Читать книгу Tod im Kirnitzschtal - Thea Lehmann - Страница 6

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Am Donnerstagnachmittag hatte Leo Reisinger den Papierkram zu seinem letzten Fall erledigt, alles sorgfältig abgeheftet beziehungsweise an die zuständigen Stellen verteilt. Er würde die seltene Gelegenheit haben, seine aufgelaufenen Überstunden abzubauen, denn derzeit lag kein neuer Fall für ihn an. Die Aussicht auf eine ruhige Woche und das Rendezvous heute Abend ließ seine Stimmung hochschnellen. Als er seinen Schreibtisch abschloss, klingelte das Telefon. Auf dem Display konnte er die Nummer seines Chefs Reinhard Richter erkennen. Nichts Gutes ahnend, hob er den Telefonhörer ans Ohr und meldete sich.

»Reisinger!«, bellte Richter. »Ich habe Doktor Gräber in der Leitung. Kümmern Sie sich um diesen Fall!«

»Guten Tag, Herr Doktor Gräber«, sagte Leo Reisinger nach dem Verbindungsklicken und ließ sich ergeben auf seinen Bürostuhl sinken. Er kramte seinen Schreibblock wieder aus der Schublade und begann sich Notizen zu machen.

»Todesursache?«, fragte er.

»Das ist nicht ganz einfach, eigentlich haben wir hier zwei Ursachen, wenn nicht zweieinhalb. Sie müssen sich das morgen ansehen. Ab acht Uhr bin ich im Labor.«

»Gut, dann bis morgen früh, Doktor Gräber.« Er schaute sich seine Notizen an und ließ gedankenverloren seinen weiß-blau gerauteten Lieblingskugelschreiber auf dem Blatt rotieren. Dann stand er auf und studierte an der Wand im Flur den morgigen Dienstplan. »Mist, schon wieder Sandra«, seufzte er.

Er ging durch den schmucklosen Gang des Polizeigebäudes drei Büros weiter und klopfte an die angelehnte Tür. Bei Sandra Kruse wusste man nie, ob man einfach reinschneien konnte, selbst wenn die Tür sperrangelweit offen stand. Die Kriminalkommissarin starrte angestrengt auf ihren Computerbildschirm. Reisinger lehnte sich an den Türstock.

»Sandra, ich habe einen neuen Fall. Du bist die Einzige, die mich morgen begleiten kann. Erst um acht in die Autopsie zu Dr. Gräber, dann raus hinter Pirna irgendwo in den Wald, wo ein Toter gefunden wurde. Gräber sagt, die Todesumstände sind merkwürdig. Vielleicht war es Mord.«

Sandra sah kurz auf und nickte. »Gut! Ist doch ganz nett, bei der Hitze nicht im Büro sitzen zu müssen.«

»Hast du keine Angst, dass du davon eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen könntest?«

»Blödmann!«, fauchte sie. »Das nennt man vornehme Blässe!«

Sandra hatte seit einem Monat einen neuen Freund und war jetzt in ihrer Zombiephase. Ihre pechschwarz gefärbten Haare und die schwarzen Balken um die Augen ließen ihr Gesicht gespenstisch blass erscheinen. Ihre Kleidung war seit vier Wochen ebenfalls schwarz. Heute unterbrach immerhin ein Nietengürtel das triste Ensemble.

»Du siehst gruselig aus!«, stellte Leo Reisinger fest.

»Und du spießig!«, gab sie zurück.

Leo Reisinger sah an sich herunter. Er trug eine leichte helle Sommerhose und ein weißes Polohemd. Was war daran bitte spießig?

Als hätte Sandra seine Gedanken erraten, sagte sie: »Diese Sandalen sind ein Albtraum!«

Na gut, Leo war sich bewusst, dass seine Wandersandalen modisch nicht der letzte Schrei waren, aber wieso sollte er bei dreißig Grad im Schatten mit Halbschuhen im Büro sitzen? »Die sind aber luftig und bequem.«

»Das ist garantiert gegen die Vorschrift, hier mit offenen Schuhen rumzulaufen«, meinte Sandra Kruse.

