Читать книгу Tatort Unterfranken - Tessa Korber, Bernd Flessner - Страница 7
ОглавлениеBad Kissingen
Killen McNeill: Kaiserkur
Elise ist eine Maus und hat sich oben im Schlagwerk einer Standuhr versteckt. Sie schläft und träumt, und im Traum sieht sie sich selbst zu, wie sie schläft. Sie liegt, eingekringelt wie eine kleine graue Breze, direkt auf der Oberfläche der Glocke, unter dem mächtigen Hammer, der gleich zur vollen Stunde schlagen wird. Wird sie rechtzeitig aufwachen, bevor er auf sie niederrast? Der Minutenzeiger steht zitternd bei einer Minute vor zwölf. Dann löst er sich und rastet genau oben in der Mitte des Ziffernblatts ein. Der Hammer springt aus der Halterung und saust nach unten. Mit einem Satz springt Elise von der Glocke …
Und wacht auf. Sie liegt auf dem Holzboden neben ihrem Bett. Schon wieder. Elise Sitzmann ist keine Maus, obwohl sie klein und unscheinbar ist; sie ist eine siebzehnjährige Dienstmagd im Hotel Karl von Hess in Kissingen. Den Traum hat sie jetzt zum dritten Mal gehabt, seitdem sie die echte Maus im Speisesaal gesehen hat. Dort steht auch die einzige Standuhr, die sie kennt.
Vor drei Tagen hatte Elise um sechs Uhr am Frühstücksbüfett im Speisesaal Dienst. Diese Zeit, bevor die Gäste nach der Morgenpromenade eintrafen, gefiel ihr am besten. Die paar Minuten Stille vor dem Sturm, in denen sie nach der Enge ihres Zimmers die Großzügigkeit des Raumes genießen konnte: die Kassettendecke und die vier funkelnden Kristallglasleuchten; die Wandtapisserien, Brokatvorhänge, Ölgemälde, Damasttischdecken; das Tafelsilber, den riesigen Spiegel und die gekreuzten Gewehre hinter dem Wildschweinkopf. Manchmal ließ sie sich sogar dazu verleiten, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie hier im Hotel Gast wäre. Ihr Mann würde ihr die Tür aufhalten, und sie würde, nach links und rechts nickend, im weiten Rock in den Raum hineingleiten.
Am Morgen vor drei Tagen also schaute sie hinaus auf die Promenade, wo Paare, Gesellschaften und Flaneure im fahlen Morgenlicht auf und ab gingen. Und da war er, der Mann ihrer Träume, der groß gewachsene Herr im Ausseer Hut mit dem kinnfreien Zwirbelbart, der sich wie der Buchstabe W um sein Gesicht hangelte.
Elise musste über sich selbst lachen. Dann hörte sie ein hohes Quietschen, als ob jemand mitlachen würde. Sie drehte sich um und sah die Maus. Diese lief ganz frech mitten durch den Saal, um die Standuhr herum, und verschwand dahinter. Elise schaute gleich nach dem Versteck; da war ein kleines Loch in der Sockelleiste ausgeknabbert. Schon hörte sie, wie hinter ihr die Pendeltür aufging. Die ersten Gäste betraten den Raum. Hastig drehte sie sich um, rammte den Absatz ihres rechten Lederschuhs gegen das Loch, blieb stehen und knickste, als die Gäste hereintraten.
Es waren natürlich die schöne Gräfin von Hohenembs und ihre Damen. Die Gräfin war immer als Erste auf und unterwegs, aber dass sie so früh auftraten, war an diesem Tag ein Unglück. Noch größer wäre natürlich das Unglück gewesen, wenn die Maus aus ihrem Loch entwischt und schnurstracks unter den weiten Röcken der feinen Damen verschwunden wäre.
Zum Glück stand auf der Anrichte gleich neben Elise die große Schüssel. Sie konnte den Gästen die Bouillon herausschöpfen, ohne ihren rechten Fuß von dem Loch wegzubewegen. Bouillon war die begehrteste Speise beim Frühstück. Die meisten Gäste hatten schon auf der Promenade ihren Hunger mit Kissinger Gebäck gestillt. Das bisschen Fleisch, das vom Büfett wegkam, legte der rothaarige, sommersprossige Stationskellner Arthur immer wieder nach.
Seit drei Tagen geistert die Maus in Elises Unterbewusstsein herum, zusammen mit der Standuhr. Die beiden katapultieren sie fast täglich aus ihrem Bett. Es wäre eine Katastrophe, wenn Elise ihre Stelle als Zimmermädchen verlieren würde. Sie stammt aus Bischofsheim, aus einer siebenköpfigen Tuchmacherfamilie, und sie und ihre Eltern sind sehr froh, dass sie nun die Zweite aus der Familie ist, die als Zimmermädchen Arbeit gefunden hat.
Aber wo ist Sophie? Ihr Bett an der gegenüberliegenden Dachschräge ist noch gemacht vom Vortag, also hat sie nicht darin geschlafen. Normalerweise, wenn sie unterwegs ist, kommt sie spätestens irgendwann um Mitternacht ins Zimmer. Elise hat dann ihre liebe Not, sie in der Früh wach zu bekommen, damit sie um fünf ihre Arbeit in der Küche aufnehmen kann.
