»Aber ja.« Anna hatte den kleinen Jungen inzwischen gewaschen, gewickelt und ihm einen grünen Strampelanzug angezogen, der schon ein bisschen abgetragen war.
»Hallo, kleiner Mann.« Sebastian betrachtete das Neugeborene, das gesunde rosige Haut hatte und tiefschwarze Haare.
»Er heißt Bastian«, verkündete Sabine, als Anna ihr das Kind in die Arme legte. »Ich wünsche mir, dass ihr die Paten von Bastian werdet«, sagte sie und sah ihre beiden Retter an.
»Sehr gern.« Obwohl Anna schon vielen Babys auf die Welt geholfen hatte, eine Patenschaft hatte ihr noch nie jemand angeboten.
»Bastians Geburt war die erste, die ich in Bergmoosbach erlebt habe, ich werde gern sein Pate«, erklärte sich auch Sebastian einverstanden. »Komm rein!«, rief er, als es vorsichtig an der Tür klopfte.
»Der Hubschrauber ist gleich da.« Anton, der nun ein sauberes Hemd und eine saubere Hose trug, betrat das Zimmer.
»Ich gratuliere dir zu deinem Sohn«, sagte Sebastian.
»Ich gratuliere auch«, schloss sich Anna an. »Dein Sohn wird sicher ein kleiner Abenteurer werden, kaum auf der Welt, unternimmt er bereits einen Ausflug mit einem Hubschrauber.«
»Vielleicht wird er Pilot«, sagte Anton und betrachtete das Neugeborene in den Armen seiner Frau.
»Begleitest du uns, Anton?«, fragte Sabine, als sie den Hubschrauber hörten, der schnell näherkam.
»Ja, das mache ich. Ich sage Markus Bescheid, dass er sich um die Kleinen kümmert.«
Ein paar Minuten später war der Hubschrauber gelandet. Während Sebastian den Notarzt, der zur Besatzung gehörte, über den Verlauf des Eingriffs informierte, packten die Sanitäter Mutter und Kind auf eine Liege und trugen sie mit viel Geschick durch das enge Treppenhaus. Kurz darauf hob der Hubschrauber wieder ab, und Anton, der noch nie zuvor geflogen war, schaute ein wenig verängstigt aus dem Fenster.
»Was kostet denn so ein Transport?«, fragte Markus, ein hoch aufgeschossener Teenager mit weißblondem Haar und schmalem Gesicht.
Er und die sechsjährigen Zwillinge Senta und Benjamin, beide ebenso blond wie ihr großer Bruder, standen in der Haustür und sahen dem Hubschrauber nach.
»Das kommt auf die Dauer des Einsatzes an«, sagte Sebastian. Er und Anna hatten ihre Sachen inzwischen gepackt und wollten sich nun auf den Nachhauseweg machen.
»Mehr als 500 Euro?«
»Um einiges mehr, aber du musst dir darüber keine Gedanken machen. Der Einsatz war unabdingbar, deshalb wird die Krankenkasse die Kosten übernehmen.«
»Hm«, murmelte Markus und schaute zu Boden.
»Wann kommt unsere Mama mit unserem Bruder wieder nach Hause?«, wollte Senta wissen.
»In ein paar Tagen, mein Schatz«, antwortete Anna dem Kind.
»Dann haben wir ja noch ein bisschen Ruhe, bevor das Babygeschrei anfängt.«
»So laut wie du und Benjamin ist der Kleine bestimmt nicht, und jetzt gehen wir schlafen, ihr Zwerge.« Markus nahm seine Geschwister an die Hand und trat zur Seite, damit Sebastian und Anna das Haus verlassen konnten.
»Du schaffst das mit deinen Geschwistern?«, fragte Anna, als sie ihr Fahrrad nach draußen schob.
»Sie sind nicht so frech, wie sie tun«, antwortete er lächelnd.
»Na dann, gute Nacht, Markus.«
»Gute Nacht, Frau Bergmann, gute Nacht, Herr Doktor Seefeld«, sagte er und schloss die Haustür.
»Und wir beide haben nun einen Gang durch die Nacht vor uns«, sagte Sebastian und sah auf den aufgeweichten Feldweg, der nach Bergmoosbach zurückführte.
»So sieht es aus, und ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie mich nicht allein ließen. Egal, was Sie von mir halten.«
»Was soll ich denn von Ihnen halten?«, fragte Sebastian, während sie nebeneinander den Weg entlangliefen und sich Mühe gaben, den größten Pfützen auszuweichen.
»Mir ist Ihr vorwurfsvoller Blick nicht entgangen, als Sabine mich Ihnen vorgestellt hat.«
»Eine Querlage ist eine vorhersehbare Komplikation. Sie hätten Sabine rechtzeitig auf einen Kaiserschnitt in der Klinik vorbereiten müssen.« So wie er Anna gerade erlebt hatte, war sie eine gute Hebamme, und er fragte sich, wie ihr so etwas passieren konnte.
»Das hätte ich auch getan, aber leider wusste ich nichts davon.«
»Sie war nicht bei Ihnen zur Kontrolle?«
»Sie war nur einmal bei mir, da war sie in der zehnten Woche. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen, alles, was ich über sie wusste, basierte auf diesem einzigen Gespräch. Das wurde mir erst richtig bewusst, als Sie mich nach ihren Vorerkrankungen fragten.«
»Was Sie an den Rand der Ohnmacht gebracht hat?«
»Das war unprofessionell, ich weiß, obwohl es sicher auch daran lag, dass ich heute seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe. Bei Ihrem Vater war Sabine übrigens auch nicht. Ich hatte ihn neulich danach gefragt. Wir dachten, sie geht zu einem Gynäkologen in die Stadt.«
»Merkwürdig, mir hat sie gestern erzählt, dass jetzt alle zu Ihnen gehen.«
»Alle nicht, und Sabine leider auch nicht. Aber vermutlich halten Sie sowieso nichts davon, wenn eine Hebamme sich selbstständig macht.«
»Das glauben Sie also?«
»Hebammen stehen nicht gerade hoch im Kurs bei euch Medizinern. Die meisten Ihrer Kollegen sind der Meinung, dass Schwangerschaft irgendetwas mit krank sein zu tun hat und die Geburt ausschließlich unter Ihrer Aufsicht in einer Klinik stattzufinden hat.«
»Soweit ich weiß sind auch in den Kliniken Hebammen für die Geburt zuständig. Oder hat sich das mittlerweile geändert?«, fragte er lächelnd.
»Sie wissen genau, was ich meine.«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Sie halten uns für Relikte aus der Steinzeit. Wir können nichts, was ein Arzt oder ein medizinisches Gerät nicht besser könnten.«
»Das sehe ich nicht so. Ich habe keine Ahnung, wie ich diese Situation gerade mit einem medizinischen Gerät hätte meistern sollen.«
»Jetzt hat es eben gerade mal gepasst. Ihr Vater ist allerdings anders. Ich bin seit drei Jahren in Bergmoosbach, und wir beide haben immer gut zusammengearbeitet. Wenn Ihr Vater etwas über Sabines Zustand gewusst hätte, dann hätte er sich mit mir abgesprochen.«
»Das hätte ich auch getan.«
»Ach, wirklich«, entgegnete Anna schnippisch.
»Sie müssen einiges mitgemacht haben, wenn wir Ärzte so wenig Kredit bei Ihnen haben.«
»Richtig.«
»Eine persönliche Verletzung?«
»Ja, sehr persönlich.« Nachdenklich sah Anna an den Horizont.
Die Wolken hatten sich verzogen, der Sternenhimmel wölbte sich über dem Tal, und das weiße Mondlicht ließ die Felder und Wiesen noch weiter, noch einsamer erscheinen. Das Dorf lag hinter einer Kuppe versteckt, und es schien, als wären sie ganz allein. Und auf einmal sprach Anna aus, was sie sonst doch immer für sich behielt.
»Er hieß Sven, war Gynäkologe in derselben Klinik, in der ich auch angestellt war. Ich dachte, wir seien ein Paar, bis ich ihn eines Tages besuchen wollte und mir Tanja, die Tochter des Klinikleiters, leicht bekleidet oder besser, fast gar nicht bekleidet die Tür öffnete. Sie hat mir erklärt, dass die Zukunft allein den Ärzten gehört und dass es Hebammen und ähnliche Medizinhelfer irgendwann nur noch im Museum zu besichtigen gäbe. Zwei Monate später wurde Sven Chefarzt der Klinik, und ich habe gekündigt.«
»Ich befürchte, Sven ist ein ganz schlechtes Beispiel, um von ihm auf alle Ärzte zu schließen.«
»Nein, er ist ein typisches Beispiel.«
»Was kann ich tun, um unseren Ruf zu verbessern?«
»Sie können gar nichts tun.«
»Doch, das kann ich. Ich lade Sie zum Essen ein.«
»Wann?«
»Jetzt. Sie sagten gerade, Sie haben heute nur gefrühstückt. Ich kann Ihnen einen wirklich köstlichen Auflauf anbieten.«
»Ich kann doch nicht mitten in der Nacht mit zu Ihnen nach Hause gehen. Was soll denn Ihre Familie davon halten?«
»Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen. Es ist niemand da, sie wurden von dem Unwetter überrascht und übernachten heute auf dem Kuglerhof.«
»Ich weiß nicht, ob das besser ist.«
»Sie denken an Ihren Ruf?«
»Wir sind nicht in der Stadt, wir sind in Bergmoosbach.«
»Aber ich spreche von Traudels berühmten Kartoffelauflauf, dem mit Auberginen und Paprika.«
»Wissen Sie was, ich bin in München aufgewachsen, da tut man solche Dinge schon hin und wieder. Ich komme mit«, erklärte sie lächelnd. Eigentlich ist er doch ganz nett, dachte Anna. Was hätte er denn auch denken sollen, als er bei Sabine eintraf und sie neben ihrem Bett saß. Natürlich ist er davon ausgegangen, dass sie sich auch in den letzten Monaten um sie gekümmert hatte.
»Heißt das, ich bekomme die Chance, Ihr Vertrauen zu gewinnen?«
»Wollen Sie denn mit mir zusammenarbeiten?«
»Unbedingt. Ganz davon abgesehen haben wir seit heute ein gemeinsames Patenkind, da sollten wir uns vertragen.«
»Stimmt, also dann, Freunde?« Anna blieb stehen, sah ihn an und reichte ihm die Hand.
»Freunde«, sagte Sebastian und umfasste ihre Hand.
*
Anna hatte immer Kleidung zum Wechseln in ihrem Rucksack und zog sich genau wie Sebastian nach ihrer Ankunft im Haus der Seefelds erst einmal um.
»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Sebastian, als sie in die Küche kam und der Auflauf bereits im Ofen stand. »Diese weniger sportliche Kleidung steht Ihnen gut.« Er schaute auf das Sommerkleid mit dem kleinen Blümchenmuster, das sie jetzt trug.
»Danke.« Verlegen zupfte sie an den kurzen Ärmeln des Kleides, obwohl es da gar nichts zu richten gab. Sebastians Blick hatte sie in eine merkwürdige Unruhe versetzt. »Aber Sie haben nichts gegen sportliche Frauen?«, fragte sie, als sie sich wieder gefangen hatte.
»Nein, das wäre auch gefährlich für mich.«
»Wieso das?«
»Meine Tochter spielt mit Begeisterung Fußball.«
»Ich habe auch ein paar Jahre Fußball gespielt. Wie kommt Ihre Tochter in Bergmoosbach zurecht? Hat sie schon Freunde gefunden?«
»Sie ist noch nicht wirklich hier angekommen. Sie vermisst Toronto, und sie vermisst ihre Freunde. Bitte, setzen Sie sich doch. Was möchten Sie trinken?«
»Wasser, bitte.«
Sebastian wartete, bis sie sich einen Platz am Küchentisch ausgesucht hatte, bevor er die beiden Gläser mit Sprudelwasser hinstellte und sich auf den Stuhl ihr gegenüber hinsetzte. »Wir haben lange darüber gesprochen, ob es richtig ist, nach Bergmoosbach zurückzukehren, und schließlich waren wir uns einig, diese Veränderung zu wagen. Emilia liebt ihren Großvater und sie hängt auch sehr an Traudel«, erzählte er Anna.
»Immer wenn Traudel von Emilia erzählt hat, haben ihre Augen geleuchtet. Das Mädchen ist ihr Augenstern.«
»Ich denke, sie sieht in ihr das Enkelkind, das sie nie hatte.«
»Irgendwie ist sie doch auch ihre Enkelin, so, wie Sie ihr Kind sind. Ihr Vater hat mir erzählt, wie dankbar er Traudel war, als sie damals sofort bereit war, sich um Sie zu kümmern. Sie waren gerade einmal ein paar Stunden alt, und er war nicht in der Lage, irgendetwas für Sie zu tun.«
»Der Tod meiner Mutter hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Als ich meine Frau vor einem Jahr verlor, haben Emilia und ich uns gegenseitig Halt gegeben und uns immer wieder daran erinnert, dass unser Leben weitergeht.«
Er ist noch lange nicht über seinen Verlust hinweg, dachte Anna, als sie die Trauer in seinen Augen sah. Für einen Moment schien dieses wundervolle helle Grau sich zu verdunkeln, so als wollte er jeden Blick von außen in sein Innerste abwehren, während er mit seiner schlanken feingliedrigen Hand sein Glas umfasste und nachdenklich mit den Fingern über die glatte Fläche strich.
»Ich habe versucht, Emilia Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Aber das hat nicht funktioniert, ich kann ihr die Mutter nicht ersetzen, in diesem Alter ist das ohnehin schwierig.«
»Sie lieben Ihre Tochter, ich bin sicher, Sie würden alles für Sie tun, aber verlangen Sie nicht von sich, perfekt zu sein, Herr Doktor Seefeld.«
»Sebastian, wir sind seit einigen Stunden doch ein Paar, wir sollten uns duzen«, sagte er und hielt ihren Blick fest.
»Wir sind ein Paar?«, fragte sie verblüfft.
»Richtig, ein Patenpaar, oder gibt es das nicht?«
»Ich habe zwar noch nie gehört, dass jemand es so ausdrückt, aber Sie, ich meine, du hast recht.«
»Gut, dann sollten wir auf den kleinen Bastian und auf uns anstoßen.« Sebastian ging zum Kühlschrank und holte die Flasche Prosecco, die Traudel stets dort aufbewahrte und von der sie sich jeden Tag ein Schnapsglas voll gönnte, um den Kreislauf anzuregen, wie sie sagte. Er füllte zwei Champagnergläser und stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank.
»Auf das Wohl unseres Patenkindes und auf uns«, sagte er, als er Anna eines der beiden Gläser reichte und sich wieder zu ihr an den Tisch setzte.
»Auf eine glückliche Zukunft für uns alle.«
»Eine Zukunft ohne Svens.«
»Ja, unbedingt. Es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich das vorhin einfach so erzählt habe, das war nicht wirklich angebracht.«
»Es hat dir auf der Seele gelegen, du hast dir Luft gemacht. Und du musst dir nicht die geringsten Sorgen machen, dass ich es ausplaudere. Ich nehme meine ärztliche Schweigepflicht ernst«, versicherte er ihr und betrachtete sie mit einem Lächeln, das Anna einen Schauer über den Rücken jagte.
»Der Auflauf«, sagte sie, als die Backofenuhr schrillte.
»Stimmt.«
»Du solltest ihn aus dem Ofen nehmen.«
»Ich weiß.«
»Sebastian«, flüsterte sie, als er sie nur ansah und sich nicht bewegte.
»Wir haben Hunger, richtig?«
»Ja, haben wir«, antwortete sie lächelnd.
Wenig später stand der nach Thymian und Oregano duftende Auflauf vor ihnen auf dem Tisch, und auch Sebastian spürte jetzt, dass er Hunger hatte.
»Köstlich wie immer«, lobte Anna Traudels Spezialität, während sie es sich schmecken ließ.
»Ja, ganz köstlich«, sagte Sebastian und schenkte ihr erneut ein Lächeln. »Was ist mit deiner Familie, Anna, lebt sie in München?« Er wollte gern mehr über diese Frau erfahren, die er gerade erst kennengelernt hatte und die ihm doch schon so vertraut erschien.
»Meine Eltern leben zurzeit in Indien. Sie arbeiten im Entwicklungsdienst. Meine Mutter als Biologin und mein Vater stellt sein Wissen als Forstwirt zur Verfügung.«
»Interessante Familie.«
»Leider sehe ich meine Eltern nicht sehr oft«, seufzte Anna, »aber sie lieben dieses Leben, und ich bin ja schon groß«, fügte sie lachend hinzu.
Nach dem Essen räumten sie das Geschirr in die Spülmaschine, und Sebastian öffnete die Fensterläden, die ihnen die Sicht nach Osten versperrten. Sie setzten sich nebeneinander auf das alte Ledersofa und schaute in die Dunkelheit hinaus.
»In einer halben Stunde geht die Sonne auf, der erste Sonnenaufgang für unser Patenkind, wir sollten ihn uns ansehen«, sagte er.
»Und dem kleinen Bastian alles Glück dieser Welt wünschen.«
»Das werden wir tun«, antwortete Sebastian und lehnte sich zurück.
Anna wagte es nicht, sich ihm zuzuwenden, zu verräterisch wäre ihr Blick gewesen. Es war unglaublich aufregend, ihm so nahe zu sein. Dieser Mann, den sie so stark erlebt hatte, als es darum ging, Sabine und ihr Kind zu retten, hatte sich ihr nun auch von seiner verletzlichen Seite gezeigt.
Sie saßen ganz still nebeneinander und schauten auf die Berge am Horizont, die sich allmählich aus dem Schatten der Nacht lösten. Bald strichen die ersten Sonnenstrahlen über den Himmel, färbten ihn feurig rot und tauchten die Gipfel der Alpen in rotgoldenes Licht.
»Wie ist der Sonnenaufgang in Kanada?«, fragte Anna.
»Wenn du dich auf den neuen Tag freust, dann ist diese Stunde an jedem Ort dieses Planeten großartig.«
»Ja, das ist sie«, entgegnete Anna und schloss die Augen, weil sie plötzlich so müde war.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie mit einer Decke zugedeckt auf dem Sofa. Ihre Schuhe standen auf dem Boden. Von Sebastian war nichts zu sehen.
»Elf Uhr«, sagte sie laut, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. Sie hatte fast fünf Stunden geschlafen. Ihr fiel ein, dass Sebastian irgendwann gegangen war. Vermutlich schlief er noch.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Es ist jetzt halb elf, muss kurz zu einem Hausbesuch, bin gleich zurück«, hatte Sebastian geschrieben.
Sie zuckte zusammen, als es an der Haustür läutete. Hatte Sebastian seinen Schlüssel vergessen? Vielleicht war es aber auch ein Notfall. In der Diele schaute sie kurz in den Spiegel, fuhr mit beiden Händen durch ihr zerzaustes Haar und zog danach die schwere Haustür aus dunklem Holz auf.
»Was machst du denn um diese Zeit hier?« Miriam Holzer, deren Familie das Sägewerk in Bergmoosbach gehörte, starrte Anna verblüfft an.