Leo verdrehte die Augen. »Du bist sicher die Letzte, die sich hier über einen Verstoß gegen die offizielle Kleiderordnung aufregen sollte.« Ärgerlich wandte er sich um. »Morgen um acht bei Dr. Gräber!«, rief er noch in die offene Tür.

Seit einem halben Jahr arbeitete Leo Reisinger als Kriminalkommissar bei der Kripo Dresden. Er hatte dringend weggewollt aus München, und im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation der Polizei hatte sich erstaunlich schnell die Möglichkeit ergeben, für zwei Jahre nach Dresden zu gehen. Mit den Sachsen kam er an sich gut aus. Aber mit Sandra Kruse hatte er eigentlich ständig Ärger. Uwe Kröger und Sascha Pröve waren die Kollegen, mit denen er am liebsten zusammenarbeitete, doch die waren noch mit dem Mord an dem Rentner in Blasewitz beschäftigt.

Sicher, Sandra hatte auch ihre guten Seiten. Wenn sie einen Verdacht hatte, dann war der zu 90 Prozent berechtigt, auch wenn sie noch keine Beweise präsentieren konnte. Wenn man sie in Ruhe recherchieren ließ, brachte sie am Schreibtisch mithilfe des Computers die erstaunlichsten Dinge ans Licht. Ihre Spürnase war wirklich gut. Ihre forsche Art allerdings schreckte die meisten Menschen erst mal ab. Bevor sie ihren Freund gewechselt hatte, ging es noch, aber seit sie sich anzog wie ein Gothic-Punk, war sie eine echte Belastung für seine Abteilung. Für die Arbeit vor Ort war Sandra denkbar ungeeignet, außer es ging ins Punkermilieu, da fiel sie derzeit nicht auf.

Leo guckte auf die Uhr, zehn nach fünf. Auch sein Zeitmesser hatte ein weiß-blaues Rautenmuster. Ein paar Andenken an die bayerische Heimat hatte er sich nicht verkneifen können. Zu Hause würde er dieses kitschige Zeug nie benutzen, aber hier, im fernen Ausland, zeigte er Flagge. An der Wand hing ein Poster vom Oktoberfest, und die einzige Grünpflanze in seinem Büro, eine Aloe Vera, fristete ihr Dasein in einem bayerischen Steingut-Bierkrug.

Er verließ endgültig sein Büro, meldete sich im Sekretariat und bei seinen Kollegen ab und schlenderte anschließend Richtung Albertbrücke, hinüber über die Elbe und hinein in die Dresdner Neustadt.

Leo Reisingers Wohnung lag mittendrin in der Dresdner Neustadt, in einem Hinterhof der Alaunstraße. Hier gab es jede Menge Kneipen, Restaurants, kleine Werkstätten und Ateliers. Er liebte dieses Viertel, das zu jeder Tageszeit lebendig war. Sein Magenknurren erinnerte ihn daran, dass in seinem Kühlschrank düstere Leere herrschte, und er beschloss, im Supermarkt nebenan einkaufen zu gehen. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass das Einkaufen hier in Sachsen durchschnittlich doppelt so lange dauerte wie zu Hause in Mammendorf. Wo den Bayern ein schlichtes »Ja« oder »Nein« zur Kommunikation ausreichte, entquoll den Sachsen in der Regel ein Wortschwall, der nicht so schnell zu bremsen war.

Grinsend erinnerte er sich an seinen ersten Besuch in diesem Supermarkt, während er seinen Korb füllte. Damals hatte er aus Heimweh heraus das Bedürfnis nach einem deftigen Schweinebraten samt Knödeln verspürt. Der Metzger hinter der Fleischtheke hatte ihn ganz schräg angesehen, als er nach einem Stück Schwein mit schöner Schwarte gefragt hatte. Das gab es nur gegen Vorbestellung. In der Kühltheke lagen nur nackte, enthäutete Braten, ein trauriger Anblick für einen Bayern. Dann hatte er nach Kartoffelklößen gesucht. Schöne dicke, seidige Knödel schwebten ihm vor Augen und ließen ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Im Kühlregal gab es Thüringer Klöße und Grüne Klöße. Beides sagte ihm nichts. Welche nehmen? In seiner Not nahm er beide Packungen aus der Kühlung und ging zur Kasse.

