Читать книгу Tatort Kuhstall - Thea Lehmann - Страница 7
Montag
Оглавление»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Pröve!«
Die Dame am Empfang im Präsidium an der Schießgasse überschlug sich fast vor lauter Höflichkeit. Sascha wunderte sich kurz, aber es gab Schlimmeres, als an einem Montag so freundlich begrüßt zu werden, zumal seine eigene Laune ebenfalls bestens war. Tatsächlich konnte er sich nicht daran erinnern, wann es ihm zuletzt so gut gegangen war. Mit Leo hatte er gestern vereinbart, dass sie erst zum Montagsfrühstück gegen halb elf Uhr erscheinen und dann die komplette Abteilung über den Leichenfund am Kuhstall informieren würden.
Als er die Treppe hochstieg, kamen ihm zwei Kollegen von der Abteilung Einbruch entgegen. Sie grüßten Sascha genauso überschwänglich wie die Dame unten an der Pforte.
»Na, schönes Wochenende gehabt?«, fragte einer der beiden, den Sascha als Martin Butscher zu kennen glaubte.
»Bis zu dem Zeitpunkt, ab dem ich arbeiten musste, schon«, antwortete Sascha freundlich.
»Kann ich mir vorstellen. Manchmal trifft einen das Schicksal ja völlig unvorbereitet.«
Die beiden lachten und verschwanden im Flur. Sascha fand das merkwürdig, aber angesichts seiner Verabredung zum Abendessen mit Melanie konnte ihm nichts die Stimmung verderben. Erst, als er mit einer Dose voll Hackepeter unter dem Arm in seine eigene Abteilung abbog und ein fröhliches »Guten Morgen« durch die offenen Bürotüren schmetterte, wurde er stutzig. Alle Zimmer waren verwaist.
Im Büro von Kai Nolde und Uwe Kröger fand er seine Kollegen. Sie hatten sich alle vor Noldes Computer versammelt und einen Heidenspaß. Als sie ihn sahen, prusteten sie los.
»Was gibt’s?«, fragte Sascha mit erhobener Stimme.
»Im Internet macht gerade der gestrige Leichenfund die Runde. Alle nackten Tatsachen!«, wieherte Kai Nolde.
Nun schwante Sascha, was los war.
»Es gibt Bilder im Netz?«, fragte er und zwängte sich zwischen die grinsende Sandra und den feixenden Uwe Kröger. Auf dem Bildschirm prangte eine Website mit Fotos seiner gänzlich hüllenlosen Wandergruppe von gestern, er ganz vorn.
»Oh«, sagte Sascha.
Alle warteten gespannt auf seine Erklärung.
»Naja, ich bin dem Freundeskreis Sächsischer Naturisten beigetreten. Die wandern eben textilfrei. Ist ein sehr schönes Gefühl. Solltet ihr ruhig auch mal probieren …«
»Ist das nicht Erregung öffentlichen Ärgernisses?«, fragte Kröger und fing wieder an zu lachen.
»Quatsch!« Sascha konnte nicht nachvollziehen, was daran so lustig sein sollte. »Da geht es nur um ein Gefühl von Freiheit und ums Einssein mit der Natur. Das hat überhaupt nichts Anstößiges! Und dass ihr die Fotos offenbar im kompletten Haus herumzeigt, ist nicht nur ärgerlich, sondern auch kindisch.«
»Manni Tannhauser hat einen Link bei Facebook gefunden und ihn weitergeleitet …« Kai Nolde klatschte sich auf die Schenkel. »Das ist aber auch zu lustig: ›Mordermittlung im Adamskostüm‹!«
Alle kicherten wieder los und Sascha stand dazwischen wie ein begossener Pudel.
»Hey, wo seid ihr alle?«
Leos Stimme tönte durch den Flur.
»Hier, wir sichten den gestrigen Fall«, rief Sandra hinaus.
Leo steckte den Kopf durch die Tür: »Guten Morgen allerseits, was ist denn hier los?«
Kai Nolde winkte ihn heran: »Guck mal, wie eifrig Sascha gestern bei der Arbeit war!«
Leo warf einen Blick auf den Bildschirm, lächelte Sascha an und meinte: »Bevor es offiziell wurde, hast du dich aber angezogen, oder?«
Sascha lächelte säuerlich: »Natürlich. Was glaubt ihr denn?«
»Deine neue Flamme auch?«
Dafür erntete Leo einen bitterbösen Blick, den er auch sofort verstand. Nicht jeder in der Abteilung musste wissen, dass er bei seiner Nacktwanderung eine Frau kennengelernt hatte.
»Wenn ihr die Fotos Richter zeigt, werde ich echt sauer!«, brummte Sascha und verzog sich in sein Büro.
Das Gekicher der anderen folgte ihm.
Als das das komplette Team kurz darauf zum Montagsfrühstück im Konferenzraum versammelt war, klopfte Reinhard Richter mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte und bat um Ruhe. Sascha lief beim Anblick des Hackepeters schon das Wasser im Mund zusammen. Als er gerade die Hand nach der Dose ausstrecken wollte, sprach Richter ihn an.
»Sie hatten gestern einen Einsatz in der Sächsischen Schweiz?«
Sascha nickte, ließ die Blechdose mit dem Hackepeter stehen und berichtete von dem Leichenfund.
»Wir haben die Villa des Opfers in Rathmannsdorf aufgesucht, aber niemanden angetroffen. Das wollen Leo Reisinger und ich heute nach der Sitzung noch mal versuchen.«
Richter schaute ihn an, seufzte, strich mehrmals mit der linken Hand über seine blassgrüne Seidenkrawatte und schüttelte schließlich den Kopf.
»Herr Pröve, ich kann Sie in diesem Fall nicht mehr einsetzen.«
»Wieso denn nicht?«
»Einer Ihrer Wanderfreunde hat auf seiner Website Fotos veröffentlicht, die zeigen, dass der Kriminalkommissar Sascha Pröve – ganz vorn im Bild – am Sonntag mit den Naturfreunden beim Nacktwandern war, als am Fuß der Zyklopenmauer eine Leiche gefunden wurde. Fazit: Wie gut, dass Sascha Pröve gleich kompetent den Tatort sichern konnte. Bis heute zehn Uhr gab es bereits einhundertsiebenundvierzig Kommentare dazu und der Link wurde schon Dutzende Male bei Facebook geteilt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Medien das spitzkriegen werden.«
Richter räusperte sich und sah Sascha kopfschüttelnd an. Dann schob er ihm ein Blatt Papier hinüber.