»Wir hatten heute Nacht einen Notfall.«
»Wenn man dich holt, dann ging es wohl um eine Geburt. Doch nicht etwa Traudel? Hat das alte Mädchen sich doch noch entschlossen, eine eigene Familie zu gründen?«, fragte Miriam und lachte über ihren eigenen Scherz.
»Bist du verletzt?« Anna überhörte die Anspielung auf Traudels Alter und ihre Kinderlosigkeit und schaute auf das blau-weiß karierte Männertaschentuch, das Miriam um ihre rechte Hand gewickelt hatte.
»Deshalb bin ich hier. Ich war mit Harald Baumann draußen im Forst, die Sturmschäden besichtigen, und er schlägt mir einen Ast direkt auf die Hand. Der Mann ist wirklich unglaublich tollpatschig«, schimpfte sie.
Miriam kam aus dem Wald, das erklärte, warum sie in Jeans und Gummistiefeln herumlief und nicht in ihren Designerkleidchen wie gewöhnlich. Anna mochte Miriam nicht besonders. Sie bildete sich ein bisschen zu viel auf ihre blonden langen Haare, das hübsche Gesicht und die dunkelblauen Augen ein, die sie zusammen mit ihrem Schmollmund immer richtig einzusetzen wusste, wenn sie ihren Willen haben wollte. Anna hatte sie im Pilateskursus kennengelernt, den sie beide zweimal in der Woche besuchten. Viel hatten sie aber nicht miteinander zu tun. Miriam und ihre Freundinnen, die ebenso geltungssüchtig wie sie waren, blieben meistens unter sich.
»Entschuldigung, würdest du bitte aufhören, mich so anzustarren und stattdessen Sebastian rufen«, riss Miriam Anna aus ihren Gedanken.
»Tut mir leid, er ist nicht da.«
»Gut, dann gehe ich zu Benedikt.«
»Auch er ist nicht da.«
»Aber Traudel?«
»Nein, außer mir ist niemand hier. Wenn du willst, kann ich mir deine Hand ansehen.«
»Du bist Hebamme.«
»Und Krankenschwester, also mach schon.«
»Meinetwegen«, murrte Miriam und befreite ihre Hand von dem Taschentuch.
»Das sind nur ein paar Kratzer, warte kurz.« Anna öffnete ihren Rucksack, der in der Diele stand, und holte das Mittel zur Wunddesinfektion und die Box mit dem Pflaster, die sie immer bei sich hatte, heraus. »Wann wurdest du das letzte Mal gegen Tetanus geimpft?«, erkundigte sie sich, während sie Miriams kleine Wunde versorgte.
»Vor einem Jahr.«
»Sicher?«
»Bin ich senil?«
»Schon gut.«
»Vielleicht sollte sich Sebastian meine Verletzung doch noch mal ansehen«, sagte Miriam, als sie den dunklen Geländewagen sah, der die Einfahrt zum Hof hinauffuhr und neben ihrem Sportwagen parkte.
»Wenn du das möchtest.«
»Hallo, Sebastian!« Miriam ließ Anna stehen und lief Sebastian entgegen, der aus seinem Auto stieg.
Vielleicht ist etwas Wahres an der Geschichte, die ich vor ein paar Tagen im Friseursalon gehört habe, dachte Anna. Es hieß, dass Miriam mit Sebastian zusammen war, bevor er nach Kanada ging, und dass sie diese Beziehung gern wieder aufleben lassen würde.
»Alles bestens, das heilt schnell«, sagte Sebastian, als Miriam das Pflaster vorsichtig löste, um ihm die Kratzer zu zeigen.
»Danke, ich wollte nur sicher gehen.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Miriam?« Sebastian nahm seine Arzttasche aus dem Auto und ließ die Tür sachte zufallen.
»Du könntest mich auf einen Kaffee einladen.«
»Ja, könnte ich«, antwortete er und lächelte in sich hinein, als sie ihr verführerisches Lächeln aufsetzte. Vergiss es, das wirkt schon lange nicht mehr bei mir, dachte er. »Ich denke, ich werde mich erst einmal um Anna kümmern, wir haben eine aufregende Nacht hinter uns«, sagte er und fing Annas Blick auf.
»Ihr wart die ganze Nacht unterwegs?«
»Nicht unterwegs, aber zusammen.«
»Wirklich.« Miriam rang um ihre Fassung.
»Wir haben seit gestern ein gemeinsames Kind.«
»Ihr habt was?«
Ich will nicht bösartig sein, aber ich muss zugeben, es gefällt mir, dich endlich einmal sprachlos zu sehen, dachte Anna, als Miriam nach Worten suchte.
»Habt ihr zu viel von dem neuen Bier der Brauerei Schwartz getrunken oder was ist mit euch los?«, machte sich Miriam Luft, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.
»Nein, wir haben uns an Traudels Prosecco bedient, um auf unser gemeinsames Patenkind anzustoßen«, klärte Sebastian sie mit einem charmanten Lächeln auf.
»Das war der Notfall, verstehe. Sabine hat Nummer vier auf die Welt gebracht, richtig? Mein Vater hat mir erzählt, dass ein Rettungshubschrauber in der Nacht unterwegs war. Er meinte, er sei in der Nähe des Mittnerhofes gelandet. Womit er dann wohl recht hatte. Was war denn los, warum musste der Hubschrauber kommen?«
»Sabine und dem Kind geht es gut, ich habe vorhin mit dem Krankenhaus telefoniert«, sagte Sebastian, was aber mehr an Anna als an Miriam gerichtet war.
»Das ist eine wunderbare Nachricht.« Anna atmete erleichtert auf. »Hast du auch mit deiner Familie gesprochen?«, wollte sie wissen, weil er ihr in der Nacht erzählt hatte, dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte.
»Ja, habe ich, es ist alles in Ordnung. Emilia hat mir eine freudige Überraschung angekündigt, was immer das bedeuten soll.«
»Um noch einmal auf den Notfall zurückzukommen. Es stimmt wohl doch nicht, was man sich so erzählt, dass man bei dir in guten Händen ist. Sonst hättest du nicht einen Arzt hinzuziehen müssen.«
Miriam sah Anna mit vorwurfsvoller Miene an.
»Setze keine Gerüchte in die Welt, Miriam. Wenn dich Sabine wirklich interessiert, dann besuche sie und sprich mit ihr«, forderte Sebastian sie auf.
»Ich muss dann auch los.« Anna holte ihren Rucksack aus der Diele und setzte ihn auf. Ihr täglicher Bedarf an Miriams Gesellschaft war bereits gedeckt.
»Du willst keinen Kaffee mehr?«, fragte Sebastian enttäuscht.
»Ein anderes Mal gern. Ich wünsche euch einen schönen Tag.«
»Den wünschen wir dir auch«, entgegnete Miriam mit einem gönnerhaften Lächeln.
Schade, ich hatte mich darauf gefreut, noch eine Weile mit dir zusammen zu sein, dachte Sebastian und schaute Anna nach, wie sie ihr Fahrrad aus dem Wintergarten holte, ihren Helm aufsetzte und zur Straße hinunterfuhr.
»Was ist nun mit dem Kaffee?«, quengelte Miriam.
»Komm rein, ich möchte ohnehin mit dir reden«, sagte er und hielt ihr die Tür auf.
*
Anna musste unwillkürlich schlucken, als sie auf die Straße einbog und sich noch einmal umdrehte. Das Haus mit den grünen Fensterläden, der gepflegte Rasen, der Steingarten, sie hatte dieses Anwesen schon immer gemocht, aber jetzt war es das Haus, in dem er wohnte, Sebastian Seefeld, dessen Nähe sie so sehr in Aufregung versetzte.
Ich muss mich zusammenreißen, die letzte Nacht war eine Ausnahmesituation. Sobald wir beide richtig ausgeschlafen haben, wird sich der verschwörerische Zauber, der uns für ein paar Stunden einander nahe gebracht hat, wieder verflüchtigen. Und den Rest wird Miriam erledigen. Miriam, deren Vater im Stadtrat saß und gute Chancen hatte, die nächste Bürgermeisterwahl zu gewinnen. Miriams Familie und die Seefelds kannten sich seit Generationen, sie war die Fremde aus der Stadt, die noch einen langen Weg vor sich hatte, bis sie dazu gehörte. Nein, so durfte sie nicht denken. Es gefiel ihr doch in Bergmoosbach. Die hellen sauberen Häuser mit ihren roten Dächern, die sich umgeben von saftig grünen Wiesen vor der kleinen Barockkirche mit ihrem Zwiebelturm ausbreiteten.
»Grüß dich, Anna!«, rief eine Frau, die mit einem Kinderwagen an einem Zebrastreifen stand und sie freundlich vorbeiwinkte. »Das war gerade unsere Anna, die dir auf die Welt geholfen hat, Mäxchen«, sagte sie und schaute ihr Baby an, bevor sie der jungen Frau mit dem rosa Helm und dem hellblauen Rucksack nachsah, die mit ihrem pinkfarbenen Fahrrad die Apotheke ansteuerte.
Das weiße Gebäude mit den grau weißen Fensterläden und dem Walmdach war seit drei Jahren Annas Zuhause. Im ersten Stock über dem Laden hatte sie ihre Praxis untergebracht und in dem gemütlichen Appartement unter dem Dach wohnte sie.
Sie stellte ihr Fahrrad im Hof ab, betrat das Haus durch den Hintereingang und lief die hellblaue Holztreppe hinauf. In ihrer Wohnung angekommen legte sie den Rucksack in der Diele ab, schlüpfte aus ihren Schuhen und öffnete die Fenster. Gleich darauf zog der Duft von frisch gemähtem Heu herein. Anna liebte ihr kleines Paradies, das größere Zimmer mit dem gelben Sofa und der Kommode aus glänzendem Ahornholz, das kleinere mit dem blauen Polsterbett und das Bad mit den dunklen Fliesen und den Messingarmaturen, die so elegant wirkten. Der Mittelpunkt aber war die Küche mit den roten Einbauschränken und dem Balkon, den sie mit Rosenbäumchen und Margeritenstämmchen geschmückt hatte, die sie vor neugierigen Blicken schützten, wenn sie die Nacht auf der Liege verbrachte, die sie dort aufgestellt hatte. Anna mochte es, wenn sie mit dem Blick an den Sternenhimmel einschlafen konnte.
»Ich darf mich nicht in ihn verlieben«, flüsterte sie, als sie zum Haus der Seefelds hinüberschaute und einen Stich in der Magengrube verspürte. Ob Miriam noch dort bei ihm war?
*
»Papa!« Emilia stürmte ins Haus, als sie mit ihrem Großvater und Traudel von ihrem Ausflug zurückkam. »Du hast Besuch?« Enttäuscht blieb sie in der Terrassentür stehen, als sie Miriam sah, die mit Sebastian auf der Terrasse saß und Kaffee trank.
»Nicht so schüchtern, setz dich zu uns, wir kennen uns doch schon«, sagte Miriam.
»Ich bin nicht schüchtern, ich möchte nur mit meinem Vater allein sprechen.«
Demnächst kreuzt du noch jeden Tag hier auf, dachte Emilia und betrachtete Miriam mit einem abschätzenden Blick. Sie konnte sich noch gut an ihr erstes Zusammentreffen mit ihr erinnern. Sie waren gerade einmal zwei Stunden in Bergmoosbach, da stand sie schon vor der Tür und führte sich auf, als sei ihr lieber Sebastian, wie sie ihn ständig nannte, von einem anderen Planeten zurückgekehrt. Dass du vor ewigen Zeiten mal mit Papa zusammen warst, bedeutet nicht, dass du ihn nun ständig bekletten kannst, dachte Emilia.
»Was willst du mir sagen, Schatz?«, fragte Sebastian und sah seine Tochter an, die wie immer in ihrer geliebten Jeans und dem T-Shirt ihres Fußballvereins unterwegs war.
»Wir haben etwas mitgebracht.«
»Du sprichst von der Überraschung?«
»Ja, allerdings, komm mit, ich möchte sie dir zeigen.«
»Darf ich auch mitkommen?«, fragte Miriam mit unschuldigem Augenaufschlag.
»Wie gesagt, ich möchte mit meinem Vater allein sein«, wiederholte Emilia und ließ Miriam ihre Abneigung spüren.
»Nun, dann möchte ich diese traute Zweisamkeit nicht stören. Auf bald.«
»Denke bitte darüber nach, worüber wir gerade gesprochen haben, Miriam«, bat Sebastian sie. Der einzige Grund, warum er sich überhaupt die Zeit genommen hatte, mit ihr Kaffee zu trinken, war der, dass er ihr klar machen wollte, dass es ihr nicht zustand, über Annas Arbeit zu urteilen.
»Ich denke über alles nach, was du gesagt hast«, versicherte sie ihm. Insbesondere darüber, wie ich deinen Blick von der braven kleinen Anna wieder loseise. Ich will dich, und ich bekomme dich, das ist der Plan, dachte sie, während sie Sebastian und Emilia noch einmal freundlich zunickte. Gleich morgen wollte sie Sabine im Krankenhaus besuchen und vielleicht, wenn sie ein bisschen Glück hatte, würde sie etwas ausplaudern, was sie gegen Anna verwenden konnte.
»Was ist denn nun die Überraschung?«, wandte sich Sebastian seiner Tochter wieder zu.
»Versprich mir zuerst, dass du nicht sauer bist, auch nicht mit Opa. Wir haben auch schon alles mit Traudel besprochen.«
»Was habt ihr mit ihr besprochen?«
»Bitte, sag, dass du nicht sauer sein wirst.«
»Offensichtlich seid ihr drei euch doch bereits einig, über was auch immer, und so wie du strahlst, scheint es dich glücklich zu machen. Ich verspreche, nicht sauer zu sein«, sagte Sebastian und streichelte Emilia liebevoll über ihr Haar.
»Opa, wir kommen!«, rief sie und nahm Sebastian an die Hand.
Benedikt und Traudel hockten mit dem Rücken zu Sebastian in der Diele und schienen etwas zu betrachten, das vor ihnen auf dem Boden lag.
»Papa, darf ich dir Nolan vorstellen«, sagte Emilia, als Benedikt sich erhob und Traudel die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.
»Nolan«, wiederholte Sebastian.
»Ja, Nolan, das heißt der kleine Kämpfer«, erklärte Emilia ihm, und ihre Augen weiteten sich vor Freude, als sie auf den Welpen schaute, der in einem Weidenkorb saß und sie mit seinen schwarzen Knopfaugen ansah. »Seine Mutter gehört zu den Berner Sennenhunden und sein Vater ist ein weißer Schäferhund.«
»Der Kleine ist zu süß«, schwärmte Traudel und spielte mit dem Bernsteinanhänger ihrer Halskette, die sie zu ihrem goldfarbenen Ausgehdirndl trug.
»Ich finde ihn auch putzig«, sagte Benedikt und sah seinen Sohn abwartend an.
»Das ist also Nolan«, murmelte Sebastian und betrachtete das Hundebaby.
Nolan hatte geschecktes Fell, der Rücken war schwarz, der Bauch schwarz mit weiß, die kräftigen Beinchen mit den dicken Pfoten grau und das runde Köpfchen dunkelbraun. Das Gesicht wiederrum war hell, nur um die Augen herum ein bisschen dunkler, so als trüge der kleine kluge Kämpfer eine Brille.
»Du musst ihn mal halten«, erklärte Emilia, hob den Welpen hoch und legte ihn Sebastian in die Arme.
»Hattest du nicht immer gesagt, dass in einen Arzthaushalt keine Haustiere gehören?« Sebastian hatte nicht vergessen, wie sein Vater sich immer dagegen gewehrt hatte, wenn er den Wunsch geäußert hatte, ein Tier haben zu wollen.
»Ich weiß, aber inzwischen sehe ich das nicht mehr so streng, und Emilia hat sich doch so sehr einen Hund gewünscht«, antwortete Benedikt und betrachtete seine Enkelin mit einem liebevollen Blick.
»Wir sorgen gemeinsam für Nolan, ich meine, wir, du musst dich um nichts kümmern, was ihn betrifft«, versicherte ihm Traudel.
»Seid ihr deshalb zum Kuglerhof gefahren oder hat sich das mit Nolan so ergeben?«
»Nun, wir wollten schon dort einkaufen, aber ich wusste, dass sie noch einen Welpen übrig hatten. Er war der schwächste in diesem Wurf, und sie mussten ihn mit der Flasche aufziehen, weil seine Geschwister ihn ständig von der Mutter wegdrängten«, erzählte Benedikt.
»Stell dir vor, Papa, sie haben ihm in diesem Gerangel das rechte Vorderpfötchen gebrochen, es ist zwar inzwischen geheilt, aber er wird vermutlich sein Leben lang ein bisschen hinken.«
»Wuff«, machte Nolan und schmiegte sein Köpfchen an Sebastians Brust.
»Willkommen bei den Seefelds, Nolan«, sagte Sebastian und kraulte den Kopf des Welpen.
»Papa, du bist der beste!«, jubelte Emilia, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater auf beide Wangen.
Traudel und Benedikt tauschten einen zufriedenen Blick. Ihr geheimes Unternehmen hatte einen guten Abschluss gefunden.
»Ich habe heute Nacht übrigens auch für Familienzuwachs gesorgt«, sagte Sebastian, während er den Welpen streichelte, den auch er bereits in sein Herz geschlossen hatte.
»Papa, du wirst dich doch nicht mit dieser Miriam eingelassen haben.« Emilia sah ihren Vater entrüstet an.
»Nein, Spatz, keine Sorge. Wir wäre es, wenn wir Nolan unseren Garten zeigen? Ihr erzählt mir von eurer stürmischen Nacht, und ich erzähle euch von den Ereignissen in Bergmoosbach.«
»Eine gute Idee, Papa«, sagte Emilia und hakte sich bei ihrem Vater unter.
»Hoffentlich bleibt er standhaft und lässt sich von Miriam nicht wieder einfangen«, raunte Traudel Benedikt zu.
»Der Junge hat viel durchgemacht, eine oberflächliche Frau wie Miriam hat ihm nichts zu bieten.«
»Du hast die Nacht mit der Hebamme verbracht?«, hörten sie Emilia sagen, die mit Sebastian schon voraus gegangen war.
»Anna«, flüsterte Traudel und ein Lächeln flog über ihr Gesicht.
»Das wollen wir jetzt aber genau wissen«, sagte Benedikt, und sie beeilten sich, Vater und Tochter zu folgen.
*
»Anna Bergmann«, meldete sich Anna, als am Sonntagvormittag ihr Telefon klingelte. Sie saß in der Küche und ordnete die Belege für die Buchhaltung. Die Handynummer, die auf dem Display aufleuchtete, kannte sie nicht.
»Sebastian Seefeld, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«
»Nein, das hast du nicht.«
»Was hältst du davon, wenn wir heute Nachmittag unser Patenkind und seine Mama im Krankenhaus besuchen?«
»Das würde ich sehr gern tun. Wann wollen wir uns treffen?«
»Wenn es dir recht ist, hole ich dich um zwei Uhr ab.«
»Ja, das ist mir recht.«
»Nolan, nein!«, hörte sie ihn plötzlich rufen.
»Wer ist Nolan?«, fragte sie verwundert.