»Ich hätte eigentlich gerne bayerische Kartoffelknödel. Können Sie mir sagen, welche von denen hier jetzt besser sind?«, fragte er die Kassiererin. Die, eine mollige Mittvierzigerin mit einer Frisur wie ein aufgeplatztes Sofakissen, hörte sofort auf zu tippen und sah sich die beiden Packungen genau an. Dann wandte sie sich lautstark an ihre Kollegin an der zweiten Kasse: »Du, Hilde, weißt du, welche von den Klößen hier besser sind? Die Grünen oder die Thüringer? Der Herr da will eigentlich bayerische, aber die ham wir ni.«

Die Kollegin hörte sofort auf zu kassieren und nahm sich des Problems ernsthaft an. »Also die da«, sie deutete auf die Thüringer Packung, »die kenn ich, die sind gut. Mei Alder hat letzten Sonntag gleich drei Stück davon verdrückt. Die könn’ Se nehmen. Aber ob die wie die bayerischen schmecken …«

Leo Reisinger war das zu diesem Zeitpunkt schon viel zu viel Getue um seine Knödel, er hätte am liebsten sofort alles eingepackt, gezahlt und sich aus dem Staub gemacht. Da hatte er aber nicht mit der Gründlichkeit einer sächsischen Hausfrau gerechnet. Seine Kassiererin hatte inzwischen den Text auf der Rückseite der Thüringer Klöße studiert und stellte fest, »Die sind halb und halb«, sie hielt das andere Paket hoch, »und die da sind rohe Klöße, oder?« Die Frage ging an die drei Kunden, die hinter Reisinger in der Schlange standen. Sofort entwickelte sich ein angeregtes Gespräch darüber, ob die Grünen nur aus rohen oder eventuell auch mit einem Teil gekochter Kartoffeln gemacht würden.

Die Schlange an der zweiten Kasse mischte sich schnell ein. »Es kommt darauf an, wozu Sie die essen wollen, junger Mann«, klärte ihn eine ältere Dame in feinstem Hochdeutsch auf. »Wenn Sie eine Gans dazu machen, würde ich Ihnen zu den grünen Klößen raten, bei einem Kalbsbraten eher zu den Thüringern.«

»Nee, nee, das ist reine Geschmackssache«, sagte ein junger Mann mit ziemlich fantasievollem Outfit, wahrscheinlich ein Künstler oder ein Student oder beides. Leo Reisinger stand dazwischen mit rotem Kopf und peinlich berührt und war nur froh, dass es hier um Klöße und nicht um Klopapier, Deo oder Kondome ging.

»Also, ich denk’, die Thüringer sind die rischtschen für Sie«, sagte seine Kassiererin nach einer Weile des Studierens. Leo nickte ergeben und schob ihr den Rest seiner Lebensmittel entgegen, damit sie endlich weitermachte. Eine andere Frau in der Warteschlange riet ihm, eine rohe Kartoffel in den Kloßteig zu reiben, dann würden sie wirklich wie selbst gemacht schmecken. Die Diskussion entbrannte erneut. Die Schlange hinter ihm war inzwischen beachtlich angewachsen, aber niemand schien sich darum zu kehren, dass die Kassiererinnen immer noch beratschlagten, welche Klöße er kaufen sollte.

»Aber wenn Sie bayerische Knödel wollen, könn’ Se die bestimmt im ›Kaufland‹ kriegen, die ham da mehr Auswahl als wir«, sagte seine dann zögernd. Reisinger war am Verzweifeln. »Nein, bitte, ich nehme die hier.« Er schob die Packung mit den Thüringer Klößen noch ein bisschen näher zu ihr hin.

