Читать книгу Lysistratos oder Der Traum von Freiheit - T.F. Carter - Страница 6

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Es war einmal eine Biene, die hieß Lysistratos. Eigentlich hieß sie gar nicht Lysistratos, denn sie war eine Drohne, eine männliche Biene, und männliche Bienen hatten keine Namen. Einen Namen zu tragen, war eine Ehre, und er kam nur denjenigen Bienen zuteil, die Besonderes und Erinnerungswertes für das Volk bewirkt hatten. Und keine Drohne hatte je wirklich Besonderes bewirkt. Sie wurden geboren, aufgezogen, und dann verschwanden sie regelmäßig. Lysistratos hatte in seinem kurzen Leben schon viele Drohnen gesehen, aber anders als die Arbeiterinnen, die regelmäßig von ihren Verrichtungen, vollgepackt mit Nektar, zurückkehrten, schienen die älteren Drohnen fortzubleiben. Und es kümmerte niemanden.

„Ich bin schon ganz aufgeregt“, sagte Lysistratos‘ bester Freund, eine dicke und kraftvolle Drohne neben ihm, während beiden von einer jungen Arbeiterin Essen zugeschoben wurde.

„Worauf?“

„In mir juckt und kribbelt es“, antwortete der Freund und wedelte mit den Flügeln. „Ich will endlich fliegen!“

„Das kannst du ja bald“, nickte Lysistratos. „Morgen dürfen wir wohl ausfliegen.“

„Wie das wohl sein wird? Wenn man die Arbeiterinnen belauscht, dann muss das wundervoll sein. Schon ein Blick aus dem Flugloch heraus ist begeisternd. Hast du die Farben gesehen?“

„Farben? Du meinst, die Wiese mit den Blüten?“

„Ja, weiß, blau, rot, gelb. Alles ist vertreten!“ Erneut schwirrte der Freund mit den Flügeln und bekam einen Hieb von der Arbeiterin, die ihn fütterte.

„Drohne, halt still. Ich habe keine Lust, mehr Zeit auf dich fettes Wesen zu verschwenden.“ Wütend klapperte die Arbeiterin mit ihren kräftigen Beißwerkzeugen, und ihr Stachel zuckte bedrohlich.

„Natürlich, natürlich“, wisperte Lysistratos‘ Freund eingeschüchtert. „Ich wollte ja nur…“

„Es ist mir vollkommen egal, was du wolltest. Ich will einfach nur, dass du still bist und frisst.“

Schweigend kaute Lysistratos sein Mahl, und seine Gedanken schweiften in weite Ferne. Ihm gefiel nicht, wie die Arbeiterinnen mit ihnen umgingen. Sie waren unfreundlich zu den Drohnen. Lysistratos und seine Kameraden wurden zwar von ihnen gefüttert, und sie hatten viel Freizeit, mussten keine Arbeit verrichten, doch ständig wurden sie von den Arbeiterinnen herumgeschubst, weil sie ewig im Weg zu stehen schienen.

Wir sind ganz unten in der Hierarchie, dachte er, während er neidisch auf einen Trupp Arbeiterinnen spähte, die, bepackt mit Nektar, in den Stock zurückkehrten. Erfreut wurden sie von ihren Freundinnen begrüßt.

„Wir sind einer Hornisse begegnet“, keuchte eine der Ankömmlinge atemlos.

„Hat es einen Kampf gegeben?“ fragte die Torwache, eine große, starke Arbeiterin.

„Nein, nicht wirklich. Wir waren nur zu viert, und die Hornisse war sehr groß.“

„Hat sie angegriffen?“

„Nein, aber es gab hier seit Ewigkeiten keine Hornissen. Nur weiter unten, am Fluss.“

„Vielleicht übersiedelt ein neues Volk?“

„Wir sollten das Königin Rubinrot melden…“

Lysistratos blickte den vier eingetroffenen Arbeiterinnen nach, die sich auf den Weg zu ihrer Königin machten, während die Nachricht über die Hornisse von Arbeiterin zu Arbeiterin weitergegeben wurde. Die Drohnen wurden hierbei übersehen.

Wir sind nicht wert, derartige Informationen zu erhalten, dachte Lysistratos. Warum eigentlich nicht? Aber wen konnte er fragen? Die jungen Arbeiterinnen hielten sich an die Königin oder an ältere Arbeiterinnen, die schon viel Erfahrung hatten. Einige der Arbeiterinnen wie zum Beispiel Chalice, Walburga oder Rosenduft hatten sogar noch die Große Kälte erlebt, die viele Arbeiterinnengenerationen zurücklag. Königin Rubinrot, so wurde gemunkelt, hatte bereits vier oder fünf dieser Großen Kälten überstanden. Diese Bienen konnten den jungen Arbeiterinnen viel erzählen. Sie hatten Erfahrung.

Aber es gab keine alte Drohne im Stock. Keine einzige. Die ältesten waren nur unwesentlich älter als Lysistratos, und ihr einziges Gesprächsthema war, wenn es nicht gerade um Essen ging, das Große Fliegen. Andere Themen interessierten die Drohnen nicht.

Ich bin anders, dachte Lysistratos. Ich möchte wissen, warum Dinge so sind, wie sie sind. Vielleicht habe ich deshalb auch einen Namen? Lysistratos… Er wusste selbst nicht, warum er sich so nannte. Der Name war ihm in den Sinn gekommen, einfach so. Und er hatte ihn noch niemandem gesagt. Eine Drohne mit einem Namen? Undenkbar.

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Lysistratos wich zurück, als er Königin Rubinrot auf dem Gang zum Flugloch entdeckte. Junge Arbeiterinnen umwimmelten sie, reinigten sie, reichten ihr kleine Leckereien zu. Hinter Rubinrot folgten Dutzende ihrer Großen Töchter, und jede Arbeiterin, die gerade nichts zu tun hatte, und insbesondere jede Drohne wich respektvoll aus.

„Das ist die Abteilung der Großen Töchter von heute!“ wisperte Lysistratos‘ Freund.

„Was macht eine Große Tochter eigentlich genau aus?“ fragte Lysistratos. „Was unterscheidet sie von den Arbeiterinnen? Ich habe das immer noch nicht wirklich verstanden.“

„Keine Ahnung, was die unterscheidet“, zuckte der Freund mit seinen Fühlern. „Die Großen Töchter sind größer, und sie treten zum Großen Fliegen an. Aber ist doch unwichtig.“ Seine Stimme zitterte vor Erregung, und er stieß Lysistratos mit seinem linken Mittelbein in die Seite. „Sag mal, hast du dir mal Amalthea näher angeschaut? Ist sie nicht ein echter Hingucker?“

Hinter Rubinrot lief eine fast ebenso große Biene. Selbst die Drohne Lysistratos hatte mitbekommen, dass Amalthea eine Lieblingstochter von Rubinrot war, und das hatte etwas zu bedeuten. Schließlich hatte sie viele, viele Dutzend Großer Töchter, und über lange Zeit waren täglich neue hinzugekommen. Ganz zu schweigen von den unzähligen Arbeiterinnen.

„Dieser glänzende Pelz, diese Beine, diese Augen, diese Flügel!“ schwärmte der Freund. „Sie ist so schön!“

Lysistratos ließ seinen Blick über Amalthea laufen und musste seinem Freund Recht geben. Die junge Große Tochter war eine wirkliche Schönheit. Tief in seinen Eingeweiden vibrierte etwas, und er spürte, dass etwas, was die Drohnen anstelle des Stachels hatten, ohne dass er es kontrollieren konnte, ein- und ausklappte. Er hatte dies schon vor zwei Dunkelheiten beobachtet, als ein anderer Schwarm Großer Töchter mitsamt vieler Drohnen den Stock verlassen hatte. Eine weitere Lieblingstochter Rubinrots, Wiesengrün, hatte ihn hierbei versehentlich kurz gestreift, und sein Körper hatte Reaktionen gezeigt, die er nicht verstand. Wiesengrün war dann ausgeflogen, verfolgt von bestimmt einem Dutzend aufgeregter Drohnen, und Lysistratos hatte einige Zeit gebraucht, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Ich darf mit Amalthea ausfliegen“, jauchzte Lysistratos‘ Freund.

„Halt den Mund, Drohne!“ Rubinrots Augen waren auf ihn gerichtet, und der Freund kauerte sich demütig zusammen, bis die Königin sich ihren Großen Töchtern zuwandte.

„Sie ist schön, so schön…“ seufzte der Drohn auf Lysistratos‘ anderer Seite.

„Ich habe gehört, es sollen auch andere Große Töchter unterwegs sein“, flüsterte eine weitere Drohne.

„Und das bedeutet?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich kaum noch beherrschen kann, wenn ich Tardena sehe. Ich werde ihr folgen bis an mein Lebensende… Aber ich werde auch nach anderen Großen Töchtern schauen, wenn wir fliegen.“

„Was passiert beim Großen Flug?“ fragte eine kleine Drohne, die erst heute geschlüpft war und sich unter die großen Drohnen gemischt hatte.

„Das weiß ich auch nicht“, gab Lysistratos zurück. „Man weiß das wohl, wenn man abfliegt.“

„Okay“, antwortete die kleine Drohne und krabbelte zurück, um sich von einer Arbeiterin einen Happen Essen abzuholen.

Okay? dachte Lysistratos. Das ist okay für Dich? Für mich ist das nicht okay. Die Königin erklärt ihren Großen Töchtern alles genau, erzählt ihnen, dass sie einen neuen Hofstaat zu gründen haben, wie sie das machen sollen, worauf sie achten sollen, wo Gefahren lauern. Und die Drohnen, die mitfliegen? Was genau haben wir zu tun? Wir können nicht arbeiten, nicht kämpfen… Wozu brauchen uns die Großen Töchter? Warum sagt uns das niemand?