»Unser Hund.«
»Gestern hattet ihr noch keinen Hund.«
»Jetzt schon, und es hieß, dass ich mich auf keinen Fall um ihn kümmern muss. Aber Emilia schläft noch, Traudel kocht, mein Vater trifft sich mit seinen Freunden zum Sonntagsstammtisch, und der einzige, der Zeit hat, mit unserem Familienzuwachs nach draußen zu gehen, der bin ich.«
»Was ist es für ein Hund?«
»Wenn du mir deine Handynummer gibst, schicke ich dir ein Foto.«
»Ja, gern«, sagte sie und gab ihm ihre Telefonnummer, bevor sie beide auflegten. »Du siehst wirklich aus wie ein kleiner Kämpfer.« Anna musste lächeln, als sie das Foto des kleinen flauschigen Hundes mit den schwarzen Augen und den stämmigen Beinchen betrachtete.
Sie stellte sich vor, wie Sebastian mit dem Welpen über die Wiesen lief, und das war ein ganz rührendes Bild. Bevor sie sich wieder an ihre Arbeit machte, speicherte sie erst einmal Sebastians Handynummer auf ihrem Festnetz und auf ihrem Handy unter seinem Namen. Wenn er das nächste Mal anrief, würde sie gleich wissen, dass er es war.
Eine Stunde, bevor er sie abholen wollte, zog sie das weiße Kleid mit dem zarten Rosenmuster und den schmalen Trägern an, dazu die Schuhe mit den roten Riemchen und dem Korkabsatz. Sie betonte ihre grünen Augen mit einem schwarzen Kajalstift, nur ganz wenig, sodass es kaum auffiel, benutzte einen zartrosa Lippenstift und ließ ihr hellbraunes Haar offen.
Als sie kurz vor zwei Uhr das Haus verließ, hielt der Geländewagen mit Sebastian am Steuer vor der Apotheke an, und Sebastian stieg aus. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, ganz ruhig zu bleiben, so als ginge sie zu einer geschäftlichen Verabredung, konnte sie das Kribbeln in der Magengrube, das sie bei seinem Anblick überfiel, nicht ganz unterdrücken.
Er sah unglaublich elegant aus, in der hellen Hose, dem hellen Hemd und der dunklen Seidenweste.
»Hallo, Anna, Bastian hat eine gute Wahl getroffen«, sagte er und hielt ihr die Beifahrertür auf.
»Was hat er sich ausgesucht?«
»Eine bildhübsche Patentante«, antwortete er und betrachtete sie mit einem bewundernden Lächeln.
»Ich glaube, dem Kleinen ist mein Aussehen noch herzlich egal«, entgegnete sie und wich seinem Blick aus.
»Vielleicht, aber deshalb ist es trotzdem wahr«, sagte er und streifte sie mit einem kurzen Blick, bevor er die Wagentür hinter ihr schloss.
»Wir sollten noch Blumen für Sabine besorgen, und für Bastian müssten wir uns ein ordentliches Geschenk einfallen lassen«, nahm Anna das Gespräch gleich wieder auf, nachdem er um den Wagen herumgelaufen war und sich hinter das Steuer setzte. Sie wollte über das, was er gerade gesagt hatte, nicht weiter nachdenken. Er hatte ihr nur ein Kompliment gemacht.
»Wir könnten nach dem Besuch im Krankenhaus darüber nachdenken. Wie wäre es, wenn du mit zu mir kommst? Du könntest zum Abendessen bleiben.«
»Ob Traudel das gefällt? Der Sonntag ist ihr Familientag.«
»Ich denke, das kann ich in deinem Fall verantworten«, entgegnete er lächelnd.
*
Die Klinik, die für Bergmoosbach zuständig war, war die Uniklinik Kempten. Ein moderner Bau vor der malerischen Kulisse der Alpen. Mit großer Mühe ergatterten sie einen Parkplatz und schlossen sich den anderen Besuchern an, die auf den Eingang zuströmten. Sebastian trug den Strauß gelber Rosen, die sie unterwegs gekauft hatten, und Anna die Karte mit den Glückwünschen zur Geburt, die sie beide unterschrieben hatten.
Nachdem sie herausgefunden hatten, in welchem Zimmer Sabine lag, stiegen sie in den Aufzug und fuhren in die Geburtsstation hinauf. Sabine lag allein in einem hellen Zweibettzimmer mit Blick auf die Alpen. Das Gitterbettchen mit Bastian stand neben ihr.
»Hallo, Sabine, wie geht es dir?«, fragte Anna, als sie und Sebastian das Zimmer betraten.
»Gut, die Ärztin meint, ich kann in zwei Tagen nach Hause, wenn ich ihr verspreche, dass ich mich noch schone«, antwortete Sabine, die noch ein wenig blass um die Nase war.
»Daran solltest du dich auch halten«, sagte Sebastian, der eine leere Vase, die auf dem Fensterbrett stand, mit Wasser füllte und die Rosen hineinstellte.
»Wir haben vier Kinder und die Arbeit auf dem Hof. Ich kann Anton nicht alles allein überlassen, jetzt erst recht nicht. Vielen Dank, die sind wunderschön«, sagte sie und schaute auf die Rosen, die Sebastian auf den Tisch am Fußende ihres Betts gestellt hatte.
»Was heißt jetzt erst recht nicht?«, hakte Anna nach.
»Wollt ihr euch nicht zuerst einmal euer Patenkind ansehen?«, lenkte Sabine die Aufmerksamkeit der beiden auf den Jungen, der mit rosigen Bäckchen in seinem Bettchen lag und schlief.
»Er ist ein Prachtbursche«, stellte Anna fest und streichelte dem Baby sanft über den Bauch.
»Das hat er heute Nacht schon bewiesen, er hat es uns ganz leicht gemacht«, sagte Sebastian.
»Ich bin so froh, dass ihr bei uns wart, und ich kann nicht einmal…«
»Was kannst du nicht?«, wollte Anna wissen, als Sabine innehielt. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihr Bett, während Sebastian sich den zweiten Stuhl holte, der vor dem leeren Bett stand.
»Was soll das denn?«, fragte er erstaunt, als er den Stuhl hinstellte und aus Versehen einen Brief herunterschubste, der auf Sabines Nachttisch lag. Es war die Rechnung für den Hubschraubereinsatz der letzten Nacht.
»Sie haben sie heute Vormittag vorbeigebracht«, antwortete Sabine und wich seinem Blick aus.
»Damit du sie an die Krankenkasse weiterleitest? Warum tun sie das nicht selbst, sie haben doch sicher deine Versicherungsdaten.«
»Das wollte ich euch doch gerade sagen. Wir haben keine Krankenversicherung mehr«, gestand Sabine ihnen nun ein, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
»Seit wann seid ihr nicht mehr versichert?«
»Seit drei Monaten.«
»Was ist passiert?«, fragte Sebastian mitfühlend.
»Wir hatten zwei schlechte Ernten, die Heizung im Haus musste erneuert werden, das Scheunendach ist undicht, die Wasserleitungen müssen ausgetauscht werden. Das Haus ist alt, und wir haben die Reparaturen viel zu lange hinausgezögert, hinauszögern müssen.«
»Warum habt ihr euch keine Hilfe geholt? Euch steht doch sicher irgendeine Form der Unterstützung zu.« Sebastian schaute zu Anna, weil sich diese Art der Hilfe von der in Kanada sicher unterschied und er sich damit noch nicht auskannte.
»Natürlich haben sie Anspruch auf Hilfe«, stimmte Anna ihm zu.
»Anton möchte aber keine Hilfe, er geht nicht betteln, sagt er. Er schämt sich, weil es ihm nicht gelingt, uns gut zu versorgen. Aber er wird eure Rechnungen und die vom Krankenhaus bezahlen, hat er gesagt. Er wird niemandem etwas schuldig bleiben, und wenn er Tag und Nacht dafür arbeiten muss. Wisst ihr, ich habe solche Angst um ihn, er ist doch auch nicht gesund.«
»Was ist mit ihm?«, wollte Sebastian wissen.
»Er denkt, ich merke es nicht, aber er muss fürchterliche Rückenschmerzen haben, manchmal bricht ihm regelrecht der Schweiß aus.«
»Schicke ihn zu mir, Sabine, ich sehe mir das mal an.«
»Er wird nicht kommen.«
»Ich werde ihm keine Rechnung stellen.«
»Das lässt sein Stolz aber nicht zu.«
»Hör zu, Sabine, Bergmoosbach ist zu klein, um eure Lage auf Dauer geheim zu halten. Ich bin sicher, dass es einige Leute gibt, die euch gern helfen würden. Von sich aus, ganz unbürokratisch.«
»Ich denke auch, es wäre besser, offen zu den Leuten zu sein, aber Anton will nun einmal nicht, dass die Leute im Dorf von unserer Lage erfahren.«
»Dann versuche, Anton wenigstens zu bewegen, dass er sich von mir untersuchen lässt. Wie soll es denn bei euch weitergehen, wenn er vielleicht ganz ausfällt?«
»Du hast ja recht.«
»Schon gut, ich lasse mir etwas einfallen«, beruhigte er sie, als sie erneut mit den Tränen kämpfte.
»Das Geld fehlt halt an allen Ecken und Enden«, seufzte Sabine.
»Hallo, zusammen!«, rief Miriam, die in diesem Moment schwungvoll die Tür öffnete. Mit offenen blonden Locken, die in einem aufregenden Kontrast zu ihrem meerblauen Seidenkleid standen, stürmte sie gefolgt von einem rothaarigen Mann im eleganten Nadelstreifenanzug, der einen riesigen Strauß Blumen vor sich hertrug, herein. »Ich hoffe, du hast alles gut überstanden, Herzchen«, sagte sie und setzte sich zu Sabine aufs Bett, so als sei sie ihre allerbeste Freundin. »Der kleine Racker, wie niedlich«, flötete sie und streifte das Baby mit einem kurzen Blick.
»Harald, sieh dich bitte nach einer Vase für die Blumen um«, wandte sie sich ihrem Begleiter zu, der ein wenig verloren im Zimmer stand.
Harald Baumann, der sich um den Verkauf im Sägewerk Holzer kümmerte, war immer zur Stelle, wenn Miriam Unterstützung brauchte, egal, um was es dabei ging.
»Glückwunsch, Sabine«, sagte Harald und lugte hinter dem Blumenstrauß hervor. »Herr Doktor Seefeld, Frau Bergmann«, begrüßte er die beiden mit einem kurzen Kopfnicken und verließ das Zimmer, um nach einer Vase zu suchen.
»Wir sind alle sehr froh, dass schließlich noch alles gut gegangen ist, obwohl es sicher schwer für dich war«, wandte sich Miriam wieder an Sabine und streichelte mitfühlend über ihre Hände.
Anna nickte, als Sebastian ihr bedeutete, dass er gehen wollte. Gleich darauf verabschiedeten sie sich von Sabine.
»Rufe mich an, wenn du zu Hause bist, ich sehe dann nach dir und dem Kleinen«, sagte Anna.
»Gut, ich hinterlasse dir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, wenn du nicht da bist.«
»Den habe ich abgeschafft, ich möchte nicht, dass jemand vergeblich auf meinen Rückruf wartet, während ich unterwegs bin. Mein Handy ist die beste Verbindung zu mir«, erklärte Anna lächelnd.
»Auf bald, Sabine«, sagte Sebastian.
»Auf Wiedersehen, ihr beiden«, flötete Miriam.
»Mach’s gut, Miriam«, antwortete Sebastian und hielt Harald Baumann die Tür auf, der mit einer großen Vase, in der der Blumenstrauß steckte, wieder zurückkam.
»Dieser Strauß nimmt eine Menge Raum ein«, flüsterte Anna, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten.
»Stellt sich die Frage, ob er und Miriam, die immer den größten Raum beansprucht, überhaupt in ein Zimmer passen«, entgegnete Sebastian, und dann mussten sie beide in sich hineinlächeln.
*
»Jetzt, da wir unter uns sind, erzähle doch mal, was wirklich vorgestern Nacht passiert ist«, forderte Miriam Sabine eindringlich auf.
»Was genau meinst du damit?«, fragte Sabine verunsichert.
»Irgendetwas ist doch schiefgelaufen. Du hättest Sebastian doch nicht gebraucht, wenn Anna die Situation im Griff gehabt hätte.«
»Anna hat nichts falsch gemacht«, wies Sabine Miriams Unterstellung entschieden zurück.
»So mag sich das für dich darstellen, aber denke noch einmal genau nach. Warum wurde aus einer einfachen Geburt ein Notfall?«
»Was soll diese Fragerei?«
»Wenn dich jemand falsch behandelt und du einen Schaden davonträgst, dann könntest du denjenigen auf Schadensersatz verklagen.« Eine kleine Geldspritze würde Sabine sicher nicht ausschlagen, nach dem, was sie beim Betreten ihres Zimmers zufällig mitbekommen hatte.
»Ich werde Anna nicht verklagen.«
»Seefeld könnte auch einen Fehler gemacht haben«, mischte sich Harald, der am Fußende des Bettes stand, in die Unterhaltung der beiden ein.
»Was erlaubst du dir? Doktor Seefelds Handeln steht außerhalb jeder Kritik. Nur durch sein Eingreifen geht es Mutter und Kind gut«, fuhr Miriam ihn zornig an.
»Sorry«, murmelte Harald und schaute zu Boden.
»Was ist hier los?«, fragte Anton, der das Zimmer betrat und sofort erkannte, dass Sabine in ein unangenehmes Gespräch verwickelt war.
»Miriam will mir einreden, dass Anna vorgestern einen Fehler gemacht hat und dass ich sie verklagen soll«, machte Sabine sich Luft.
»Miriam, die Besuchszeit ist für dich und deinen Begleiter zu Ende.« Anton, der in seinem Sonntagsanzug, einer hellen Hose und einer dunklen Trachtenjacke ganz verändert aussah, hielt die Tür auf und schwang seinen rechten Arm in Miriams Richtung und wieder zurück, so als wollte er sie hinausfegen.
»Es sieht so aus, als wüsstet ihr nicht, wer eure wahren Freunde sind«, stellte Miriam beleidigt fest.
»Glaube mir, dass wissen wir genau«, sagte Anton.
»Komm, wir sind hier unerwünscht.« Harald schien aus seiner Unterwürfigkeit erwacht und packte Miriam am Arm.
»Nicht so grob«, schimpfte sie, folgte ihm aber trotzdem.
»So, die wären wir los«, sagte Anton, und nachdem er seinen jüngsten Sohn liebevoll begrüßt hatte, setzte er sich zu Sabine ans Bett. »Wir kommen aus dieser Misere schon wieder heraus, mein Schatz«, versicherte er ihr, strich ihr das Haar aus der Stirn und küsste sie zärtlich.
»Auf Anna und Sebastian werde ich niemals etwas kommen lassen. Miriam will Anna doch nur etwas anhängen, um sie loszuwerden.«
»Warum loswerden?«, fragte Anton erstaunt.
»Du meine Güte, so blind kann aber auch nur ein Mann sein. Miriam hat diese gewissen Schwingungen zwischen Anna und Sebastian bemerkt, so wie sie jede Frau bemerkt, mein Schatz.«
»Du meinst, da ist etwas zwischen den beiden?«
»Das habe ich nicht gesagt, aber sie fühlen sich mit Sicherheit zueinander hingezogen, und das bedeutet für Miriam Alarmstufe Rot, weil sie doch plant, Sebastian für sich zu gewinnen.«
»Was du so alles weißt«, entgegnete Anton lächelnd und küsste Sabine zärtlich auf den Mund.
»Ja, ich weiß einiges, auch dass du dich dringend von Sebastian untersuchen lassen solltest. Ich habe ihm und Anna erzählt, wie es um uns steht.«
»Du hast es ihnen gesagt?« Anton wich von ihr zurück und sah sie vorwurfsvoll an. »Wir wollten es doch für uns behalten. Wie stehe ich denn jetzt da?«
»Wie ein Mann, der alles für seine Familie tut, aber zu stur ist, Hilfe anzunehmen. In dieser Hinsicht denkst du einfach zu viel nach. Hier, lies das.« Sabine gab ihm die Glückwunschkarte, die sie von Anna und Sebastian bekommen hatte.
»Die Indianer sagen: Urteile nicht darüber, ob etwas gut oder schlecht ist, ohne dein Herz befragt zu haben«, las Anton laut vor.
»Was sagt dir dein Herz, Anton? Kannst du Sebastian vertrauen?«
»Ich werde mit ihm reden«, versprach er und zauberte ein glückliches Lächeln auf das Gesicht seiner Sabine.
*
»Über diesen Besuch freue ich mich«, sagte Traudel und stupste Benedikt in die Seite.
Die beiden saßen auf der Terrasse und spielten Schafkopf, so wie sie es oft am Sonntagnachmittag taten. Traudel hatte die junge Frau gleich erkannt, die neben Sebastian im Auto saß, als er aus dem Krankenhaus zurückkam.
»Ich würde es sehr begrüßen, wenn die beiden die Zusammenarbeit, die Anna und ich bisher praktiziert haben, fortsetzen«, antwortete Benedikt.
»Dass sie es können, haben sie auf dem Mittnerhof bewiesen.«
»Anna ist eine bildhübsche junge Frau, nicht wahr?«
»Ja, Benedikt, das ist sie.«
»Ob der Junge es bemerkt?«
»Ich hoffe es, wir wollen uns doch nicht wünschen, dass er auf Dauer allein bleibt«, antwortete Traudel, während sie Benedikt von der Seite betrachtete.
Die Lachfältchen um seine Augen, das kräftige Kinn, die hellen freundlichen Augen, das silbergraue Haar, seine sportliche Erscheinung, die seine Kleidung, das elegante helle Polohemd und die dunkle Jeans noch unterstrich.
Traudel hätte ihn immerzu ansehen können, aber das schickte sich nicht. Sie waren nur gute Freunde, und das, wovon sie manchmal träumte, würde nie wahr werden. Keine Frau in Benedikts Leben hatte bisher den Vergleich mit Sebastians Mutter bestanden und keine hatte jemals wieder sein Herz erobern können.
»Wer ist das?!«, rief Emilia, die mit Nolan über die Wiese tobte.
»Das ist Anna«, antwortete Traudel, die aus ihren Gedanken aufschreckte.
»Die Hebamme?«
»Ja, Liebes.«
»Wird das jetzt zur Gewohnheit, dass er sie mitbringt?«
»Lerne sie doch erst einmal kennen.«
»Papa ist noch nicht so weit, um sich auf eine andere Frau einzulassen«, entgegnete Emilia trotzig.
»Muss er deshalb in Zukunft jeder Frau aus dem Weg gehen?«, fragte Traudel mit einem liebevollen Lächeln.
»Keine Ahnung«, murmelte Emilia und zuckte die Achseln.
Als Sebastian gleich darauf aus dem Auto stieg und ihr winkte, tat sie so, als habe sie es nicht bemerkt. »Komm, Nolan!«, rief sie und stob über die Wiese.
Der Welpe bellte kurz, und dann sauste er auf seinen kleinen Beinchen hinter Emilia her, dabei stolperte er ein paar Mal, was vielleicht an seinem leichten Hinken lag. Er kugelte ein Stück über den Rasen, sprang wieder auf und hechelte mit wehenden Ohren Emilia nach.
»Hallo, Doktor Seefeld, hallo, Traudel«, begrüßte Anna die beiden, als sie und Sebastian zu ihnen auf die Terrasse kamen.
»Schön, dich zu sehen, Anna«, sagte Traudel.