»Aber wenn Sie die Packung offmachen, kann ich sie nicht mehr umtauschen!«, warnte sie ihn, bevor sie die Packung endlich über den Scanner zog. Reisinger nickt erleichtert und beeilte sich, seine Einkäufe einzupacken.

»Na dann, gutes Gelingen!«, rief es hinter ihm her, als er endlich aus dem Laden konnte. »… und geröstete Weißbrotwürfel müssen unbedingt rein in die Klöße!«, ermahnte ihn die ältere Dame, bevor er endlich zur Türe hinaus war.

An diese Art von Gesprächen hatte er sich langsam gewöhnt, und es jagte ihm keine peinlichen Schauer mehr über den Rücken, wenn sich plötzlich wildfremde Menschen in Gespräche einmischten. So waren sie halt, die Sachsen, leutselig und immer zu einem Gespräch bereit.

Heute schaffte er seinen Einkauf ohne große Diskussionen.

Er machte sich ein leichtes Abendessen, duschte, zog sich um und prüfte noch einmal auf seinem Smartphone, ob es Anrufe gegeben hatte. Kurz vor acht Uhr machte er sich, fröhlich vor sich hin summend, auf den Weg in die von Mandy ausgewählte Kneipe.

Sandras Stiefel hatten Löcher; gleichmäßige viereckige Löcher. Leo nahm das neue Schuhwerk seiner Kollegin schweigend zur Kenntnis. Natürlich waren sie schwarz wie der Rest von Sandras Kleidung. Er selbst hatte leichte Leinenschuhe gewählt, denn es würde wieder heiß werden an diesem Augustfreitag. Gerichtsmediziner Dr. Gräber kam und bat sie in sein Büro. Er war ein hagerer, großer Mann mit einer spitzen Nase, kleinen, flinken Augen und einer deutlichen Stirnglatze. Leo Reisinger begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, schließlich hatte er schon öfter mit Dr. Gräber zusammengearbeitet. Auch Sandra Kruse kannte Gräber von früheren Fällen, aber die lagen alle vor ihrer Zombie-Phase.

»Guten Morgen, Herr Doktor«, sagte Sandra freundlich. Dr. Gräber sah sie fragend an. »Sind Sie neu bei der Kripo?«

»Nein, Herr Doktor«, sie lächelte ihn an.

Dr. Gräber breitete einige Fotos und eine Akte vor ihnen aus. »Der Fall ist insofern interessant, als der Mann bisher noch nicht identifiziert ist und eine merkwürdige Kette von Ursachen zu seinem Tod geführt hat, bei der ich den Zufall ausschließen würde.« Sandra zückte Stift und Schreibblock.

»Der Tote hat starke Prellungen hier am rechten Brustkorb und an den Oberarmen. Die Obduktion hat ergeben, dass er sich eine Rippe gebrochen hat, die sich unglücklich in das Lungengewebe gebohrt hat. Ohne Behandlung kann so eine innere Verletzung durchaus zum Tode führen, aber daran ist der Mann nicht gestorben.«

Reisinger sah ihn interessiert an. »Woran ist er dann gestorben?«

»Meine Untersuchung hat ergeben, dass er Ibuprofen und eine ziemlich große Dosis Benzodiazepine im Blut hat, die auch zu einer allergischen Hautreaktion geführt hat.«

Sandra sah ihn fragend an. Leo Reisinger erklärte: »Eine große Dosis Valium, gegen das der Tote aber gleichzeitig allergisch war.«

Dr. Gräber nickte.

»Ist das eine häufige Allergie?«, fragte Reisinger. Er fühlte sich selbst ein wenig, als wenn er Valium genommen hätte, aber nach nur drei Stunden Schlaf war das wohl normal.

