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Gitta Edelmann Die seltsame Geschichte von Jackie und Heidi

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So herrlich habe ich mir Schottland nicht vorgestellt. Bisher habe ich nämlich gedacht, dass dies ein Land im Norden voller Geister, Schafe und Regen sei. Sie auch? Weit gefehlt!

Falls es hier Geister gibt, halten die sich von uns fern. Schafe laufen zumindest hier in der Hauptstadt nicht auf der Straße herum. Und der Himmel ist von strahlendem Blau, marmoriert mit nur ganz wenigen weißen Wolkenfetzen. Ich habe vom Edinburgh Castle bereits gefühlt tausend Aufnahmen gemacht, hauptsächlich von den Princes Street Gardens aus, aber auch von der anderen Seite her, vom Grassmarket, wo wir nun vor dem berühmt-berüchtigten Pub »The Last Drop« sitzen, den Straßenmusikern lauschen und zu Fish and Chips unser Pint trinken.

»Mit ›The Last Drop‹ ist nicht etwa der letzte Tropfen Bier im Glas gemeint«, doziert Heidi, »sondern das letzte Fallen am Galgen. Der stand nämlich früher gleich hier.«

Heidi ist voller solcher Geschichten.

Edinburgh ist voller solcher Geschichten.

Und inzwischen bin sogar ich voller solcher Geschichten.

Aber heute Abend wollen wir uns eine etwas literarischere Geschichte anhören. Heidi hat uns Karten für eine Lesung reserviert.

Loreena MacArthur, »Nighttime Visitors«.

Ich liebe dieses Buch, das mir Heidi vor einigen Wochen in ihrer winzigen Buchhandlung in Bonn empfohlen hat. Noch gibt es keine deutsche Ausgabe und ich hätte große Lust, Loreena MacArthurs spannenden Roman und ihre poetische Sprache zu übersetzen. Obwohl das nicht einfach sein dürfte. Aber ich fühle mich von Herausforderungen ja nicht mehr abgeschreckt, sondern – herausgefordert! Natürlich könnte es schwierig werden, dafür Zeit zu finden, jetzt, wo ich mit meiner romantischen Krimiserie so erfolgreich bin und drei Folgen im Jahr schreibe.

Aber das ist alles Zukunftsmusik. Im Augenblick genieße ich es, hier zu sitzen, die frische Luft einzuatmen und dem jungen Mann zu lauschen, der mit seiner Gitarre alte Songs neu interpretiert. Hören Sie auch so gerne Straßenmusikern zu?

»Wo ist denn die Lesung heute Abend?«, frage ich Heidi. »In der großen Buchhandlung in der Princes Street, in der wir vorhin waren?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ein bisschen außerhalb. Im Stadtteil Morningside. Wir können den Bus nehmen oder hinspazieren. Dürfte nicht mehr als eine gute halbe Stunde dauern.«

»Meine Füße sind für die Variante mit dem Bus.«

Sie lacht.

Ich lache mit. Wie wunderbar dieser Urlaub ist, voller Leichtigkeit und Lachen. Wenn ich da an früher denke … Aber das mache ich nicht.

Punkt.

Von der Bushaltestelle ist es nicht weit zu der kleinen Buchhandlung »Morningside Best Books«. Ich sehe mich um, vielleicht will ich ja doch einmal eine Story schreiben, die in Schottland spielt. Reisen heißt immer auch recherchieren.

Die Straße ist gesäumt von alten mehrstöckigen Häusern aus beigegrauem Sandstein.

Die kleinen Geschäfte im Erdgeschoss haben bunte Fensterrahmen. Jedes in einer anderen Farbe.

Es gibt eine ganze Menge Restaurants und Pubs.

Es gibt keine erkennbaren Touristen.

Schön.