»Ich freue mich auch, Frau Bergmann. Wie geht es Sabine und dem Kind?«, erkundigte sich Benedikt und reichte Anna die Hand.
»Sie können in zwei Tagen nach Hause.«
»Wunderbar, dann geht es den beiden offensichtlich gut.«
»Körperlich schon«, sagte Sebastian.
»Das heißt?«
»Auf dem Mittnerhof gibt es Probleme.« Sebastian und Anna hatten auf dem Heimweg beschlossen, Benedikt und Traudel zu erzählen, was sie herausgefunden hatten. Die beiden waren es gewohnt, die großen und kleinen Geheimnisse der Bergmoosbacher für sich zu behalten.
»Sie haben sich nie etwas anmerken lassen«, stellte Traudel erschüttert fest, nachdem sie alles gehört hatte.
»Zuerst müssen wir einen Weg finden, dass die Krankenkasse sie wieder aufnimmt. Das bedeutet, sie müssen die Beiträge, die sie versäumt haben, nachzahlen, und die aktuellen Kosten werden sie trotzdem privat tragen müssen«, sagte Sebastian.
»Hör zu, ich habe lange genug mit den Krankenkassen der Gegend zusammengearbeitet, und ich kenne auch einige Leute in der Geschäftsleitung der Klinik und der Rettungsleitstelle. Ich werde gleich morgen ein paar Anrufe machen«, versprach Benedikt seinem Sohn.
»Anton braucht doch Baumaterial für die anstehenden Reparaturen auf dem Hof. Wir könnten die örtlichen Handwerker fragen, ob sie etwas übrig haben«, schlug Anna vor.
»Papa hat einen guten Draht zum Sägewerk, er könnte da sicher einiges organisieren.« Emilia war unbemerkt von den anderen näher gekommen und hatte den letzten Teil der Unterhaltung gehört.
»Was soll das, Emilia?« Sebastian schaute seine Tochter an, die Anna unverblümt musterte.
»Wir könnten deinem Vater diesen Weg abnehmen. Was hältst du davon, wenn wir beide morgen im Sägewerk nachfragen? Ich bin Anna, ich freue mich, dich kennen zu lernen, Emilia«, sagte Anna und reichte dem Mädchen die Hand.
»Ich denke nicht, dass es Anton recht wäre, wenn ausgerechnet Miriam von seiner Misere erfährt«, gab Sebastian zu bedenken.
»Ich befürchte, sie weiß es bereits.« Anna hatte Miriams Blick bemerkt, als sie Sabines Krankenzimmer betreten hatte. Sie war sicher, dass sie gehört hatte, welche Sorgen die Mittners plagten.
»Die Holzers sind aber nicht gerade dafür bekannt, etwas zu verschenken«, sagte Traudel.
»Uns fällt da doch etwas ein, meinst du nicht, Emilia?«, wandte sich Anna wieder an das Mädchen.
»Ich könnte darüber nachdenken.«
»Wenn du morgen so gegen zwei Uhr Zeit hast, dann könntest du mich besuchen, und wir besprechen unser Vorgehen«, schlug Anna vor.
»Ich komme aber nicht ohne ihn.« Emilia schaute auf den kleinen Hund, der neben ihr im Gras hockte und Anna anstarrte.
»Du kannst Nolan gern mitbringen.«
Als der Welpe seinen Namen hörte, schoss er unter dem Tisch hindurch auf Anna zu und sprang fröhlich bellend um sie herum, bis sie sich zu ihm hinunterbeugte und ihn streichelte.
»Gut, ich werde da sein«, erklärte sich Emilia einverstanden.
»Du weißt, dass alles, was du hier über unsere Patienten hörst…«
»…nicht ausgeplaudert wird«, vervollständigte Emilia den Satz ihres Vaters. »Ich bitte dich, Papa, ich bin mein Leben lang schon die Tochter eines Arztes, du musst mich nicht an so etwas erinnern.«
»Du hast recht, das war überflüssig«, entgegnete Sebastian.
»Schon gut, Papa. Nolan, komm, hol das Stöckchen!«, rief sie und warf einen kleinen Stock auf die Wiese.
Der Welpe aber schaute Emilia nur an, noch hatte er offensichtlich keine Ahnung, was sie von ihm wollte.
»Da haben wir aber noch Arbeit vor uns«, seufzte sie, während sie wieder davonstob und der Hund ihr freudig folgte.
»Es ist doch in Ordnung, dass ich Emilia eingeladen habe, zu mir zu kommen?«, wollte Anna von Sebastian wissen.
»Es war eine hervorragende Idee.« Es hatte Sebastian beeindruckt, wie schnell sie den offensichtlichen Angriff seiner Tochter mit einem Friedensabkommen beendet hatte.
»Du bleibst doch zum Abendessen, Anna?«, fragte Traudel.
»Sehr gern«, sagte sie, als Benedikt ihr aufmunternd zulächelte.
Irgendwann lag Nolan erschöpft in seinem Korb, der im Wohnzimmer stand, und Emilia setzte sich zu den anderen auf die Terrasse. Bald darauf war es Zeit für das Abendessen, und Traudel verwöhnte sie mit Nudelsalat und Fleischpflanzel.
»Wieso schenkt ihr eurem Patenkind nicht etwas, was es jetzt dringend braucht?«, sagte Emilia, als ihr Vater und Anna sich während des Abendessens darüber unterhielten, was sie für Bastian tun könnten.
»An was hast du gedacht?«, fragte Sebastian.
»Ihr könntet Sabine Gutscheine für die Drogerie besorgen. Windeln, Babyklamotten, Babynahrung, da gibt es doch alles, was der Kleine braucht. Und Anna kann doch ungefähr abschätzen, was da so zusammen kommt.«
»Spatz, das ist eine großartige Idee«, sagte Sebastian und küsste seine Tochter auf die Wange.
»Das finde ich auch, genau das sollten wir tun.« Anna sah Emilia beeindruckt an.
»Mama hat immer gesagt, ich besitze einen Sinn für das Praktische.«
»Womit sie recht hatte«, stimmte Sebastian ihr zu.
Nach dem Abendessen gelang es Benedikt, die anderen zum gemeinsamen Kartenspiel zu überreden, was ihm große Freude bereitete.
»Zu fünft ist das Schafkopfspiel schon spannender als zu zweit«, sagte Traudel, als sie ein Spiel gewann und ihre dunklen Augen vor Aufregung leuchteten.
»Ich stimme dir zu, meine liebe Traudel, ich denke, wir sollten uns von nun an öfter zu einer solchen Runde treffen«, schlug Benedikt vor.
»Auch wenn ich jetzt mitmache, ihr könnt nicht davon ausgehen, dass ich immer dabei bin. Ihr seid nicht gerade meine Altersklasse«, erklärte Emilia selbstbewusst.
»Stimmt, deshalb kannst du auch noch einiges von uns lernen«, entgegnete Benedikt und kassierte den nächsten Stich.
»Opa, du machst uns noch alle fertig«, stöhnte Emilia.
Als Anna sich gegen zehn Uhr verabschiedete, waren alle in guter Stimmung und freuten sich auf den nächsten gemeinsamen Schafkopfabend. Sebastian begleitete Anna noch bis hinunter zur Straße, dort trennten sie sich mit einer freundschaftlichen Umarmung.
*
Sebastian schaute auf die Uhr, nachdem der letzte Patient am nächsten Vormittag gegangen war. Die Sprechstunde ging eigentlich nur bis zwölf, es war wieder kurz nach eins geworden. »Ja, bitte!«, rief er, als es an der Tür des Sprechzimmers klopfte.
»Geht noch einer?«, fragte Gerti, die zur Tür hereinschaute.
»Hast du schon jemals irgendjemanden nach Hause geschickt, der es bis ins Wartezimmer geschafft hat?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Gerti sichtlich stolz.
»Wer ist es denn?«
»Anton Mittner.«
»Das ist eine gute Nachricht, auf ihn habe ich gewartet.«
»Na dann, Anton, komm her!«, rief Gerti und trat zur Seite, um Anton Platz zu machen.
»Grüß dich, Sebastian, Sabine hat gemeint, ich könnte vorbeikommen«, sagte Anton und schaute verlegen zu Boden. Er hatte wieder seinen guten Sonntagsanzug an, weil er sonst nichts Ordentliches mehr zum Anziehen besaß.
»Soll ich noch warten?«, fragte Gerti und ordnete eine Falte ihres Rockes.
»Nein, Anton und ich kommen allein zurecht.«
»Dann bis heute Nachmittag«, verabschiedete sie sich und schloss die Tür.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte Sebastian.
»Es ist schon ein bisschen komisch.«
»Was ist komisch?«, fragte Sebastian, als Anton sich in dem Zimmer umsah, so als hätte er es zum ersten Mal betreten.
Er betrachtete die Vitrine aus gemasertem honigfarbenem Holz, die einmal Sebastians Großeltern gehörte. Sie stand nun an der Wand neben dem Schreibtisch, und hinter den Glastüren des Aufsatzes bewahrten sie die alten Medizinbücher auf, die Benedikt im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Die Vitrine verlieh dem ansonsten mit modernen weißen Möbeln eingerichteten Raum Wärme.
»Anton du solltest schon mit mir reden«, machte sich Sebastian wieder bemerkbar, nachdem er einen Augenblick gewartet hatte.
»Es ist halt merkwürdig, dich da sitzen zu sehen, in deinem weißen Hemd und der weißen Hose. Das ist ein bisschen befremdlich.«
»Möchtest du lieber mit meinem Vater reden?«
»Nein, ich rede schon mit dir. Wenn einer weiß, dass du deinen Beruf verstehst, dann ich. Ich werde dir das nie vergessen, wie du meiner Sabine geholfen hast. Wenn du mir ein bisschen Zeit gibst, dann werde ich auch deine Rechnung begleichen.«
»Anton, es gibt wichtigere Dinge, wir müssen zusehen, dass du gesund wirst und euer Hof wieder in Schuss kommt. Also, welche Beschwerden hast du?«
»Der Rücken.«
»An einer bestimmten Stelle?«
»Eigentlich überall.«
»Dann mach dich bitte mal frei.«
»Was ist mit mir?«, wollte Anton wissen, nachdem Sebastian ihn untersucht hatte.
»Wann hast du das letzte Mal einen Tag frei gehabt? Ich meine, einfach mal gar nichts gemacht?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Anton, während er sich wieder anzog.
»Du musst dir unbedingt ein bisschen Zeit für dich nehmen. Bis jetzt leidest du einfach nur an extremen Verspannungen.«
»Verspannungen? Ich habe Schmerzen, Sebastian.«
»Ja, ich weiß, du bewegst dich zwar viel, aber es sind immer die gleichen Bewegungen, das tut deinen Muskeln nicht gut, du brauchst einen Ausgleich. Geh schwimmen, wobei nur Rückenschwimmen infrage kommt, weil das auch den Nacken entspannt, geh spazieren, lege dich in die Sonne, tue etwas, was dir Spaß macht.«
»Ich denke, ich bin nicht krank.« Anton schaute auf das Rezept, das Sebastian ausstellte und ihm in die Hand drückte.
»Das wirst du aber bald sein, wenn du meine Ratschläge in den Wind schlägst. Ich habe dir Massagen aufgeschrieben, die werden deine Blockaden lösen.«
»Aber auf dem Hof ist so viel zu tun, und die Kinder müssen versorgt werden. Sabine muss sich doch noch eine Weile schonen. Ich habe keine Zeit für so etwas.«
»Gibt es denn niemanden, der euch auf dem Hof unterstützen könnte?«
»Von meiner Familie lebt niemand mehr, Sabines Schwester wohnt mit ihrer Familie in Bremen, und eine bezahlte Hilfe können wir uns nicht leisten. Die Kinder haben schon oft gesagt, dass sie so gern eine Oma hätten, die für sie da wäre.«
»Eine Oma«, murmelte Sebastian.
»Jetzt siehst du gerade so aus wie früher in der Schule, wenn du was ausgeheckt hattest«, stellte Anton fest, als Sebastian sich mit dem Zeigefinger über das Kinn strich.
»Vielleicht habe ich gerade etwas ausgeheckt, wir werden sehen.« Sebastian begleitete seinen alten Schulfreund durch das leere Wartezimmer zur Tür. Gerti, dachte er lächelnd, als er auf die Holzstühle mit den blauen Polstern schaute, die alle im gleichen Abstand nebeneinander standen, so wie es Gertis Ordnungssinn entsprach. Auch die Spielecke mit dem kleinen Tisch, den vier Stühlchen und der Spielzeugkiste war aufgeräumt. »Auf bald, Anton«, sagte er. Wenn das klappte, worüber er gerade nachdachte, dann konnte er Anton vielleicht schon an diesem Abend eine gute Nachricht überbringen.
»Tschüs, Papa!«, rief Emilia, die mit Nolan an der Leine aus dem Haus kam, als er kurz darauf die Praxis verließ.
»Wo gehst du hin?«
»Ich bin mit Anna verabredet, schon vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht vergessen, mir war nur nicht bewusst, dass es schon so spät ist.«
»Doch, ist es. Und übrigens, Traudel meinte, dass du in Zukunft Essen aus der Mikrowelle bekommst, weil du nie pünktlich bist, im Gegensatz zu Opa, der hat wenigstens hin und wieder die Zeit eingehalten.«
»Das ist keine Absicht.«
»Das musst du Traudel sagen. Bis später, Papa.«
»Wuff, wuff«, verabschiedete sich Nolan und tapste fröhlich neben Emilia her.
»Heute bleibt mir die Mikrowelle wohl noch erspart«, stellte Sebastian fest, als er in die Küche kam und Traudel ihm Käsenudel, und frischen Salat servierte.
»Die kleine Maus hat es also gleich wieder weitergetragen«, entgegnete Traudel und schüttelte lachend den Kopf. »Geh, du weißt genau, dass das nie passiert, Bub«, sagte sie und streichelte Sebastian liebevoll über den Rücken.
*
Anna war auf ihrem Balkon und goss die Blumen. Es war ein heißer sonniger Tag, und bevor die Sonne vollends auf den Balkon prallte, musste sie ihre Pflanzen mit Wasser versorgen.
»Ich mache dir auf!«, rief sie, als sie Emilia sah, die auf dem Feldweg hinter dem Haus mit Nolan entlangspazierte.
»Gemütlich«, stellte Emilia fest, als sie die Wohnung wenig später betrat.
»Wir können uns nach draußen setzen«, sagte Anna. Sie hatte die Liege zusammengeklappt und zwei Korbstühle aus der Küche auf den Balkon getragen.
»Einverstanden.«
»Was möchtest du trinken?«
»Wasser, bitte.«
»Du bekommst natürlich auch Wasser.« Anna hatte den Welpen nicht vergessen und füllte einen sauberen Blumenuntersetzer mit Wasser, den sie für ihn auf den Balkon stellte. »Hast du schon eine Idee, wie wir unser Anliegen im Sägewerk vortragen?«, fragte Anna, als sie sich in den Stuhl neben Emilia setzte.
»Du hast doch gesagt, dass Miriam vermutlich weiß, in welchen Schwierigkeiten die Mittners stecken.«
»Ich gehe davon aus.«
»Dann sollten wir uns Miriam schnappen und sie direkt fragen, ob sie etwas abzugeben hat. Wenn sie Bescheid weiß, wird sie es uns wissen lassen und es so drehen, als sei es ihre Idee gewesen, um sich dann bei passender Gelegenheit damit zu brüsten.«
»Du hast sie schon gut durchschaut.«
»Ich durchschaue alle Frauen, die hinter Papa her sind.«
»Du meinst, du musst ihn vor einer falschen Entscheidung beschützen, richtig?«
»Wer verliebt ist, der kann nicht klar denken, deshalb muss ich das übernehmen.«
»Du meinst, er ist in Miriam verliebt?«
»Keine Ahnung. Wenn es so ist, dann ist es ihm nicht bewusst.« Emilia trank einen Schluck Wasser und fing Annas Blick auf. »Kannst du noch klar denken, was ihn betrifft?«
»Ich kenne deinen Vater erst ein paar Tage.«
»Um sich zu verlieben, genügt eine Sekunde.«
»Du kennst dich aus«, antwortete Anna lachend.
»Ich bin vierzehn, kein Kind mehr. Ich weiß, dass mein Vater sich eines Tages wieder verlieben wird. Ich wünsche ihm, dass es so kommt, auch wenn es für mich nicht leicht sein wird, ihn mit einer anderen Frau zu sehen. Noch vor ein paar Wochen hat mich dieser Gedanke richtig geschockt.«
»Was hat deine Meinung geändert?«
»Opa. Er lebt zwar beziehungsmäßig gesehen allein, aber er ist nicht einsam. Er hat Traudel, die alles für ihn tut, weil sie in ihn verliebt ist, was jeder sehen kann, der sie beobachtet. Papa hat aber keine Traudel, und ich werde eines Tages fortgehen. Ich möchte auf keinen Fall, dass Papa ein einsamer komischer Kauz wird, der sich einen Papagei anschaffen muss, um jemanden zum Reden zu haben.«
»Ich glaube nicht, dass er so enden wird.«
»Nein, ich auch nicht, dazu erregt er zu viel Aufmerksamkeit, aber ich denke, noch ist er nicht soweit, um sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Er braucht noch ein bisschen Zeit.«
»Genau wie du«, sagte Anna und streichelte über Emilias Schulter. »Und jetzt machen wir uns auf den Weg zu Miriam.«
»Unbedingt«, antwortete Emilia unternehmungslustig.
*
Das Sägewerk lag am Ortsrand von Bergmoosbach, dort wo der Bach, der aus den Bergen herunterkam, das Dorf teilte und einsame Wiesen sich ausbreiteten. Obwohl eine Lärmschutzwand das gesamte Gelände umgab, war das Kreischen der Sägen schon von weitem zu hören.
Emilia hielt Nolan an der kurzen Leine, als sie den Hof des Sägewerks betraten. Vor den beiden Hallen, in denen die Verarbeitung stattfand, wurde das Holz gelagert, vom frisch geschlagenen Baumstamm bis zu bereits fertig zugeschnittenem für Wände und Dachkonstruktionen. Der Geruch des Holzes regte die Neugierde des kleinen Hundes an, und er zog kräftig an der Leine, um sich den Stapeln nähern zu können.
»Nimm ihn lieber hoch«, sagte Anna, als ein Gabelstapler aus einer Halle herausbrauste und ein mit Holz beladener Lastwagen in den Hof fuhr.
Emilia zögerte nicht lange. Sie hob den Kleinen hoch, der seine Ohren ständig in eine andere Richtung drehte, um all die neuen Geräusche einzuordnen.
»Wo finden wir Miriam Holzer?!«, rief Anna dem Mann auf dem Gabelstapler zu, der einen grünen Overall mit dem Aufdruck Sägewerk Holzer trug.
»Was?!«
»Miriam?!«, schrie Emilia.
»Büro!« Der Mann deutete auf den Bungalow am Ende des Hofs.
»Schallschutzfenster und Klimaanlage«, stellte Emilia fest, als sie den Bungalow betraten.
Auch Anna war zum ersten Mal im Büro der Holzers und sie staunte über die edle Einrichtung. Der Boden mit schwarzen Granitplatten ausgelegt, silberfarbene Tapeten, Schreibtische und Regale aus schwerem Kiefernholz, eine Sitzgruppe mit einem bequemen Sofa und überall Grünpflanzen in Terrakottakübeln.
