Читать книгу Anne und die Fantasie - Tessy Lerche - Страница 4
Bevor die Geschichte so richtig anfängt
ОглавлениеBevor die Geschichte so richtig anfängt, muss ich euch einiges über Anne erzählen.
Anne ist sieben. Sie geht in die erste Klasse, aber sie sagt immer gleich dazu, dass sie bald in die zweite käme. Denn wenn man sieben ist, möchte man unbedingt älter sein. Das geht wohl jedem so. Als ob das Leben mit acht oder neun oder zwölf aufregender wäre als mit sieben!
Dabei ist in Annes Fall das Leben schon aufregend genug. Wenn ich da nur an die Sache mit dem Ranzen denke! Aber Moment – das kommt ja erst viel später.
Jedenfalls: Die Geschichte fängt im Sommer an. Es dauert nicht mehr lange, da würde es Zeugnisse geben und Anne würde wirklich und endlich in die zweite Klasse gehen.
Annes beste Freundin heißt Lisa. Sie sitzen in der Schule nebeneinander. Nachmittags spielen sie zusammen. Und immer ist es Anne, die sich dabei etwas ausdenkt.
Alle Leute sagen, Anne hätte viel Fantasie. Anne weiß nicht genau, was Fantasie ist. Denn manchmal sagen die Erwachsenen es, um Anne eine Freude zu machen, und manchmal sehen sie nicht sehr freundlich aus, wenn sie es sagen.
Einmal hörte Anne ihre Lehrerin sagen: „Anne hat viel Fantasie.“ Und Annes Mutter freute sich darüber.
Aber ein anderes Mal gab es ein kleines Donnerwetter, weil Anne sich wieder einmal etwas ausgedacht hatte und behauptete, es sei die Wahrheit. Ihre Mutter sagte: „Du hast ja eine blühende Fantasie! Soll ich dir das etwa glauben?“
Anne weiß also, dass sie viel Fantasie hat, aber sie weiß noch nicht, ob das gut oder schlecht ist.
Wisst Ihr denn eigentlich, was Fantasie ist? Nein? Dann will ich Euch das mal erklären.
Da steht unten auf der Wiese neben Annes Haus ein riesiger Apfelbaum. Seine Zweige berühren schon den Boden, so alt und groß ist er, und sein Blätterdach kann den stärksten Regen abhalten. Das ist Annes und Lisas Lieblingsplatz. Es ist herrlich, darauf herumzuklettern, von einem Ast auf den anderen. Einmal wäre Anne sogar fast heruntergefallen.
Für Lisa ist es nur ein schöner, großer Apfelbaum. Für Anne aber ist es viel, viel mehr: Für sie ist er ein riesiges Haus, ein Schloss mit hohen Türmen und weiten Sälen, ausladenden Balkonen und breiten Treppen. Seine dicken Äste sind die Wände und die Türen. Man kann zwischen diesen Ästen hindurchgehen wie von einem Zimmer in das andere. Man kann sich unten im Stamm verkriechen wie in einem Burgverlies. Man kann auch auf den Gipfel klettern und sieht dann vom höchsten Turm des Schlosses weit in die Hügel und Felder hinein.
Und trotzdem ist es natürlich nur ein Apfelbaum. Doch Anne kann darin viel mehr sehen als andere.
Das macht ihre Fantasie.
Zu einem Schloss gehören natürlich eine Prinzessin und ein Prinz, der die Prinzessin heiratet. Deshalb kommt manchmal noch Stefan zu den beiden ins Apfelbaum-Schloss. Denn ein Junge ist ab und zu ganz nützlich, wenn man spielen will.
Anne, Lisa und Stefan wohnen in Klein-Roden. Das ist ein Dorf, das so klein ist, dass ihre Mütter und Väter zum Einkaufen mit dem Auto nach Groß-Roden fahren müssen, weil es dort einen Supermarkt gibt. Und auch die Schule ist da. Deshalb fahren die Kinder jeden Tag mit dem Schulbus nach Groß-Roden.
Doch dafür gibt es rund um Klein-Roden weite Felder, auf denen jetzt bald das Getreide goldgelb steht, herrliche bunte Wiesen, wo das Gras so hoch ist, dass man sich drin verstecken kann, und unzählige grüne Weiden, auf denen gescheckte Kühe, braune Pferde und dicke Schafe mit ihren Lämmern grasen. Und oben auf dem Hügel über Klein-Roden schließlich steht der Wald.
Ein ziemlich dunkler, ziemlich unheimlicher Wald.
Das mit dem Wald ist so eine Sache. Die Kinder halten immer eine sichere Entfernung zu ihm, denn er flößt allen einen ordentlichen Respekt ein. Anne ist sicher, dass dort eine Horde Wildschweine mit langen Hauern auf sie lauert.
Von den Räubern, die da hausen, ganz zu schweigen. Denn eines ist so klar wie frisch gekochte Hühnersuppe: Dass nämlich riesige Räuberbanden diesen Wald unsicher machen. Annes Mutter sagt zwar immer, dass es keine Räuber mehr im Wald gäbe, aber woher will sie das eigentlich so genau wissen? Und außerdem, wenn es keine Räuber mehr gibt, warum hatte sie dann Anne verboten, tiefer in den Wald hineinzugehen?
An diesem Sommernachmittag entdeckt Anne oben am Waldrand eine echte Räuberhöhle. Aber halt – das ist ja schon der Anfang der Geschichte.