Die Buchhandlung ist klein, wenn auch nicht so winzig wie Heidis. Im hinteren Teil hat man ein Regal auf Rollen zur Seite geschoben und in der frei gewordenen Ecke zwei Reihen Stühle im Halbkreis aufgestellt. Automatisch zähle ich. 15. Ein Mann im Anzug und eine Frau in einem Blümchenkleid sitzen schon vorne links. Ein Publikumsrenner scheint die Lesung von »Nighttime Visitors« nicht zu sein, was mich einigermaßen erstaunt.

Auf einem Seitentischchen stehen Sektflaschen und Gläser bereit, daneben liegen zwei Stapel Bücher.

Die Buchhändlerin stellt sich sehr persönlich als Lesley vor, heißt uns willkommen und streicht unsere Namen auf ihrer Liste. Die Frau, die bereits vor uns da war, steht auf und kommt herüber, um uns zu begrüßen.

»Hello, ich bin Loreena. Wie schön, dass Sie zu meiner Premierenlesung gekommen sind.«

Loreena MacArthur ist mir auf Anhieb sympathisch, wenn sie auch ein wenig von einem Mäuschen hat. Das liegt wahrscheinlich an ihrer leisen Stimme und dem niedlichen schottischen Akzent. Oder an dem braven Kleid und dem langen dunklen Haar. Ich stelle mich als Autorenkollegin aus Deutschland vor und versichere ihr, dass ich ihr Buch liebe.

»Ich bin zufällig darauf gestoßen. Dann fand ich es so ergreifend, dass ich es Jackie empfohlen habe«, erklärt Heidi. »In meinem Buchladen verkaufe ich nämlich deutsche und englische Bücher.«

Im Nu befinden wir Frauen uns in einem angeregten Gespräch. Ich werfe einen Seitenblick auf den Mann, der uns mit gerunzelten Brauen beobachtet und schließlich aufsteht.

»Solltest du deine Stimme nicht für die Lesung schonen, Honey?«, fragt er Loreena, als er zu uns stößt. »Nicht, dass sie dir nachher wegbleibt.«

Loreena nickt. »Wir können uns ja hinterher noch unterhalten«, sagt sie. »Das ist übrigens mein Mann Stephen.«

Stephen versichert formelhaft, wie erfreut er sei, uns kennenzulernen, dann begleitet er Loreena zurück zu ihrem Platz, wo er leise auf sie einredet.

»Premierenlesung? Das Buch ist doch bereits zwei Monate auf dem Markt«, wundert sich Heidi, als Lesley die nächsten drei Neuankömmlinge von der Liste gestrichen hat.

»Loreena war krank und dann mussten wir einen neuen Termin finden«, behauptet Lesley, doch als Heidi sie ungläubig anschaut, verrät sie uns, dass Loreena zuerst gar keine Lesung machen wollte. »Sie hatte Angst, nicht gut genug zu sein. Es hat mich eine ganze Menge Überredungskunst gekostet, dass sie heute zumindest in kleinem Rahmen auftritt. Aber keine Angst – sie kann das. Ich kenne sie ja schon seit Jahren und … Entschuldigen Sie mich einen Moment.«

Zwei ältere Damen betreten die Buchhandlung. Lesley eilt zu ihnen, um sie zu begrüßen.

»Ein bisschen erinnert sie mich an dich«, sagt Heidi leise.

Ich starre Lesley an. Mir ist keine Ähnlichkeit aufgefallen.

»Nicht Lesley, Loreena!«

Das mag sein. Auch ich war früher unsicher und eher kontaktscheu. Selbstbewusstsein hatte ich keines. Aber frau entwickelt sich ja weiter. Als Schriftstellerin wie als Mensch. Zumindest war das bei mir so, wobei ich natürlich Heidi viel verdanke, die mich seit meinem ersten Buch unterstützt und mich in ihr Autorinnen-Förderprogramm aufgenommen hat.