Die beiden jungen Mädchen, die auf ihre Computermonitore sahen, blickten kurz hoch, als Anna und Emilia hereinkamen, wandten sich aber gleich wieder ihrer Arbeit zu. Sie überließen es Harald Baumann, der ein wenig abseits von ihnen an einem Schreibtisch saß, sich um die Besucher zu kümmern.
»Guten Tag, um was geht es?«, fragte er und sah Anna an.
»Wir möchten mit Miriam sprechen«, antwortete sie und schaute auf die Tür, die zu einem weiteren Raum führte.
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein, aber wir möchten trotzdem zu ihr.«
»Sie hat aber leider keine Zeit.«
»Sagen Sie ihr, dass Emilia Seefeld sie sprechen möchte«, mischte sich Emilia ein.
»Ich weiß, wer du bist«, entgegnete Harald grinsend.
»Gut, dann wissen Sie auch, dass sie mich empfangen wird.«
»Würdest du den Hund zur Ruhe bringen«, forderte er sie auf, als Nolan plötzlich bellte, weil Miriam die Tür zu ihrem Büro öffnete.
»Kommt rein.« Miriam hatte die beiden bereits im Hof gesehen und war gespannt, was sie von ihr wollten.
Der Schreibtisch in ihrem Büro war größer als die der anderen, und sie residierte auf einem wuchtigen weißen Lederstuhl.
»Das ist wohl die Überraschung, von der du neulich gesprochen hast«, stellte sie fest und schaute auf den Welpen, den Emilia im Arm hielt.
»Richtig, es ging um Familienzuwachs, das ist eine Familienangelegenheit, damit hat sonst niemand etwas zu tun, wenn man von Hebammen einmal absieht«, fügte Emilia mit einem herausfordernden Lächeln hinzu.
»Nehmt Platz, warum wollt ihr mich sprechen?«, fragte Miriam und überhörte Emilias offene Parteinahme für Anna.
»Du könntest etwas Gutes tun, Miriam. Ihr habt doch sicher hin und wieder Holz übrig, ich meine, so eine Art Verschnitt, der sich nicht mehr verkaufen lässt.«
»Verkaufen lässt sich alles, meine liebe Anna, und wenn es als Brennholz für Kamine und Öfen weggeht.«
»Es geht um Holz, das sich zur Reparatur für Scheunen eignet.«
»Sprechen wir vom Mittnerhof?«
»Könnte sein.«
»Keine Sorge, du verrätst mir kein Geheimnis. Anton hat vor ein paar Monaten Holz bei uns bestellt und dann wieder abbestellt. Als ich gestern im Krankenhaus zufällig mitbekam, was Sabine zu euch gesagt hat, dass das Geld an allen Ecken fehlt, war mir klar, dass sie in Not sind.«
»Wirst du ihnen helfen?«, fragte Anna nun ganz direkt.
»Glaube bloß nicht, dass du das Gutmenschentum für dich allein gepachtet hast. Ich hatte längst vor, ihnen zu helfen. Die Lieferung liegt schon bereit. Sobald Sabine aus dem Krankenhaus entlassen wird, lasse ich ihr das Holz bringen, vorher kommt Anton wegen der Kinder ohnehin nicht dazu, seine Reparaturen anzugehen.«
»Danke, Miriam.«
»Wie gesagt, es hätte deiner Bitte gar nicht erst bedurft.«
»Ich wusste gar nicht, dass diese Art von Güte in dir steckt«, entgegnete Emilia und erhob sich von ihrem Stuhl, nachdem auch Anna aufgestanden war.
»Du kennst mich eben noch nicht. Grüße deinen Vater von mir, Kind.«
»Ja, mache ich«, antwortete Emilia, ohne richtig hinzuhören, weil sie bereits zur Tür heraus war.
»Skrupel hast du wohl keine«, fuhr Miriam Anna an, die Emilia folgen wollte.
»Was bitte meinst du?«, erkundigte sich Anna verblüfft.
»Du nutzt seine Tochter aus, um dich an ihn heranzumachen.«
»Lass stecken, Miriam, ich lasse mich nicht benutzen, ich bestimme selbst, mit wem ich befreundet bin. Du gehörst nicht dazu«, antwortete Emilia, die sich noch einmal umgedreht hatte.
»Du bist unhöflich, junge Dame.«
»Nein, ich bin nur ehrlich.«
»Einen schönen Tag noch«, sagte Anna und schob Emilia samt Nolan hinaus in den Hof.
»Sie ist unverschämt, da kann ich nicht ruhig bleiben«, erklärte Emilia Anna ihr Verhalten, als sie das Sägewerk gleich darauf verließen.
»Ehrlich zu sein, kann dir eine Menge Ärger bereiten.«
»Soll ich deshalb lügen?«
»Nein, das sollst du nicht. Manchmal ist es nur besser, gar nichts zu sagen.«
»Das weiß ich«, seufzte Emilia, »aber in diesem Fall fand ich es in Ordnung, die Wahrheit zu sagen.«
»Das fand ich auch«, stimmte Anna ihr zu, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie kurz an sich. »Ich habe in deinem Alter übrigens auch Fußball gespielt«, sagte sie und schaute auf das T-Shirt, das Emilia trug.
»Erzähle mir mehr darüber«, bat das Mädchen.
*
»Harald, wo finde ich die Bestellung vom Mittnerhof? Ich meine die stornierte«, wollte Miriam wissen, die Harald in ihr Büro gerufen hatte, nachdem sie vergeblich in ihrem Computer nach dieser Bestellung gesucht hatte.
»Die sollte ich doch löschen. Arme Schlucker brauchen wir nicht, hast du gesagt.«
»Irgendwo muss es doch noch etwas darüber geben.«
»Nein, gibt es nicht, aber ich weiß noch, was er wollte. Ich habe mich nämlich gewundert, dass jemand so eine kleine Menge abbestellen muss, weil er sie sich offensichtlich nicht leisten kann.«
»Lass alles zusammenstellen, was er wollte, und lege noch etwas dazu.«
»Lieferung mit Vorauskasse?«
»Nein, die Lieferung geht auf uns.«
»Ist das dein Ernst?« Harald fuhr sich durch sein rotes Haar und starrte Miriam ungläubig an.
»Hörst du nicht zu?«
»Doch, ich höre zu. Du musst Punkte bei den Seefelds sammeln, weil die gute Anna dir bereits einiges voraushat. Sie ist zum Beispiel mit der Kleinen befreundet.«
»Das ist mir nicht entgangen, aber darum geht es nicht. Mir kann die Hebamme nichts vormachen. Dass sie sich so sehr darum bemüht, Anton zu helfen, kann nur eines bedeuten.«
»Das wäre?«
»Sie versucht, die Wogen zu glätten. Sie will die Mittners besänftigen und so einer Klage aus dem Weg gehen.«
»Vielleicht will sie einfach nur helfen.«
»Harald, du kleiner Traumtänzer, sie will nicht, sie muss helfen.«
»Du hast keinen Beweis dafür, dass sie irgendetwas falsch gemacht hat.«
»Ich werde diesen Beweis schon finden, und sobald ich Anna und ihr Tun entlarvt habe, muss sich Sebastian auch nicht mehr aus falsch verstandener Solidarität vor sie stellen. Verlasse dich darauf, ich werde ihn von dieser Last befreien.«
»Wir werden sehen.«
»Das werden wir. Was ist nun mit der Lieferung für den Mittnerhof?«
»Ich kümmere mich darum. Wenn du in der anderen Angelegenheit Hilfe brauchst, lass es mich wissen.«
»Ich werde darauf zurückkommen«, antwortete Miriam und schaute nachdenklich aus dem Fenster.
*
Anna begleitete Emilia nach ihrem Besuch im Sägewerk nach Hause. Sie wollten der Familie von ihrem Besuch bei Miriam erzählen. Als sie durch den Steingarten hinauf zur Terrasse gingen, hüllte sie der Duft des Sommerflieders ein, der Anna an diesem Nachmittag besonders intensiv erschien.
»Wer ist das?«, wollte Emilia wissen, als sie auf die ältere Frau aufmerksam wurde, die mit Sebastian und Traudel bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse saß.
»Das ist Pia Mechler, eine liebe alte Dame, die vor kurzem ihren Mann verloren hat und sich nun ziemlich einsam fühlt.«
»Warte, ich habe sie schon gesehen. Sie war neulich lange vor der offiziellen Sprechstunde im Hof«, erinnerte sich Emilia wieder.
»Zur Open-air Sprechstunde, wie eure Gerti sie nennt«, entgegnete Anna lächelnd.
»Richtig, und wie nennen wir die, die er gerade abhält? After-work-Sprechstunde?« Emilia betrachtete ihren Vater, der seine Praxiskleidung bereits gegen Jeans und ein silberfarbenes Poloshirt getauscht hatte.
Anna zuckte zusammen, als Sebastian aufschaute und sich ihre Blicke trafen. Das dunkle Haar, das helle Grau seiner Augen, sein Lächeln, alles an ihm entfachte sehnsuchtsvolle Gefühle in ihr.
»Es ist alles gut, du siehst super aus«, flüsterte Emilia, als Anna auf ihre gelben Sandaletten sah, die sie zu ihrem blauen Kleid trug.
»Ich kann dir wohl nichts vormachen«, seufzte Anna. Sebastian gefiel ihr, er gefiel ihr sehr, und offensichtlich gelang es ihr nicht, diese Empfindung vor Emilia zu verbergen.
»Damit musst du klar kommen, mir entgehen diese Gefühlswolken eben nicht, die um meinen Vater herumwabern.«
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«
»Es ist okay, Anna, ich wusste es doch schon.«
»Wir behalten es für uns, ja?«
»Alles klar«, antwortete Emilia, während sie Nolan von der Leine ließ.
»Kommt, ihr beiden, setzt euch zu uns«, bat Traudel, nachdem sie den Hund begrüßt hatte, der vorausgestürmt war und sich zuerst auf sie stürzte, weil sie diejenige war, die ihm meistens seinen Fressnapf füllte. »Wie war eure Mission?«, erkundigte sie sich, nachdem Sebastian Emilia mit Pia bekannt gemacht hatte. »Ihr könnt offen sprechen, Pia weiß über die Schwierigkeiten auf dem Mittnerhof Bescheid«, beruhigte sie Emilia, die Pia anschaute.
»Miriam wird Anton mit Holz beliefern«, sagte Anna.
»Sie hat behauptet, dass sie das ohnehin vorhatte, weil sie ja so ein mitfühlender Mensch ist«, erzählte Emilia.
»Die gute Miriam«, sagte Traudel lachend und versorgte die beiden mit einem frisch gebackenem Heidelbeerkuchen.
»So, das wäre geklärt.« Benedikt kam mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf die Terrasse und setzte sich zu den anderen an den Tisch.
»Was ist geklärt, Opa?«, wollte Emilia wissen.
»Die Krankenkasse nimmt Anton und seine Familie wieder auf, die ausstehenden Beträge können sie in kleinen Raten nachzahlen. Für die Krankenhausrechnung und für die des Rettungsdienstes konnte ich ebenfalls Ratenzahlungen vereinbaren.«
»Wohl dem, der gute Beziehungen hat«, sagte Traudel und betrachtete Benedikt voller Bewunderung.
»Ich denke, Anton sollte die guten Nachrichten erfahren«, sagte Sebastian. »Sind Sie bereit, Frau Mechler?«
»Das bin ich. Ich hoffe, Anton und Sabine nehmen unseren Vorschlag an.«
»Welchen Vorschlag?«, fragte Anna.
»Anton war heute bei mir in der Praxis und hat mir nebenbei erzählt, dass seine Kinder gern eine Oma hätten. Da ich weiß, dass Frau Mechler sich nach einer Familie sehnt, dachte ich, wir sollten den Versuch wagen, sie und die Mittners zusammen zu bringen.«
»Das ist eine großartige Idee.« Etwas Besseres konnte sich Anna für Sabine gar nicht vorstellen als eine ›Oma‹, die sie in der nächsten Zeit unterstützte.
»Es wäre schön, wenn du mitkommst«, wandte sich Sebastian an Anna.
»Gern«, stimmte sie sofort zu.
»Darf ich auch mitkommen, Papa?«, fragte Emilia.
»Sicher.«
»Gebt ihr auf Nolan Acht?« Emilia schaute zuerst Traudel und danach ihren Großvater an.
»Das war doch unsere Absprache«, sagte Benedikt und streichelte den Welpen, der kurz eingedöst war, aber sofort wieder hellwach war, als er seinen Namen hörte.
Nachdem Benedikt und Traudel ihnen viel Erfolg gewünscht hatten, Anton von ihrem Plan zu überzeugen, machte sich Sebastian mit Anna, Emilia und Pia Mechler auf den Weg zum Mittnerhof.
*
»Was hältst du davon?«, fragte Sebastian seinen alten Schulkameraden, nachdem er ihm von ihrer Idee erzählt hatte.
»Ich finde, das ist grandios, Papa«, sagte Markus, als Anton vor sich her starrte und schwieg.
Sie saßen alle zusammen um den Esstisch in der dunklen Küche, in der noch ein alter Kohleofen stand, mit dem sie im Winter den Raum beheizten. Emilia saß Markus gegenüber und schaute ihn immer wieder kurz an. Der Junge mit den strohblonden Haaren und den wachen hellen Augen hatte ihr Interesse geweckt.
»Ja, Papa, eine Oma, das wäre aber wirklich schön«, schloss sich Senta ihrem Bruder an.
»Ja, super schön«, stimmte auch Benjamin dem Vorschlag zu.
»Ich nutze aber niemanden aus«, brummte Anton.
»Geh, Anton, ich würde mich doch nicht ausgenutzt fühlen. Im Gegenteil, ich würde mich gebraucht fühlen«, erklärte ihm Pia, was sie empfand.
»Ich weiß nicht.«
»Ich weiß es aber schon, du bist stur, Papa«, sagte Markus sichtlich aufgebracht. »Sie wollen uns doch nur helfen. Wir sind wieder krankenversichert, wir können unsere Rechnungen abstottern und jetzt könnten wir auch noch eine Oma haben. Ich verstehe nicht, warum du zögerst. Mir reicht es. Willst du dir den Hof ansehen?«, wandte er sich an Emilia.
»Unbedingt«, sagte sie und stand sofort auf.
»Wir kommen auch mit!«, riefen die Zwillinge.
»Wenn es sein muss«, murrte Markus, dem es ganz offensichtlich nicht gefiel, dass seine Geschwister sich ihnen anschließen wollten.
»Markus hat recht, du bist stur«, sagte Sebastian, nachdem die Kinder gegangen waren.
»Mein Vater hat auch immer alles allein geregelt.«
»Was seine Gesundheit ruiniert hat.«
»Anton, hör zu, wir könnten es doch wenigstens miteinander versuchen. Ich würde euch so gern helfen«, sagte Pia.
»Ich beschäftige niemanden, den ich nicht bezahlen kann.«
»Aber darum geht es doch gar nicht, das habe ich dir gerade erklärt. Ich wünsche mir eine Familie, und ihr braucht dringend eine Großmutter. Ich möchte diese Großmutter für euch sein. Verstehe doch, ihr gebt mir genauso viel, wie ich euch gebe.«
»Na gut, versuchen wir es«, willigte Anton endlich ein.
»Dann schlag ein«, bat Pia und streckte ihm die Hand hin.
»Erst mal nur versuchen«, murmelte er, als er ihre Hand ergriff.
»Ja, nur ein Versuch«, antwortete Pia mit einem zufriedenen Lächeln. »Wo ist der Kühlschrank?«
»In der Speisekammer, warum?«
»Weil ich meine Pflichten als Oma ernst nehme und mich um das Abendessen kümmere. Du hast doch ein Auto, um mich später nach Hause zu bringen?«
»Schon.«
»Also, wo ist die Speisekammer?«
»Wir werden hier nicht mehr gebraucht«, raunte Anna Sebastian zu.
»Es ist ein guter Anfang«, stimmte er ihr zu, und sie verabschiedeten sich von den beiden.
»Wo ist Frau Mechler?«, fragte Markus. Er hockte mit Emilia auf dem Holzgatter, das die Weide einzäunte, auf der vor einigen Jahren noch die Pferde standen, die sie im Sommer für geführte Ausritte an Urlauber vermietet hatten.
»Bekommen wir nun eine Oma?«, fragte Senta, die mit ihrem Bruder Fangen spielte.
»Sie ist schon da«, verkündete Anna den Kindern die Entscheidung ihres Vaters.
»Wir haben eine Oma!«, riefen die beiden und stürmten ins Haus.
»Kommst du, Emilia?« Sebastian sah seine Tochter auffordernd an.
»Man sieht sich«, sagte Markus, als Emilia vom Gatter heruntersprang.
»Bestimmt«, antwortete sie und stieg in den Geländewagen ihres Vaters.
»Der junge Mann gefällt dir wohl?«, fragte Sebastian, als er losfuhr und kurz in den Rückspiegel schaute.
»Gefällt dir Anna, Papa?«
»Was soll das jetzt wieder?«
»Ehrlich gegen ehrlich oder Schweigen«, sagte Emilia und lehnte sich lächelnd in den Sitz zurück.
»Du schaffst mich, Schatz«, stöhnte Sebastian.
Bevor sie die Unterhaltung weiterführen konnten, erhielt Anna einen Anruf, dass sie zu einer Geburt erwartet wurde. Auf der ganzen Fahrt nach Hause telefonierte sie mit dem werdenden Vater, der im Gegensatz zu seiner Frau in heller Aufregung war.
»Werdende Väter betreust du also auch«, stellte Sebastian amüsiert fest, als er sie schließlich vor der Apotheke absetzte.
»Natürlich, sie brauchen auch Beistand, auch wenn sie die Geburt auf andere Weise erleben, weniger direkt«, fügte sie lächelnd hinzu.
Kurz darauf machte sie sich mit ihrem Fahrrad und ihrem Rucksack wieder auf den Weg. Bevor sie in eine Seitenstraße einbog, warf sie noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Haus am anderen Ende des Dorfes, das Haus, in dem Sebastian wohnte.
*
Am nächsten Abend machte es sich Anna auf ihrem Balkon gemütlich. Sie hatte ihren weißen Bikini angezogen, lag auf der Liege und las ein Buch. Zumindest versuchte sie es, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Am Nachmittag hatte sie mit Traudel telefoniert, um sie zu fragen, ob sie etwas von Pia gehört hatte. Sie hatte erfahren, dass der erste Tag mit Oma auf dem Mittnerhof gut verlaufen war und die Kinder besonders von Pias Kochkünsten begeistert waren. Morgen werde ich mir selbst ein Bild machen können, dachte Anna. Morgen kam Sabine nach Hause, und sie würde sie besuchen.
Auf einmal sah sie Sebastian wieder vor sich, wie er in Sabines Zimmer kam und sie sich zum ersten Mal sahen, abgesehen von dem kleinen Beinahunfall, über den er sich zuerst geärgert hatte. Dann dachte sie daran, als sie später in der Nacht in seinem Haus nebeneinander auf dem Sofa saßen und den Sonnenaufgang betrachteten. Es war ein wundervoller Moment der Nähe gewesen, und sie fragte sich, ob sie so einen Moment jemals wieder mit ihm erleben würde.