„Aus dem Weg!“ Walburga, die alte Arbeiterin, bahnte sich eine Gasse durch die Drohnen hindurch zu ihrer Königin. Sie mochte nicht mehr so beweglich sein und flog auch nicht mehr aus, aber ihr Biss war immer noch schmerzhaft.

Lysistratos sprang zur Seite, gerade noch rechtzeitig, ein „Entschuldigung“ murmelnd.

„Ist mir egal, Drohne. Du bist unwichtig. Ich habe Wichtiges zu tun.“ Ohne einen weiteren Blick auf ihn krabbelte Walburga voran.

„Hahaha!“ lachte ihre beste Freundin Rosenduft. „Aber lass doch den Drohn. Er kann doch nichts dafür, dass er ein Drohn ist.“ Beinahe mitleidig beäugte sie den jungen Lysistratos.

„Unwichtig, Rosenduft. Unwichtig!“

Rosenduft klapperte belustigt mit ihren Beißwerkzeugen. Auch sie war schon sehr alt und konnte sich kaum noch bewegen, aber sie gab ihre Erfahrungen an die jungen Arbeiterinnen weiter. „Mach dir nichts draus, Drohne. Walburga ist halt so.“

Es lief Lysistratos heiß den Rücken hinunter. Eine Arbeiterin hatte ihn angesprochen. Und das ohne Befehlston. Ohne Häme. Er wollte sich bei Rosenduft bedanken, doch sie war schon, leicht ächzend, ihrer Freundin gefolgt. Nachdenklich beobachtete Lysistratos die alte Arbeiterin, während er dem Gespräch folgte, das nun Königin Rubinrot mit ihren Großen Töchtern führte.

„Ihr habt es von Walburga gehört, meine Töchter“, vermeldete die Königin. „Weitere Hornissen wurden auf der Kleewiese beobachtet. Wir werden uns zeitnah darum kümmern müssen. Damit meine ich uns, mein Volk hier. Eure Aufgabe ist es nicht, in einen Krieg mit Hornissen zu ziehen. Eure Aufgabe ist es, euer eigenes Volk zu gründen. Und dazu müsst ihr klug sein, tapfer und flexibel. Weicht den Risiken aus. Ihr habt nur euch. Aber ihr seid gut vorbereitet. Ihr seid gesund und stark, meine geliebten Töchter.“

Sie haben nur sich? grübelte Lysistratos. Wo bleiben die Drohnen? Oder sind wir noch unwichtiger als unwichtig?

„Und nun, geliebte Töchter, ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Jede einzelne von euch bekommt meinen Segen. Längst nicht jede von euch wird ein Volk gründen können, aber mögen es so viele sein wie möglich.“

Liebevoll tauschte Rubinrot Zeichen der Zuneigung mit jeder einzelnen ihrer Töchter aus, und nach und nach flog eine jede aus dem Stock. Unruhe machte sich unter den Drohnen breit. Einige drängten zum Ausgang, wurden auch nicht aufgehalten. Tardena flog ab, und sofort folgte ihr der Drohn, der sie so bewundert hatte.

„Worauf wartet ihr eigentlich?“ raunzte eine Arbeiterin die Drohnen an.

„Echt?“ jauchzte eine dicke Drohne, sprang in die Höhe und flog den Großen Töchtern nach.

„Na klar, habt euren Spaß!“ lachte eine andere Arbeiterin. Weitere Arbeiterinnen fielen in das Gelächter ein.

Während die meisten Drohnen sich das nicht zweimal sagen ließen und zum Ausgang drängten, krampfte sich Lysistratos‘ Magen zusammen. Spaß? Sie lachten zwar, doch das Lachen war irgendwie merkwürdig. Wartete dort wirklich Spaß auf sie? Oder was sonst?

„Amalthea fliegt“, stöhnte Lysistratos‘ Freund. „Ich kann nicht mehr!“

„Was kannst du nicht mehr?“

„Ich weiß nicht, ich will zu ihr hin, zu ihr fliegen. Sie riecht so gut…“

Lysistratos beobachtete, wie Königin Rubinrot sich von Amalthea verabschiedete, und auch er konnte sich des Zaubers, der von dieser Großen Tochter ausging, nicht erwehren.

„Komm mit!“ freute sich der Freund. „Wir beide…“

Ehe Lysistratos es sich überlegen konnte, wurde er mitgerissen, von seinem Freund, von ein paar anderen Drohnen. Er hörte noch, wie hinter ihm Rubinrot rief: „Amalthea, sei vorsichtig. Sei eine starke Königin!“ Und er hörte, wie die Arbeiterinnen hinter ihnen jubelten, während sie sich in die Lüfte schraubten.

Das Licht der Großen Gelben Scheibe am Himmel war hell, viel greller, als er vermutet hatte. Es war heiß, doch ein kühler Wind wirbelte die jungen Bienen in die Lüfte. Er sah Amalthea vor sich, zahlreiche Drohnen um sie herum, er sah andere Große Töchter, umschwirrt von ihren Begleitern. Und er bemerkte ihm fremde Bienen, fremde Große Töchter. Einige seiner Drohnenfreunde ließen von den Großen Töchtern ihres Volkes ab und flogen zu den unbekannten Großen Töchtern, so wie sich auch Drohnen aus anderen Völkern nun zu ihnen gesellten.

Nur aus den Augenwinkeln nahm er die Umgebung wahr, die Wiese, die Blumen, den Wald, all das, was er bisher nur aus dem Flugloch hatte erspähen können. Das Fliegen war schön, die Luft war schön, die Große Gelbe Scheibe war schön… Amalthea war schön.

Die Große Tochter war nun zum Waldrand geflogen, schwirrte in der Höhe, umschwärmt von vielleicht einem Dutzend bekannter und unbekannter Drohnen. Lysistratos roch Amalthea, ihm wurde schwindlig, ein Teil seines Körpers klappte ein und aus, ohne dass er es kontrollieren konnte. Er musste zu Amalthea…

Eine Drohne klammerte sich im Flug an Amalthea, und er sah, dass sein Kamerad das Teil, das ein Eigenleben zu führen schien, in irgendeiner Weise in die Große Tochter schob, entrückt jubelnd.

„Ich will auch!“ schrie Lysistratos‘ Freund.

Eine andere Drohne rempelte Lysistratos fort, und als er sich wieder gefangen hatte, war der Drohn auf Amalthea verschwunden, und nun hatte sein Freund die Große Tochter bestiegen, drängte sich in sie.

„Amalthea!“ seufzte der Freund glücklich. „Ach, ist das wunderbar!“

Und nun? dachte Lysistratos. Sein Körper fühlte sich an, als ob er platzen müsste. Ich glaube, ich werde wissen, was zu tun ist.

In diesem Augenblick wurde Lysistratos‘ Freund starr, seine Flügel hörten auf zu schlagen, und er glitt von Amalthea, stürzte, ohne sich abzufangen, zu Boden.

„Pass auf!“ schrie Lysistratos, während weitere Drohnen sich auf die Große Tochter stürzten. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus, überdeckte seine Hochstimmung. Er glitt nach unten zur Erde, fand seinen Freund und gleich daneben zwei weitere Drohnen. Keiner der drei rührte sich.

„He!“ rief Lysistratos, landete zwischen ihnen, stieß sie an…

Sie waren tot!

Entsetzt blickte er nach oben, sah dort Amalthea fliegen umschwärmt von einem halben Dutzend weiterer Drohnen. Wütend stieß er sich vom Boden ab, sah zwei weitere Kameraden von der Großen Tochter stürzen, dann einen dritten, einen vierten, bis nur noch er übrig war.

„Mörderin!“ brüllte er. „Ihr seid eine Mörderin!“

Erstaunt wandte sich Amalthea um, kam auf ihn zu. „Mörderin? Warum?“ Ihre Beißwerkzeuge klappten aufgeregt auf und zu. Ihre Stimme war merkwürdig entrückt. „Möchtest du dich nicht mit mir vereinen, Drohne?“

Natürlich will ich! kommandierte Lysistratos‘ Körper. „Ihr tötet sie!“

„Wen, Drohne? Die anderen Drohnen?“ Amalthea seufzte laut auf. „Das ist eure Bestimmung. Ihr gebt mir euren Samen, und ich gründe damit einen neuen Bienenstaat. Ich bin nun nicht mehr die Große Tochter Amalthea. Ich bin Königin Amalthea. Gib mir auch deinen Samen, Drohne, damit du zu irgendetwas nütze bist.“

„Nein!“ schrie Lysistratos, „das ist unbienisch!“

„Unbienisch?“ Verwundert flog Amalthea an ihn heran. „Unbienisch ist, sich dem Kollektiv zu widersetzen. Sich seiner Bestimmung zu widersetzen. Du bist eine Drohne. Ein Nichts. Du hast ausschließlich mich zu befruchten. Sonst nichts. Tue es jetzt, oder suche dir eine andere Große Tochter. Minderwertigen Samen von wenig entschlusskräftigen Drohnen kann ich nicht gebrauchen. Aber sterben musst du so oder so.“

„Ich will aber nicht sterben!“ verzweifelt blickte Lysistratos nach unten, wo einige tote Drohnen zu erkennen waren. Amaltheas Geruch war betörend, aber die Angst vor dem Tod war stärker.