»Nein, äußerst selten.«

»Was ist denn das für ein Unsinn«, schimpfte Sandra. »Wer nimmt denn so was ein, wenn er dagegen allergisch ist?«

Dr. Gräber schaute sie interessiert an. »Vielleicht wusste er nicht, dass er dagegen allergisch ist. Das Interessante ist, dass er auch daran nicht gestorben ist, obwohl er es möglicherweise hätte können. Wir wissen nicht, wie heftig sich die allergische Reaktion entwickelt hätte, denn zuvor erlitt er eine Suffocatio, er ist erstickt!«

Reisinger war plötzlich hellwach. Das klang ja interessant. »Definitiv, Herr Doktor? Er ist erstickt? Wie sieht es mit Fremdeinwirkung aus?«

»Kann ich nicht feststellen: kein Fremdkörper in der Luftröhre, kein Kohlenmonoxyd, kein Schwefelwasserstoff, keine Blausäure im Blut. Die Atemwege waren weder verschleimt noch versperrt, etwa durch die Zunge oder Fremdkörper. Das ist wirklich ungewöhnlich, habe ich Ihnen ja schon gestern gesagt. Der Mann ist zudem am gestrigen Morgen alleine in einer verschlossenen Straßenbahn gefunden worden. Todeszeitpunkt, na so zwischen 19 und 21 Uhr am Mittwochabend.«

»Sie können keinerlei Gewalteinwirkung feststellen?«

»Nichts«, sagte Dr. Gräber. »Er ist weder geknebelt noch erdrosselt worden, trotzdem zeigen die chemische Blutanalyse und der Zustand der Lungen eindeutig, dass er erstickt ist.«

»Demnach hätte er sich also in einem luftdichten Raum, wie einer Kiste oder einem großen Fass, befinden müssen, um spurenlos zu ersticken?«

»Zum Beispiel«, nickte Dr. Gräber.

»Hatte er irgendetwas bei sich?«

Dr. Gräber verneinte. »Seine Kleidung, sonst nichts. Keine persönlichen Gegenstände, die helfen würden, ihn zu identifizieren.«

»Interessante Spuren?«

»Die Kleidung ist ein wenig sandig, aber das ist bei jemandem, der im Elbsandsteingebirge herumläuft, nicht ungewöhnlich. Da, wo die Rippe gebrochen ist, ist das Hemd etwas aufgeraut und ebenfalls sandig, das deutet darauf hin, dass der Stoff mit Sandstein in Kontakt gekommen ist.«

Reisinger überlegte. »Also, entweder wurde er mit einem Stein geschlagen oder er ist auf einen Stein gefallen.«

»So würde ich das auch sehen. Die Hände haben ebenfalls leichte Schürfspuren, das könnte von verschiedenen mechanischen Belastungen her kommen. Ein eindeutiges Bild gibt es nicht.« Dr. Gräber wollte seine Akte zuklappen.

Der Kommissar fasste zusammen: »Moment. Der Mann wurde also erst verletzt, dann mit Valium vollgepumpt, reagierte allergisch und ist schließlich erstickt. Alles ohne Hinweise auf einen Kampf oder Gewalt?«

»Genau. Das könnte eine Verkettung unglücklicher Zufälle sein, aber ich kann mir nicht erklären, wie ein Mensch ohne fremdes Zutun erstickt. Ich gehe davon aus, dass jemand nachgeholfen hat. Die Frage ist nur, wie und warum. Aber das ist nun Ihre Aufgabe, nicht meine.« Dr. Gräber klappte seine Mappe mit den Unterlagen endgültig zu.

»Können wir die Leiche kurz sehen und Fotos machen?«, fragte Sandra.

Dr. Gräber führte sie in das Tiefgeschoss zu den Labors und Kühlräumen. Nach der sommerlichen Wärme draußen war es hier unten empfindlich kalt. Ein Assistent zog die Schublade mit dem Toten auf. Sandra machte Fotos von seinem Gesicht, während sich Reisinger die blauen Flecken und die Hände genau ansah. Da waren ein paar kleine Schürfwunden an der Handinnenfläche, unter den Fingernägeln waren Sand und Erde. Trotz des Eintagebartes sah der Mann gepflegt aus. Reisinger schätzte ihn auf etwa 55 bis 60. Kommissarin Kruse war fertig mit den Fotos. Während Reisinger noch die Leiche betrachtete, traten Dr. Gräber und sie ein wenig zur Seite.