»Wer ist denn das?«, sagte sie laut, als es an der Tür läutete und sie aus ihren Träumen gerissen wurde. »Hallo?!«, rief sie gleich darauf in ihre Sprechanlage.
»Hallo, Anna, hier ist Sebastian, ich bin auf dem Weg zum See. Vielleicht hast du auch Lust auf einen Abendspaziergang?«
»Eine gute Idee, ich bin gleich da.« Danke, Schicksal, danke, wer auch immer das für mich arrangiert hat, dachte Anna. In diesem Augenblick gab es niemanden sonst auf der Welt, mit dem sie jetzt lieber zusammen sein wollte. Sie zog das lange weiße Leinenkleid mit dem zarten Vergissmeinnichtmuster über ihren Bikini, schlüpfte in die blauen Ballerinas, löste das Band, mit dem sie ihr Haar zusammengebunden hatte, und lockerte es mit beiden Händen, bevor sie mit Schmetterlingen im Bauch ihre Wohnung verließ.
»Ich hoffe, du fühlst dich nicht überfallen«, sagte Sebastian.
»Nein, gar nicht, ein Abendspaziergang ist eine gute Idee.« Wenn du wüsstest, wie sehr ich mir gewünscht habe, dich wiederzusehen, dachte Anna und betrachtete den gut aussehenden Mann in der dunklen Leinenhose und dem kurzärmligen hellen Hemd, der sein Jackett locker über die Schulter geworfen hatte.
»Wir könnten zum See gehen«, schlug er vor.
»Ja, das könnten wir«, sagte sie und sah in seine Augen.
»Dann sollten wir es auch tun«, antwortete er lächelnd.
*
»Egal, was auf dem Mittnerhof vorgefallen ist, sie scheinen sich gut zu verstehen.« Harald stupste Miriam an, als sie das Sägewerk verließen und er Anna und Sebastian bemerkte, die in den Weg einbogen, der zum See führte.
»Das kann sich schnell ändern«, erklärte Miriam und sah den beiden wie versteinert nach.
*
»Ist dieser Anblick nicht einfach unglaublich?« Anna wohnte nun schon so lange in Bergmoosbach, aber die Aussicht, die sich ihr vom See aus auf das Tal und die Berge bot, beeindruckte sie stets aufs Neue. Wie immer in den Abendstunden war es hier draußen ganz still. Die Einheimischen waren längst zu Hause, und die Urlauber saßen um diese Uhrzeit in den Wirtshäusern oder im Biergarten der örtlichen Brauerei.
»Vor einem Monat sind Emilia und ich nach Bergmoosbach gekommen, seitdem war ich noch nicht einmal am See«, gestand ihr Sebastian, als sie aus dem Schatten der Bäume heraustraten und sie sich in einer Postkartenidylle wieder fanden.
Der kristallklare See war in hüglige Wiesen eingebettet. Ihre sanften Rundungen formten das Ufer und bildeten kleine liebliche Buchten. Ganz allmählich stiegen die Hügel hinter dem See an, trugen dunkle Tannenwälder mit hellgrünen Lichtungen und stießen schließlich an die Berge mit ihren vereisten Gipfeln, die sich an den tief blauen Himmel streckten.
»Fühlst du dich wieder zu Hause?«, fragte Anna.
»Ja, ich denke, ich bin wieder angekommen, aber das liegt sicher auch an meinen Erinnerungen, die ich mit Bergmoosbach verbinde. Für Emilia ist es schwerer, sich zu Hause zu fühlen, auch wenn sie als kleines Kind oft hier war. In den letzten Jahren kamen mein Vater und auch Traudel ja dann immer zu uns, weil Emilia die Ferien lieber mit ihren Freunden verbrachte.«
»Sie macht auf mich keinen unglücklichen Eindruck, und ich denke, seit gestern findet sie es hier auch ziemlich interessant.«
»Du meinst wohl, sie findet Markus interessant.«
»Ja, das meine ich.«
»Komm, ich zeige dir meinen Lieblingsplatz.« Er führte sie zu einer Birke, die dicht am Ufer stand, und breitete seine Jacke unter den tief hängenden Ästen aus, bevor sie sich hinsetzten.
Die kleine Bucht lag an der schmalsten Stelle des Sees und bot einen guten Blick auf das gegenüberliegende Ufer. Der Boden war samtweich, es roch nach Wiese, Klee und frischen Kräutern, ein Duft, der Annas Sinne sonst immer beruhigte. An diesem Abend war es anders, alles war anders, sie spürte Sebastian neben sich, und diese verwirrenden Gefühle einer aufkeimenden Liebe machten sie beinahe schwindlig.
Eine neugierige Libelle mit blauem Köpfchen und durchsichtigen Flügeln schwirrte auf sie zu, verharrte kurz vor ihnen, bis sie abdrehte und an ihnen vorbeiflog.
»Manche Menschen fürchten sich vor Libellen«, sagte Anna, als Sebastian dem zarten Wesen nachschaute.
»Grundlos, sie sind weder giftig noch stechen sie, für uns Menschen sind sie völlig harmlose Schönheiten.«
»Was ist?«, fragte Anna leise, als er sich ihr zuwandte und sie anschaute.
»Du dagegen bist keine harmlose Schönheit, Anna, du bist sogar äußerst gefährlich«, sagte er und während er sie betrachtete, spielte er zärtlich mit den Spitzen ihres seidigen Haars.
»Gefährlich für wen?«
»Für mich.«
»Einer Gefahr solltest du ausweichen.«
»Ich wünschte, ich hätte den Mut, es nicht zu tun.« Er ließ ihr Haar aus seinen Finger gleiten, zog seine Beine an, umfasste sie mit seinen Armen und schaute an den Horizont.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Anna erschrocken.
»Nein, du hast nichts Falsches gesagt. Es liegt an mir, ich kann noch nicht loslassen, ich kann Helene noch nicht loslassen.« Er legte seinen Kopf auf seine Knie und kämpfte gegen den aufsteigenden Schmerz, der ihn wieder spüren ließ, wie sehr er seine Frau vermisste und wie sehr er sie noch immer liebte.
»Erzähle mir von ihr, Sebastian, ich würde sie gern kennen lernen.«
»Helene kam aus Montreal, und sie war eine begnadete Malerin. Ich hatte gerade in der Praxis im Norden von Kanada angefangen, als wir uns das erste Mal begegneten. Es war mitten im Winter, und ich wurde zu einem Patienten gerufen, einem Indianer, der mit seiner Familie in einem kleinen Dorf am Ufer eines Flusses lebte. Helene saß in Decken eingehüllt auf einem Felsen am Ufer und zeichnete die vereiste Landschaft, nur mit dem Mond als einzige Lichtquelle. Ich werde diesen Augenblick, als sie mich zum ersten Mal ansah, nie vergessen. Ihre Augen, ihr Lächeln.«
»Verzeih, Sebastian, ich wollte dich mit meiner Bitte, mir von ihr zu erzählen, nicht quälen.« Anna sah die Tränen in seinen Augen, und es tat ihr weh, ihn so leiden zu sehen.
»Du musst dich nicht entschuldigen, es tut mir gut, von ihr zu sprechen«, sagte er und wischte die Tränen mit dem Handrücken weg.
»Wie bist du eigentlich darauf gekommen, in Kanada zu studieren?«, lenkte Anna ihn auf ein anderes Thema, um ihm Zeit zu geben, sich wieder zu fangen.
»Mit sechzehn war ich während eines Schüleraustausches ein paar Wochen in Toronto. Sean, dessen Familie mich aufgenommen hatte, und ich wurden gute Freunde. Da er auch Medizin studieren wollte und ich Kanada aufregend fand, beschlossen wir, unser Studium gemeinsam durchzuziehen. Tut mir leid«, sagte er leise, als er erneut von seiner Erinnerung an Helene überwältigt wurde.
»Alles erscheint dort schöner als hier, alles sieht neu aus, und lieblich sind die Gewässer und Früchte und alles andere«, wiederholte Anna die Worte, die sie vor kurzem in einem Buch über die Weisheiten der Indianer gelesen hatte.
»So beschreiben die Lenape Indianer das Jenseits.«
»Eine tröstliche Vorstellung«, sagte Anna und ließ sich vom Farbenspiel des Sonnenuntergangs gefangen nehmen.
Die Berggipfel waren glühend rot, und der Himmel bot ein Potpourri aus lila und roten Farbtönen, die sich im See wiederspiegelten. Wenig später brach die Nacht herein, und als die Sterne aufgingen, zog sich die Milchstraße wie ein nebliger Bogen über das Tal.
»Du weißt, warum wir diesen See den Sternwolkensee nennen?«, fragte Sebastian, der sich wieder im Griff hatte.
»Ja, ich kenne die Geschichte. Als die ersten Siedler in einer sternklaren Sommernacht dieses Tal erreichten, spiegelte sich die Milchstraße wie eine Wolke im See, deshalb nannten sie ihn den Sternwolkensee.«
»Es wäre schön, wenn wir uns hin und wieder an diesem Ort treffen könnten.«
»Um den Sonnenuntergang zu betrachten?«
»Ja, auch. Ich bin gern mit dir zusammen, Anna«, sagte er und umfasste ihre Hand.
»Ich bin auch gern mit dir zusammen.«
»Ich brauche nur einfach noch ein bisschen Zeit.«
»Ja, ich weiß«, antwortete sie leise, als er ihre Hand wieder losließ.
Sie blieben noch eine ganze Weile am See, und Anna hörte Sebastian fasziniert zu, als er von seiner Zeit in der Landarztpraxis in Kanada erzählte, wenn es im Winter nicht hell wurde und sie in der Dunkelheit mit Schneefahrzeugen durch die Wälder zu ihren Patienten vordringen mussten.
Gegen Mitternacht begleitete er sie nach Hause, und sie verabschiedeten sich vor der Apotheke voneinander. Eine kurze freundschaftliche Umarmung, dann war Sebastian fort.
*
Miriam stand auf ihrer Dachterrasse. Sie bewohnte das obere Stockwerk der Familienvilla gegenüber des Sägewerks. Ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass Sebastian und Anna von ihrem Spaziergang zurückkamen.
»Du wirst ihn niemals bekommen, Anna Bergmann, keine außer mir wird ihn bekommen«, flüsterte sie.
*
Anna liebte ihre Arbeit und sie war immer mit ganzem Herzen dabei, aber am nächsten Tag drängte sie die Frauen, die sich zweimal in der Woche zur Schwangerschaftsgymnastik bei ihr trafen, am Ende der Stunde ein wenig zur Eile. Sie öffnete die Fenster, sammelte die blauen Matten ein und legte sie in die Kammer neben dem hellen großen Raum. Danach bezog sie die Kissen neu, die sie für die Kursusteilnehmerinnen bereithielt, stapelte sie in einem Regal und saugte den Parkettboden. Als sie fertig war, verschloss sie die Fenster und ging hinauf in ihre Wohnung.
Sebastian wollte sie nach seiner Sprechstunde abholen. Sabine war am Nachmittag nach Hause gekommen, und sie wollten nach ihr sehen. Sie hatte inzwischen die Gutscheine in der Drogerie gekauft, die sie und Sebastian ihrem Patenkind schenken wollten. Zusammen mit einem Schlafsack und einem Mobile hatte sie sie in einen hellblauen Karton mit rosa Schleife verpackt.
Miriam, die zur selben Zeit in der Drogerie war und nicht wusste, was sie für den kleinen Bastian aussuchen sollte, hatte sie zu einem Strampelanzug und einem Jäckchen geraten.
»Wann fährst du zum Mittnerhof?«, hatte Miriam gefragt, und als Anna sie wissen ließ, dass sie ihr Patenkind gemeinsam mit Sebastian besuchen würde, hatte sie freundlich genickt.
Anna war zuversichtlich, dass Miriam sich allmählich damit abfand, dass es keine Neuauflage ihrer Beziehung zu Sebastian geben würde. Sie band ihr Haar zu einem festen Zopf und zog ihre helle Leinenhose und einen leichten Pulli an. Das sollte bequem genug sein, wenn sie sich um Mutter und Kind kümmern wollte.
Sebastian war pünktlich, und obwohl sie ihn erwartet hatte, schlug ihr Herz ein bisschen schneller, als sie ihn sah.
»Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag«, sagte er und hielt ihr die Wagentür auf.
»Ich beschäftige mich mit dem werdenden Leben, was kann es Schöneres geben«, antwortete sie lächelnd und ignorierte den verräterischen Stich in der Magengrube, als sich ihre Blicke trafen. »Wollte Emilia nicht mit zum Hof kommen?«, erkundigte sie sich, um sich von ihren Gefühlen für Sebastian abzulenken.
»Sie ist schon dort«, antwortete er lächelnd.
*
Sabine saß im Wohnzimmer in dem großen alten Sessel, den sie vor einigen Monaten mit einem sonnengelben Baumwollstoff bezogen hatte und der nun ein wenig Farbe in das Zimmer brachte, das noch immer von den dunklen Möbeln beherrscht wurde, die einmal Antons Großeltern gehörten.
Bastian lag in einem Weidenkorb, der auf dem Sofa stand. Die Zwillinge hielten sich an den Händen und betrachteten ihren Bruder, während Pia Sabine mit Tee versorgte.
»Es war eine wundervolle Idee, uns eine Oma zu bringen«, sagte Sabine und strahlte über das ganze Gesicht, als Anna und Sebastian hereinkamen.
»O ja, das war es.« Pia, die eine weiße Schürze über ihrem dunklen Kleid trug, schien ebenso zufrieden wie Sabine.
»Unsere Oma Pia kann so gut kochen«, sagte Benjamin und rieb sich sein Bäuchlein.
»Und sie kann so schöne Gute-Nacht-Geschichten erzählen«, erklärte Senta.
»Ja, die besten«, stimmte Benjamin ihr zu. »Was ist denn das?« Er fasste mit beiden Händen auf den Geschenkkarton und sah Anna mit seinen großen blauen Augen an.
»Das ist für Bastian«, antwortete sie.
»Dürfen wir das Geschenk aufpacken?«, fragte Senta.
»Ich denke, das überlassen wir eurer Mama. Kommt, wir gehen noch ein bisschen nach draußen«, forderte Pia die Zwillinge auf, damit Sabine in Ruhe mit ihrem Besuch reden konnte.
»Gehen wir auf die Weide und gucken, was Papa macht?«, fragte Benjamin.
»Nein, wir gucken lieber, wo Emilia und Markus sind«, erklärte Senta.
»Kommt erst mal nach draußen. Wenn jemand etwas trinken möchte, Getränke stehen im Kühlschrank«, sagte Pia und huschte mit den Zwillingen aus dem Zimmer.
»Ist Emilia nicht hier?«, wollte Sebastian wissen.
»Sie sind mit dem Fahrrad unterwegs, aber keine Sorge, Markus kennt jeden Winkel in diesem Tal, sie werden nicht vom Weg abkommen«, versicherte Sabine ihm.
»Das hoffe ich.«
»Auf Markus ist Verlass. In diesem Alter kannst du nicht mehr von ihnen verlangen, dass sie brav im Hof spielen.«
»Ja, ich weiß«, seufzte Sebastian. »Aber jetzt sag, wie geht es dir?«, wandte er sich an Sabine.
»Ich fühle mich gut, auch dank Pias Hilfe. Ich muss mir nicht mehr so viel Sorgen um die Kinder machen, weil sie sich rührend um sie kümmert.«
»Dann ist Anton inzwischen von diesem Arrangement überzeugt?«
»Es fällt ihm schwer, es zuzugeben, aber er ist unheimlich erleichtert, dass wir nicht mehr allein sind. Er hat sich übrigens bereits zur Massage angemeldet«, verkündete Sabine.
»Das höre ich gern«, sagte Sebastian und freute sich über die Wende zum Besseren, die sich auf dem Mittnerhof ankündigte.
»Ich danke euch für alles, was ihr für uns getan habt. Wir werden uns an alle Absprachen halten, die dein Vater für uns getroffen hat, versprochen.«
»Das weiß ich, Sabine«, versicherte ihr Sebastian.
»Mal sehen, was ihr uns da eingepackt habt«, sagte sie und strich ihr Haar aus dem Gesicht, bevor sie den Karton vom Tisch nahm, auf ihren Schoss stellte und öffnete. »Ihr seid verrückt.«
Verblüfft sah sie Anna und Sebastian an, die auf dem Sofa mit dem Babykorb in ihrer Mitte saßen.
»Nein, nicht verrückt, praktisch veranlagt«, antwortete Anna lachend.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ihr gebt uns so viel, und wir haben gar nichts zu geben.«
»Doch, haben wir«, sagte Anton, der zur Tür hereinkam, in seiner Arbeitshose, aber auf Socken, weil er die Gummistiefel vor der Haustür ausgezogen hatte. »Wir können den beiden gute Freunde sein, Freunde, auf die sie sich immer verlassen können.«
»Anton, das ist das Beste, was ich in den letzten Tagen von dir gehört habe.« Sebastian wusste, dass sein alter Schulfreund nun bereit war, Hilfe anzunehmen, von Pia, von ihnen und von allen, die aus freien Stücken etwas für ihn und seine Familie tun wollten.
»Ich denke, wir gehen dann wieder«, sagte Anna, als sie sah, dass Sabine hinter vorgehaltener Hand gähnte. Sie wollte ihr noch ein wenig Ruhe gönnen, solange Bastian friedlich schlief. »Ich sehe dann morgen wieder nach dir, aber ich glaube, ich kann nicht viel für dich tun. Pia versorgt euch bestens.«
»Wir sehen wieder Land, dank euch«, entgegnete Anton und küsste Sabine zärtlich auf die Stirn.
»Bleib nur.« Sebastian winkte ab, als Anton sie zur Tür begleiten wollte.
»Gut, dann auf bald.«
»Auf bald«, verabschiedeten sich Anna und Sebastian.
»Der nächste Besuch«, stellte Anna fest, als Miriam am Steuer ihres Sportwagens mit offenem Verdeck in den Hof fuhr.
»Hallo, ihr beiden, wie geht es der jungen Mutter?«, fragte sie, nachdem sie ausgestiegen war und mit der einen Hand den Rock ihres schwarzen Minikleides glattstrich, während sie mit der anderen einen roten Karton balancierte.
»Ein bisschen übertrieben für das, was du heute Morgen in der Drogerie gekauft hast«, wunderte sich Anna über die Größe der Verpackung.
»Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten dazu gepackt«, erklärte sie und warf ihre blonden Locken zurück. »Könnte mir mal jemand die Tür aufhalten?«, fragte sie und sah Sebastian an.
»Bitte sehr.« Er öffnete ihr die Tür, ohne ihrem Blick auszuweichen.
»Danke, einen schönen Abend für euch.«
»Ja, den wünschen wir dir auch«, erwiderte Sebastian freundlich und schloss die Tür, nachdem sie ins Haus gegangen war. »Wir müssen unbedingt darüber sprechen, dass so etwas wie mit Sabine nicht noch einmal passiert. Ein Notfallkaiserschnitt sollte die absolute Ausnahme bleiben«, wandte er sich an Anna.
»Die Querlage des Kindes hätte in einer Katastrophe enden können, ich weiß«, seufzte Anna.