„Mach‘ was du willst, Drohne.“ Spöttisch wedelte Amalthea mit den Fühlern. „Ich meinenteils habe einen Staat zu gründen.“ Sie drehte sich schon fast fort, bevor sie sich noch einmal Lysistratos zuwandte: „Immerhin, eine Drohne, die was zu sagen hat… Interessant, sehr interessant. Meine Mutter hat mir nicht gesagt, dass es so etwas gibt. Ich muss darüber nachdenken.“

„Ja!“ schrie Lysistratos, „denkt darüber nach! Wie ihr uns Drohnen tötet!“

„Ich töte nicht, Drohne. Du erfüllst nur deine Pflicht, wenn du mich besteigst.“

„Lysistratos! Ich heiße Lysistratos!“

Amalthea riss erstaunt ihre Mundwerkzeuge auseinander: „Bitte was?“

„Mein Name ist Lysistratos!“

„Drohnen haben keine Namen“, schüttelte die junge Königin ihren Kopf.

„Ich schon. Wir sollten alle Namen haben.“

„Wozu? Ihr sterbt eh.“

Seine Wut machte Lysistratos mutiger und mutiger, vor allem, da Amalthea keine Anstalten machte, ihn zu attackieren. Beinahe wirkte sie interessiert, so dass er schrie: „Ihr sterbt auch, Königin!“

„Natürlich, aber erst nach einem langen Leben. Wenn ich Glück habe, werde ich, wie meine Mutter, mehrere Große Kälten überstehen. Du nicht, Drohne.“

„Lysistratos.“

„Meinetwegen auch Lysistratos.“ Amalthea lachte. „Du amüsierst mich, Drohne. Was denkst du, was du jetzt machen sollst? Zurück in den Stock? Sie werden dich demnächst hinausschmeißen. Und alleine essen kannst du nicht. Du wirst verhungern. Wenn du aber mich besteigst, hast du einmal im Leben die wahre Freude. Und weil du mich wirklich amüsierst, Lysistratos-Drohnerich, werde ich dir alles geben, dass du nicht sagen kannst, es sei unangenehm gewesen. Komm her.“

Weiterer Geruch umströmte Lysistratos, und er wich zurück, obwohl ein Teil seines Körpers zu der jungen Königin drängte.

„Sei Teil meines Staates, Lysistratos. Du Drohne mit Namen.“

„Teil Eures Staates? Es wird Euer Staat sein. Amaltheas Staat, nicht aber Amaltheas und Lysistratos‘ Staat.“

Laut lachte die Königin vor ihm auf: „Natürlich nicht. Ich werde leben. Du wirst sterben. Aber glücklich sterben. Verlange nicht zu viel vom Leben. Es ist das Beste, das du bekommen kannst.“

„Nein, nein!“ rief Lysistratos und flog von Amalthea fort in Richtung des Bodens. Nun nahm er auch weitere junge Königinnen wahr. Und überall lagen Drohnen. Tote Drohnen. Gerade gestorbene und auch die Kameraden, die während der letzten Großen Helligkeiten den Stock verlassen hatte. Sie waren dazu da, um zu sterben!

Verzweiflung machte sich in ihm breit. Wohin sollte er? Was sollte er tun? Noch immer sehnte sich ein Teil seines Körpers nach Vereinigung mit Amalthea. Aber er musste die anderen Drohnen warnen. Er konnte sie nicht ihrem Schicksal überlassen.

Der Stock seines Volkes war direkt vor ihm, und er sah Arbeiterinnen, die geschäftig ein- und ausflogen. Mitten im Flugloch stand Walburga und beobachtete die Umgebung, stets darauf vorbereitet, bei einem Angriff Alarm zu schlagen.

„Hallo, wen haben wir denn da?“ lachte die alte Arbeiterin, als Lysistratos vor ihr landete. „Hast du keine abbekommen? Hast du dich abdrängen lassen?“

Eine andere Arbeiterin lachte ebenfalls.

„Lass ihn“, erwiderte Rosenduft. „Wenn er heute nicht zum Zug gekommen ist, dann wird er es eben beim nächsten Mal.“

„Es gibt nicht mehr viele Große Töchter, meine Liebe“, schüttelte Walburga die Fühler. „ Die Saison der Großen Flüge geht zu Ende. Die Drohne hat nicht mehr viele Möglichkeiten.“

„Dann solltest du dich wohl beeilen“, wandte sich Rosenduft Lysistratos zu und tätschelte ihm gönnerhaft den Flügel.

„Genau“, kicherte Walburga. „Bevor wir hier den Großen Kehraus machen, wenn es keine Großen Töchter mehr gibt. Dann gibt es hier auch keine Drohnen mehr.“

Eilig krabbelte Lysistratos in den Stock, kaum sehend, wohin er lief. Sterben! Kehraus! Keine Drohnen! Sie würden Drohnen, die nicht den jungen Königinnen folgten, einfach hinauswerfen, und dort würden sie verhungern. Sie würden alle sterben. So oder so. Amalthea hatte Recht.

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Nach der Großen Dunkelheit erwachte Lysistratos. Er hatte lange nachgedacht, was er tun könne. Er alleine, soviel war sicher, konnte nichts tun, aber er hatte gelernt, dass die Drohnen dafür sorgten, dass ein Bienenvolk erst entstehen konnte. Wie wäre es, wenn die Drohnen sich in Zukunft nicht mehr töten lassen würden?

Vorsichtig hatte er mit einigen seiner Kameraden gesprochen. Er hatte geglaubt, dass er auf Erstaunen oder Entsetzen stoßen würde, doch die meisten lachten nur.

„Was? Wir müssen sterben? Na ja, so wie du das schilderst, ist es wenigstens ein schöner Tod“, sagte eine Drohne.

„Sterben? Das müssen wir alle“, erwiderte eine zweite. „Ich habe auch Arbeiterinnen sterben sehen. Und das, was ich in meinem Körper fühle, das ist es wert, dafür zu sterben. Immerhin muss ich nicht schuften, und ich werde gefüttert. Das ist doch ein schönes Leben.“

„Aber…“, machte Lysistratos.

„Sag‘ mal, du hast wirklich abgelehnt, Amalthea zu besteigen?“ eine dritte Drohne schüttelte den Kopf. „Diese Flügel, diese Taille, dieser Duft… Ach, wäre ich gestern schon alt genug gewesen, ich wäre ihr gefolgt.“

„Du Depp!“ erregte sich Lysistratos, „danach hast du keine Flügel, keine Taille, keinen Duft mehr! Du bist tot, weg, nicht mehr da. Nichts mehr essen, keine Luft, kein Leben! Kapierst du das? Kapiert ihr das?“

Schweigen…

Die Drohnen hatten Lysistratos die Große Helligkeit über misstrauisch beäugt, und sie mieden ihn. Selbst die Arbeiterinnen hatten bemerkt, dass etwas Seltsames vor sich ging. Während dieser Großen Helligkeit hatte es keinen Großen Flug gegeben, aber es sah danach aus, dass morgen die letzten Großen Töchter ausfliegen würden. Xenia, Königin Rubinrots jüngste Große Tochter, krabbelte auffällig oft in Richtung des Flugloches. Bisher hatte sie sich davon ferngehalten. Lysistratos mochte Xenia. Sie war überaus hübsch und sehr zierlich. Einzig und allein ihr rechter Fühler war etwas geknickt, aber das gab ihr eine verwegene Note. Xenia kümmerte sich zwar nicht um die Drohnen, sie ärgerte sie aber auch nicht. Und das rechnete ihr Lysistratos hoch an. Amalthea… Amalthea hatte die Drohnen auch nicht drangsaliert, erinnerte er sich. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Zwar auf ihre Weise und herablassend, doch sie hatte sogar seinen Namen akzeptiert. War das nicht schon etwas, dass eine Königin einem Drohn überhaupt zugehört hatte?

Ich kann etwas ändern! sagte Lysistratos immer wieder zu sich. Wenn nur diese anderen Drohnen nicht so körpergesteuert wären.

„Du?“

Lysistratos bemerkte die kleine Drohne, die kurz vor seinem Ausflug mit Amalthea am Flugloch gestanden hatte.

„Stimmt das wirklich alles, das wir nur dazu da sind, dass wir sterben?“

„Ja. Warum erzähle ich das sonst?“

„Ich habe mit ein paar von den ganz jungen Drohnen gesprochen. Sie haben Angst, dass sie aus dem Stock geworfen werden, wenn alle Großen Töchter fort sind und sie noch nicht ausfliegen können.“

„Das wird so geschehen.“

„Weißt du das sicher? Warum sollten die Arbeiterinnen das tun?“

„Weil wir einzig und allein dazu da sind, unseren Samen den Großen Töchtern zu schenken. Ansonsten stören wir nur.“

Die Fühler der kleinen Drohne wippten nachdenklich: „Das ist nicht fair, oder?“

„Nein, das ist es nicht.“

„Wir haben keine andere Wahl?“

„Nicht, wenn wir nichts dagegen tun.“

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Während der folgenden Großen Helligkeit versammelten sich die letzten Großen Töchter für den letzten Großen Flug der Saison. Alle verbliebenen Drohnen waren am Flugloch versammelt, doch diesmal war kein aufgeregtes Summen zu hören. Es war überraschend still.

Königin Rubinrot schien zunächst nichts davon mitzubekommen. Sie verabschiedete sich von ihren Töchtern, und dann flogen die ersten davon. Einige Drohnen wollten ihnen folgen, wurden aber von ihren Kameraden zurückgehalten.

„Was ist los?“ Überrascht verzog Walburga die Beißwerkzeuge. „Müssen wir euch zu eurem Glück zwingen, Drohnen?“

„Zu unserem Glück?“ Lysistratos trat vor. Er zitterte am ganzen Leib. Er war zwar größer als Walburga, und er war auch kräftig und gesund, doch er hatte nur schwache Beißwerkzeuge und keinen Stachel. Walburga hingegen war eine Kämpferin. Und sie war nur eine von Hunderten in diesem Volk.