Sophie ist Elises älteste Schwester und beste Freundin. Sie war es, die ihr die Stellung im Hotel Karl von Hess verschafft hat. Sophie ist fünf Jahre älter, schon seit drei Jahren im Hotel angestellt und hat Elise geholfen, sich im Betrieb zurechtzufinden. Sie hat Elise vor dem Portier und der Hausdame in Schutz genommen; hat ihr gezeigt, wie man einen Tisch deckt, ein Bett macht oder sich mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf mit dem Rücken gegen die Wand drückt, wenn adelige Gäste in den Korridoren vorbeigehen. Sie ist genauso auf ihre Stelle angewiesen wie Elise. Sogar noch mehr, weil sie ein Geheimnis hat, in das Elise eingeweiht ist. Ein Geheimnis, von dem ihre Eltern auf keinen Fall erfahren dürfen. Sophie hat ein Kind, den zweijährigen Paul, den sie bei einer Familie in Kissingen untergebracht hat und nur an Sonntagen sehen kann. Für diese Unterbringung muss Sophie Unterhalt zahlen, eine 24-Kreuzer-Münze pro Woche, die sie beim Besuch abliefert. Deswegen geht sie ja fort nach der Arbeit, um zusätzlich zu verdienen, weil ihr Lohn von achtzig Gulden im Jahr nicht ausreicht.
Sophie schläft mit Männern, die sie dafür bezahlen. Jetzt muss Elise Sophie finden, bevor ihre Abwesenheit bemerkt wird. Das Haus unter ihr erwacht, aber leise. Sie weiß, wo Sophie sein könnte. Im dritten Stock gibt es ein kleines Zimmer, das nie mit Gästen belegt wird, weil es an den Wänden schimmelt. Da bringt Sophie ihre Kunden hin. Elise huscht barfuß die Treppe hinunter und geht den Korridor entlang, in dem sich links und rechts die Gästezimmer befinden. Die Nummer 316 ist es, das letzte Zimmer rechts.
Elise klopft leise. Keine Antwort. Sie klopft lauter, flüstert »Sophie«. Nichts. Der Raum ist nicht verschlossen, sie schlüpft hinein und macht die Tür hinter sich zu. Innen ist es fast dunkel; durch die dicken, zugezogenen Vorhänge dringt kaum Licht. »Sophie?«, flüstert Elise noch mal und setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie erreicht den Teppich, und ihr rechter großer Zeh tappt in etwas Nasses, Klebriges. Bevor sie innehalten kann, steht sie mit beiden nackten Sohlen mitten in einer schmierigen Masse, die den Teppich durchnässt hat. Elise tastet sich vorwärts in Richtung Fenster und hält ihre Hände ausgebreitet vor sich. Ihr linkes Knie stößt an die hölzerne Kante des Betts und dann auf etwas Weicheres, das sich zur Seite schieben lässt. Sie bückt sich – es ist ein kalter, nackter Arm, und daneben baumelt ein Kopf. Elises Hände kleben jetzt auch. Sie reißt den Vorhang auf. Licht fällt ins Zimmer und auf ihre Hände. Sie sind rot. Du darfst nicht schreien, Elise, sagt sie sich. Sie dreht sich um und schreit.
Sophie liegt mit ausgebreiteten Armen rücklings und nackt auf dem Bett. Ihr Kopf hängt in einem unmöglichen Winkel aus dem Bett. Der Hals knickt wegen eines klaffenden Schnittes, der den Kopf halb abgetrennt hat, nach hinten. Sophie ist tot.
Elise ist wie gelähmt. Von der Decke hängt die Kordel für die Bedienstetenglocke unten im Dienerzimmer. Die Glocke ist für die Hausgäste, nicht für die Angestellten. Aber es hilft nichts. Sie zieht daran, dann sinkt sie neben Sophie zu Boden.
Sie denkt daran, wie Sophie sie getröstet hat, als sie am Anfang nachts Heimweh hatte. Wie ihre Schwester zu ihr ins Bett geschlüpft ist und sie im Arm gehalten hat, bis sie einschlief.
Nun liegt Sophie da, das Gesicht verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Dann sieht Elise den Hut hinter Sophies Kopf. Das ist doch der Ausseer Hut, den der groß gewachsene Mann mit dem Zwirbelbart getragen hat. In die Innenseite ist ein Etikett genäht. Elise kann lesen, aber nicht diese Schrift. Sie greift danach, das Etikett löst sich, und sie holt es heraus. Darauf steht: Демидов шля пник Санкт-Петербург.
Dann hört sie Schritte im Korridor. Entschlossene, schnelle. Als sie näher kommen, merkt sie, dass jeder zweite Schritt von einem Quietschen begleitet wird – einer der Schuhe wurde nicht gut genug gewachst. Es kann noch niemand von der Reception sein, der Weg von dort ist zu weit. Sie springt auf, zieht den Vorhang schnell zu, geht zum Schrank, steigt hinein und kauert sich hin. Gerade rechtzeitig, weil in diesem Moment die Tür aufgeht, jemand hereinkommt und die Tür hinter sich schließt. Die Person scheint sich im Zimmer auszukennen: Ihre Schritte knarzen auf den Holzdielen ganz vorsichtig um den Teppich herum und kommen auf den Schrank zu. Eine Hand hält sich am Griff fest.
Ich bin eine ganz kleine, schlafende Maus, die keiner sehen kann, denkt Elise.
Die Schranktür geht einen Spalt auf.
Elise sieht einen dunklen Schatten, der am Schrank in Richtung Bett vorbeigeht. Sie hört, wie der Schatten sich tief schnaufend beugt, sich leise ächzend wieder aufrichtet und auf dem gleichen Weg zurückkommt. Die Schranktür wackelt, geht noch weiter auf, wird zugemacht, irgendein Wollstoff reibt sich daran. Die Zimmertür öffnet sich und wird wieder geschlossen.