»Heute Abend im Biergarten?«
»Ich muss noch einen Hausbesuch machen. So gegen acht?«
»Ich werde ein paar Minuten früher da sein, damit wir noch einen Platz bekommen.«
»Hallo, Papa!« Emilia brauste gefolgt von Markus auf ihrem Fahrrad in den Hof.
»Hallo, Schatz, du weißt, ich bin nicht begeistert, wenn du allein mit dem Fahrrad hier draußen herumfährst. Es gibt hier einige Moore. Nur den Weg bis zum Hof, nicht weiter, das hatten wir ausgemacht.«
»Ich habe sie keine Sekunde aus den Augen gelassen«, sagte Markus, der mit einer geschickten Bremsung vor Sebastian zum Stehen kam. »Doktor Seefeld, ich verspreche Ihnen, ich werde immer gut auf Emilia aufpassen.«
»Ich kann allein auf mich aufpassen!«, rief Emilia.
»Mag sein, aber du solltest die Gegend erst richtig kennen lernen.«
»Markus kann mir die Gegend zeigen.«
»Ja, ich denke, das kann er.« Sebastian klopfte Markus freundlich auf die Schulter. Er war froh, dass Emilia endlich einen gleichaltrigen Freund gefunden hatte, auch wenn das für ihn bedeutete, sie wieder ein bisschen mehr loszulassen.
»Es hat sich etwas verändert«, raunte Anna ihm zu und schaute auf die weiße Caprihose und das türkisfarbene T-Shirt, das Emilia trug.
»Ich weiß.« Das war wohl noch eine Veränderung, die Emilias Bekanntschaft mit Markus ausgelöst hatte.
*
»Was machst du da?« Anton kam aus dem Wohnzimmer und sah Miriam an, die in der Diele an der Haustür lehnte.
»Mir war kurz schwindlig«, log sie und stützte sich an der Kommode neben der Tür ab.
In Wirklichkeit hätte sie die Welt vor Glück umarmen können. Ein Notfallkaiserschnitt, der beinahe in einer Katastrophe geendet hätte, das war genau das, was sie hatte hören wollen. Es gab wohl keinen Zweifel mehr daran, dass Anna leichtfertig gehandelt hatte, dass sie vielleicht gar nicht in der Lage war, eine drohende Gefahr zu erkennen. Sebastian mochte durch seine Schweigepflicht gebunden sein, den Vorfall für sich zu behalten. Sie war es nicht.
»Möchtest du ein Glas Wasser?«, erkundigte sich Anton.
»Danke, nein, ich wollte nur etwas abgeben, ich bin auch schon wieder fort.« Sie drückte Anton den Karton in die Hand und eilte aus dem Haus.
Sebastian befestigte gerade Emilias Fahrrad in der Halterung an der Rückseite des Geländewagens, als sie die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie winkte ihm freundlich zu, als er sich noch einmal umdrehte, bevor er gleich darauf zu Emilia und Anna ins Auto stieg.
»Ade, Anna«, murmelte Miriam und lachte in sich hinein.
»Das ist ein Feldweg, keine Rennstrecke!«, rief Markus Miriam nach, die kurz nachdem Sebastian den Hof verlassen hatte, in ihren Wagen stieg und das Gaspedal so hart durchtrat, dass sie erst einmal ein paar Meter über den Sandweg schlitterte, bevor sie das Auto wieder abfing.
»Rücksichtsloses Frauenzimmer«, murmelte Pia, die mit den Zwillingen bei den Ziegen gewesen war, die hinter dem Haus auf der Wiese grasten.
*
»Harald, in zehn Minuten bei mir!«, rief Miriam in die Freisprechanlage ihres Telefons, das in einer Halterung am Armaturenbrett des Sportwagens steckte.
»Was ist los?«
»In zehn Minuten«, wiederholte Miriam und beendete das Gespräch.
*
Der Biergarten der Brauerei war wie jeden Abend gut besucht. Die Tische und Bänke standen im Hof des roten Backsteingebäudes direkt neben dem Bach, in dem sich schon so mancher nach einem langen Abend abgekühlt hatte.
Kurz vor sieben betrat Miriam den Biergarten. Sie trug ein cremefarbenes Dirndl mit rotem Schürzchen, ein rotes Samtband um den zarten Hals, und sie hatte ihr Haar zu einem Kranz geflochten, den sie am Hinterkopf festgesteckt hatte. Für das, was sie jetzt vorhatte, war sie perfekt zurechtgemacht. Sie steuerte auch gleich auf den Tisch des Landfrauenvereins zu, der an lauen Sommerabenden immer gut besucht wurde. Die Damen hielten sich gern über die Geschehnisse im Dorf auf dem Laufenden. An diesem Abend saßen aber erst zwei der Damen am Tisch, aber es waren genau die richtigen.
»Therese, meine Liebe, wie schön, dich zu sehen«, begrüßte Miriam die Vorsitzende des Landfrauenvereins, eine staatliche Frau um die fünfzig, die in ihrem dunkelblauen Dirndl und mit dem früh ergrauten Haar erschreckend streng aussah. »Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte sie.
»Freilich, setz dich her«, forderte Elvira Draxler, die Therese gegenüber saß, sie auf.
»Schönes Dirndl, es passt zu dir«, sagte Miriam und schaute auf das graue Dirndl, das Elvira, die größte Tratsche im Dorf, trug. In Wirklichkeit stand ihr das Kleid überhaupt nicht, weil es ihre blasse Haut und ihr aschblondes Haar noch mehr unterstrich. Unscheinbar und blass, letztendlich passt dann doch alles zusammen, dachte Miriam.
»Danke«, erwiderte Elvira lächelnd, weil sie Miriams Kompliment ernst nahm.
»Ein kleines Weißes, bitte!«, rief Miriam der Kellnerin in dem grünen Dirndl zu, die genau wir ihre beiden Kolleginnen mehrere Maßkrüge auf einmal an die Tische schleppte. »Ich war vorhin übrigens auf dem Mittnerhof«, sagte sie und legte eine Kunstpause ein, während sie zuerst Therese und danach Elvira ansah.
»Wie geht es Sabine?«, erkundigte sich Therese.
»Den Umständen entsprechend.«
»Du weißt, warum der Rettungshubschrauber kommen musste?«
»Ihr wisst es nicht?«
»Nein, woher denn? Anton hat nur vor sich her gebrummt, wenn jemand ihn darauf angesprochen hat.«
»Es muss aber unter uns bleiben.«
»Selbstverständlich«, beteuerte Elvira mit glänzenden Augen, und sie und Therese rückten ganz dicht an Miriam heran.
»Ich sage nur Querlage.«
»Eine Querlage? Das kündigt sich doch vorher an. Sie hätte Sabine rechtzeitig ins Krankenhaus überweisen müssen«, stellte Therese entrüstet fest.
»Eben, stattdessen endete das Ganze in einem Notfallkaiserschnitt. Ohne Sebastians Eingreifen hätten Sabine und das Kind…«
»… es nicht überlebt«, vollendete Elvira den Satz, als Miriam innehielt, so als wagte sie es nicht, das Schreckliche auszusprechen.
»Sebastian befürchtet, dass sich solche Dinge wiederholen.«
»Er muss dieser Dame das Handwerk legen«, erklärte Elvira.
»Er wird es versuchen, aber er muss sich auch an die ärztliche Schweigepflicht halten.«
»Die Bergmann hat Leben gefährdet, da muss es Möglichkeiten geben, die Schweigepflicht aufzuheben.«
»Du hast recht, Therese, aber sie könnte den Fall auf andere Weise darstellen als Sebastian.«
»Dann muss Sabine gegen sie aussagen.«
»Sabine ist noch zu geschwächt, um über so etwas nachzudenken, und Anton ist erst einmal froh, dass beide überlebt haben. Außerdem…«
»Was?«, hakte Elvira nach.
»Anna Bergmann ahnt natürlich, was auf sie zukommen könnte, deshalb versucht sie, Sabine und Anton zu beschwichtigen. Sie besorgt ihnen Holz für die anstehenden Reparaturen auf dem Mittnerhof, sie kauft stapelweise Gutscheine in der Drogerie, die sie Sabine überlässt, und wer weiß, was sie sich sonst noch so ausdenkt.«
»Ein raffiniertes Weib«, murmelte Elvira.
»Richtig, deshalb müssen wir aufpassen, dass sie Sebastian nicht mit in den Sumpf zieht«, seufzte Miriam und spielte die Besorgte. »Vielleicht können wir das aber gar nicht mehr verhindern«, fügte sie nachdenklich hinzu und senkte den Blick.
»Wie meinst du das?«, fragte Therese.
»Ich befürchte, sie stellt ihm nach, um ihn auf gewisse Weise gütig zu stimmen. Wenn ihr versteht, was ich meine?«
»Sie schreckt wohl vor gar nichts zurück.« Elvira schüttelte fassungslos den Kopf. »Ach, Gott«, seufzte sie und betrachtete Sebastian, der gerade den Biergarten betrat, mit sehnsuchtsvollem Blick.
Und sie war nicht die einzige, die in diesem Moment nur Augen für den Mann in der dunklen Jeans und dem weißen figurbetonten Hemd hatte, der einmal mehr den Atem der weiblichen Gäste im Biergarten ins Stocken brachte.
Mit einer schnellen Bewegung strich er sein dunkles Haar aus dem Gesicht, als er sich nach freien Plätzen umschaute. Einige Damen, die dabei einen Blick auf seine hellen grauen Augen werfen konnten, starrten ihn hemmungslos an.
»Hallo, Sebastian, was für ein netter Zufall.« Miriam war ihm entgegengegangen, küsste ihn auf beide Wangen und erntete damit neidvolle Blicke.
»Hallo, Miriam«, antwortete er höflich.
»Bist du mit jemandem verabredet?«
»Ja, das bin ich, entschuldige mich«, sagte er, als er an einem Tisch mit Urlaubern noch freie Plätze entdeckte.
»Weißt du was, ich leiste dir ein bisschen Gesellschaft«, erklärte sie, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte.
»Hörst du nicht zu? Ich bin verabredet.« Sebastian schaute auf den Bach, der hier in einem schmalen Bett durch das Dorf floss und von dem ihn nur ein grasbewachsener Abhang trennte. Wie klar das Wasser ist, dachte er.
»Sebastian, ich brauche deine Hilfe«, stöhnte Miriam, nachdem ihr Handy gesurrt hatte und sie die SMS gelesen hatte, die Harald ihr geschickt hatte:
»Anna ist unterwegs.«
»Was ist los?«, fragte Sebastian und wandte sich ihr zu.
»Mir ist nicht gut, der Kreislauf, weißt du. Sei bitte so nett und bringe mich nach Hause, ehe es schlimmer wird. Du bist doch gleich wieder zurück, deine Verabredung wird dir schon nicht davonlaufen«, sagte sie, als Sebastian auf seine Armbanduhr sah. »Hilf mir ein bisschen, ich möchte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen«, bat sie ihn leise, als die Urlauber an ihrem Tisch, zwei ältere Ehepaare, aufschauten.
»Gut, dann komm.« Sebastian war sich nicht sicher, ob sie ihm etwas vorspielte oder ob sie sich tatsächlich nicht wohlfühlte, aber das konnte er auf die Schnelle auch nicht herausfinden, was bedeutete, dass er sich wohl erst einmal um sie kümmern musste.
»Alles in Ordnung, einen schönen Abend noch für Sie«, verabschiedete sich Miriam mit einem gequälten Lächeln von den Leuten an ihrem Tisch, als Sebastian seinen Arm vorsichtig um ihre Taille legte.
»So jung möchte ich auch noch einmal sein«, seufzte die eine der Frauen, eine kleine pummelige Blondine.
»Und so verliebt«, fügte die schlanke Dunkelhaarige hinzu und sah den beiden nach, während ihre Männer, zwei staatliche Herren in hellen Sommeranzügen, sich auffällig räusperten, um wieder auf sich aufmerksam zu machen.
»Geht es?«, erkundigte sich Sebastian, während er Miriam festhielt, die ihren Arm um seinen Nacken gelegt hatte.
»Ich schaffe das«, antwortete sie und spielte die Tapfere. Der Rest würde sich von selbst ergeben. Die Sache, die sie angezettelt hatte, würde ihren Gang nehmen.
*
Anna kam die abschüssige Straße von der Apotheke herunter, als Sebastian und Miriam den Biergarten eng umschlungen verließen und in Sebastians Wagen stiegen, der auf der Straße parkte. Es geht mich nichts an, dachte sie, und doch tat es ihr weh, ihn so mit Miriam zu sehen. Sie schaute auf die Uhr, es war zehn vor acht. Bisher hatte er ihr nicht abgesagt, vielleicht kam er ja gleich zurück.
»Alles klar?«, fragte Harald, der im Schatten einer Kastanie nicht weit vom Biergarten entfernt auf Anna gewartet hatte.
»Bitte?« Anna fuhr erschrocken herum und sah den blassen rothaarigen Mann überrascht an.
»Sie wirkten gerade etwas abwesend, ich wollte mich nur davon überzeugen, dass es Ihnen gut geht.«
»Danke, es geht mir gut.«
»Der armen Miriam leider nicht, sie fühlte sich nicht ganz wohl«, sagte er, nachdem der Geländewagen mit Sebastian am Steuer in eine Seitenstraße eingebogen war.
»Das tut mir leid. Einen schönen Abend noch, Herr Baumann«, sagte Anna und ging weiter. Offensichtlich war es so, wie sie es sich gedacht hatte. Sebastian brachte Miriam nur nach Hause.
»Sie sind mit Doktor Seefeld verabredet?«, fragte Harald, der plötzlich wieder neben ihr stand, nachdem sie den Biergarten betreten hatte.
»Warum?«
»Ich meine nur, wenn es so ist, dann würde ich nicht auf ihn warten«, sagte er und ließ seinen Blick über das türkisfarbene ärmellose Kleid gleiten, das Anna trug.
»Wieso nicht?«
»Wissen Sie, es gibt Menschen, die reagieren aufeinander. Sie sind wie Magneten, die sich gegenseitig anziehen, selbst, wenn sie es nicht wollen. Aber irgendwann reicht die Kraft eben nicht mehr aus, um sich dagegen zu wehren.«
»Sie sprechen von Sebastian und Miriam?«
»Ich dachte, Sie sollten es wissen. Aber jetzt, da Sie schon einmal hier sind, könnten wir beide doch etwas zusammen trinken«, schlug er ihr mit einschmeichelnder Stimme vor und schaute auf ihr dichtes seidiges Haar, das ihr in sanften Locken über die Schultern fiel.
»Moment.« Anna nahm ihr Telefon aus der Handtasche, als es läutete. Es war Sebastians Handynummer, die auf dem Display aufleuchtete. »Ja?«, meldete sie sich leise und wandte Harald den Rücken zu.
»Anna, es tut mir leid, wir müssen unser Treffen verschieben, ich muss mich noch um eine Patientin kümmern«, sagte Sebastian.
»Kein Problem.«
»Ich melde mich wieder.«
»Ja, in Ordnung, bis dann.«
»Schlechte Nachrichten?«, erkundigte sich Harald.
»Nein, es ist alles gut.« Was haben die denn?, dachte Anna, als sie aufschaute und die Damen des Landfrauenvereins, die sich inzwischen vollständig an ihrem Tisch eingefunden hatten, sie mit versteinerten Mienen anstarrten. »Guten Abend!«, rief Anna und winkte ihnen freundlich zu.
»Manchmal sind die Leute hier bei uns ein wenig eigenartig«, sagte Harald, als die Frauen nur kurz nickten und sich von Anna abwandten. »Was ist nun mit einem Feierabendbier?«
»Danke, Herr Baumann, aber ich muss wieder los«, verabschiedete sie sich und verließ den Biergarten. Wie es aussah, konnte sich Sebastian an diesem Abend nicht mehr von Miriam losreißen. Das musste sie akzeptieren, aber ihr war jetzt nicht mehr nach Gesellschaft. Sie wollte allein sein.
*
»Darf ich mich dazu setzen?«, fragte Harald und schaute Therese an.
»Nur zu, junger Mann«, forderte ihn eine dralle Mittfünfzigerin im roten Dirndl auf.
»Wissen Sie, manchmal sind mir Miriams Vorahnungen direkt unheimlich«, erzählte er, nachdem er sich zwischen die Frau in dem roten Dirndl und Elvira gesetzt hatte.
»Was genau meinen Sie?«, erkundigte sich Elvira mit gierigem Blick.
»Ich habe doch gerade mit Frau Bergmann gesprochen.«
»Und?« Elvira konnte kaum noch an sich halten.
»Nun, Miriam hat vorausgesagt, dass sie versuchen wird, sich an Doktor Seefeld heranzumachen. Und was soll ich sagen, sie ist bereits auf der Suche nach ihm. So wie sie sich zurechtgemacht hat, dieses schulterfreie Kleid, das offene Haar, da weiß man doch gleich, wo es hingehen sollte.«
»Und ob«, stimmte Elvira ihm zu.
»Genug jetzt, jeder im Dorf muss erfahren, dass auf diese Frau kein Verlass ist, dann werden wir sehen, was passiert«, erklärte Therese. »Wer ist bereit, sich um diese Aufklärung zu bemühen?«, fragte sie in die Runde.
»Wir alle, das ist doch selbstverständlich«, antwortete die Frau im roten Dirndl, und die anderen stimmten ihr sofort zu.
*
Anna hatte nicht gut geschlafen. Sie hatte von Sebastian geträumt, obwohl sie das gar nicht wollte. Irgendwie musste sie lernen, mit ihren Gefühlen für ihn umzugehen, ohne dass sie darunter litt.
Wirklich zu lieben bedeutet, bedingungslos zu lieben, sonst ist es keine Liebe, hatte ihre Mutter ihr erklärt, als sie dreizehn war und zum ersten Mal Liebeskummer hatte. Es hatte ihr geholfen, diese Liebe, die nur eine Schwärmerei war, schnell zu überwinden. Vielleicht war das, was sie für Sebastian empfand, ja auch nur eine Schwärmerei, die bald vorüberging. Ja, vermutlich ist es so, redete sie sich ein, schob die Gedanken an ihn zur Seite und bereitete sich auf ihren Besuch auf dem Mittnerhof vor, den sie an diesem Vormittag geplant hatte.
Es war ihr eine große Freude, als sie dort feststellte, dass Pia Mechler alles im Griff hatte. So zufrieden hatte sie Pia schon lange nicht mehr gesehen, und auch Sabine, Anton und die Kinder waren mit ihrer Oma ganz offensichtlich glücklich. Pia hatte Anton sogar dazu überreden können, in seinen Hof investieren zu dürfen, weil sie der Meinung war, dass ihr Erspartes dort besser angelegt sei als auf der Bank.
Nach ihrem Besuch bei den Mittners stellte sich Anna unter die Dusche, zog das hübsche Sommerkleid mit den gelben und weißen Punkten an und verließ mit ihrem Einkaufskorb das Haus, um einige Besorgungen zu machen. Aber wo sie auch hinging, überall hatte sie das Gefühl, dass die Leute hinter ihrem Rücken über sie sprachen. Zuerst fiel es ihr in der Bäckerei auf.