„Was willst du damit sagen, Drohne?“

„Ich will damit sagen, dass keine Drohne diesen Stock verlassen wird.“

„Was?“ Rubinrot hatte die Diskussion mitbekommen und krabbelte zu ihnen. „Was höre ich da? Eine Drohne, die nicht fliegen möchte?“

„Nicht eine Drohne, erhabene Königin.“ Demütig senkte Lysistratos seinen Kopf und zog die Fühler nach unten. „Alle Drohnen. Wir wollen nicht sterben.“

Kein Geräusch war zu hören. Alle anwesenden Bienen schauten nun auf Rubinrot und Lysistratos.

„Wir schmeißen sie einfach raus“, brummte Walburga. „Unruhestifter. Hat sich dann ganz schnell erledigt, und nach der nächsten Großen Kälte haben wir wieder eine vernünftige Drohnen-Truppe.“

„Eine, die das macht, was ihr wollt?“ schrie eine Drohne.

„Eine Truppe, die einfach stirbt?“ rief eine andere. Zustimmendes Gemurmel durchlief die Drohnen.

„Lasst sie uns rauswerfen, erhabene Königin“, grunzte Walburga. „Wir brauchen sie nicht.“

„Und so etwas habe ich gefüttert“, raunzte eine andere Arbeiterin und schüttelte angewidert ihren Kopf, nur um sich sofort mehrfach die Mundwerkzeuge zu reinigen.

„Wir werden nur deshalb gefüttert, damit wir Eure Großen Töchter befruchten“, sagte Lyistratos mit zitternder Stimme. Er hatte große Angst. Sie hatten alle Angst, doch sie hatten, bis tief in die Dunkelheit, mit den anderen Drohnen gesprochen. Erst er und die kleine Drohne, und dann wurden es immer mehr. Lysistratos hatte gelernt, dass Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit zum Ziel führen konnten.

„Stimmt“, erwiderte eine der Großen Töchter. „Und wo ist das Problem?“

„Ihr lebt, wir aber nicht“, fluchte eine erregte Drohne.

„So ist es eben. Du kannst es nicht ändern.“

Eine weitere Große Tochter mischte sich ein: „Seht es mal so. Ihr Schmarotzer habt ein schönes Leben gehabt, ihr wurdet gefüttert und beschützt durch uns und unsere Schwestern, die Arbeiterinnen…“

„Wir sind Eure Brüder!“ rief Lysistratos.

„Brüder?“ Verwundert schauten die Großen Töchter und die Arbeiterinnen zu ihm.

„Wir haben alle dieselbe Mutter. Königin Rubinrot.“

„Du stammst aus einem minderwertigen Ei, Drohn“, grollte die alte Königin. „Du maßt dir an, an dem Gesetz des Lebens zu rütteln? Was fällt dir ein?“

„Rausschmeißen!“ vermeldete Walburga zum wiederholten Mal.

„Bruder!“ lachte eine der Großen Töchter und wackelte belustigt mit den Fühlern. „Er kommt aus einem unbefruchteten Ei und bildet sich ein, er sei etwas Besonderes.“

„Ich bin nichts Besonderes“, erwiderte Lysistratos. „Ich möchte nur nicht unnütz sterben.“

Wütend funkelte ihn Rubinrot mit ihren Facettenaugen an: „Du wagst es, dich als mein Kind zu bezeichnen? Sei froh, wenn du eine meiner Töchter anrühren darfst!“

„Sie muss angerührt werden, ansonsten gibt es keine neuen Völker. Wenn wir Drohnen nicht mitmachen, dann sterbt Ihr aus.“

„Jawohl!“ riefen die Drohnen im Chor.

Selbst Walburga verschlug es nun die Sprache. Rosenduft war neben sie getreten und schien beinahe belustigt ihren Kopf zu wiegen. Und Xenia, die zarte Große Tochter, Rubinrots Jüngste, warf Lysistratos einen Blick zu, den er nicht deuten konnte, aber ihm wurde warm am ganzen Körper.

„Mutter“, sagte eine der anderen Großen Töchter in die folgende Stille, „wenn diese Drohnen nicht mitmachen, werden wir nie Königinnen. Wir werden nur Drohnen gebären. Widerliche Drohnen…“ Die junge Biene war den Tränen nahe.

„Buuh“, machten einige der Drohnen.

„Und so etwas wollte ich anfassen!“ kreischte eine kleine Drohne, die sich vorher noch lange ausschließlich darüber ausgelassen hatte, wie schön doch die Großen Töchter seien, ohne Lysistratos zuzuhören. Lysistratos hatte gelernt, wie schmal der Grat der Aufmerksamkeit war, wie wankelmütig das Wesen einer Biene sein konnte…

„Ihr werdet sie anfassen!“ Drohend kam eine große Arbeiterin näher, wurde aber von Rosenduft zurückgehalten.

„Was sollen derartige Drohungen? Wenn du die Drohne tötest, wird sie auch niemanden befruchten.“

„Genau!“ Mutig trat Lysistratos einen Schritt vor. „Wir machen das nicht mit!“

Rubinrot wischte sich mit einem Fuß über ihre Fühler: „Na schön, Drohne…“

„Mein Name ist Lysistratos.“

„Drohnen haben keine Namen.“

„Ab jetzt schon. Ich bin Lysistratos, das da ist Rindenmulch, der dort ist Zwetschgenkuchen und der Kleine da hinten ist Hartmut.“

Rosenduft fing an zu kichern: „Was sind das für Namen?“

„Findest du Rosenduft etwa besser?“

Walburga trat drohend vor: „Du wagst es…“

„Weshalb sollte ich mir die Namen merken?“ fragte Xenia in die Eskalation hinein. „Ihr lebt nur kurz, und ihr seid dazu da, Leben in uns zu setzen. Leben für ein neues Volk.“

„Aber es ist unser Leben.“

„Es ist eure einzige Aufgabe“, zischte Rubinrot. „Nur dazu werdet ihr aufgezogen und ernährt. Daran zu rütteln, bringt den Untergang für ein ganzes Volk. Merkt ihr das nicht?“

„Vor allem ist der Vorstoß mit einem Schwachpunkt versehen“, sinnierte Xenia.

Ihre Mutter drehte sich um: „Du bist meine Kleinste, aber meine Cleverste. Du hast den Fehler im Denken dieser Drohne gefunden?“ Stolz blickte sie auf ihre Tochter.

„Aber natürlich, Große Mutter.“ Beinahe mitleidig schaute Xenia zu den Drohnen, verharrte ein wenig länger auf Lysistratos. „Wenn wir ausschwärmen, sind wir nicht von euch abhängig. Es gibt genügend andere Drohnen von anderen Völkern.“

Lysistratos spürte, wie seine Beine zitterten. Das hatte er nicht bedacht.

„Hahaha“, lachte Walburga. „Das geschieht, wenn eine Drohne denkt. Es kommt nichts dabei heraus.“

„Immerhin hat dieser Lysistratos bewirkt, dass wir überhaupt mit ihnen sprechen“, grübelte Rosenduft, mehr zu sich selbst als zu anderen sprechend.

Ein großer Teil der Drohnen wurde unruhig. Lysistratos wusste, dass er etwas tun musste, aber was?

„Zudem, Lysistratos…“ – Xenia krabbelte in seine Nähe – „zudem, was genau wäre dein Plan? Wir brauchen einander. Ohne Drohnen können wir nicht Königinnen eines neuen Volkes werden. Ohne neues Volk wird es auch keine neuen Drohnen geben. Was hast du davon? Vernichtest du unsere Zukunft, nur weil du leben möchtest?“

Immerhin nennt auch sie mich beim Namen! dachte der Angesprochene. Aber Xenia hatte genau den Schwachpunkt angesprochen, den Punkt, zu dem keine der Drohne eine Idee gehabt hatte, als sie sich besprochen hatten. Was genau sollten ihre Forderungen sein? Weiterzuleben wäre das eine, nur was würde das auf Dauer bringen?

„Ich habe genug gehört“, rief eine der Großen Töchter. „Ich möchte nun los. Und ich hoffe, derartige Drohnen wie diese hier nie zu bekommen. Folgt mir also bloß nicht. Ich nehme Drohnen, die nicht infiziert sind.“

Einige der Arbeiterinnen klatschten Beifall, andere verharrten neugierig, was nun folgen würde. Erneut wischte sich Rubinrot über ihre Fühler: „Xenia und Blaubach haben Recht, Drohne. Euer Aufstand macht keinen Sinn. Wir schmeißen euch hinaus. Ihr werdet so oder so sterben. Wir brauchen keine Schmarotzer.“

„Wir werden andere Drohnen aufwiegeln“, rief die kleine Drohne, die nun auf den Namen Hartmut hörte, eilte zum Flugloch und schwirrte, ehe jemand reagieren konnte, davon. Mehrere andere Drohnen stürzten ebenfalls zum Ausgang, überrannten die Arbeiterinnen und Wächterinnen geradezu.

„Revolution!“ schrie jemand, stieß eine Arbeiterin vom Flugloch, erhielt dafür einen Schlag von Walburga, so dass auch er aus dem Loch stürzte.

In den Tumult hinein drängte sich Rubinrot zwischen die verbliebenen Drohnen und das Flugloch. Wut stand in ihren Augen: „Sünde! Ketzerische Gedanken! Verrat!“ Ihre Fühler streckten sich, und dann zeigte sie auf die Drohnen. „Tötet sie! Merzt diese Gedanken aus!“

Die Arbeiterinnen und auch einige der Großen Töchter gehorchten sofort. Die Drohnen hatten keine Chance. Sie waren zwar größer als die Arbeiterinnen, nur sie waren nicht geschult im Kampf.