»Herr Doktor!«, Sandras belustigt-empörte Stimme riss ihn aus seiner Betrachtung.

Reisinger schaute auf und sah Gräber und Sandra recht vertraut miteinander sprechen. Der magere Dr. Gräber warf sich gerade mächtig ins Zeug. Sandra kicherte, aber es hörte sich für Reisinger gekünstelt an.

Der Kommissar nickte dem Assistenten zu, und der schob den Toten samt seiner Liege wieder in die Kühlung. Dr. Gräber und Sandra sahen ihn erwartungsvoll an.

»Ein ungewöhnlicher Fall, nicht wahr?« Dr. Gräbers Augen blitzten unternehmungslustig.

»Dann versuchen wir mal herauszubekommen, was hier passiert ist.« Reisinger ging zur Tür, und Sandra Kruse beeilte sich, ihm zu folgen.

»Zuerst hören wir uns am Fundort um. Vielleicht ist ja inzwischen schon eine Vermisstenanzeige da, und wir können ihn wenigstens identifizieren. Auf Wiedersehen, Dr. Gräber, Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen, wenn Ihnen noch etwas Interessantes unter die Finger kommt.« Dr. Gräber nickte, hatte aber ausschließlich Sandra Kruse im Blick.

Leo Reisinger spürte wieder das Kribbeln in den Armen. Jetzt ging es los. Das liebte er an seinem Job: rausgehen, analysieren und die Puzzleteilchen aneinanderfügen.

Als sie das Gebäude der Gerichtsmedizin verlassen hatten und über den Parkplatz gingen, prustete Sandra los: »Ich glaub’s ja nicht. Der Dr. Gräber steht auf mich!«

Reisinger sah sie an. »Ja, das sehe ich auch so. Wenn einer den ganzen Tag an Leichen herumschnippelt, gefällt einem dieser morbide Look wahrscheinlich irgendwann. Du nimmst das nicht wirklich als Kompliment, oder?«

Sandra protestierte: »Ich sehe doch nicht wie eine Leiche aus!«

»Nein, eher wie ein Vampir.« Reisinger hielt ihr die Wagentür auf.

Es war bereits Freitagmittag, als sich Leo Reisinger mit Sandra Kruse auf den Weg ins Kirnitzschtal machte. Der Chef der Straßenbahn hatte sich bereit erklärt, auf sie zu warten, obwohl er ab 12 Uhr eigentlich Feierabend hatte. Auch die beiden Straßenbahnfahrer würden vor Ort sein. Sandra Kruse telefonierte inzwischen die Polizeidienststellen ab, ob irgendwo eine Person vermisst wurde, auf die die Beschreibung passte. Nach mehreren vergeblichen Anrufen sagte sie: »Fehlanzeige. Den vermisst keiner!«, und steckte ihr Handy weg. Sie kramte ihren Lippenstift heraus und klappte die Sonnenblende herunter.

»Sandra!«, schimpfte Reisinger. »Du bist im Dienst und nicht auf einem Punk-Konzert!«

Beleidigt steckte sie den schwarzen Lippenstift wieder weg und sah schweigend aus dem Fenster.

Leo Reisinger genoss die Fahrt im klimatisierten Wagen. Hinter Pirna war die Gegend gänzlich neu für ihn. Er kurvte die steile Straße nach Pirna-Sonnenstein hoch und war erstaunt über den dichten Verkehr.

»Wo wollen die denn alle hin?«, fragte er beiläufig – mehr zu sich selbst, als dass er Sandra in ein Gespräch hätte verwickeln wollen.