Elise merkt, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hat, atmet aus und wieder ein. Dann macht sie die Schranktür vorsichtig auf. Sie geht zum Fenster und zieht den Vorhang zurück.
Der Hut ist weg. Das Etikett hält sie noch in der Hand.
Jetzt sind erneut Schritte im Korridor zu hören, schleppende und von einem immer lauter werdenden Schnaufen begleitet. Es klopft an der Tür. Elise macht auf. Herr Karl, der Portier, mit Zylinder und Frack. Er geht sehr in die Breite, und seine kleine Statur versucht er durch einen mächtigen Bart aufzuwiegen, der wie ein schwarzes Hemdbetrügerle auf seiner Brust liegt. »Was soll die Unverschämtheit!«, zischt er außer Atem, als er Elise sieht. Er, der Hausportier, von einer Bediensteten geholt!
Elise tritt einen Schritt zurück und gibt den Blick auf Sophie frei. »Um Himmelsgotteswillen«, sagt Herr Karl, stürmt ins Zimmer, bleibt aber kurz vor der Leiche abrupt stehen. »Na ja«, sagt er und räuspert sich. »Sie ist wohl tot, deine Schwester.«
»Umgebracht wurde sie!«, ruft Elise. »Das sieht man doch! Wir müssen einen Gendarmen holen! Und der Mörder ist wiedergekommen, als ich im Zimmer war. Ich habe mich im Schrank versteckt, und er hat seinen Hut geholt. Das war gerade vor fünf Minuten. Ich hatte fürchterliche Angst. Sie müssen ihm begegnet sein. Sie müssen dem Mörder im Treppenhaus begegnet sein!«
Der Portier mustert sie. »Ich bin niemandem begegnet. Und du hältst dich mit deinen Mutmaßungen zurück. Das ist Sache der Gendarmerie.«
»Aber das ist doch unmöglich! Sie müssen ihm begegnet sein. Es muss jemand Besseres gewesen sein, dem Hut nach zu urteilen.«
Herr Karl wippt auf seinen Fußballen hoch, um Höhe zu gewinnen. »Was erlaubst du dir! Soll das heißen, dass ich lüge? Du unverschämtes Ding!« Er reibt sich die Nase, Elise schweigt. »Geh auf dein Zimmer und wasch dich«, sagt er. »Ich hole einen Gendarm. Warte dort, bis ich wiederkomme.«
In ihrem Zimmer wäscht sich Elise mit Wasser aus der Schüssel. Dann geht sie auf und ab. Sie setzt sich auf ihr Bett und steht wieder auf. Sie öffnet das kleine Fenster und schaut hinaus. Da kommt Herr Karl die Promenade entlang, von rechts. Die Gendarmerie ist aber auf der linken Seite. Elise zieht ihren Kopf zurück. Bedienstete können ihre Fenster öffnen und hinausschauen, dürfen dabei aber nicht gesehen werden. Sie geht wieder auf und ab. Wie soll sie es ihren Eltern sagen? Was wird aus dem Kind? Endlich hört sie Schritte auf der Treppe, und es klopft an ihrer Tür. Draußen steht ein riesiger Gendarm in grüner Uniform und Pickelhaube, hinter ihm der Portier. Der Gendarm muss sich bücken, um ins Zimmer zu kommen, und der Portier macht es ihm unnötigerweise nach.
»Fräulein Sitzmann?«, sagt der Gendarm.
Elise nickt.
»Es ist für die Aufklärung des Falles von höchster Bedeutung, dass niemand erfährt, was passiert ist.«
»Unterschreibe das«, sagt der Portier und gibt ihr ein handgeschriebenes Blatt und eine Feder. Darauf steht: Ich, Fräulein Elise Sitzmann, gelobe feierlich, daß ich niemandem erzählen werde, was ich im Zimmer 316 am 13. Juno 1864 gesehen habe.
Sie unterschreibt. Der Portier nimmt das Papier an sich, faltet es und legt es in seine Brieftasche. Dann nickt er dem Gendarmen zu.
Dieser räuspert sich. »Der Mörder war höchstwahrscheinlich ein Durchreisender.«
»Ganz bestimmt«, sagt der Portier.
»Gestern ist ein Telegramm aus Würzburg gekommen«, erzählt der Gendarm. Er holt ein Notizbuch aus seiner Tasche und verfolgt das Geschriebene mit seinem dicken Finger. »Hierin wurde von einem ähnlichen Mord berichtet. Dort hat ein Scherer…, Scheren…«
»Scherenschleifer«, sagt der Portier.
»– ein Scherenschleifer ein Mädchen besti…, bestia…«
»Bestialisch.«
»– bestialisch hingerichtet und ist weitergezogen.«
»Einer vom Zigeunervolk«, fügt der Portier hinzu.
Der Gendarm klappt das Notizbuch zu. »Wie man jetzt sieht, ist er offenbar nach Kissingen weitergereist, und das Mädchen ist an ihn geraten.«
»Der Hut gehörte keinem Durchreisenden. Einem Zigeuner schon gleich gar nicht«, sagt Elise.
»Was für ein Hut?«, fragt der Gendarm.
»Er lag neben dem Bett«, antwortet sie. »Es war der Hut eines besseren Herrn. Jemand ist ins Zimmer zurückgekommen und hat ihn geholt. Ich habe mich derweil im Schrank versteckt.«
»Davon weiß ich nichts«, sagt der Gendarm.