»Das ist ein Foto einer Gruppe von nackten Menschen in Wanderschuhen und Sie sind mitten drin. Was ist Ihnen denn da nur eingefallen?«
Sascha sah betreten auf den ausgedruckten Screenshot.
Aber er wollte sich nicht geschlagen geben.
»Das war eine rein private Wanderung. Ich kann nichts dafür, dass wir ausgerechnet bei meiner ersten Wanderung mit dieser Gruppe auf einen Toten stoßen. Ich habe überlegt, ob ich mich überhaupt zu erkennen geben soll, aber nichts zu tun wäre ja auch nicht in Ordnung gewesen.«
Sascha sah hilfesuchend in die Runde, aber keiner sprang ihm zur Seite.
Richter ließ seine Hand auf die Tischplatte heruntersausen und durchbrach damit die Stille.
»Herrschaften! Ich hoffe, Sie überlegen sich genau, welche Art von Hobbys Sie pflegen, schließlich sind wir als Polizisten Vertreter der Staatsgewalt. Da muss man auch im Privatleben gewisse Dinge unterlassen. Sie, Herr Pröve, sind von der Mitarbeit an diesem Fall entbunden. Ich will, dass Sie sich komplett raushalten, verstanden? Sonst gibt es ein Disziplinarverfahren.«
Sascha sah ihn bedrückt an und nickte. Wenn er bloß nicht auch noch Melanies Fotos an die Spurensicherung gegeben hätte! Dass Richter so spießig reagieren würde, hatte er nicht erwartet. Nervös strich er sich über die Stirnglatze.
»Bei den Ermittlungen vor Ort waren Sie korrekt gekleidet?« Richter zog die Augenbraue hoch.
»Natürlich, Chef«, beeilte sich Sascha zu antworten.
Richter nickte erleichtert. »Dann schlage ich vor, dass Sandra Kruse und Leo Reisinger sich ab sofort um den Fall kümmern und gleich nach Rathmannsdorf fahren. Was gibt es noch zu berichten?«
Er wandte sich an Uwe Kröger und Kai Nolde. Die schilderten ihre Ermittlungen in der Dresdner Drogenszene. Dort hatte sich, nachdem sie im letzten Herbst einen großen Coup gelandet hatten, mittlerweile wieder ein reger Handel entwickelt.
Nur zögerlich begann Frau Kerschensteiner, Richters Sekretärin, nach den Brötchen und dem Hackepeter zu langen. Leo Reisinger packte schließlich seine Leberkäs-Semmel aus, die er jeden Montag beim Fleischer in der Seestraße kaufte. Auch Sandra bediente sich und schob den Korb mit den Brötchen zu Sascha. Aber dem war der Appetit vergangen.
»Sascha ist ein großes Schaf!«
Sandra stand in Leos Bürotür und wedelte mit ein paar Blättern Papier.
»Ich hab ein paar Infos zu diesem Stefan Schüppel gesammelt.«
Leo nickte abwesend. Er kam eben aus Saschas Büro. Der hatte erst nicht einsehen wollen, dass er für die Ermittlungen nicht tragbar war. Da er aber ohnehin noch jede Menge Urlaubstage übrig hatte, war er eingeknickt und hatte versprochen, sich für eine Woche abzumelden. Leo hätte sich lieber mit Sascha diesem Fall gewidmet, mit Sandra war immer alles komplizierter. Aber er fügte sich.
»Wir können gleich nach Rathmannsdorf rausfahren. Was hast du rausbekommen?«, fragte er.
Sandra strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und begann vorzulesen:
»Stefan Schüppel, geboren 1965, ist Forschungsleiter der ›Waldgold GmbH‹, die bereits in dritter Generation einen Kräuterlikör sowie verschiedene Körperpflegemittel aus heimischen Waldkräutern und Kräuteressenzen produziert. Die Produkte werden im Bad Schandauer Ortsteil Rathmannsdorf hergestellt, die Firma liegt in der gleichen Straße wie das Wohnhaus. Habt ihr sie gesehen?«
Leo überlegte.
»Gegenüber der Villa liegt ein Areal mit ehemaligen DDR-Fabrikhallen und neuen Gebäuden. Vielleicht ist sie dort.«
Sandra nickte und fuhr fort:
»Stefan Schüppel hat an der Universität Dresden einen Doktortitel in Biologie erworben. Er scheint einen guten Ruf unter seinen Wissenschaftskollegen zu genießen, jedenfalls erhielt seine zweite Firma, die ›Schüppel Science GmbH‹ in Sebnitz, einige Auszeichnungen für Forschungsprojekte. Seine Eltern, Harald und Barbara Schüppel, sind 2008 kurz nacheinander verstorben. Verheiratet ist er laut Personenregister nicht.«
Sandra sah auf.
»Was hat Sascha nur geritten, als er sich dieser Wandergruppe angeschlossen hat?«
»Tja, auch Polizisten sind eben nur Menschen«, murmelte Leo. Er verriet ihr nicht, dass Saschas Entscheidung auch eine Menge mit ihr zu tun hatte.
»Geh schon mal vor! Ich komme gleich«, sagte er.
Als Sandra zur Tür raus war, rief er Klaus Blum von der Wandergruppe an, der das Foto von Sascha veröffentlicht hatte.
»Herr Blum, mit der Veröffentlichung dieser Fotos bringen Sie meinen Kollegen Sascha Pröve und im Grunde die gesamte Kriminalpolizei in Schwierigkeiten. Bitte nehmen Sie sie wieder raus und unterlassen Sie weitere Posts dazu. Das ist nicht hilfreich für unsere Ermittlungen.«
Klaus Blum sah das anders.
»Sachsen ist ein freies Land und wir dürfen veröffentlichen, was wir für gut und richtig halten. Diese Geschichte ist die perfekte Werbung für unsere Wanderbewegung. Wenn Sascha deshalb ein Problem bekommt, tut es mir leid, aber der Zweck heiligt die Mittel.«
»So gehen Sie also mit neuen Wanderfreunden um?«, fragte Leo ärgerlich.
»Sascha war auch nicht gerade zimperlich. Er hätte sich ja nicht gleich an Melanie ranmachen müssen«, kam es erbost zurück.
Daher wehte also der Wind! Leo ahnte, dass er, genau wie Sascha, sehr vorsichtig sein musste.