Lysistratos wurde gepackt und fortgerissen, gegen die Wand geschleudert. Aufstöhnend versuchte er, auf dem Rücken liegend, auf die Beine zu kommen, als er Xenia über sich erblickte. Sie packte ihn, schleifte ihn weiter, zu Rosenduft.

„Prinzessin?“ fragte die alte Kriegerin, sie hatte noch nicht in den Kampf eingegriffen, blockte sogar ihre Freundin Walburga ab, die unruhig auf und ab wippte und „Rauswerfen!“ rief.

„Du hast nichts gesehen“, flüsterte Xenia.

„Selbstverständlich nicht“, neigte Rosenduft ihren Kopf.

Dann ließ Xenia Lysistratos fallen, über die Kante des Flugloches.

„Warte auf mich, am Waldrand“, hörte er sie. „Du wirst mich riechen. Hab‘ keine Angst.“

Er stürzte, immer noch geschockt vom Gemetzel im Bienenstock, fing sich, breitete die Flügel aus und schwebte dann über die Wiese, empor zum Waldrand. Vorsichtig spähte er zurück und sah eine der Großen Töchter, die ihm folgte, begleitet von mehreren Arbeiterinnen. Es war nicht Xenia. Es war Doppelstern, und diese Große Tochter hatte sich immer ein Vergnügen gemacht, die Drohnen herumzustoßen. Lysistratos wusste sofort, Doppelstern würde ihn töten. Eilig brauste er durch die Gräser, suchte Deckung, fand eine kleine Mulde und kauerte sich dort unter ein Blatt. Über ihm vernahm er das Sirren der Bienenflügel, als Doppelstern und ihre Begleiterinnen über ihn hinwegflogen, auf der Suche nach ihm. Lysistratos wagte nicht zu atmen, musste dann allerdings die Luft aus seinen Tracheen ausstoßen.

„Holla, was ist das denn?“

Lysistratos wirbelte herum und sah ein kleines geflügeltes Wesen hinter sich sitzen. Es erinnerte entfernt an eine Biene, aber er wusste nicht, was es war.

„Du musst nicht so ausatmen. Ich bin viel kleiner als du. Du hättest mich beinahe fortgepustet“, lachte das kleine Wesen.

„Entschuldige, aber ich musste mich verstecken.“

„Du auch? Mir geht es ebenso. Ich war gerade auf dem Hochzeitsflug, als feindliche Ameisen angriffen. Sie haben meine junge Königin getötet, und ich konnte mich gerade noch retten.“

„Du… bist eine Drohne?“ fragte Lysistratos.

„Eine was?“

„Eine männliche… äh… Was bist du doch gleich?“

„Ja. Ich bin männlich. Und eine Ameise aus dem Stamm der altehrwürdigen Königin Formicula. Wir gehören zum großen Volk der Argonauten. Und du bist eine männliche Biene, oder? Wolltest du die Königin da oben gerade nicht?“ Die kleine Ameise kicherte in sich hinein.

„Ich…“, Lysistratos räusperte sich, „ich habe nicht mitmachen wollen.“

„Du wolltest was nicht?“

„Ich weiß ja nicht, wie das bei euch Ameisen ist, aber wir Drohnen sterben danach. Das ist nicht fair.“

Die kleine Ameise nickte: „Das ist bei uns auch so wie bei euch. Es ist so auch bei den Wespen. Fies, aber wir können es nicht ändern.“

„Moment“, stutzte Lysistratos, „Du weißt es, aber du hättest mit deiner Königin…“

„Aber natürlich“, nickte die kleine Ameise. „Sie hat mich ganz wuschig gemacht. Sie duftete unwiderstehlich.“ Die Fühler wippten erregt. „Bis die anderen Ameisen kamen. Sehr traurig… Und die Großen Schwarmzeiten sind praktisch vorbei. Ich muss schauen, ob ich noch eine Königin finde.“

„Aber, aber wenn du keine findest, dann kannst du doch weiterleben!“

„Und wie? Ich kann ja nicht mal alleine essen. Du etwa?“

„Nein“, bestätigte Lysistratos. „Aber wir könnten es ja versuchen, oder?“

Spöttisch neigte die kleine Ameise ihren Kopf: „Eine Lebensgemeinschaft von einer Ameise und einer Biene?“ Sie lachte. „Nimm es mir nicht übel, aber ich nehme dann doch lieber die Königin und schaffe etwas Bleibendes.“

„Etwas Bleibendes?“

„Natürlich. Mein Samen erzeugt einen ganzen neuen Stamm. Je mehr Samen ich in die Königin lege, desto mehr Kinder habe ich!“

Lysistratos klapperte mit den Mundwerkzeugen, um sein Missfallen auszudrücken: „Du hast aber nichts davon. Du bist tot!“

„Und was habe ich davon, alleine irgendwo dahinzuvegetieren? Eine einzelne Ameise? Wir sind Kollektivtiere, keine Einzelkämpfer.“

„Wenn sich alle Drohnen zusammentäten… Und bei euch alle männlichen Ameisen…“

„Und dann? Dann gibt es irgendwann keine Bienen und keine Ameisen mehr, oder?“ Die kleine Ameise tätschelte Lysistratos‘ Flügel. „Das wird bei uns oft diskutiert.“

„Ihr wisst also vorher, dass ihr sterben müsst?“

„Natürlich. Ihr etwa nicht?“

Lysistratos schwieg, ohne die Frage zu beantworten. Dann sagte er: „Und dennoch geht ihr in den Tod?“

„Na, nicht mit Freude, aber wir können die Natur nicht überwinden. Die Königinnen brauchen uns, und wir werden geehrt.“

„Wie geehrt?“

„Indem…“ Die junge Ameise brach ab, zeigte dann mit dem Fühler in die Luft: „Da ist Arachnoxia, die Spinnenbezwingerin! Sie sucht noch Partner. Ich muss los!“

Über ihnen schwebte eine kleine Ameise, folgte in einem Bogen der kleinen Senke in der Wiese.

„Halt!“ rief Lysistratos. „Hast du einen Namen, Freund?“

Die kleine Ameise hielt noch einmal inne: „Antlove, ich bin Antlove.“

„Ihr habt alle Namen?“

„Natürlich. Ihr nicht?“ Antlove schaute nach oben. „Ich muss wirklich los, tut mir leid.“ Und fort war die kleine Ameise.

Nachdenklich blieb Lysistratos unter dem Blatt zurück. Die Ameisen schienen ihre Männchen besser zu behandeln, aber an dem Tod führte nichts vorbei. War denn das Sterben mehr wert, wenn man dafür geehrt wurde? Man hatte doch nichts mehr von der Ehre…

Er hatte kaum mitbekommen, dass die Große Dunkelheit aufgezogen war. Noch nie war er außerhalb des Bienenstockes gewesen, wenn die Große Dunkelheit kam. Und er konnte nicht zurück. Er hatte Hunger, ihm war kalt. Kühler Wind zog durch die Wiese, und müde erhob sich Lysistratos, flog, vorsichtig nach allen Seiten spähend, zum Waldrand, in der Hoffnung, dort etwas mehr Schutz vor der Brise zu bekommen.

Seufzend landete er auf einem kleinen Pilz und begann, sich zu putzen. Kaum hatte er dies vollendet, ließ ihn ein Räuspern zusammenzucken.

„Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht mal eine Überraschung ist.“

Erschrocken wirbelte er herum und sah eine Bienenkönigin, die aus einem Astloch herausschaute. In der Dämmerung konnte er sie kaum erkennen. „Amalthea? Königin Amalthea?“

„Die bin ich wohl. Und du bist doch dieser lustige Lysistratos, oder?“

„Ja, der bin ich…“

„Na, von dir hört man ja Sachen.“ Amalthea lachte. „Ich will hier in Ruhe mein neues Volk gründen, und urplötzlich ist hier mehr Flugverkehr als an unserem alten Flugloch.“

„Flugverkehr? Wie meint Ihr das?“

„Na, das weißt du nicht? Ihr habt alles in Unordnung gebracht, du und deine Drohnen. Was bin ich froh, dass ich schon zwei Große Helligkeiten zuvor ausgeschwärmt bin.“ Sie nickte mit den Fühlern und wedelte ihm entgegen. „Komm hoch, ich habe eine Botschaft für dich.“

„Eine Botschaft? Für mich?“ Lysistratos traute seinen Ohren nicht. Erst als Amalthea ungeduldig mit den Fühlern winkte, folgte er ihr in das Baumloch. Die junge Königin hatte, wie er sofort sah, die ersten Waben gebaut und ihre Eier hineingelegt.

„Meine ersten Babys. Arbeiterinnen. Ich freue mich, wenn es soweit ist.“

„Bis dahin müsst Ihr alleine füttern? Ihr, als Königin?“

Amalthea drehte sich zu ihm: „Siehst du hier sonst noch jemanden? Oder willst du das machen?“ Sie lachte. „Eure Mundwerkzeuge sind dazu nicht geeignet. Ihr könnt nicht füttern. Ihr könnt ja nicht mal alleine essen.“

Essen… Er war so hungrig. Und er sah kleine Portionen an Nahrung, die Amalthea für ihre Brut vorbereitet hatte. Wie gerne würde er… Flehend schaute er auf das Essen.

„Ah, die Drohne hat nichts zu essen, oder?“ Die junge Königin legte spöttisch den Kopf schief und seufzte dann auf. „Ich weiß nicht, warum ich das mache, aber bedien dich.“

Mit offenem Mund beobachtete sie, wie Lysistratos sich abmühte, die Nahrung selbst aufzunehmen. Mit ein wenig Übung gelang es, aber ihm war klar, dass er, als Drohne, niemals so effizient sein konnte wie eine körperlich ganz anders ausgebildete weibliche Biene. Und die Nahrung selbst herstellen? Sich selbst schützen? Die Drohnen konnten ohne den Schutz und die Hilfe der Arbeiterinnen nicht existieren. Welch ein Dilemma.