»Der Hut tut nichts zur Sache«, meint der Portier. »Es ist wohlbekannt, dass das Fräulein Sophie einen großen Kundenkreis hatte, und der Hut kann wer weiß wie lange da gelegen haben. Nein, der Täter ist eindeutig der Scherenschleifer. Das ist ganz deutlich an den Wunden zu sehen.«
»Jawohl«, sagt der Gendarm. »So ist es. Nur Scherenschleifer haben Messer, die solche Wunden hinterlassen.«
»Er ist wohl auf dem Weg nach Schweinfurt«, sagt der Portier. »Sie haben doch ein Telegramm dorthin geschickt, Herr Wachtmeister? An die Kaserne.«
»Jawohl«, sagt der Gendarm. »Das Telegramm. Sie sollen mit einer Truppe berittener Soldaten ausrücken und den Mörder arret…, arret…«
»Verhaften«, sagt der Portier.
»Wo ist Sophie jetzt?«, fragt Elise.
»Im Hospital«, sagt der Portier. »Arthur und der Herr Wachtmeister haben sie dorthin gebracht. Über die Hintertreppe und unter einem Tuch natürlich. So, und jetzt an die Arbeit. Und denke daran: Kein Wort zu niemandem.«
»Etwas Kaffee, wenn ich bitten darf. Ich sage es nun schon zum zweiten Male.«
Elise erschrickt. Es ist eine Stunde später, und sie steht wieder am Frühstücksbüfett. Sie schaut vom Fußboden hoch und sieht eine ausgestreckte, leere Kaffeetasse vor ihrer Nase. Etwas höher begegnet ihr der bohrende, melancholische Blick der Gräfin von Hohenembs. Die rechte Augenbraue erhebt sich dabei höher als die linke. »Erlauchte Gräfin, ich bitte um Verzeihung«, stammelt Elise und schenkt den Kaffee mit zitternder Hand ein.
Arthur kommt mit einem Teller kaltem Fleisch aus der Küche. Als er an Elise vorbeigeht, merkt sie, wie seine Hände ebenfalls zittern und wie blass und verweint er aussieht. »Ich muss dich sprechen«, flüstert er. Er stellt den Teller am Büfett ab. Als er wieder vorbeikommt, sagt er: »Komm in den Gemüsegarten, wenn du hier fertig bist.«
Der Himmel ist von zerbrechlicher Bläue. Dunkle, regengeschwängerte Wolken jagen einander, vom frischen Wind angetrieben. Arthur ist im Gemüsegarten über zwei Körbe gebückt und erntet Blumenkohl. Elise gesellt sich dazu.
»Es muss schnell gehen«, sagt sie.
Ohne sich anzuschauen, entblättern die beiden die Blumenkohlköpfe und unterhalten sich dabei. »Du hast sie gefunden«, sagt Arthur. »Weißt du, dass Sophie und ich zusammen waren?«
»Nein.«
»Wir wollten heiraten und ihr Kind zu uns holen. Ich bin nicht der Vater. Aber das war mir egal. Ich habe sie geliebt und sie mich. Glaubst du mir?«
Elise schaut zu ihm hoch, und er blickt zu ihr zurück. Verletzlichkeit sitzt in seinen blauen Augen – und dahinter Entschlossenheit. Mit seiner weißen Haut und den roten Haaren sieht er aus wie etwas, das man hier in einem der Beete ernten könnte, aber das täuscht über die sehnige Kraft in seinen Armen hinweg. Er dürfte älter sein, als Elise bisher gedacht hat, ungefähr so alt wie Sophie.
»War sie vorgestern Nacht mit dir zusammen?«, fragt sie.
»Ja.«
»Dann glaube ich dir.«
»Warum?«
»Weil sie glücklich war, als sie zurückkam. Sie hat gesummt.«
Arthur legt sein Messer weg, bedeckt sein Gesicht mit den Händen und weint. Elise weint ebenfalls, zum ersten Mal seit Sophies Tod. Sie schluchzen und schniefen und schneiden weiter am Blumenkohl. Die Strünke sind weiß und schutzlos.
»Ihr Hals ...«, sagt er und kann nicht weitersprechen. Sein Gesicht ist mit Dreck beschmiert.
»Ich weiß«, sagt Elise.
Arthur holt tief Luft und lässt sie bebend wieder heraus. »Das, was der Portier und der Gendarm ausgeheckt haben, ist eine Riesenlüge.«
»Da war ein Männerhut im Zimmer. Hier ist das Etikett.« Sie holt es aus ihrer Manteltasche und zeigt es ihm.