»Herr Blum, von den persönlichen Verwicklungen habe ich keine Ahnung. Das müssen Sie mit Herrn Pröve selbst klären. Mir geht es nur um einen sachlichen und zurückhaltenden Umgang mit dem Todesfall.«
»Blödsinn! Sie wollen mir den Mund verbieten!«, schallte es aus dem Telefon. »Das ist Zensur! Damit kenne ich mich aus, ich bin lange genug DDR-Bürger gewesen! Wo kommen Sie denn überhaupt her?«
Leo seufzte und schloss die Augen.
»Ist gut, Herr Blum. Machen Sie, was Sie für richtig halten. Ich will Sie weder zensieren noch überreden, ich habe nur an Ihre Vernunft appelliert. Natürlich ist das hier ein freies Land und Sie dürfen im Rahmen der Gesetze veröffentlichen, was Sie für richtig halten.«
»Ach, jetzt geben Sie zu, dass Sie versuchen, mir mit der Staatsmacht zu drohen?«
Jetzt wurde es Leo aber doch zu bunt.
»Ich habe nicht gedroht, Herr Blum, und Sie sollten wissen, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird. Ich kann also belegen, dass Sie gerade versuchen, mir das Wort im Mund umzudrehen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!«
Er knallte den Hörer auf den Tisch und trat wütend gegen seinen Schreibtisch. Zu der Notlüge mit der Telefonaufzeichnung hatte er noch nicht oft greifen müssen.
Sandra bestand darauf, den Wagen zu fahren. Sie hatte gerade ein Fahrtraining hinter sich gebracht und hoffte nun bei jeder Dienstfahrt, in eine Verfolgungsjagd verwickelt zu werden. Dass Leo eine ärgerliche Schnute zog, bemerkte sie sehr wohl. Sie versuchte, sich ihre Freude darüber nicht ansehen zu lassen. Es wurde Zeit, dass er sie als gleichberechtigte Kollegin akzeptierte.
Während sie den Wagen Richtung Autobahn lenkte, rief er in der Pathologie an und fragte, ob Dr. Gräber schon etwas zur Leiche sagen könne. Auf seinem Schoß lagen die von Sandra ausgedruckten Blätter mit den ersten Informationen zu Stefan Schüppel.
Als er sich verabschiedet hatte, sagte er zu Sandra: »Herr Dr. Gräber ist erst mittags wieder im Hause und frühestens gegen siebzehn Uhr mit der Obduktion fertig. Den Bericht schickt er uns morgen früh.«
Sandra drehte die Klimaanlage um zwei Grad herunter. Der Himmel leuchtete in allerschönstem Blau und es versprach, ein warmer Junitag zu werden. Bis zur Autobahnauffahrt herrschte Schweigen.
»Und, wie läuft es so mit Veronika und dir, wo ihr jetzt erstmals zusammenwohnt?«
Sandra war mehr als neugierig, wie dieses Beziehungsexperiment ihres bayerischen Kollegen funktionierte.
»Eigentlich ganz gut«, antwortete Leo und zögerte, bevor er weitersprach. Sandra wusste, dass er nicht gern über Privates redete, also ließ sie ihm Zeit.
»Ich verstehe nur nicht, wieso sie Möbel kaufen und meine Wohnung umräumen muss, wenn sie doch nur für drei Monate bei mir wohnen will. Wenn ich zurück nach Bayern gehe und wir dort zusammenziehen, kann sie alles nach ihrem Geschmack einrichten, aber hier in Dresden, das ist mein Revier, finde ich.«
Sandra nickte verständnisvoll: »Ihr werdet das schon hinbekommen. Wenn Veronika Lust hat, sich mit mir auf einen Kaffee zu treffen, jederzeit gern. Ich verspreche dir auch, dass wir nicht über dich lästern werden.«
Sie grinste Leo von der Seite an. Aber der fand das nicht so lustig und zog die Stirn in Falten.
»Ich werde es ihr ausrichten.«
Herrje, war der Mann kompliziert! Sie musste ein anderes Thema finden.
Sandra verließ die Autobahn bei Pirna und bog auf die Bundesstraße entlang der Elbe ein.
Sie wollte Veronika unbedingt näher kennenlernen. Leos Freundin war in Beziehungen offensichtlich das genaue Gegenteil von ihr. Sie hielt an Leo fest, als ob er der einzige verfügbare Mann auf der Welt wäre, während sie selbst sich neu orientierte, sobald Probleme auftauchten. Das war nicht immer die beste Methode, vor allem, wenn man, wie sie, auf die Mitte Dreißig zuging und in einem sicheren Hafen landen wollte. Sie würde Veronika ein Loch in den Bauch fragen, um zu verstehen, wie sie das hinbekam.
Sie ließen Königstein hinter sich und überquerten kurz darauf auf der Bad Schandauer Brücke die Elbe, die sich graugrün und träge in ihrem breiten Bett voranschob.
Stefan Schüppels Villa lag jetzt am frühen Nachmittag in der prallen Sonne und leuchtete hellgrün gegen die Felswand im Hintergrund. Sandra hielt auf derselben Stelle neben dem Haus wie gestern Sascha.
Leo stieg aus und versuchte erneut sein Glück mit der Klingel am Gartentor.
Während sie warteten, fielen Sandra die vielen verschiedenen Wedel im Garten auf: »Guck mal, das sieht ja aus wie eine Zuchtstation für Farne!« Wie auf einem Kartoffelacker waren die Pflanzen in langen Reihen gesetzt, nur dass jede Reihe einen anderen Grünton zeigte. Stefan Schüppel hatte offenbar eine Schwäche für diese Pflanze gehabt.
Noch immer regte sich nichts in der Villa. Stattdessen bog ein Kleinwagen in flottem Tempo in die Auffahrt und hielt neben ihrem Auto. Eine etwa fünfzigjährige Frau in einem wild gemusterten Kleid und einer kurzen grünen Jacke stieg aus und kam, mit zwei Einkaufskörben bepackt, auf sie zu.
»Guten Tag«, rief ihr Leo entgegen. »Sind Sie Frau Schüppel?«
Als Sandra die Augen verdrehte, fiel ihm ein, dass er ja gerade gelesen hatte, dass Schüppel unverheiratet war.
Die Frau zögerte kurz, lächelte dann bedauernd und schüttelte ihren kurzen, blonden Schopf.
»Also wissen Sie, nein – mein Name ist Helene Petzold. Ich bin Herrn Dr. Schüppels Freundin und ›rechte Hand‹. Haben Sie einen Termin? Ohne vorherige Vereinbarung empfängt er keine Gäste.«
Sie blieb am Gartentor stehen, das Leo ihr mit einer galanten Bewegung öffnete, damit sie mit ihren Einkäufen hindurchgehen konnte.