„Während du kaust, nun die Botschaft für dich, Lysistratos. Meine Schwester Xenia war hier. Sie sucht dich.“

Lysistratos erstarrte. Xenia…

„Sie hat mir erzählt, was bei euch da los war im Stock. Krawall, Revolution. Sie hat dir das Leben gerettet, oder?“

Er nickte bestätigend mit den Fühlern. Warmes Gefühl stieg in ihm auf, als er an Xenia dachte.

„Sie wollte dich hier am Waldrand treffen, aber du warst nicht da.“

„Ich wurde von Prinzessin Doppelstern verfolgt. Und von einigen anderen Arbeiterinnen. Ich musste mich verstecken.“

„Doppelstern, ja“, machte Amalthea. „Sie ist eine Kämpferin, eine echte Kriegerin. Ich kann mir vorstellen, dass es ihr Freude bereitet hat, dich zu jagen, Drohne. Aber du kannst jetzt unbesorgt sein. Sie ist vorhin zum Großen Flug aufgebrochen, und auch wenn unser altes Volk keine Drohnen mehr hat, gibt es noch genügend andere Drohnen. Doppelstern wird nun auch ein Volk gründen.“

Erleichtert atmete Lysistratos durch.

„Ich weiß nicht, was Xenia von dir möchte, aber sie wird bestimmt noch einmal wiederkommen. Oder Chalice, unsere alte Ratgeberin.“

Chalice! Sie war eine alte, erfahrene Arbeiterin, etwas jünger als Rosenduft und Walburga. Auch sie hatte die letzte Große Kälte erlebt, und Lysistratos hatte Chalice oft beobachtet, wenn sie den Großen Töchtern oder den jüngeren Arbeiterinnen berichtete, was sie von der Welt vor dem Flugloch wusste.

„Du kleine Drohne hast einen großen Eindruck auf Xenia gemacht. Und auch auf Chalice. Beide haben sich nicht an dem Gemetzel an euch Drohnen beteiligt.“

„Aber die anderen…“

„Nicht alle, Lysistratos, aber das weißt du ja nicht. Dann höre, was du angerichtet hast. Die meisten Arbeiterinnen folgten dem Befehl meiner Mutter Rubinrot. Arbeiterinnen müssen gehorchen. Sonst funktioniert der Staat nicht. Xenias Handlung, dich zu retten, war ein schwerer Verstoß gegen das Gebot einer Königin. Das ist todeswürdig!“

Lysistratos zuckte zusammen, fragte dann aber vorsichtig: „Aber… Ihr seid anders?“

„Ich bin jetzt selbst eine Königin, mein kleiner Drohn. Aber auch ich werde Aufruhr nicht dulden. Doch höre weiter. Einige der Arbeiterinnen haben sich in einen wahren Blutrausch gekämpft. Sie waren erregt. Andere Arbeiterinnen hielten sich zurück, beseitigten die toten Drohnen. Und dann gab es einige wenige Arbeiterinnen, die sagten: „Wir töten die Drohnen, weil sie leben wollten? Ich bin Arbeiterin, aber ich hätte auch eine Königin sein können. Warum bin ich keine Königin?“

„Das haben sie gemacht?“

„O ja. Deine Handlung hat offenbar Gedanken freigesetzt, die schon lange vorhanden waren. Meine Mutter proklamierte, dass sie entscheide, wer was wird, und dann sagte eine Arbeiterin, das sei aber nicht gerecht.“

„Es ist auch nicht gerecht, Königin Amalthea.“

„So ist das Leben, Lysistratos. Ich entscheide für jedes einzelne Ei, was es wird. Weiblich oder männlich. Ich entscheide, ob ein Ei befruchtet wird oder nicht. Und das Füttern ist ausschlaggebend dafür, ob ein Weibchen eine Große Tochter oder eine Arbeiterin wird. Allerdings: Ausschließlich Große Töchter könnten nicht überleben. Nur Arbeiterinnen sterben aus. Nur Drohnen verhungern. Die Aufgabe einer Königin ist es, alles im Gleichgewicht zu halten.“

„Ja, aber…“

„Hör zunächst weiter. Meine Mutter befahl nun, diese aufmüpfigen Arbeiterinnen zu arrestieren, und es kam zu einem weiteren Kampf, nun zwischen echten Kriegerinnen. Diejenigen im Blutrausch hingegen haben nicht mitbekommen, worum es eigentlich ging. Und plötzlich kämpfte jede gegen jede.“

„Oh, großer Bienengott, das ist ja grässlich!“

„Das ist es, Lysistratos. Meine Mutter wurde schwer verwundet, Rosenduft ist gestorben, als sie ihre Freundin Walburga aus den Beißwerkzeugen einer blutrünstigen jungen Kriegerin retten wollte und gestochen wurde. Xenia und Chalice sind nur mit Mühe entkommen. Unser altes Volk ist schwer geschädigt.“

„Das wollte ich nicht…“

„Das glaube ich dir, aber du hast die Gesetze der Natur außer Kraft setzen wollen. Und Unvorhersehbares ausgelöst. Einige von euch Drohnen haben andere Völker erreicht und eure Gedanken in die dortigen Drohnen gesetzt. Überall gärt es. Aber niemand hat einen Plan, was eigentlich sein soll. Wie soll es eigentlich sein, Lysistratos?“

„Ich… weiß es nicht. Ich wollte nur leben.“

„Und du hast den Tod gebracht.“

Wütend trat Lysistratos einen Schritt zurück: „Den Tod haben sonst nur wir Drohnen zu ertragen!“

Amalthea drehte sich fort, ohne eine Antwort zu geben, legte ein Ei und schob es in eine Wabe, die sie anschließend sorgfältig verschloss.

„Königin, darf ich Euch etwas fragen?“

„Was möchtest du wissen?“

„Werdet Ihr so sein wie Eure Mutter?“

Nachdenklich betrachtete die junge Königin den Drohn. Dann sagte sie: „Ich weiß es nicht. Ich habe niemals gewusst, dass ihr Drohnen überhaupt denken könnt. Ich meine, ihr könnt ja nicht einmal allein essen.“ Sie zwinkerte ihm mit den Fühlern zu, um die Aussage abzuschwächen. „Tatsache ist, auch ich werde Drohnen zur Welt bringen. Ich brauche Drohnen, damit mein Volk weiterleben kann. Damit wir Bienen weiterleben können. Wenn ein Teil nicht mitspielt, endet das Leben für alle.“

„Das heißt, Einzelne, die Drohnen, müssen sich opfern, damit die anderen überleben können?“

„Hast du eine andere Idee, Lysistratos? Xenia, meine Schwester, hat mir berichtet, dass sie sich auf ihrem Weg hierher in dein Denken hineinversetzt hat. Ein absurder Gedanke, wie ich finde. Aber sie sagt, sie kann verstehen, was dich bewegt.“

„Dann ändern wir etwas gemeinsam!“

„Und was? Lysistratos, ganz ehrlich, auch wenn ich dich mittlerweile nicht nur amüsant finde, sondern dich irgendwie mag, es ist für ein Bienenvolk nicht möglich, Drohnen dauerhaft durchzufüttern. Drohnen sind zum Befruchten da. Wenn wir kontinuierlich Drohnen füttern, ohne dass es ausschwärmende Große Töchter gibt, schwächt das das Volk.“

„Ich finde…“

„Xenia hat sich in dich hineinversetzt, nun, du denkende Drohne, tue das einmal andersherum. Es mag anspruchsvoll für dich sein…“

„Wenn man uns Drohnen mehr erzählen würde, könnten wir auch nützlicher sein!“

„Ach“, schnaubte Amalthea, „und als was? Ihr könnt nicht sammeln, nicht die Brut pflegen, euch nicht selbst ernähren. Und selbst falls ihr das schafft, ist es nicht effizient genug. Es schwächt den Staat, das Volk, Lysistratos. Es geht nicht um dich oder eine bestimmte Arbeiterin. Wir sind Bienen!“

„Aber jede einzelne Biene möchte auch leben!“

„Das habe ich begriffen. Das war neu für mich.“ Amalthea wandte sich ab, legte ein weiteres Ei und verstaute es in einer anderen freien Wabe. „Nun ist genug“, sagte sie. „Mein Kopf schwirrt, und ich muss mein Nest vergrößern, bevor die ersten Arbeiterinnen schlüpfen und ich die Larven füttern muss.“

„Muss ich gehen?“

„Solange du mir nicht im Weg stehst, darfst du bleiben. Xenia kommt bestimmt noch einmal vorbei.“

Längst war Lysistratos in einer Ecke des neuen Stockes eingeschlafen. Es war kalt und zugig, er konnte sich nicht an seinen Kameraden wärmen, und er war dankbar, als er spürte, wie Amalthea, als sie sich selbst schlafen legte, sich an ihn kuschelte. Und so schrak er zusammen, als die junge Königin plötzlich aufsprang und „Wer da?“ rief.

„Ich bin’s“, flüsterte eine zarte Stimme vom Flugloch her. „Xenia. Chalice ist bei mir.“

„Na, dann kommt mal herein“, winkte Amalthea. „Ich habe einen Gast hier, den ich dann gerne an dich weitergeben möchte.“

„Lysistratos?“ Xenias Stimme vibrierte, und der Drohn hatte sich kaum aufgerichtet, als er spürte, wie Xenias Fühler über die seinen glitten. Noch nie hatte er Derartiges erlebt.