»Ich kann nicht lesen.«
»Ich schon«, sagt sie. »Aber das ist kein Deutsch.«
»Elise!« Es ist die imposante Figur der Hausdame, Frau Kottas, die im schwarzen Anzug daherwatschelt. Ihre Haare trägt sie schneckenförmig aufgetürmt, und ihre Backen sind so breit, als ob sie auf zwei Kissingern gleichzeitig kauen würde. »Ich suche dich überall. Die Gräfin von Hohenembs ist bereit für ihren Spaziergang. Die Dame ist zu schnell für ihre sonstige Begleitung. Das hat deshalb immer die Sophie gemacht. Das musst du jetzt übernehmen.«
»Muss ich mit ihr sprechen?«
»Ganz im Gegenteil. Was bildest du dir ein? Du darfst mit ihr überhaupt nicht sprechen. Du bleibst immer fünf Schritte hinter ihr.«
Eine Stunde später folgt Elise, mit Krinoline, Korsett, schwarz-weiß gestreiftem Rock und halblangem Mantel aus der Hausgarderobe ausgestattet, in gebührlichem Abstand der Gräfin von Hohenembs, die in hohem Tempo die Schlossstraße hinauf- und den Weg an den Weizenfeldern entlangsaust. Einen seltsamen Gang hat die Gräfin: Sie lehnt sich zurück, als ob ihr die Füße davonliefen, und sieht dabei aus wie eine langstielige Blume, die der Wind nach hinten biegt. Einen zusammengefalteten Regenschirm benutzt sie als Gehstock. Ihr purpurfarbener Rock ist viel enger und windschnittiger als Elises. Heute kommt der Wind von vorne und flacht Elises Rock seitlich aus, sodass sie sich vorkommt wie der Kapitän eines Segelschiffs, der gegen den Wind steuern muss. Sie kommt der Gräfin kaum hinterher. An der Mauer des Jüdischen Friedhofs bleibt die Gräfin stehen, lehnt sich an und wartet, bis Elise bei ihr ist. »Das ist doch die vom Frühstücksbüfett, die fast eingeschlafen ist«, sagt sie. »Ich möchte bloß wissen, warum sie mir die Allerlangsamste anhängen.«
»Erlauchte Gräfin, ich bitte um Verzeihung«, sagt Elise bereits zum zweiten Mal an diesem Tag.
Die Gräfin hebt die rechte Augenbraue und betrachtet sie mit misstrauischem Blick, als ob Elise nur eine von vielen Betrübnissen in ihrem Leben wäre.
»Wenn Erlauchte Gräfin erlaubt, hätte ich eine Frage.« Sie zeigt ihr das Etikett. »Können Erlauchte Gräfin das lesen?«
Nach einem kurzen Blick darauf macht die Gräfin ein zischendes Geräusch, schüttelt den Kopf, dreht sich wieder weg und läuft in Richtung Ruine Botenlauben davon. Elise kommt ihr mehr schlecht als recht hinterher.
Mitten in der Burganlage oben steht eine Gruppe Damen mit langen Ärmelschleppen, der sich die Gräfin von Hohenembs forschen Schrittes nähert. Elise bleibt stehen. Die Damen am äußeren Rand machen einen Knicks und öffnen den Weg in die Kreismitte, wo eine kleine Frau mit lebhaftem Gesichtsausdruck steht, die gerade mit ausholenden Gesten etwas erzählt, und eine größere, die mit verdrießlichem Gesichtsausdruck und schweren Augenlidern zuhört. Als die Gräfin sich zu ihnen gesellt, widmen sich ihr die beiden Damen. Auf einmal bricht die kleine Dame in schallendes Gelächter aus, führt schnell die Hand vor den Mund und würgt das Lachen ab. Damit hätte die Sache ein Ende, würde nicht die größere Dame nach einer kurzen Pause lauthals loslachen, woraufhin die ganze Gruppe zu lachen beginnt. Die Gräfin von Hohenembs macht abrupt kehrt und stürmt mit hochrotem Kopf an Elise vorbei.
»Diese Unverfrorenheit!«, zischt sie im Vorbeigehen zu sich selbst. »Sich über mein Französisch lustig zu machen. Chopeng oder Chopoh, Hauptsache, ich mag seine Musik!«
Die Gräfin läuft noch schneller als auf dem Hinweg, aber jetzt kann Elise mithalten, weil der Wind sie von hinten anweht. Als die beiden wieder am Jüdischen Friedhof sind, bleibt die Gräfin stehen und dreht sich zu Elise.
»Was war das vorhin, das du mir zeigen wolltest?«
»Ob Erlauchte Gräfin das lesen können.« Elise hält ihr das Etikett entgegen. »Das stammt von einem Hut.«
Diesmal nimmt die Gräfin es in die Hand. »Nein, kann ich nicht«, sagt sie und betrachtet das Etikett. »Aber es ist Russisch, so viel weiß ich, also kommt der Hut aus Russland, genauso wie die eingebildeten Schnepfen gerade, obwohl sie so tun, als wären sie Französinnen. Es gehört dem Mann von der blöden Kuh da oben. Das da hinten heißt ›Sankt Petersburg‹, ich habe ebenfalls einen Hut aus dieser Manufaktur. Er ist im Moment der einzige Mann in Kissingen, der aus Sankt Petersburg kommt. So.« Es beginnt zu tröpfeln, und die Gräfin schaut mit gerunzelter Stirn nach oben.
»Und wie heißt der Mann, wenn ich noch fragen darf, Erlauchte Gräfin?«
Die Gräfin schürzt die Lippen, scheint zu überlegen. »Graf Borodinsky nennt er sich, soweit ich weiß. Es ist wohlbekannt, dass er seinen Hosenstall nur schwer zukriegt. Und jetzt kein Wort mehr.«
»Kein Wunder, dass der Gendarm und der Portier davon ablenken wollten. Da trauen sie sich niemals ran«, sagt Arthur.
Elise hat ihm ihre neuen Erkenntnisse schnell zugeflüstert, als sie ihn kurz nach dem Spaziergang in der Küche traf. Inzwischen ist es Spätnachmittag geworden, und die beiden sind in der Waschküche, in der drei Bottiche stehen. Elise holt die Bettlaken aus dem kochenden Wasser im größten Bottich, schrubbt sie mit Seife auf einem Hobelbrett im zweiten, und Arthur bearbeitet sie danach mit einem Wäschestampfer im dritten. Im aufsteigenden Dampf können sie einander nur schemenhaft wahrnehmen.