Wir setzen uns direkt hinter Loreena und ihren Mann. Auch die anderen Besucher nahmen Platz. Schade, dass nur so wenige Leute gekommen sind, aber das ist ja leider häufiger so bei Lesungen von Autoren, die nicht auf den Bestsellerlisten stehen. In Edinburgh gibt es zudem jede Menge Konkurrenzveranstaltungen wie Konzerte, Theater, Live-Musik in Pubs und vieles mehr.

Lesley schließt die Ladentür ab, sie rechnet wohl nicht mit spät eintreffendem Laufpublikum. Dann begrüßt sie uns noch einmal offiziell und stellt Loreena MacArthur vor.

Loreena steht auf, geht nach vorne und setzt sich hinter das kleine Tischchen, das mit nachtblauem Pannesamt umkleidet ist. Winzige Glitzersteinchen erwecken den Eindruck eines Nachthimmels und erinnern an die Coverillustration von »Nighttime Visitors«. Das hat Lesley schön vorbereitet, allerdings passt Loreenas Blümchenkleid nicht wirklich dazu.

Egal, als sie zu lesen beginnt, schließe ich ohnehin die Augen. Sie liest gut, mehr so, als erzählte sie uns die Geschichte. Vielleicht ein wenig zu leise für die beiden älteren Damen, könnte ich mir vorstellen, aber die beschweren sich nicht. Trotz des ungewohnten schottischen Akzents – oder gerade deswegen – entfaltet sich vor mir das Schicksal der weiblichen Hauptfigur, die an ihrer Familie zu zerbrechen droht.

Die Textstellen, die Loreena liest, sind nicht zu lang und gut ausgewählt, dazwischen erzählt sie ein wenig von ihrer Recherche. Ich bin sehr froh, dass Heidi mich heute Abend hierher eingeladen hat. Ich finde es ja immer spannend, die Autorinnen oder Autoren und ihre Arbeit hinter ihren Geschichten kennenzulernen. Geht Ihnen doch sicher auch so, oder?

Dann ist die Lesung zu Ende, wir sorgen für lauten Applaus, obwohl wir so wenige sind.

Loreena sieht glücklich aus, sie verbeugt sich und lädt uns alle zum Sekt ein.

»Das war eine wunderbare Veranstaltung«, höre ich Heidi zu Lesley sagen. »Schade, dass so wenig Publikum da war.«

»Ach, ich denke, für Loreena war das ganz gut so zum Start«, antwortet Lesley. »Sie muss sich in dieser Hinsicht noch entwickeln.«

»Aber diese Begabung! Ich hoffe, die Verkaufszahlen sind gut. Ich habe ›Nighttime Visitors‹ meiner englischlesenden Kundschaft jedenfalls schon mehrfach empfohlen.«

Lesleys Antwort verstehe ich nicht, denn Loreena drückt mir ein Glas Sekt in die Hand und bedankt sich noch einmal ausdrücklich dafür, dass ich, die Kollegin aus Deutschland, gekommen bin.

Ich bleibe bei ihr am Tisch stehen, warte, bis sie die letzten Gäste mit Sekt versorgt hat, bevor wir auf ihr Wohl trinken.

Mein Lob lässt sie strahlen, doch ihr Lächeln verblasst, als ihr Mann sich zu uns gesellt und den Arm um ihre Schultern legt. Erstaunlicherweise wirkt er angespannt.

»Sie sind also aus Deutschland hier im Urlaub«, stellt er fest. »Und da haben Sie heute Abend nichts Besseres gefunden als diese Lesung?«

Einen Moment lang bleibt mir die Luft weg. Soll das schottischer Humor sein? Wohl kaum, sonst wäre Loreena nicht so zusammengezuckt. Sie sieht definitiv nicht amüsiert aus.

»Loreena hat ein ganz wunderbares Buch geschrieben«, erkläre ich mit noch mehr Begeisterung in der Stimme, als ich ohnehin fühle. »Und ich bin sehr glücklich, dass ich sie heute hören und kennenlernen durfte, Mister MacArthur.«

Ich werde einen Teufel tun und den Menschen beim Vornamen nennen!