„Oh!“ amüsierte sich Amalthea. „Wenn das unsere Mutter sehen würde.“

„Unsere Mutter hat ganz andere Sorgen.“

„Das möchte ich wohl meinen“, ließ sich Chalice vernehmen, die am Flugloch saß und die Szene im Halbdunkel des unfertigen Baus beobachtete. „Es geht ihr nicht gut, und es ist nicht sicher, ob sie genügend Eier legen wird, damit das Volk erneut über die Große Kälte kommt.“

„Es tut mir leid“, murmelte Lysistratos.

„Das sagt er ständig“, warf Amalthea ein.

„Das ist nicht deine Schuld“, sagte Xenia.

Lysistratos beobachtete, wie nun auch die beiden königlichen Schwestern Zärtlichkeiten austauschten, bevor Xenia sich erneut zu ihm drehte: „Ich habe einen Platz gefunden, an dem ich mein Volk gründen werde. Ich möchte, dass du mich begleitest, Lysistratos.“

„Das ist auch besser so“, tönte Amalthea aus dem Hintergrund. „Er frisst mir sonst meine ganzen Lebensmittel auf, und meine Kinder müssen Hungers sterben, nur weil ich eine Drohne durchfüttere.“ Sie schubste ihn zum Flugloch, aber er fühlte, dass es nicht grob gemeint war. Amalthea war nicht Doppelstern.

Chalice war bereits nach Draußen geklettert, Xenia ebenfalls, und Lysistratos wollte ihnen schon folgen, als er noch einmal zu Amalthea schaute.

„Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, Große Königin, aber ich bin sicher, dass Ihr eine wirklich richtig Große Königin werdet.“

„Haha“, machte die Angesprochene, „noch bin ich eine ziemlich kleine Königin mit ein paar Eiern in den Waben.“

„Ich meine es ehrlich. Königin Amalthea. Ich danke Euch.“

Die junge Königin verharrte für einen Moment, trat dann an den Drohn heran: „Ich weiß noch nicht, warum, aber irgendwie danke ich auch dir. Du hast merkwürdige Gedanken aufgebracht, mit denen ich noch nichts anfangen kann, doch ich verspreche dir, ich werde darüber nachdenken. Und…“ – sie hob ihre Fühler – „… ich werde es nicht zulassen, dass man in meinem Volk die Drohnen schubst.“

Der Flug dauerte nur wenige Minuten, aber Lysistratos sah kaum, wohin er flog, obwohl seine Augen blendend, sogar besser als die der jungen Königin und der alten Arbeiterin an seiner Seite waren. Nur mit Mühe vermieden die drei Kollisionen mit Zweigen und Ästen vor ihnen, erreichten schließlich einen Baum mit einem kleinen Loch. Dahinter, ähnlich wie bei Amaltheas Stock, befand sich eine große Höhle, in der ein Bienenvolk genügend Platz zum Leben haben würde.

„Mein Zuhause“, sagte Xenia und wies mit den Fühlern in verschiedene Richtungen. „Dorthin kommen die Waben für die Arbeiterinnen, dorthin die Waben für die Großen Töchter. Hier werden später die Drohnen aufgezogen, und da verstauen wir die Nahrungsvorräte…“

„Das ist gut, Königin“, sagte Chalice und verneigte sich. „Ich weiß, es ist ungewöhnlich, und so etwas gab es noch nie, aber dürfte ich Euch dienen?“

Lysistratos sah, wie Xenia erstarrte. So ein Wunsch war offenbar noch nie vorgekommen.

„Nun“, machte die junge Königin, „dies ist die Große Helligkeit der neuen Ideen, wie mir scheint. Chalice, du bist mir immer willkommen.“

Erneut verneigte sich Chalice, bezog dann einen Platz am Flugloch und schlief kurz danach ein.

„Und ich?“ flüsterte Lysistratos, „was wird aus mir?“

„Hast du etwas gegessen?“

„Ja, Amalthea hat mir etwas gegeben.“

„Das ist gut, denn ich habe derzeit nichts außer meine eigenen Reserven. Und die brauche ich, wenn ich meine erste Brut beaufsichtige. Wir Königinnen müssen dann nichts essen.“

Lysistratos verstand. Er würde nicht überleben können, wenn er hier bliebe. Doch wohin sollte er?

„Vielleicht kann Chalice dir etwas besorgen, aber die Situation ist ungewöhnlich. Ich weiß nicht, was zu tun ist, Lysistratos.“

„Ich weiß das auch nicht.“

„Du hast von dem Bürgerkrieg gehört?“

Er nickte.

„Ähnliches wird aus anderen Völkern vermeldet. Viele Drohnen sind gestorben, aber du hast etwas ausgelöst. Ein Denken der Bienen über das, was eine Biene eigentlich ausmacht.“

„Ich wollte nicht, dass jemand stirbt. Genau das wollte ich ja verhindern.“

„Ich weiß. Doch du hast Dinge in Gang gesetzt…“

„Hätte ich lieber nichts sagen sollen?“

Xenia krabbelte zu ihm und strich ihm mit ihren Fühlern über die seinen, so dass sein Herz schneller schlug: „Dann wärst du jetzt tot, Lysistratos. Vermutlich hätte Amalthea nun deinen Samen, und du würdest in ihrem Volk weiterleben. Aber wir könnten uns nicht über das hier alles austauschen.“

„Ja“, erwiderte Lysistratos nachdenklich. „Nur, wenn ich in einem Volk weiterlebe, habe ich selbst nichts davon.“

„Die Königin hat auch keine leichte Aufgabe, mein Lieber. Wenn wir nicht genügend Eier produzieren, ist das Volk nicht gesund.“

„Aber Ihr lebt…“

„Und Arbeiterinnen können zwar keine weiblichen Nachkommen bekommen, doch sie genießen den gemeinschaftlichen Schutz des Volkes.“

„Und sie leben…“

Xenia nahm seine Fühler in die ihren: „Ich habe keine Idee, was ich aus alledem machen soll.“

„Ich auch nicht.“

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Mehrere Große Dunkelheiten waren vergangen. Xenia und Lysistratos hatten sich über viele Dinge unterhalten, und Chalice hatte sich als treue Freundin erwiesen, die den Drohn stets mit Futter versorgte. Sie hatten auch Amalthea besucht, deren erste Larven nun geschlüpft waren, und bald würde sie junge kräftige Arbeiterinnen an ihrer Seite haben.

Xenia und Lysistratos hatten über das Leben und über die Gerechtigkeit gesprochen, über den Platz, den jeder einzelne in der Natur einnehmen muss, ohne dass er es wirklich wählen kann. Und über die scheinbare Unveränderlichkeit mancher Gesetzmäßigkeiten.

„Amalthea wird etwas ändern“, sagte so Xenia während einer Großen Helligkeit. „Sie wird die Drohnen gut behandeln. Und sie wird ihnen erklären, dass sie zwar sterben müssen, doch sie werden geehrt werden.“

Wie es Antlove, die kleine Ameise erzählte, dachte Lysistratos. Ist das aber den Tod wert? Die Anerkennung? Immerhin, es war ein Schritt…

„Meine Schwester weiß nicht, ob es funktionieren wird. Sie ist aber willens, das Risiko einzugehen. Sie möchte gesunde, starke Große Töchter und gesunde, starke Drohnen haben.“

„Und Ihr?“ fragte Chalice, die still neben den beiden saß. „Was werdet Ihr tun, Königin ohne Volk?“

Lysistratos sah den Schmerz in Xenias Gesicht. Längst wusste er, dass die junge Königin durch die Suche nach ihm die noch vereinigungswilligen Drohnen verpasst hatte. Und nun gab es keine Drohnen mehr. Chalice hatte sich erkundigt. Alle Drohnen waren inzwischen gestorben, entweder durch die Vereinigung mit einer Königin, im Kampf oder aber, weil sie verhungert waren. War sein Bemühen vollkommen umsonst gewesen? Immerhin, Amalthea…

„Was soll ich tun, Chalice?“ seufzte Xenia. „Ich habe es verpasst.“

„Das tut mir leid“, schluckte Lysistratos.

„Zum tausendsten Mal, das muss…“

„Schon gut…“

„Königin“, nahm Chalice den Faden auf, „ich weiß, dass Ihr alleine überwintern könnt. Königinnen können das. Vielleicht seid Ihr sogar noch fruchtbar nach der nächsten Großen Kälte, und wenn neue Drohnen aus anderen Völkern kommen, vielleicht sogar Drohnen von Königin Amalthea, dann…“

„Ach, Chalice“, flüsterte Xenia, „was wäre ich nur ohne dich.“

Lysistratos sah die Trauer im Gesicht seiner… seiner… seiner, ja, was eigentlich? Seiner Königin? Seiner Vertrauten, seiner Freundin? Er fühlte sich bemüßigt zu sagen: „Und was wäre ich ohne euch?“

„Tot“, gab Chalice knapp zurück. „Wir füttern dich halt durch, weil du so frech bist.“

Xenias Fühler zitterten kurz vor Erheiterung und fielen dann wieder nach unten.

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Lysistratos fühlte sich schwach, immer schwächer, und er hatte auch keinen wirklichen Appetit. Xenia und Chalice forderten ihn immer wieder auf, Nahrung zu sich zu nehmen, aber er konnte kaum schlucken. Dabei war er nicht einmal krank. Was war das nur?

Er sah, wie seine beiden Begleiterinnen miteinander sprachen, bevor sie zu ihm kamen.

„Lysistratos“, begann Xenia.

„Ich denke…“, setzte Chalice an.

„Also…“

„Ich werde sterben, oder?“ fragte der Drohn.