»Ich habe schon einiges herausgefunden über diesen Graf Borodinsky«, sagt Arthur. »Er und seine Frau wohnen im Kurhaus. Und sie reisen morgen wieder ab.«
Elise bricht das Schrubben abrupt ab. »Da fällt mir was ein. Der Portier ist zuerst Richtung Kurhaus gegangen, also vom Hoteleingang aus nach rechts, und nicht nach links, wo die Gendarmerie ist.«
»Ja, und?«
»Vielleicht ist er ins Kurhaus gegangen, um herauszufinden, wie lange die Borodinskys noch bleiben. Und als er wusste, dass sie nur noch einen Tag hier sind, hat er sich gedacht: Lasst sie ziehen.«
Arthur setzt ebenfalls den Stampfer ab und schaut hoch. »Du meinst, er hat gleich gewusst, dass es der Borodinsky war.«
»Er muss ihn mit dem Hut auf der Treppe gesehen haben, als er nach oben gekommen ist. Er hat sich das mit dem Scherenschleifer ausgedacht und dem Gendarmen dann alles vorgesetzt, was er sagen sollte. Und der konnte es nicht mal richtig lesen.«
»Vom Gendarmen ist also nichts zu erwarten«, sagt Arthur.
»Von niemandem ist etwas zu erwarten. Außer von uns selbst. Wir müssen an Borodinsky ran. Die Gräfin von Hohenembs hat gesagt, er kriegt seinen Hosenstall nicht zu. Also sucht er dauernd Frauen wie die Sophie. Was, wenn wir ihm eine Falle stellen?«
»Was für eine Falle?«
»Mit einer Frau, die ihn anlockt und ins Hotel bringt. Kennst du noch mehr solcher Frauen?«
»Nein, natürlich nicht. Außerdem müssten wir so eine bezahlen«, sagt Arthur verächtlich.
»Sophie war auch so eine.«
»Das war anders. Sophie konnte nichts dafür.«
»Vielleicht können die anderen auch nichts dafür.«
»Mag sein. Auf jeden Fall kenne ich keine.«
»Dann mach ich das«, sagt Elise. »Natürlich nicht ... Aber ich locke ihn ins Hotel. Ich lege Sophies Rouge auf und locke ihn hierher.«
»Gut. Wir brauchen aber ein anderes Zimmer als die 316. Ich kann schauen, welches gerade frei ist, und den Schlüssel nehmen. Das machen wir, bevor du ihn anlockst.«
»Und wenn er dann im Zimmer ist?«, fragt Elise.
»Dann bin ich auch da. Mit einem Gewehr.«
»Wo kriegst du das her?«
»Ich nehme eins von denen, die hinter dem Wildschweinkopf im Speisesaal hängen. Das sind echte Jägergewehre. Der Herr von Hess holt sie jedes Jahr für die Neujahrsjagd herunter. Munition ist in einer Schachtel im Haushaltsraum.«
»Willst du den Borodinsky umbringen?«
Arthur schüttelt den Kopf. »Ich will ihm Angst einjagen, damit er’s zugibt. Und ich will wissen, warum er es getan hat.«
»Und dann?«
»Dann weiß ich auch nicht.«
Elise seufzt. »Und ich auch nicht. Am Ende kommen wir selber ins Gefängnis. Also, das wäre der Plan. Ist es ein guter?«
»Nein. Aber der einzige.«
»Wir machen es. Heute Abend. Ab neun Uhr habe ich frei.«
Arthur steht auf. »Ich zeig dir, wie du den Grafen anlockst. Ich bin der Graf. Geh auf mich zu und lauf an mir vorbei.«
Elise nähert sich Arthur, den Blick zu Boden gesenkt.
»Ganz falsch«, sagt er. »Das ist genau der Punkt. Du musst mich anschauen. Sobald wir auf einer Höhe sind, schaust du mich an. Direkt in die Augen.«
»Ich traue mich nicht.«
»Du musst. Hebe deinen Blick. Ja, genau. Und jetzt lächeln. Nicht zu viel, nur ein bisschen. So, ja. Das ist der ganze Unterschied. Mehr ist es nicht.«
Elise zählt drei Schläge der Stadtkirchenglocke drüben auf der anderen Seite der Saale. Sie steht seit einer halben Stunde hier im Park gegenüber vom Kursaal, geht immer zehn Schritte vor, dreht sich um und geht dann zehn Schritte rückwärts, wie Arthur es ihr erklärt hat. Auf dieser Seite des Flusses ist weniger los, hier ist es privater, hier gibt es wild wachsende Bäume statt Alleen, kaum Beleuchtung und keine Gendarmen. Und heute Abend auch sonst niemanden – abgesehen von den zwei Männern, die tief im Gespräch ihre Runden drehen; offenbar keine Freier, sonst wären sie wohl alleine unterwegs. Doch, eine kleine verschleierte Frau geht noch spazieren, am entgegengesetzten Ende der Umlaufbahn, auf der die Männer sich befinden. Zwei Runden sind sie schon gelaufen, jetzt stehen sie unten am Fluss, bei der einzigen Lampe diesseits der Saale.