»Brown«, sagt er.

Ich sehe ihn irritiert an.

»Mein Name ist Stephen Brown, nicht MacArthur. MacArthur ist Loreenas Mädchenname. Der Verlag fand einen schottischen Nachnamen besser für den Verkauf. Allerdings scheint mir, das hat auch nicht viel gebracht.«

»Für einen Erstling in einem kleinen Verlag sind die Zahlen sehr gut«, mischt sich Lesley ein. Heidi, die neben ihr steht, nickt heftig. »Und dank der guten Rezensionen wird es beim nächsten Buch sicher einfacher.«

Loreena sieht auch jetzt nicht glücklich aus, muss ich feststellen.

Ihr Mann schüttelt den Kopf. »Ich bezweifle, dass es ein zweites Buch geben wird. Sagt man nicht, in jedem Menschen steckt ein Buch? Ein Buch.« Er lacht.

»Ich habe bisher 17 geschrieben«, kläre ich ihn auf.

»Aber Loreena hat auch noch anderes zu tun«, erwidert er.

Anderes? Diese Frau hat eine Begabung, tiefsinnig und poetisch zu schreiben, und soll etwas anderes tun? Ja, hat dieser Stephen Brown einen Ratsch im Kappes?

Verflixt, da werden Erinnerungen wach.

Wer soll denn dein Geschreibsel lesen?

Und: Daraus wird doch nie was, damit kannst du kein Geld verdienen!

Und: Du hast auch noch anderes zu tun!

Heidi und ich wechseln einen Blick. Dann fragt sie Loreenas Mann überaus interessiert und mit ihrem besonderen Augenaufschlag danach, ob er Tipps hat, was wir in Edinburgh unternehmen können, bevor wir weiterfahren nach Inverness und in die Highlands.

Natürlich beantwortet er ihre Frage gerne und in aller Ausführlichkeit – er ist der Typ dafür – und lässt Loreena los, um mit Heidi zu der großen Schottlandkarte zu gehen, die hinter den Stuhlreihen an der Wand hängt.

Ich sehe inzwischen, wo die Ähnlichkeit zwischen uns liegt. Auch Loreena wird sich ihren Weg erkämpfen müssen.

»Hat er dein Buch überhaupt gelesen?«, frage ich sie leise.

»Er hat behauptet, ja, aber ich bin nicht sicher.«

Ich nicke langsam. »Wenn er zu der Szene am Hafen im letzten Drittel nichts gesagt hat, hat er es nicht gelesen.«

Sie atmet einmal tief ein und aus. »Er meinte, es sei ganz okay.«

Ich greife nach der nächsten Sektflasche und gieße unsere Gläser wieder voll.

»Ich sollte eigentlich nicht …«, setzt Loreena an und betrachtet zweifelnd ihr Glas.

»Ach was«, sage ich. »Premierenlesung des ersten Romans hast du nur einmal!«

Wir stoßen an.

Wir lächeln.

Wir verstehen uns.

Wir sprechen über das Schreiben, das Ringen um das perfekte Wort, um die am besten tragende Struktur. Und ich schenke mehrmals Sekt nach, als ich sehe, dass Heidi Loreenas Mann fest im Griff hat.

Lesley hat die meisten Gäste bereits verabschiedet und beginnt, ihre Buchhandlung aufzuräumen.

»Hast du morgen Zeit, dass wir uns noch einmal treffen können?«, frage ich.

Loreenas Augen leuchten auf. »Das wäre schön. Ich habe nachmittags immer ab zwei frei. Magst du Cupcakes? Hier ein Stück die Straße runter liegt ›Laurie’s Café‹, da ist es sehr nett …«

Ich kann ihr noch eine Visitenkarte mit meiner Handynummer in die Hand drücken, dann ist Stephen Brown wieder da und erinnert Loreena daran, dass es spät ist.

»Du weißt doch, wie wichtig Schlaf für dich ist, Honey.« Sein Lächeln erreicht nicht seine Augen.