Sandra zückte ihren Ausweis und hielt sie auf.
»Frau Petzold, wir sind von der Kriminalpolizei Dresden. Herrn Schüppel ist etwas zugestoßen. Können wir mit Ihnen sprechen?«
Leo versuchte, den einen Einkaufskorb aufzufangen, den Helene Petzold mit einem spitzen Schrei fallen ließ.
»Was sagen Sie da? Etwas zugestoßen?«
»Wie zartfühlend ihr Frauen doch seid«, raunte Leo ärgerlich in Sandras Richtung, aber die zuckte nur mit den Schultern. Er nahm der aufgeregten Frau auch den zweiten Korb ab und versuchte, sie zu beruhigen.
»Lassen Sie uns bitte in Ruhe reden, Frau Petzold. Können wir hineingehen?«
»Ich, ich verstehe nicht … Ja, sicher. Kommen Sie!«
Sie hastete den kurzen Weg zur Eingangstür der Villa entlang. Mit zitternden Händen holte Helene Petzold den Hausschlüssel aus ihrer Jackentasche und wiederholte Sandras Worte: »… etwas zugestoßen …«
Als sie im geräumigen Flur der Villa standen, drehte sie sich um und fragte:
»Was bedeutet das?«
»Wie nahe standen Sie Herrn Schüppel?«, wollte Leo wissen.
»Sind Sie eine Angestellte oder seine Partnerin?«, fragte Sandra.
»Es gibt Gespräche, die die Polizei nur mit den nächsten Angehörigen führt«, erklärte Leo.
»Also wissen Sie, das ist doch jetzt unwichtig. Sagen Sie mir endlich, was passiert ist!«, beschwerte sich Helene Petzold resolut. »Stefan hat keine engen Verwandten und ich weiß über alle seine Angelegenheiten Bescheid. Wir sind uns sehr nahe und haben keine Geheimnisse voreinander.«
Sandra gab Leo ein Zeichen und übernahm es, sie über den Tod ihres Chefs zu informieren. Wortlos hörte sich die Frau an, dass Stefan Schüppels Leiche am Fuß der Zyklopenmauer unterhalb des Kuhstalls gefunden worden war.
»Oh, wie schrecklich«, flüsterte Helene Petzold und wankte durch eine zweiflügelige Tür ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf einen Sessel fallen und schloss die Augen. Leo folgte ihr und sah sich um. Seitlich führte eine Doppeltür auf eine geräumige Terrasse. Sofa und Sessel standen einladend mitten im Raum vor einem gut gefüllten Bücherregal.
Sandra setzte sich zu Helene Petzold.
»Wir können momentan noch nicht sagen, wie Herr Dr. Schüppel ums Leben kam. Aber vielleicht können Sie uns mehr über ihn und seine Gepflogenheiten berichten und so dazu beitragen, dass wir Antworten finden.«
Erst jetzt schien Helene Petzold zu registrieren, wo man Stefan Schüppel gefunden hatte.
»Am Kuhstall?«, fragte sie zweifelnd. »Stefan geht nie wandern. Er hat einen schlimmen Fuß und hinkt. Wandern ist das Letzte, das er freiwillig machen würde. Und dann noch am Kuhstall! Er ist ein zurückgezogener, um nicht zu sagen scheuer Mensch. Selbst wenn er Lust auf eine Wanderung hätte, würde er nicht ausgerechnet zum Kuhstall laufen! Da marschieren die Touristen doch busladungsweise hinauf.«
Nun begann sie doch zu weinen.
»Wir stehen uns sehr nah, müssen Sie wissen. Niemand kennt ihn so gut wie ich. Ich kann nicht glauben, dass er tot sein soll. Sind Sie sicher, dass es Dr. Stefan Schüppel ist, den Sie gefunden haben?«
»Er hatte seine Ausweispapiere bei sich«, sagte Leo.
Helene Petzold sprang vom Sessel auf.
»Moment, ich gehe nachsehen. Vielleicht irren Sie sich und er ist wie immer oben und arbeitet. Sie eilte die Treppe nach oben und rief mehrmals laut: »Stefan?«.
Leo und Sandra folgten ihr. Im ersten Stock befanden sich mehrere Zimmer, deren Türen Helene Petzold nun aufriss. Sie konnten einen Blick in ein geräumiges Arbeitszimmer, dann in ein Labor, in ein Gästezimmer und in ein modernes Bad werfen. Es fand sich keine Spur vom Bewohner der Villa. Außer im Labor herrschte überall penible Ordnung, Leo konnte kaum persönliche Gegenstände entdecken. Im letzten Raum, dem Schlafzimmer, war Helene Petzold stehen geblieben. Das altmodische, breite Holzbett war ordentlich gemacht, eine hellbraune Tagesdecke lag zur Hälfte darüber. Gegenüber stand eine Tür des dunklen Kleiderschranks offen und gab den Blick frei auf einen Stapel Hemden und diverse Schubladen.
»Stefan?« In Helene Petzolds Stimme schwang Verzweiflung mit.
Kraftlos ließ sie sich gegen den Türstock sinken. Leo war erleichtert, als er an der Wand hinter dem Bett wenigstens ein paar gerahmte Fotografien bemerkte. Sie waren schwarz-weiß und wohl schon älter. Er glaubte, auf ihnen junge Menschen in der Natur zu erkennen. Auf dem Nachttischchen lag ein Buch mit mehreren Lesezeichen.
»Stefan?« Es kam nur noch wie ein Flüstern von Helene Petzolds Lippen.
»Frau Petzold«, sagte Sandra mit ruhiger Stimme und berührte sie sanft am Arm. »Leider müssen Sie sich an den Gedanken gewöhnen, dass Herr Schüppel nicht mehr am Leben ist. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen zu ihm stellen.«
Sie führte Stefan Schüppels Gefährtin wieder hinunter ins Erdgeschoss. Bevor Leo ihnen folgte, warf er neugierige Blicke in das Arbeitszimmer, das von einer gewaltigen Schrankwand und dem dazu passenden Schreibtisch dominiert wurde. Erstaunt bemerkte er neben den sorgfältig gestapelten Briefen ein altmodisches Schnurtelefon. Sowas gab es noch? Einen Abschiedsbrief konnte er auf den ersten Blick weder im Schlafzimmer noch im Arbeitszimmer entdecken.