Acht, neun, zehn Schritte nach hinten. Elise dreht sich um. Ein Mann kommt auf sie zu. Ein dicklicher Mann mit Zylinder. Er ist vielleicht sechs Schritte von ihr entfernt. Wo kommt er auf einmal her? Elise starrt zu Boden, dann zwingt sie sich, wieder zu ihm hochzuschauen. Er starrt mit einer Mischung aus Erschrockenheit und Empörung zurück, und dann ist er schon weiter. Es ist der Portier. Er wohnt hier irgendwo, fällt Elise ein. Morgen wird sie von ihm hören. Morgen wird sie wahrscheinlich ihre Stelle los sein. Sie seufzt und schaut wieder zu den zwei Männern unten am Fluss. Es ist nur noch einer da, und er sieht zu ihr hoch. Wo ist der andere? Da, er kommt auf sie zu. Er hebt seinen Hut zur Begrüßung und entblößt eine Glatze, nackt und knochig wie ein Totenschädel. »Mein Herr lässt fragen, ob Madame eventuell Interesse an einem Treffen mit ihm hätte.«
Elise schaut zu dem Mann am Fluss. Auch er hebt den Hut zum Gruß. Es ist kein Ausseer Hut, sondern eine Melone, aber der Bart des Mannes ist kinnfrei und an den Wangen spitz ausgezwirbelt. Graf Borodinsky.
»Ferner lässt er fragen«, fährt der kleinere Mann fort, »ob Madame einen Ort für ein solches Treffen bereits kenne, und wenn, wo dieser sich befinden möge.«
»Hotel Karl von Hess. Zimmer 209 im zweiten Stock. Fragen Sie Ihren Herren, ob das in Ordnung ist. Dann treffen wir uns dort in fünfzehn Minuten.«
»Wissen Sie, wer ich bin?« Graf Borodinsky sitzt mit dem Rücken zur Wand neben der Tür auf dem Boden. Seine Arme und seine langen Beine hat er jeweils überkreuzt.
Arthur steht über ihm und hält ein Jagdgewehr auf ihn gerichtet. Elise befindet sich gegenüber am Fenster neben dem Bett.
»Sie sind Graf Borodinsky«, sagt Elise. »Die Gräfin von Hohenembs hat es mir erzählt.«
»Ich bin Zar Alexander von Russland, und die Gräfin von Hohenembs ist in Wirklichkeit die Kaiserin Elisabeth von Österreich.«
»Das trifft sich gut«, sagt Arthur. »Ich bin nämlich König Ludwig von Bayern.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagt der Graf. »König Ludwig hat keine roten Haare.«
»Sie wollen doch nur ablenken«, sagt Elise. »Sophie war meine Schwester, und Sie haben sie umgebracht.«
»Ich sagte doch schon, ich weiß nichts darüber. Es tut mir leid wegen Ihrer Schwester, aber ich habe nichts mit ihrem Tod zu tun. Ich war mit ihr auf dem Zimmer, ja, aber als ich ging, war sie gerade eingeschlafen. Mehr weiß ich nicht. Sie werden beide in allergrößte Schwierigkeiten kommen, wenn Sie mich nicht sofort freilassen. Morgen früh reisen wir ab.«
»Um wie viel Uhr haben Sie gestern das Zimmer verlassen?«, fragt Elise.
»Um halb zwölf ungefähr.«
»Aber Sie sind doch wiedergekommen«, sagt Elise. »In der Früh. So kurz nach fünf. Sie sind wiedergekommen und haben Ihren Hut geholt. Damit kein Beweisstück mehr da ist.«
Der Graf sieht sie verdutzt an. »Welchen Hut?«
»Den Filzhut mit der Kordel«, sagt Elise.
Der Graf nickt. »Ach ja. Wo ist er bloß?«
Die Tür geht auf. Ein barfüßiger Mann kommt herein und macht sie hinter sich zu, ohne sich umzudrehen – alles in einer schleichenden, raubtierähnlichen Bewegung. Er hält eine Pistole in der rechten Hand und zielt auf Arthur. Es ist der Begleiter des Grafen von vorhin.
»Darf ich vorstellen?«, sagt der Graf. »Pjotr, mein Leibwächter. Pjotr, warum haben Sie so lange gebraucht?
»Es ist nicht so einfach, Herr, den richtigen Moment zu erwischen. Ich wollte nichts unterbrechen, neulich war mir das ganz unangenehm.«
»Ist schon recht, Pjotr. Würden Sie den Leuten erklären, wer ich bin, bevor wir gehen?«
»In Wirklichkeit?«
»In Wirklichkeit.«
»Wo soll ich anfangen? Also, das ist Alexander der Zweite, Kaiser und Selbstherrscher von ganz Russland, von Moskva, Kiev, Wladimir, Nowgorod, Zar von Astrachan, Zar von Polen, Zar von Sibirien …«
Der Graf winkt ab. »Kürzen Sie’s ab.«
»… Herr zu Pikow und Großfürst von Smolensk, Litauen und so weiter, Gebieter aller nördlichen Lande …«
»Das reicht. Ich bin der Zar von Russland, und Sie lassen mich jetzt gehen.«
»Graf oder Zar, Sie sind ein Mörder«, sagt Arthur. »Geben Sie es zu.«
»Legen Sie das Gewehr auf das Bett«, sagt Pjotr. »Sie haben fünf Sekunden. Eins …«
»Und ich gebe Ihnen drei«, sagt Arthur. »Zwei …«
Ein Schuh quietscht außen im Korridor.
»Das ist der Mörder«, ruft Elise.
»Drei«, sagt Pjotr.