Langsam nickte Chalice. „Ja, das denken wir. Wie wir Arbeiterinnen nur mit Glück vielleicht eine Große Kälte überleben, eine gesunde Königin aber mehrere, so vermute ich, dass ein Drohn einfach eine noch kürzere Lebensspanne hat. Selbst wenn er sich nicht mit einer Königin vereinigt.“

Lysistratos blickte zu Boden.

„Es tut mir sehr leid“, flüsterte Xenia, und sie strich ihm zärtlich über die Fühler, dann über die Flügel, und immer noch war da dieses prickelnde, schöne Gefühl.

„Man kann der Natur nicht entkommen.“ sagte er schließlich.

„Nein, aber man kann das Leben in ihr verändern“, antwortete Chalice.

„Ich soll dich von Amalthea grüßen“, fügte Xenia hinzu. „Sie wird ihren Bau nie wieder verlassen, hat nun viele hundert Kinder. Ich hingegen, ich kann noch herumfliegen…“ Sie seufzte. „Auch das ist eine Entscheidung, die ich treffen konnte. Etwas, Lysistratos, was du angestoßen hast.“

„Und hast du jetzt die Erkenntnis, dass man nichts ändern kann?“ fragte er erneut.

„Wie Chalice schon sagte, man muss lernen, das Leben in den gebotenen Rahmenbedingungen zu verändern. Wie das aussehen kann, werden wir alle vielleicht niemals erfahren, aber wir können das, was wir selbst erlebt haben, an die nächste Generation weitergeben.“

„Wenn da eine nächste Generation wäre…“, sagte Chalice sanft.

„Zu schnelle Veränderungen führen zu Chaos und Tod.“

„Aber sie sind ein erster Schritt. Vielleicht zu Besserem, vielleicht zu Schlechterem.“

Xenia nickte bestätigend, bevor sie sagte: „Ich habe das Volk meiner Schwester Tardena gefunden. Sie hatte bereits über ihre Arbeiterinnen Kontakt zu Amaltheas Volk. Sie ist willens, Amaltheas Ideen, die Drohnen besser zu behandeln, zu übernehmen. Meine Schwester Doppelstern allerdings bedroht andere Völker mit Krieg, wenn sie nicht zu den alten Denkweisen zurückkehrten.“

„Und was sagen Amalthea und Tardena dazu?“ erkundigte sich Lysistratos.

„Doppelstern ist mächtig. Und sie hat sich mit unserer Mutter, die einigermaßen geheilt ist, verbündet. Die Schwarmzeit, die Zeit der Großen Flüge nach der nächsten Großen Kälte, sie wird von entscheidender Bedeutung der Zukunft unserer Völker sein. Ein Krieg steht bevor.“

„Das…“, begann Lysistratos.

„Das wolltest du nicht“, unterbrach ihn Chalice lächelnd.

„Natürlich nicht!“

„Du schaffst eine neue Gewohnheit: Das ständige Entschuldigen.“

Xenia atmete tief ein: „Amalthea und Tardena sind der Auffassung, dass man neue Ideen verteidigen muss. Sie wissen noch nicht, was sie wert sind, aber sie lassen sich nicht von unserer Schwester und unserer Mutter erpressen.“ Langsam wandte sie sich ab, krabbelte zum Flugloch und blickte hinaus. „Wir wollen keinen Krieg, aber jedes Volk auf unserer Seite ist hilfreich.“

„Gibt es noch mehr auf eurer… auf unserer Seite?“ fragte Lysistratos.

„Die Zeit wird es zeigen. Noch ist das Gemetzel an den Drohnen zu sehr im Bewusstsein. Und diejenigen Königinnen, die mit uns sympathisieren, haben gleichzeitig Rubinrot vor Augen. Was geschehen kann, wenn Unordnung entsteht. Das möchte keine Königin. Auch Amalthea oder Tardena nicht. Zudem ist unklar, was deine, was unsere Ideen überhaupt bewirken… Wir haben zu wenig Zeit.“

„Aber niemand lässt sich gerne erpressen“, fügte Chalice hinzu.

„Ich werde es alles nicht erleben.“ Lysistratos sog schnaufend Luft durch seine Tracheen.

„Aber du bist derjenige, der uns lehrt, dass man über das Dasein, über Regeln, nachdenken kann“, nickte ihm Xenia zu. „Das ist sehr viel wert. Erst so erkennt man, welche Regeln gut und welche schlecht sind.“

„Und vielleicht finden wir irgendwann einen Weg, wie die Völker weiterleben können und gleichzeitig die Drohnen nicht sterben müssen?“

Xenia schmunzelte traurig: „Du klingst wie Amalthea. Sie ist ganz begeistert von dir. Sie meint, sie hat so viele Ideen, sie weiß gar nicht, wie sie sie sortieren soll! Ideen über Miteinander, mehr Effizienz für das Volk, mehr Anerkennung. Sie wird jeder einzelnen Drohne einen Namen geben. Jede Biene wird einen Namen bei ihr bekommen.“

„Das ist ein Anfang“, bestätigte Chalice.

„Ein kleiner… Und vielleicht, ja, vielleicht überleben irgendwann auch die Drohnen. Wer weiß?“

„Ein kleiner Schritt für uns, ein großer für die Bienenschaft…“

„Bitte?“ erstaunt blickten Lysistratos und Xenia zu der alten Arbeiterin, die nur mit den Fühlern zuckte.

„Ich weiß auch nicht, ist mir gerade so eingefallen.“

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Eine weitere Große Dunkelheit war vorbeigezogen, und Lysistratos hatte einen Entschluss gefasst. Er wurde immer schwächer, doch noch fühlte er sich stark genug, noch einmal auf eine Reise zu gehen. Eine kurze Reise. Seine letzte Reise…

Er krabbelte zu Xenia, die sich gerade mit Chalice unterhielt. Er mochte Xenia sehr. Ihre vielen langen Unterhaltungen während der Großen Helligkeiten hatten es ihm unmöglich gemacht, ihre körperliche Attraktivität wahrzunehmen. Sie war eine blühende Schönheit, wenn auch relativ klein. Sie war schlank und kräftig, mit langen, wunderschön gebogenen Beinen, glitzernden Augen, einem atemberaubenden Pelz. Und der verbogene Fühler… Lysistratos liebte diesen verbogenen Fühler!

„Xenia…“

Sie strich ihm zärtlich über seine Fühler.

„Ich möchte noch einmal ausfliegen.“

„Fühlst du dich…?“

Lysistratos schluckte: „Ich meine das anders, meine Königin. Ich, ich werde sterben, aber ich glaube, ich kann meinem Leben noch einen ganz speziellen Sinn geben… Ich bin die letzte noch lebende Drohne.“

Chalice klappten ihre Beißwerkzeuge auseinander, und Xenia wirkte wie vom Schlag getroffen: „Du… willst…?“

„Ich möchte, dass du ein Volk gründen kannst.“

„Das ist reichlich spät“, merkte Chalice an.

„Ich kann nicht sicherstellen, dass das Volk in der Zeit vor der Großen Kälte überlebt. Dass deine, unsere Kinder…“, erwiderte Xenia.

„Wenn jetzt nicht, werde ich nie Kinder haben“, unterbrach Lysistratos die junge Königin. „Und du wiederum weißt nicht, ob du im nächsten Jahr noch fruchtbar sein kannst, wenn du bei den Großen Flügen mitmachst und neue junge Königinnen kommen.“

„Lysistratos, du machst jetzt genau das, was du gerade nicht wolltest.“

Er nickte: „Ich tue das nicht, weil ich muss, Xenia. Ich tue es, weil ich es jetzt, in diesem Augenblick, möchte. Es ist meine Entscheidung. Meine eigene Entscheidung. Ich kann entscheiden, ob ich möchte oder nicht.“

Wortlos nahm sie ihn in ihre Fühler und begann zu weinen.

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Die letzte Große Dunkelheit hatten sie gemeinsam verbracht, eng aneinandergeschmiegt. Er hatte sie gestreichelt und sie ihn, und er genoss den Zauber, der von ihr ausging. Er fühlte sich noch einmal stark und kräftig, als ob er eine junge Drohne wäre.

Und nun standen sie vor dem Flugloch. Xenia gab ihm eine letzte Umarmung und verließ den Bau. Chalice wischte sich eine Träne von den Facetten und wisperte: „Lysistratos, ich verspreche dir, ich werde deinen Kindern von dir berichten. Was eine Drohne kann.“

„Ich weiß, Chalice, ich weiß.“

Dann flog er los, hinauf in die Luft. Es war schwierig, und er fühlte, dass ihm nicht viel Zeit blieb, sich in der Luft zu halten. Aber dann roch er sie. Xenia!

Sofort hatte er sie gefunden, am Waldrand, oberhalb von Amaltheas Bau, und irgendwie hatte er das Gefühl, als ob auch Königin Amalthea, während ihre Arbeiterinnen geschäftig aus- und einflogen, hinausschauen würde. Er sah, wie einige Arbeiterinnen sich ihm näherten, und eine rief: „Lysistratos, auf deine Nachkommen! Hurra!“

Es bewirkt etwas, dachte er. Diese Arbeiterinnen waren freundlich zu ihm, wedelten ihm aufmunternd zu, und ihr Gelächter war nicht bösartig.

Er flog empor zu Xenia. Ihr Duft, den sie nun verströmte, nur für ihn, nur in diesem Augenblick, war so betörend. Sie war so wunderschön. Sein Körper regte sich, drängte in ihre Richtung, und diesmal ließ er es zu, folgte dem Verlangen.

Er sah die Tränen der Trauer in Xenias Augen, während sie ihn dennoch anlächelte, und dann, dann hatte er ihre Öffnung gefunden… Das Gefühl war atemberaubend, während alles um Lysistratos im Nichts versank.

Lysistratos oder Der Traum von Freiheit

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