Im Labor zeugten blinkende Lichter an großen Kühlschränken, ein Laptop auf dem Tisch, eine Vorrichtung aus mehreren großen Glasbehältern, einer Heizplatte, einem Thermometer und metallenen Schläuchen, die Leo als Destilliergerät identifizierte, Pipetten, große, getönte Flaschen, Glaskolben in allen möglichen Größen und vor allem der intensive Geruch nach Lösungsmittel davon, dass Stefan Schüppel hier noch kürzlich viel Zeit verbracht hatte. In den Zimmerecken saßen jedoch auch traurige dunkle Schatten und erzählten von Einsamkeit. Auch hier keine Spur einer Nachricht, die Aufschluss über etwaige Selbstmordpläne Schüppels gegeben hätte. Leo packte den Laptop ein und nahm ihn mit ins Erdgeschoss.
Sandra saß Helene Petzold gegenüber auf dem Sofa und kramte ihr Schreibzeug heraus.
Leo machte auf sich aufmerksam: »Ich würde mir gern die Produktionsräume der Waldgold GmbH ansehen, Frau Petzold. Sind die gleich da drüben?« Er deutete nach draußen über die Straße.
Mit tränennassem Gesicht schaute Helene Petzold auf. Wimperntusche verteilte sich über ihre Tränensäcke und lief in unregelmäßigen Spuren die Wangen hinab.
»Über die Brücke auf die andere Seite vom Lachsbach. Sie werden es schon finden«, sagte sie matt.
»Der Stefan war so eine Seele von Mensch! Der konnte keiner Fliege was zuleide tun!« Helene Petzold schluchzte vornübergebeugt in ihr Taschentuch. Dann schnäuzte sie sich die Nase und richtete sich wieder auf.
»Am Kuhstall ist er gefunden worden, sagen Sie? Am Kuhstall?«
Sandra nickte: »Genau genommen unterhalb von ihm, an der Zyklopenmauer.«
Helene Petzold schien mit dieser Nachricht nach wie vor überfordert zu sein.
»Was sollte Stefan denn ausgerechnet da gewollt haben? Da gehen Touristen hin, aber doch nicht er. Wie denn auch, mit seinem schlimmen Bein?«
»Was war mit seinem Bein?«, fragte Sandra nach.
Ihr Gegenüber wischte sich mit dem Taschentuch über das verschmierte Gesicht.
»Er hinkt. Als Kind oder in seiner Jugend muss er einen schlimmen Unfall gehabt haben. Er hat nie darüber gesprochen, obwohl ich ihn ein paar Mal danach gefragt habe. Das war irgendwie tabu.« Sie schniefte. »Obwohl er mir sonst alles erzählt hat.«
Sandra machte sich Notizen. Es war sicher interessant herauszufinden, wie Dr. Schüppel mit diesem Handicap zum Kuhstall gelangt war.
»Mit welchem Bein hatte er dieses Problem?«
»Das rechte Bein war das schlimme. Er hat oft Schmerzen gehabt, der Arme.«
Helene Petzold fiel jetzt regelrecht in sich zusammen und weinte bitterlich.
Sandra wartete ab, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie sah sich im Wohnzimmer um, das trotz des hellen Sonnenlichts, das von draußen durch die Fenster schien, wie eisgekühlt wirkte. Die beiden Porträts in Öl, die über dem Sofa hingen, zeigten einen Mann und eine Frau. Er streng und hager, sie in hochgeschlossener grauer Bluse, ebenfalls eher schmal und freudlos.
Helene Petzold folgte ihrem Blick. »Stefans Eltern«, sagte sie knapp.
Sandra nickte und konzentrierte sich wieder auf sie.
»Er konnte also keine weiten Strecken gehen?«
»Nein. Er ist immer mit einem Gehstock unterwegs. Lange Märsche kann er nicht machen. Das ist schmerzhaft für ihn.«
Sandra notierte »Wo Gehstock?« und ließ sich genau beschreiben, wie Schüppels Gehhilfe aussah.
»Was, denken Sie, könnte Herr Dr. Schüppel am Kuhstall gesucht haben? War er öfter dort?«
Helene Petzold schüttelte voller Überzeugung den Kopf.
»Nein. Ich verstehe nicht, was er da wollte. Der Stefan liebt Pflanzen, besonders Moos und Farne und Kräuter. Sie sehen doch, wie der Garten aussieht, die reinste Farnzucht. Seine Familie macht schon seit drei Generationen in Kräuterlikör und Kräuterzusätze für Salben. Aber Menschen, vor allem viele auf einmal, die hat er gar nicht gemocht.«
Sandra überlegte: »Wenn er nicht so gut zu Fuß war, wird er so nah wie möglich mit dem Auto herangefahren sein. Das müsste also noch dort stehen. Was für einen Wagen fährt Herr Dr. Schüppel?«
»Gar keinen.«
»Wie? Ich verstehe nicht.«
»Wenn er irgendwohin wollte, was nicht oft vorkam, hat er mich gebeten, ihn zu fahren. Oder er hat sich ein Taxi gerufen.«
Sandra notierte sich, dass sie die örtlichen Taxianbieter anrufen würde, um zu erfahren, ob einer von ihnen Dr. Schüppel am Samstagmorgen zum Kuhstall gebracht hatte.
»Ich hätte nicht wegfahren dürfen!«, schluchzte Helene Petzold auf. »Ich bin seit Freitag nicht hier gewesen, weil mein Sohn in Heilbronn geheiratet hat. Ich hatte drei Tage Urlaub und dann passiert sowas. Warum habe ich ihn bloß allein gelassen?«
In Helene Petzold arbeitete es mächtig, ihre Erregung war ihr deutlich anzusehen. Sie atmete heftig ein und aus, bevor es sie schließlich nicht mehr im dezent gestreiften Sessel hielt und sie begann, im Wohnzimmer hin und her zu wandern.
»Wir wollten nächstes Jahr eine gemeinsame Reise machen, ans Nordkap! Er war in den letzten vier Wochen so fröhlich wie die ganzen sieben Jahre nicht, die ich nun schon bei ihm bin. Er hat wieder gelacht!«
Helene Petzold schrie es fast in Sandras Richtung.
»Er hat wieder gelacht! Er war glücklich! Stefan hat endlich verstanden, dass ich ihm treu ergeben bin und wir eine gemeinsame Zukunft vor uns haben! Und dann kommen Sie und sagen mir, dass er tot ist!«
Ihr mächtiger Busen bebte unter dem mit grünen Blättern bedruckten Kleid.
Sandra empfand Mitleid mit Helene Petzold. Offenbar waren die beiden ein spätes Liebespaar gewesen. Zwar fand sie es irgendwie tröstlich, dass man sich auch mit über fünfzig Jahren noch verlieben konnte, andererseits war Helene Petzold kein Happy End der Liaison mit ihrem Chef vergönnt gewesen.