Arthur spannt sein Gewehr.
Das Quietschen kommt näher.
»Hört doch auf, ihr zwei!«, flüstert Elise. »Der Mörder ist draußen auf dem Korridor!«
»Welcher Mörder?«, fragt Pjotr.
»Ach«, sagt der Graf. »Das dauert jetzt zu lang. Machen Sie es wie vorhin: Drehen Sie die Lampe herunter und wieder auf, wenn die Person im Zimmer ist. Und seid nun alle still.«
Elise dreht die Lampe am Bett herunter, sodass nur ein kleiner Kreis um den Nachttisch herum beleuchtet ist.
Man hört nun auch die leiseren Schritte des anderen Schuhs zwischen den Quietschgeräuschen vor der Tür. Quietsch, Schritt. Quietsch, Schritt.
»Da kann ich gar nicht zuhören«, flüstert Arthur. »Der Schuh gehört gewachst.«
»Psst!«, zischt Pjotr.
Die Schritte stoppen unmittelbar vor der Zimmertür. Nun ist es der Türgriff, der quietscht, und die Tür geht auf. Im fahlen Licht der Öllampe im Korridor ist eine schwarze Silhouette zu sehen. Die Tür wird geschlossen, und im gleichen Moment dreht Elise das Licht der Nachttischlampe auf.
Vor ihnen steht eine Frau mit einem Messer in der Hand. Elise erkennt sie, es ist die Frau aus dem Park. Den Schleier hat sie zurückgeschoben. Es ist dieselbe Frau, die heute Nachmittag oben auf der Ruine Botenlauben neben der Gräfin Borodinsky stand. Sie wendet dem Grafen den Rücken zu, steht genau zwischen Arthur und Pjotr, die beide ihre Waffen auf sie gerichtet haben. Sie scheint die zwei Männer aber kaum wahrzunehmen.
»Wo ist Sascha?« Sie hält das Messer auf Elise gerichtet und macht einen Schritt auf sie zu. Ihr Blick ist voller Hass.
»Lassen Sie das Messer fallen, Gräfin Dolgorukaia«, sagt Pjotr.
»Warwara«, sagt der Graf müde und seufzt. »Was machst du bloß für Sachen.« Es ist keine Frage – es klingt, als wüsste er genau, was sie für Sachen macht.
Die Gräfin dreht sich um. »Sascha, ich habe doch gesagt, wenn du fremdgehst, bring ich sie um. Ich bring sie alle um.«
Pjotr greift nach ihrer Hand, entwendet ihr das Messer.
»Aber das ist ja gar nicht Ihre Frau«, sagt Elise.
»Natürlich nicht«, sagt der Graf. »Meiner Frau ist das einerlei.«
»Ich bin seine Geliebte«, sagt die Gräfin. »Seine einzige Geliebte.«
»Und Sie haben meine Schwester umgebracht und später den Hut geholt. Um ihn zu schützen«, sagt Elise und zieht an der Kordel der Bedienstetenglocke.
Kissinger Intelligenz-Blatt, 15. Juno 1864:
Eine Tat seltener Unmenschlichkeit ist im Hotel Karl von Hess in Kissingen in der Nacht auf Mittwoch verübt worden. Eine Bedienstete desselben Hotels wurde auf grausigste Art ermordet aufgefunden. Die Tatverdächtige, eine Dame aus dem russischen Hochadel, wurde von der örtlichen Gendarmerie auf vorbildlichste Weise kurz darauf überführt, und die Bevölkerung darf sich auf das Sicherste aufgehoben fühlen. Das Motiv liegt vermutlich im privaten Bereich. Für den Nachkommen des elendlich umgekommenen Opfers wird eine großzügige Stiftung eines anonymen Spenders sorgen.
Fünf Jahre später, ein sonniger Sonntagnachmittag auf der Kurpromenade. Ein Ehepaar sitzt auf einer Bank und schaut zu, wie eine Schar Kinder im Park vor dem Kursaal spielt. Auf einmal lösen sich zwei aus der Gruppe, ein siebenjähriger Junge und ein vierjähriges Mädchen, und kommen auf das Paar zugerannt.
»Was ist los, Paul und Sophie?«, ruft die Frau. »Wollt ihr nicht mehr mit den anderen spielen?«
»Ach, Mama, die streiten«, sagt der Junge. »Die spielen wieder Kaiserkur.«
»Ja«, sagt das Mädchen. »Die Jungs wollen alle der Zar sein. Die sagen, das ist mehr als Kaiser oder König. Und die Mädchen wollen Sisi sein, weil sie die Schönste ist.«
»Und was habt ihr ihnen gesagt?«, fragt der Mann.
»Was die Mama immer sagt«, sagt Paul.
»Ja«, pflichtet ihm seine Schwester bei. »Dass alle, Zar und Zarin, Kaiser, Kaiserin und König, dass die alle gleich blöd sind.«
Der Mann lacht und dreht sich zu seiner Frau. »Na, Elise, da hast du ganze Arbeit geleistet.«
»Weil es doch wahr ist, Arthur. Und jetzt gehen wir Eis essen. Ich habe gehört, es soll jetzt Eis aus Erdbeeren und Schokolade geben. Was haltet ihr davon, Kinder?«
»Eis aus Erdbeeren?«, ruft Paul. »Ja!«
»Und für mich bitte aus Schokolade!«, sagt das Mädchen.
Das Ehepaar steht auf, nimmt die Kinder an der Hand und läuft weiter die Promenade entlang zum Eisstand.