Heidi schlägt vor, den Rückweg in unser Guesthouse zu Fuß anzutreten. Ich stimme zu, denn ich brauche jetzt viel frische Luft.

»Danke, dass du den Mann so beschäftigt hast«, sage ich zu ihr.

Sie zuckt mit den Schultern. »Blieb mir ja nichts anderes übrig, wenn du dich mit Loreena unterhalten wolltest. Du musst mir aber erzählen, was sie gesagt hat. Habt ihr über ein zweites Buch gesprochen?«

»Ja, und ich habe das Gefühl, das wird noch besser als ›Nighttime Visitors‹.«

»Wenn er sie das schreiben lässt.«

»Sie hat schon angefangen. Und er kann ihr das Schreiben doch nicht verbieten, oder?«

»Er kann es ihr aber schwer machen.«

»Stimmt.«

Ich erinnere mich.

Wir sind schon ein ganzes Stück weitergegangen. Rechts liegt die Wiese der Bruntsfield Links.

»Wenn wir hier rüber über die Meadows gehen, ist es kürzer«, erklärt Heidi.

»Aber dunkler.«

Sie nickt.

Wir gehen also weiter geradeaus, die Straße entlang. Schweigend. Jede von uns hängt ihren Gedanken nach.

»Ich treffe mich morgen Nachmittag noch mal mit Loreena«, erzähle ich schließlich. »Willst du mitkommen?«

»Hm, ich weiß nicht. Vielleicht geh ich auch einfach mal shoppen oder so.«

Wir schweigen wieder.

»Meinst du, Loreena wäre ein Fall für mein Autorinnen-Förderprogramm?«, fragt Heidi, als wir endlich an unserem Guesthouse in der Old Town ankommen.

»Daran habe ich auch schon gedacht«, gebe ich zu. »Ich werde sie morgen mal ein wenig in diese Richtung aushorchen.«

»Laurie’s Café« ist winzig, es gibt nur drei Tischchen. Zum Glück ist eines frei und Loreena und ich sitzen schon bald vor unserem Tee und zwei knallbunt gestreiften Cupcakes mit dem Namen »Rainbow«.

Die Zeit vergeht wie im Flug. Irgendwann sieht Loreena auf ihre Armbanduhr und erschrickt.

»Ich muss los, in einer halben Stunde kommt Stephen, und wenn ich dann nichts zum Abendessen …«

»Lauf los, ich zahle«, sage ich. »Aber ich erwarte natürlich, dass du dich meldest und mir den Anfang des neuen Manuskripts mailst!«

Sie strahlt und umarmt mich zum Abschied.

Ich sehe ihr nach, wie sie eilig das Café verlässt.

Sie ist definitiv ein Fall für Heidis Autorinnen-Förderprogramm.

Am Abend sitzen Heidi und ich im Pub und essen Haggis. Kennen Sie Haggis? Als Heidi mir zum ersten Mal davon erzählt hat, war ich alles andere als begeistert. Es handelt sich nämlich um den Magen eines Schafes, der mit Herz, Leber, Lunge, Nierenfett, Zwiebeln und Hafermehl gefüllt wird, das Ganze wird mit Pfeffer gewürzt. Ich finde immer noch, dass das wenig appetitlich klingt, aber ich muss zugeben, mit dem traditionellen Kartoffel- und Steckrübenbrei schmeckt es ausgezeichnet.

»Verabrede dich morgen Nachmittag noch mal mit Loreena«, bittet Heidi.

Ich hebe die Augenbrauen.

Sie nickt.

Mehr brauchen wir nicht, um uns zu verstehen.

Ich fahre also wieder nach Morningside.

Heidi verfolgt ihre eigenen Pläne.

»Heute habe ich allerdings nur kurz Zeit, Stephen arbeitet donnerstags nur bis vier«, erklärt Loreena, als wir uns vor »Laurie’s Café« treffen. Wir müssen ein paar Minuten warten, bis ein Tisch frei wird, aber – Sie kennen das sicher – wenn man sich gut unterhält, ist das Warten kein Problem.