»Sie wissen wirklich nicht, ob er noch nähere Verwandte hat?«, fragte sie, als Helene Petzold sich wieder hingesetzt hatte.
»Nein, ich weiß von niemandem. Die einzigen, die ihn länger kennen, sind seine Angestellten und die Hesses. Christian Hesse ist der Geschäftsführer von Waldgold. Seine Frau Doreen und er kennen Stefan schon seit ihrer gemeinsamen Jugend.«
Sandra nickte. »Gut. Mit denen reden wir als nächstes. Frau Petzold, ich denke, Sie sollten in Ihrem Zustand nicht allein bleiben. Kann ich jemanden anrufen, eine Verwandte, eine Freundin, die sich um Sie kümmert?«
Mit einer Handbewegung wischte Helene Petzold Sandras Bedenken beiseite.
»Also wissen Sie, das kippt mich nicht aus den Latschen. Mein Mann Richard ist vor zehn Jahren gestorben. Das war wirklich schlimm. Damals stand ich mit zwei Teenagern allein da. Ich komme auch diesmal zurecht. Aber ich werde Conni anrufen, das ist meine beste Freundin.«
Sandra tätschelte ihr den Unterarm.
»Das ist gut. Falls Sie sich jetzt besser fühlen, bitte ich Sie, noch einmal mit mir durch das Haus zu gehen und zu schauen, ob alles in Ordnung ist oder ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.«
Helene Petzold sah sie aus Mascaraumwölkten Augen an.
»Meinen Sie einen Abschiedsbrief oder so was?«
»Zum Beispiel. Aber es kann auch etwas ganz anderes sein.«
Leo überquerte die Straße und auf der Brücke zum Gelände auch den Bach, der neben der Straße plätscherte. Er versuchte, sich auf dem weitläufigen Areal zu orientieren. Hier hatten in teils renovierten, teils noch im DDR-Originalzustand befindlichen Gebäuden eine ganze Reihe von Firmen und Handwerkern ihr Domizil gefunden. Bald entdeckte er einen Eingang, neben dem das Schild »Waldgold GmbH« prangte. Er klopfte und betrat einen kleinen Flur mit vier Türen, von denen eine offen stand. Eine Duftwolke nach Kräutern und Alkohol umhüllte ihn augenblicklich. Gleich hinter der offenen Tür saß eine junge, in jeder Hinsicht üppige Frau hinter einem Schreibtisch und tippte eifrig auf einer Computertastatur.
Sie hob den Kopf und sah ihn an: »Ja bitte?«
Ihre riesigen Ohrringe klimperten bei jeder Bewegung.
»Reisinger von der Kriminalpolizei Dresden. Könnte ich bitte den Chef sprechen?«
»Sie meinen den Betriebsleiter, Herrn Johne?«, fragte sie und musterte ihn interessiert. Ihr Gesicht samt dick aufgetragenem Make-up hatte etwas Maskenhaftes. Sie zögerte kurz. »Oder unseren Inhaber, Herrn Dr. Schüppel? Den finden Sie drüben in seiner Villa, falls Sie mit ihm verabredet sind. Der Geschäftsführer, Herr Hesse, ist nicht da.«
»Herrn Johne«, bestätigte Leo.
Die Sekretärin führte ein kurzes Telefonat und bat Leo dann, in Johnes Büro nebenan zu warten. Der Raum war vollgestopft mit Schränken, einem grauen Schreibtisch und einem in die Jahre gekommenen Bürosessel. Vor dem mit Papieren überfüllten Schreibtisch stand ein einfacher Holzstuhl für Besucher, auf den sich Leo setzte. An den Wänden blieb sein Blick an sechs gerahmten Fotografien von exotischen Stränden hängen.
Braungebrannt, dunkelhaarig und durchtrainiert stürmte André Johne zwei Minuten später schwungvoll durch die Tür in sein Büro und hielt Leo die Hand hin.
»André Johne. Womit kann ich Ihnen helfen?«
Er lächelte gewinnend und sprühte vor Energie.
Leo holte seinen Polizeiausweis aus der Tasche. »Reisinger, Kriminalpolizei Dresden.«
Johnes Lächeln verschwand augenblicklich.
»Was, was führt Sie …, also … worum geht es?«
Als wäre es mühsam, schleppte sich Johne die drei Schritte hinter seinen Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl sinken. Leo verfolgte diesen Stimmungswandel mit Interesse.
»Dr. Stefan Schüppel wurde gestern tot aufgefunden«, sagte Leo.
André Johne wurde blass.
»Wie schrecklich«, sagte er tonlos.
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Johne knetete seine Hände auf der Tischplatte und überlegte.
»Der Chef kommt selten zu uns rüber, läuft ja auch alles rund hier. Also ich würde sagen …«, er sah Leo nicht an, »… vor drei Wochen.«
Dann beugte er sich zur Seite und rief durch die offene Tür: »Denise, wann war Herr Dr. Schüppel das letzte Mal bei uns im Betrieb?«
Leo schaute Johne interessiert ins Gesicht, aber der hob den Blick nur kurz, als es nach einigen Sekunden über den Flur schallte:
»Am 25. Mai, zu Eberhards Geburtstag!«
Johne nickte: »Danke!«
Er saß immer noch zusammengesunken auf seinem Bürostuhl und mied Leos Blick. Der fand seine Reaktion merkwürdig. Dass er sich den Tod seines Chefs zu Herzen nahm, war verständlich, aber dass Johne plötzlich jedem Blickkontakt auswich, irritierte ihn.
»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Herrn Dr. Schüppel?«, fragte Leo.
»Ja …, nein …, ich …« Johne straffte sich kurz und sah ihn nun doch an.
»Eigentlich hat keiner der zehn Mitarbeiter hier ein Verhältnis zu Herrn Dr. Schüppel, der taucht ja nur alle Jubeljahre mal auf. Wenn er kommt, ist er freundlich und umgänglich, verschwindet dann aber schnell wieder in seinem Labor drüben. Er ist nicht gerade ein sozialer Mensch. Mit ihm kann man nicht mal eben einen Plausch über alte Zeiten halten oder übers Wetter. Verstehen Sie?«
Johne knetete wieder seine Hände und starrte auf ein Strandfoto mit Palmen und türkisblauem Meer.
»Gut. Gibt es jemanden, der ihn besser kannte?«
Johne nickte, ohne ihn anzusehen.