Therese, die Vorsitzende des Landfrauenvereins, und einige Kundinnen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, als sie hereinkam, hielten dann inne und setzten ihre Unterhaltung, nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatten, vor dem Bäckerladen fort. Auch in der Drogerie und im Lebensmittelladen am Marktplatz hatte Anna den Eindruck, dass irgendetwas im Gange war, worüber man mit ihr aber nicht sprechen wollte.
Kaum war sie wieder zu Hause, läutete das Telefon. Es folgte Anruf auf Anruf, bis alle Frauen, die an ihren Kursen teilnahmen, mit fadenscheinigen Ausreden die nächste Stunde abgesagt hatten.
»Was ist hier los?«, sagte sie laut, um sich Luft zu machen.
Sie zuckte zusammen, als es wenig später an der Haustür klingelte. Zu ihrer Verblüffung war es Emilia, die sie besuchen wollte.
»Du siehst wundervoll aus«, stellte sie mit ehrlicher Bewunderung fest, als das Mädchen gleich darauf die Treppe heraufkam.
Emilia trug ein knielanges Sommerkleid in den Farben des Regenbogens, dazu rote Ballerinas, und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Opa ist schon in Panik, dass ich mich plötzlich als modebewusstes Mädchen zu erkennen gebe. Er befürchtet, dass ich demnächst wilde Partys in unserem Haus veranstalte, um ein bisschen anzugeben«, erklärte sie lachend.
»Was führt dich zu mir, Emilia?«, fragte Anna, während sie ihr die Tür aufhielt.
»Ich war gerade in der Drogerie und habe mir eine Sonnencreme gekauft.«
»Und?«, hakte Anna nach, als Emilia sich in der Küche auf einen Stuhl fallen ließ und nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Tischplatte fuhr.
»Die strenge Therese, die vom Landfrauenverein, war dort. Sie hat an der Kasse gestanden und behauptet, dass du Sabine und ihr Kind in Lebensgefahr gebracht hast. Und alle, die dort waren, haben ihr andächtig zugehört. Dann hat sie mich gefragt, ob ich mehr darüber weiß.«
»Du hast doch nichts dazu gesagt?«
»Doch, habe ich.«
»Und was?«
»Dass es besser ist, sich über einen Sachverhalt erst einmal schlau zu machen, bevor man Gerüchte in die Welt setzt. Das hat sie aber nicht interessiert. Sie hat immer weiter gegen dich gehetzt und von Querlage und Notfallkaiserschnitt geplappert. Und unten vor der Apotheke steht diese biestige Elvira und redet denselben Unsinn.«
»Jetzt weiß ich wenigstens, was los ist. Danke, Emilia«, sagte Anna und erzählte dem Mädchen von den Tuscheleien, die ihr nicht entgangen waren.
»Woher wissen die, was auf dem Mittnerhof los war?«
»Ich denke, von Miriam. Wir haben sie doch gestern auf dem Hof getroffen. Sie muss zugehört haben, als Sebastian und ich darüber sprachen, dass solch ein Notfall in Zukunft verhindert werden muss.«
»Offensichtlich hat sie ein Gespür dafür, in dem für sie richtigen Moment aufzutauchen. Aber wie auch immer, du musst die Sache aufklären, Anna.«
»Wie? Ich kann die Mittners doch nicht bloßstellen.«
»Diese dumme Schweigepflicht, ich weiß.«
»Sie hat schon ihre Berechtigung, Emilia.«
»Aber nicht in diesem Fall.«
»Doch, auch in diesem Fall. Es ist die Entscheidung der Mittners, was sie von sich preisgeben.«
»Was wäre die Konsequenz?«
»Eine Freundin von mir hat vor kurzem eine Hebammenpraxis in München eröffnet, vielleicht kann sie mich dort gebrauchen.«
»Du denkst ans Fortgehen?«
»Wenn mir hier niemand mehr vertraut, habe ich keine Wahl.«
»Du vielleicht nicht, aber andere schon.«
»Wo willst du hin?!«, rief Anna dem Mädchen nach, das aufsprang und aus der Wohnung stürmte.
*
Sabine war auf dem Rasen hinter dem Haus und hängte Wäsche auf, als Emilia den Mittnerhof erreichte.
»Hey, Emilia, waren wir verabredet?«, fragte Markus, der in Jeans und weiß-blau kariertem Hemd auf dem Scheunendach stand und mit dem Holz, das sie noch besaßen, das Dach ausbesserte.
»Ich muss etwas klären«, antwortete Emilia und strich ihren verschwitzten Pony aus der Stirn, während sie von ihrem Rad stieg.
»Was musst du klären?«, wollte Markus wissen, der die Leiter herunterstieg.
»Es geht deine Eltern an«, sagte Emilia und ging auf Sabine zu, die hinter den im Wind flatternden Bettlaken hervorschaute und ihr freundlich zunickte.
»Was ist los?«, fragte Sabine.
»Sie wollen, dass Anna das Dorf verlässt«, sagte Emilia und erzählte ihr und Markus, was passiert war.
»Die arme Anna«, seufzte Sabine.
»Wir sollten sofort ins Dorf fahren, um die Sache richtig zu stellen«, schlug Markus vor.
»Nein, Junge, wir müssen eine andere Lösung finden«, widersprach Anton, der in diesem Moment mit der Tasse Kaffee am Küchenfenster stand, die er sich wie immer am Nachmittag zu Hause gönnte.
»Welche Lösung soll das sein, Papa?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Wie wäre es einfach mit der Wahrheit?«
»Nein«, sagte Anton und schüttelte den Kopf. »Wir werden uns eine andere Geschichte ausdenken, irgendetwas wird uns schon einfallen. Ich werde uns aber auf keinen Fall dem Gespött der Leute aussetzen.«
»Das heißt, du willst Anna opfern, damit du den Schein bewahrst? Gute Idee, Papa.«
»Ich will Anna helfen, das ist doch nicht die Frage.«
»Dann warte nicht, tu etwas.« Markus‘ sonst so fröhliche Miene verfinsterte sich, und seine hellen Augen erschienen auf einmal ganz dunkel.
»Er schämt sich, lass ihn«, versuchte Emilia, den Jungen zu beruhigen. »Vielleicht hat ja mein Vater eine Idee, was wir tun könnten.«
»Gut, fahren wir zu ihm«, antwortete er und wandte sich von Anton ab.
»Wo wollen die beiden denn hin?«, fragte Pia, die mit Bastian im Kinderwagen und den Zwillingen von einem Spaziergang zurückkam, als Emilia und Markus auf ihren Fahrrädern eilig davonradelten.
»Die Welt retten«, murmelte Anton.
»Nein, sie wollen Anna retten, und wir sollten sie dabei unterstützen«, sagte Sabine. »Anton, bitte!«, rief sie ihm nach, als er sich auf seinen Traktor setzte und davon ratterte.
*
»Ist noch jemand bei ihm?«, erkundigte sich Emilia bei Gerti, als sie und Markus die Praxis betraten.
»Nein, der letzte Patient ist soeben gegangen.«
»Danke.« Ohne weiter auf Gerti zu achten, stürmten die beiden in Sebastians Sprechzimmer.
»Mei, was ist denn jetzt los?«, murmelte Gerti und sah ihnen kopfschüttelnd nach.
»Ist etwas passiert?« Sebastian wollte gerade gehen und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, als Emilia und Markus das Zimmer betraten.
»Ja, es ist etwas passiert, und du musst dir etwas einfallen lassen, um es zu regeln, Papa.«
»Was soll ich regeln?«, wollte Sebastian wissen und setzte sich auf die Schreibtischkante, während er Emilia zuhörte. »Diese Hetzkampagne geht also von den Landfrauen aus«, stellte er nachdenklich fest, nachdem Emilia ihm alles erzählt hatte.
»Sie verbreiten den Unsinn, aber Anna und ich denken, dass Miriam dafür verantwortlich ist.«
»Damit habt ihr vermutlich recht. Als ich gestern im Biergarten war, um mich mit Anna zu treffen, saß Miriam mit den Landfrauen zusammen.«
»Wie war eigentlich dein Abend mit Anna? Ich habe sie gar nicht danach gefragt.«
»Ich habe sie nicht getroffen. Miriam war plötzlich nicht gut, und sie bat mich, sie nach Hause zu bringen.«
»Warum bist du nicht wieder zurück in den Biergarten?«
»Weil es Miriam mal besser und dann wieder schlechter ging.«
»Dass sie dir nur etwas vorgespielt hat, darauf bist du wohl nicht gekommen.«
»Irgendwann schon, ich schlug ihr dann vor, sie ins Krankenhaus zu bringen.«
»Danach setzte die Wunderheilung ein, richtig?«
»Ich weiß, ich habe mich zu lange hinhalten lassen.«
»Du darfst Miriam nicht trauen, Papa, wie oft soll ich dir das noch sagen.«
»Erinnere mich ruhig immer wieder daran.«
»Ohne mich wärst du richtig aufgeschmissen, Papa«, erklärte Emilia lachend.
»Ich weiß, mein Schatz«, antwortete Sebastian und nahm seine Tochter liebevoll in den Arm.
»Was machen wir denn jetzt, um Anna zu helfen?«, fragte Markus, der sich erst einmal im Hintergrund gehalten hatte.
»Ich kann die Sache leider auch nicht einfach so aufklären«, sagte Sebastian.
»Okay, wenn keiner etwas tun kann, dann fahre ich jetzt ins Dorf und erzähle jedem, den ich treffe, die Wahrheit. Ich kann nicht glauben, dass hier niemand etwas für Anna tun will.«
»Bleib! Das heißt nicht, dass ich nichts unternehmen werde«, beruhigte Sebastian den Jungen, der schon davoneilen wollte. »Ich werde zuerst mit deinen Eltern reden, danach kommt Miriam dran«, sagte er und wählte die Nummer des Mittnerhofes.
»Mittner«, meldete sich Sabine.
»Sabine, was wollt ihr tun, um Anna zu helfen?«, fragte Sebastian sie ohne Umschweife.
»Anton ist noch unschlüssig.«
»Lass mich bitte mit ihm sprechen.«
»Er ist mit dem Traktor unterwegs.«
»Hat er ein Handy dabei?«
»Ja, aber meistens hört er es nicht, wenn er auf dem Traktor sitzt.«
»Wir werden es trotzdem versuchen. Rufe bitte deinen Vater an«, wandte er sich an Markus, nachdem er aufgelegt hatte.
»Tut mir leid, er geht nicht dran«, entschuldigte sich der Junge nach einigen vergeblichen Versuchen.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Sebastian, als Markus betroffen zu Boden schaute.
»Halt! Das geht nicht! Stehenbleiben!«, schallte Gertis Stimme durch die Praxis, als die Tür zum Sprechzimmer aufflog und Miriam mit wallenden blonden Locken und in einem engen roten Kleid hereinstürmte.
»Das ist schon in Ordnung, Gerti, ich wollte ohnehin mit ihr reden«, sagte Sebastian.
»Arrogante Schnepfe«, schimpfte Gerti, die ihr gefolgt war.
»Schon gut, Gerti, du kannst dann gehen.«
»Ich kann auch noch bleiben.«
»Danke, wir kommen zurecht«, verkündete Miriam und knallte Gerti die Tür vor der Nase zu. »Sieh an, du hast Besuch. Wie geht es denn deiner armen Mutter, Markus?«
»Es geht ihr gut, es gefällt ihr allerdings gar nicht, was du über Anna erzählst. Was denkst du eigentlich, warum meine Mutter wollte, dass Anna die Patenschaft von Bastian übernimmt?«
»Das war vermutlich voreilig, da sie noch nicht wusste, in welche Gefahr Anna Bergmann sie gebracht hatte.«
»Du hast doch keine Ahnung«, fuhr Markus sie wütend an.
»Würdet ihr uns bitte kurz allein lassen«, bat Sebastian die beiden Teenager, die Miriam kopfschüttelnd musterten.
»Du wirst ihn nie bekommen«, raunte Emilia Miriam im Vorbeigehen zu und verließ mit Markus das Zimmer.
Miriam reagierte nicht. Sich vor Sebastian mit seiner Tochter anzulegen, konnte nur von Nachteil sein, das war ihr bewusst.
»Was willst du eigentlich hier, Miriam?«, fragte Sebastian.
»Ich dachte, wir könnten zusammen essen gehen. Du wirst doch nicht jeden Tag Appetit auf Traudels Hausmannskost haben. In der Nachbargemeinde hat ein neuer Italiener eröffnet. Wir könnten ihn ausprobieren.«
»Nein.«
»Einfach nur nein?«, entgegnete sie verblüfft.
»Ich habe nicht vor, mit dir essen zu gehen oder sonst etwas zu unternehmen. Was sollte das Theater gestern Abend? Warum wolltest du mich unbedingt aus dem Biergarten locken?«
»Ich habe mich nicht gut gefühlt.«
»Miriam, hör auf.« Sebastian packte sie am Arm und hielt ihren Blick fest.
»Ich werde es nicht zulassen.«
»Was wirst du nicht zulassen?«
»Störe ich?«
»Anton.« Sebastian ließ Miriam los und wandte sich seinem alten Schulfreund zu, der ins Sprechzimmer kam.
»Ich gebe es auf, das Chaos ist nicht mehr zu beherrschen. Hier geht offensichtlich jeder ein und aus, wie es ihm gerade in den Sinn kommt«, stöhnte Gerti, die auch Anton nicht hatte aufhalten können.
»Miriam, wir haben etwas zu klären«, sagte Anton, der inzwischen eingesehen hatte, dass Emilia und Markus recht hatten. Es war Zeit für die Wahrheit, und so erzählte er Miriam, dass sie ihre Krankenversicherung verloren hatten und in den letzten Monaten nur noch Geld für das allernötigste ausgeben konnten.
»Aber du hast doch zu Anna Bergmann gesagt, dass du dafür sorgen willst, dass so etwas nicht mehr passiert, dass die nächste Katastrophe vermieden werden soll. Ich dachte, du beziehst das auf sie«, wandte sich Miriam an Sebastian.
»Eine Aussage ohne Hintergrundinformation ist nichts wert, Miriam, das solltest du wissen.«
»Deshalb sorgen wir beide nun für die richtige Hintergrundinformation. Darf ich bitten«, sagte Anton und hielt Miriam die Tür auf.
»Wohin willst du?«
»Das wirst du gleich sehen«, entgegnete Anton und drängte sie aus dem Sprechzimmer.
Danke, Anton, für deine Einsicht, dachte Sebastian erleichtert. Wenig später verließ dann auch er die Praxis.
»Was wird das denn?«, fragte er erstaunt, als er in den Hof kam und Miriam zu Anton auf den Traktor stieg, mit dem er direkt vom Feld gekommen war, als ihm klar geworden war, was er zu tun hatte.
»Papa meint, von dort oben kann sie ihre Sünden besser bekennen«, antwortete Markus amüsiert, der mit Emilia, Traudel und Gerti das Geschehen beobachtete.
»Harald wird ihn nachher abholen!«, rief Miriam. Sie deutete auf ihren Porsche, der im Hof stand, und warf Sebastian die Autoschlüssel zu.
»Kann ich ihn mal Probe fahren?«, fragte Markus.
»Untersteh dich, Junge«, antwortete Anton und schüttelte den Kopf, bevor er den Motor des Traktors anließ und losfuhr.
»Für mich wird es dann auch Zeit. Siggi wartet sicher schon auf mich«, verabschiedete sich Gerti, die mit ihrer Schwester Sieglinde, einer pensionierten Lehrerin, zusammen wohnte. Gleich darauf marschierte sie hinter dem Traktor zur Straße hinunter, während ihre Umhängetasche im Takt ihrer Schritte gegen ihre molligen Hüften schlug.
»Möchte jemand Brombeerkuchen?«, fragte Traudel.
»Ich.«
»Ich auch«, schloss sich Markus Emilia an.
»Was ist mit dir?«, wandte sich Traudel an Sebastian.
»Papa hat noch etwas zu erledigen. Anna wird gleich hier sein. Ich habe sie angerufen und ihr erzählt, was hier los ist. Ich wollte, dass sie Miriams Büßerfahrt nicht verpasst. Sorge bitte dafür, dass Anna in Bergmoosbach bleibt, Papa«, sagte Emilia, bevor sie Markus an die Hand nahm und mit ihm zur Terrasse lief.
»Bis gleich.« Traudel streichelte Sebastian sanft über den Arm, als sie sah, wie der Traktor unten an der Straße anhielt, weil Anna gerade das Grundstück der Seefelds erreichte.
»Tut mir leid, Anna!«, rief Miriam, nachdem Anton den Motor abgestellt hatte.
»Was tut dir leid?« Auch wenn Anna schon von Emilia wusste, dass Anton und Sebastian Miriam zur Rede gestellt hatten, sie wollte es gern von ihr selbst hören.
»Ich habe wohl etwas missverstanden, was Sabine und das Kind betrifft.«
»Das erklärt nicht, warum du das Dorf gegen mich aufhetzt.«
»Keine Sorge, Anna, Miriam wird alles richtigstellen«, versicherte ihr Anton.
»Danke.«
»Nein, ich habe dir zu danken, außerdem habe ich dir und Sebastian unsere Freundschaft versprochen, das werde ich auch nicht mehr vergessen«, entgegnete Anton und ließ den Motor wieder an.
»Emilia meinte, ich müsste mir ansehen, was hier los ist«, sagte Anna, als sie sich umwandte und Sebastian den Weg herunterkam.
»Hat es sich gelohnt?«, fragte er lächelnd.
»Unbedingt.«
»Dann wirst du in Bergmoosbach bleiben?«
»Wenn Miriam die Sache in Ordnung bringt, dann schon.«
»Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhat.«
»Sie will mich loswerden, und ich denke, sie wird es wieder versuchen. So wie sie jede andere Frau nicht in deiner Nähe dulden wird. Was auch immer sie als Nähe ansieht.«
»Ich kann es leider nicht ausschließen.«
»Egal, ich bin gewarnt.«
»Das bedeutet aber nicht, dass du mir in Zukunft aus dem Weg gehen willst, oder?«
»Sicherer wäre es für mich«, antwortete sie lächelnd.
»Traudel hat Brombeerkuchen gebacken, wie wäre es mit einem Stück?«
»Danke, das ist lieb von dir, aber ich habe gerade mit meiner Freundin in München telefoniert, wir wollen uns am Ammersee treffen. Ich will gleich aufbrechen und werde auch über Nacht dort bleiben.«
»Dann erwartest du in den nächsten Stunden keine Geburt?«
»Nein, aber im Notfall weiß ich Mutter und Kind in guten Händen. Auf bald, Sebastian, grüß deine Familie von mir«, verabschiedete sich Anna und lief zur Apotheke zurück.
Sie brauchte jetzt erst einmal ein bisschen Abstand von Bergmoosbach und von Sebastian.
»Hast du sie nicht zu uns eingeladen?«, fragte Emilia, als Sebastian auf die Terrasse kam und sie alle von Anna grüßte.
»Sie trifft sich mit einer Freundin am Ammersee.«
»Aber sie kommt zurück?«, fragte Traudel.
»Da bin ich sicher«, sagte Benedikt und betrachtete seinen Sohn mit einem liebevollen Blick.
»Ich denke, das Leben hier in Bergmoosbach könnte doch ganz amüsant werden«, stellte Emilia fest und hob Nolan auf ihren Schoss, während sie Markus mit einem lieben Lächeln betrachtete.
- E N D E -