Loreena macht auf mich jetzt gar nicht mehr den Eindruck eines Mäuschens. Und das, was sie mir von ihrem neuen Roman erzählt, finde ich faszinierend. Ich freue mich, dass sie mir ihre Ideen so offen anvertraut. Unversehens diskutieren wir den Plot in aller Ausführlichkeit und vergessen die Zeit. Dann piepst ihr Handy.

»Sorry«, sagt sie, »ich muss jetzt gehen. Hab mir extra den Wecker gestellt, damit ich nicht wieder in Hektik gerate.« Sie steht auf.

In diesem Moment gibt ihr Handy erneut Töne von sich. Es ist ein Anruf. Sie nimmt ihn sofort an.

»Ja … ach so … ich verstehe … ja.«

Sie setzt sich wieder. »Mein Mann kommt heute doch später, er muss noch arbeiten.«

Aha.

So, wie sie aussieht, glaubt sie nicht wirklich daran.

Ich natürlich auch nicht.

Dennoch bleiben wir guter Stimmung.

Wir bestellen uns frischen Tee und Karamell-Cupcakes mit kleinen weißen Blümchen darauf und fachsimpeln weiter.

Als »Laurie’s Café« schließt und wir uns verabschieden, weil Heidi und ich am nächsten Morgen nach Inverness weiterfahren wollen, wissen wir, dass es nicht für immer ist.

Endlich ist Loreena MacArthur zu Gast in Deutschland und Heidi hat als Auftakt ihrer Lesereise hier in Bonn eine wunderbare Lesung für uns beide organisiert. Das haben Sie ja sicher den Veranstaltungshinweisen entnommen.

Loreena liest Ausschnitte aus »Nighttime Visitors« und aus ihrem neuen Buch »Strangers« und ich meine deutsche Übersetzung. Anschließend darf das Publikum Fragen stellen.

»Sie wirken, als ob Sie beide sich schon lange kennen«, bemerkt eine Zuhörerin auf Englisch.

»Wir haben uns vor zwei Jahren in Edinburgh bei Loreena MacArthurs Premierenlesung kennengelernt«, erzähle ich. »Und wir sind seither befreundet.«

»Jackie und Heidi haben mir über eine sehr schwere Zeit hinweggeholfen«, berichtet Loreena und weist auf Heidi, die an der Seite der Bühne sitzt. »Kurz nachdem wir uns getroffen hatten, hat mein Mann sich nämlich das Leben genommen und ich stand plötzlich ganz alleine da. Jackie ist bei der Nachricht sofort aus ihrem Urlaub in Inverness zurückgekommen und hat ihre Reise abgebrochen, um mir beizustehen. Sie war es auch, die mir Mut gemacht hat, ›Strangers‹ weiterzuschreiben. Ohne Jackie und Heidi würde es dieses Buch nicht geben.«

»Dann ist die Trauer, die die Protagonistin May in Ihrem Buch fühlt, also Ihre eigene?«, fragt eine junge Frau.

»Gewissermaßen.«

Ein älterer Herr meldet sich.

»Ich liebe ja besonders Ihre Sprache. Da habe ich eine Frage an Ihre Übersetzerin. War es schwer, die richtigen Worte zu finden, um die Atmosphäre beizubehalten? Meiner Meinung nach ist das ausgesprochen gelungen.«

Mehrere Köpfe im Publikum nicken zustimmend.

»Wir hatten schon während der Entstehung des Buches einen engen Austausch. Daher konnte ich Loreena immer fragen, wie genau sie etwas meint und was ihr an bestimmten Formulierungen wichtig ist. Das war natürlich sehr hilfreich.«

Es gibt noch eine ganze Menge weitere Fragen aus dem Publikum, aber schließlich eröffnet Heidi den Büchertisch und Loreena signiert.