»Christian Hesse. Herr Hesse ist unser Geschäftsführer, die beiden haben gemeinsam studiert. Christian Hesse ist eigentlich der einzige Mensch, der Zugang zu Herrn Dr. Schüppel hatte. Glaube ich jedenfalls.«
»Wo finde ich Herrn Hesse?«, wollte Leo wissen.
Johne zog eine Visitenkarte aus der Schreibtischschublade und reichte sie Leo.
»Meistens in Dresden, Telefonnummer steht drauf. Die Geschäftsführung der Waldgold GmbH macht er aber nur nebenbei, er hat noch eine eigene Firma, die Hesse Consulting. Den sehen wir hier auch nicht oft.« Der genervte, fast aggressive Unterton in Johnes Stimme war nicht zu überhören. Als Leo den Betriebsleiter fragend ansah, erntete er nur ein schmales Lächeln.
Also erhob er sich, um wieder hinüber in die Villa zu Sandra zu gehen. Unter dem Türrahmen machte er kurz halt und drehte sich um.
»Wie haben Sie den Samstag verbracht, Herr Johne?«
Der sah ihn entgeistert an.
»Vormittags bin ich achtzig Kilometer mit dem Rennrad gefahren, nachmittags habe ich mit meiner Freundin und einigen Kumpels in Pirna in der Schloss-Schänke gesessen und später den Sonnenuntergang beobachtet.«
Leo seufzte. So konnte ein Wochenende auch aussehen.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Johne alarmiert.
Die beiden Frauen verließen gerade das Haus, als Leo zurück in den Garten kam und gedankenverloren die Beete mit den verschiedenen Farnen zählte. Sandra hatte schon das Telefon am Ohr, um die Polizeidienststelle in Pirna anzurufen:
»… das Haus muss versiegelt werden. Der einzige Bewohner ist verstorben. … Nein, haben wir nicht, das Siegel müssten Sie mitbringen. Können Sie jemanden herschicken, bitte? Wir warten so lange.«
Helene Petzold blieb abrupt stehen, als sie das Wort »versiegeln« hörte.
»Sie sperren die Villa ab? Dann muss ich die Lebensmittel holen, die liegen noch im Einkaufskorb. Da ist Wurst, Milch und Käse drin, das kann nicht so stehen bleiben.«
Leo nickte und öffnete ihr das Gartentor, während Sandra die Adresse durchgab: »Holen Sie die Sachen raus und verlassen Sie dann bitte das Haus, Frau Petzold!«
Sandra legte auf.
»Die sind in zehn Minuten da.«
Leo wartete ab, bis Helene Petzold in der Villa verschwunden war.
»Der Betriebsleiter, ein Herr Johne, hat ziemlich merkwürdig auf die Todesnachricht reagiert. Und er sagt, wir sollen mit dem Geschäftsführer Christian Hesse reden. Ich habe die Nummer.«
»Die habe ich auch«, nickte Sandra, »und wir sollten prüfen, wie Herr Schüppel zum Kuhstall gekommen ist. Er fährt nämlich kein Auto. Frau Petzold sagt, er habe sich üblicherweise ein Taxi gerufen. Das müssen wir überprüfen. Außerdem fehlt Schüppels Gehstock. Er hatte immer einen Stock dabei, weil er hinkte. Wo ist der abgeblieben?«
Leo sah sie erstaunt an.
»Oha!«
»Genau. Oha!«, bestätigte Sandra.
»Was hat den Mann bewogen, sich mühsam an diese Stelle zu schleppen, und das auch noch ohne seine Gehhilfe?«
Sie zückte wieder ihr Telefon: »Ich rufe Hesse an, du die Taxiunternehmen!«
Schon bei der zweiten Nummer hatte Leo Erfolg.
Als er sein Handy wegsteckte, hatte er erfahren, dass Stefan Schüppel am Samstagmorgen ein Taxi ins Kirnitzschtal bestellt hatte.
Sandra sprach derweil mit jemanden aus dem Büro von Christian Hesse: »Könnten Sie ihm ausrichten, dass wir ihn morgen Vormittag sprechen möchten?«, fragte sie und gab Leo gleichzeitig ein Zeichen, dass er mal nach Helene Petzold sehen sollte, die immer noch im Haus war.
So ging er durch den Garten zurück zur Haustür, die nur angelehnt war, drückte sie auf und rief laut nach Frau Petzold.
Atemlos kam es aus dem ersten Stock: »Komme sofort! Bin gleich da.«
Er hörte Helene Petzold die Treppen herunterlaufen. Unten angekommen, griff sie sich die beiden Einkaufskörbe, die im Flur standen.
»Ich habe oben sicherheitshalber noch die Fenster verriegelt«, sagte sie, während sie mehrfach die Tür zuschloss.
Leo nahm ihr einen der Einkaufskörbe ab und hievte das schwere Ding in ihren Kofferraum. Dann drückte er ihr die Hand.
»Kopf hoch, Frau Petzold, Sie kommen drüber weg.«
Sie schniefte und fuhr, mit einem Nicken zu Sandra, in Richtung Bad Schandau davon.
Leo wandte sich an seine Kollegin, die sich im Stehen ein paar Notizen machte.
Als sie fertig war, sah sie auf: »Christian Hesse kommt morgen früh direkt zu uns ins Polizeipräsidium, er ist ohnehin in Dresden, sagte seine Frau. Heute wäre er bei Kunden unterwegs und sie erwartet ihn erst spätabends zurück. Frau Hesse klang ziemlich geschockt.«
»Gut. Dann können wir uns morgen die Fahrerei hier raus sparen. Übrigens hat sich Dr. Schüppel am Samstagmorgen um halb sieben hier abholen und hoch zum Kuhstall bringen lassen. Sobald er ihn erreicht hat, ruft mich sein Taxifahrer zurück.«
Sandra kramte die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche und schaute sich um: »Bin gespannt, wer das alles hier bekommt, wenn Stefan Schüppel keine Erben hat. Schöne Villa und interessanter Garten.«
Sie wandte sich zu Leo und zur Straße: »Wie groß ist denn die Firma Waldgold?«
»Zehn Mitarbeiter hier in der Produktion. Christian Hesse hat aber noch eine eigene Firma, Hesse Consulting in Dresden.«
Leo sah einen Polizeiwagen herankommen.
Nach einem kurzen Gespräch versiegelten die Polizisten die Villa und Sandra winkte ihn zum Auto.
»Lass uns zurückfahren. Die Spurensicherung soll prüfen, was mit dem Gehstock ist, und Dr. Gräber ist vielleicht schon mit der Obduktion fertig. Hier können wir nichts mehr tun.«
Leo stieg ein. Es war ihm ganz recht, zurück ins Büro zu kommen. Schüppels Laptop hatte er schon im Auto verstaut, bevor er hinüber zur Waldgold GmbH gegangen war.
Während er Sandra erzählte, wie der Betriebsleiter Johne reagiert hatte, musste er auch an Sascha denken. Hoffentlich ließ dieser Natur-Apostel aus seiner Wandergruppe das heutige Telefonat auf sich beruhen.
Sandra hatte mit Helene Petzold im Haus vergeblich nach einem Abschiedsbrief gesucht. Sie ging davon aus, dass dieser Tod die Polizei nicht lange beschäftigen würde.
»Das ist eine klare Sache, Herzinfarkt oder vielleicht auch Selbstmord, würde ich sagen. Obwohl es schon merkwürdig wäre, wenn sich jemand, der schlecht zu Fuß ist, ausgerechnet diesen Platz zum Sterben aussuchte, oder?« Sie sah Leo an.
Der war ihrer Meinung: »Da Schüppel ein großer Naturfreund war, hat er vielleicht nach besonderen Pflanzen gesucht. Es gibt sicher gute Gründe, warum er dort war.«
»Genau. Und ich bin sehr gespannt auf diese Gründe.« Sandra schaute auf die Uhr. »Oh, schön, wenn ich heute pünktlich Schluss machen kann, schaffe ich es noch in meinen Tangokurs.«
»Tango?«
»Liings … rechsss … Wiegeschried!« Von diesem lateinamerikanischen Akzent wurde Sandra ganz blümerant – und als Armando dann auch noch ihren stocksteifen Tanzpartner Guido zur Seite schob, um ihr diesen Tangoschritt mit vollem Körpereinsatz nahezubringen, spürte sie, dass es gefährlich wurde. Sandra mahnte sich selbst zur Vorsicht. Sie würde auf keinen Fall die Kontrolle abgeben und diesem südamerikanischen Charmeur verfallen. Und doch bekam sie Herzklopfen wie zu Teenagerzeiten und wurde kurzatmig wie nach einem Dauerlauf. Dabei hatte Armando sie nur fest um die Taille gefasst und sie in erhabener Haltung über das Parkett des Latin Dance Clubs geschoben. Einen Tangokurs zu buchen, das war zwar vernünftig gewesen, um ihr über ihren Trennungsschmerz von Olli zu helfen. Gleichzeitig war es aber auch ein Anschlag auf ihre Selbstkontrolle. Ihr stand der Sinn überhaupt nicht danach, die Abgründe zu ihrem verschütteten »Ich« auszuloten, es war ungesichertes Gelände, in dem heftige Emotionen lauerten. Armandos lange, schwarze Locken streiften ihr Gesicht, als er sie durch sanften Druck auf ihren Rücken zwang, aufrechter zu stehen. »Como una reina«, säuselte er ihr ins Ohr, »stolz wie eine Königin!«
Eine Gänsehaut rieselte ihre Wirbelsäule hinunter.
Das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Sandra atmete tief durch, straffte sich und versuchte, sich wie eine Königin zu fühlen.
Oder wenigstens wie eine Prinzessin. Sie hob den Kopf und drückte die Brust heraus, um diese für den Tango typische, ausdrucksvolle Haltung anzunehmen. Aber Armando schüttelte den Kopf. Während er sie im Kreis mit den anderen Tanzschülern weiterhin im Wiegeschritt führte, forderte er sie auf, ihm in die Augen zu sehen. Doch das fiel Sandra schwer. Sie versuchte, sich mit den Augen an seinen lockigen, schwarz glänzenden Haaren festzuhalten, an den großen Ohren, an den buschigen Augenbrauen – Armando wurde unzufrieden. Während er die Gruppe der anderen acht Paare weiter mit seinem hinreißenden Akzent und seiner samtweichen Stimme zu den einzelnen Schritten anleitete, blieb er kurz stehen und sagte zu Sandra: »Du musst mir schauen in die Auge!«
Einerseits war es unvernünftig, das zu tun. Sandras Verstand stellte ein riesiges Stopp-Schild auf. Andererseits hatte sie sich doch immer unter Kontrolle, oder etwa nicht? »Was soll schon passieren?«, flüsterte es in ihrem Hinterkopf.
Sandra atmete noch einmal tief durch, dann schaute sie in Armandos Augen, während er wieder ihre rechte Hand nahm und gleichzeitig seinen Arm eng um ihre Hüfte legte. Intuitiv wusste sie, was passieren würde, deshalb zierte sie sich so. Armandos nachtschwarze Pupillen verhießen ihr alles, was gerade in ihrem Leben fehlte: Leidenschaft und Abenteuer, Glückseligkeit und Drama. Sie zitterte in seinen Armen.
»Qué bien!« Er war so nah an ihrem Gesicht, dass sie jede einzelne Wimper sehen konnte. Als er sie nun losließ, um sie wieder ihrem Tanzpartner Guido zu übergeben und sich um die nächste Tanzschülerin zu kümmern, war ihr schwindelig. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt und nachgespürt, was eben passiert war. Hatte sie sich verliebt? Oder war das nur eine kleine Aufwallung gewesen, weil ihr dieser exotische Mann aus Argentinien so nahegekommen war? Sandra war verwirrt. Sie ließ sich von Guido widerstandslos durch den nächsten Tango führen und stolperte seinen ungelenken Schritten hinterher. Mit ihren Blicken allerdings suchte sie Armando. Machte er das mit jeder Frau im Kurs? War das seine Masche? Sie folgte seinen Bewegungen und stellte fest, dass er zwar zu jeder Tänzerin freundlich war, aber keiner so in die Augen sah, wie er es bei ihr getan hatte. Ihr Herzklopfen setzte wieder ein. Gleichzeitig schalt sie sich selbst eine Närrin. Wie konnte sie sich nur so gehen lassen?! Sie war hier, um nicht jeden Abend daran erinnert zu werden, dass sie wieder Single war. Also aus einem ganz vernünftigen Grund. Nur deshalb.
»He, du musst schon ein bisschen mitmachen, sonst wird das nie was mit uns!«, beschwerte sich Guido und blieb stehen.
Sandra hatte eben Armandos Blick aufgefangen und der war sehr vielsagend gewesen. Die letzten Takte des Tangos waren verklungen.
»Was?«
Sandra ließ Guido einfach stehen. Sie musste sich jetzt dringend sortieren.