Der Verkauf läuft gut.

Neben Loreenas Bestsellern nehmen auch einige den ersten Band meiner neuen Schottland-Krimireihe mit, der gerade erst erschienen ist.

Hinterher trinken Loreena, Heidi und ich noch einen kleinen Absacker, dann begleiten wir Loreena in ihr Hotel.

»Magst du nach Hause laufen?«, fragt mich Heidi, als wir wieder allein sind.

Ich nicke. Ist nur eine gute halbe Stunde und die frische Luft dürfte mir guttun nach dem Trubel.

»Habt ihr schon über Loreenas nächstes Buch gesprochen?«

»Nur ganz kurz.«

»Und?«

Ich hebe die Hand mit erhobenem Daumen.

Sie nickt zufrieden.

Ich erinnere mich an unseren Rückweg von Loreenas Premierenlesung. Wie wunderbar sich doch ihr Leben verändert hat durch Heidis Autorinnen-Förderprogramm.

Ein Jogger hat Stephen Brown damals am Tag nach Loreenas und meinem letzten Treffen in »Laurie’s Café« gefunden. Frühmorgens im Holyrood Park, diesem Park, der irgendwie keiner ist, sondern ein Stückchen Wildnis mitten in Edinburgh. Hügel, Täler, kleine Seen, die dort »Lochs« heißen, Basaltklippen, Stechginster … Irgendwo unterhalb von Arthur’s Seat hat er gelegen, auf einem Stück Wiese neben einem wenig begangenen Pfad, eine fast leere Flasche Single-Malt-Whisky in der Hand und eine Überdosis irgendwelcher Tabletten im Blut.

Warum er ausgerechnet dort seinem Leben ein Ende gesetzt hat, kann bis heute weder Loreena noch die Polizei erklären. Aber was soll es anderes als Suizid gewesen sein? Nichts hatte auf Fremdeinwirkung hingedeutet.

Loreena saß zum Zeitpunkt seines Todes übrigens in »Laurie’s Café« und fachsimpelte mit einer deutschen Kollegin. Ihr Schock bei der Nachricht war groß und echt.

Arbeitskollegen munkelten von irgendwelchen sexuellen Abenteuern, die Stephen Brown wohl immer mal gerne wahrnahm, aber Genaueres konnten sie auch nicht sagen.

Heidi und ich hatten zufrieden festgestellt, dass er sich an ihre Anweisungen gehalten hatte, niemandem etwas von ihr und ihrer Verabredung zu erzählen.

Es ist erstaunlich, wie Heidi Männer um den Finger wickeln kann. Sie weiß immer die richtigen Knöpfe zu drücken, vor allem bei Männern wie Stephen, die sich stark und toll fühlen müssen. Und natürlich kennt sie sich durch ihre Schwester, die Apothekerin bei mir um die Ecke, mit Medikamenten sehr gut aus.

Ich frage nicht genauer nach, was sie ihm verabreicht hat.

Oder wie.

Das will ich gar nicht wissen.

Das ist nicht wichtig.

Wichtig ist, dass »Strangers« geschrieben wurde.

Dass Loreenas Talent sich entfalten darf.

Dass niemand sie mehr zurückhält.

»Ich habe da übrigens beim Schreiberinnen-Stammtisch eine neue Kollegin kennengelernt«, erzähle ich Heidi. »Ein echtes Talent. Aber sie kommt nicht so richtig dazu, ihr Manuskript weiterzuschreiben, weil sie ihre alte Mutter pflegen muss. Und die ist wohl ein ziemlicher Besen. Lechzt ständig nach Aufmerksamkeit. Auch zweifelt sie dauernd und unüberhörbar an, dass in ihrer Tochter eine Schriftstellerin steckt.«

Heidi bleibt stehen. »Du meinst …«

Ich nicke.

Ein neuer Fall für Heidis Autorinnen-Förderprogramm.

Denken Sie nicht auch?

Mord in der Buchhandlung

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