»Wandern«, antwortete seine Kollegin. »Alle Sachsen rennen wie die Bekloppten im Elbsandsteingebirge herum. Das Kirnitzschtal ist echt schön.« Reisinger schaute sie erstaunt von der Seite an: »Du gehst wandern?«

»Nein, nicht mehr. Das war mit meinem vorherigen Freund. Der fand es cool, zu klettern. Da bin ich eben mitgefahren.«

»Aha.« Reisinger war verblüfft. »Und wo soll das Gebirge sein, von dem du sprichst?« Sie waren gerade über den Höhenrücken bei Krietzschwitz gefahren, als sich vor ihnen die Festung Königstein ins Bild schob.

»Na da, du bayerische Blindschleiche!«, sagte Sandra und deutete nach vorne. »Links Lilienstein, rechts Königstein, dahinter die restliche Sächsische Schweiz mit Tausenden von Klettergipfeln. Du hast ja mal wieder gar keine Ahnung, du Wessi.«

Reisinger sah nur Hügel, kein Gebirge.

»Na, scheint ganz hübsch zu sein, die Landschaft hier«, sagte er versöhnlich und gähnte. Sie quälten sich inzwischen in einer langen Kolonne die Straße hinunter nach Königstein, durch den Kreisverkehr hindurch.

Sandra zeigte nach rechts: »Da, hast du das gesehen? Mokkamilcheisbar. Cooler Name, oder?«

Leo Reisinger wusste nicht, was an diesem Namensungetüm cool sein sollte.

»Ist, glaub ich, nach einem Schlager der Natschinski-Combo benannt!«, klärte ihn Sandra auf. »Nicht dass ich ein Fan dieser Gruppe wäre«, fügte sie sofort hinzu, »aber als Kind habe ich das oft gehört.« Sie begann einen alten DDR-Schlager vor sich hin zu trällern, in dessen Refrain immer wieder das Wort Mokkamilcheisbar auftauchte.

Die Kurven hinter Königstein forderten Leos Aufmerksamkeit. Die Straße war hier in den steilen Abhang gebaut, rechts ging es hoch, links gut 100 Meter hinunter bis zur Elbe, die in ihrem Bett glitzerte. Sie fuhren über die Elbbrücke und hinein in den Ort Bad Schandau. Als sie den Marktplatz passiert hatten, lotste ihn Sandra nach links, Richtung Hinterhermsdorf. Geradeaus ging es nach Schmilka und nach wenigen Kilometern entlang der Elbe nach Tschechien.

»Wie, in diesem kleinen Ort hier gibt es eine Straßenbahn?«, fragte Leo ungläubig, als er von der Hauptstraße abbog.

»Nein, eigentlich ist die Straßenbahn nicht im Ort, sondern mehr im Tal«, sagte seine Beifahrerin. Rechter Hand der Straße tauchte ein kleiner Park auf.

Reisinger schaute sie verblüfft an. »Die Straßenbahn führt durch den Wald?«

»Ja. Ihr Bayern glaubt, dass ihr die Sehenswürdigkeiten, was Gebirge angeht, alleine gebunkert habt. Habt ihr aber nicht. Das Gebiet hier war schon eine Attraktion, als der Luis Trenker noch nicht mal geboren war. Heerscharen von Touristen haben die Sandsteinfelsen in den letzten Jahrhunderten besucht, und viele berühmte Maler haben sie auch gemalt. Wir haben hier sogar einen ›Malerweg‹. Und die Straßenbahn fährt schon seit mindestens hundert Jahren ins Tal«, erklärte sie ihm gönnerhaft. Reisinger hasste es, wenn sie so demonstrativ schulmeisterte.

Schon kurz nachdem sie in die Kirnitzschtalstraße eingebogen waren, konnten sie auch die Gleise der Straßenbahn auf der Straße sehen. Reisinger staunte nicht schlecht, als die leuchtend gelbe Straßenbahn vor sich aus dem Park fahren sah. Die Bahn war voller Menschen, die Straße durch die Gleise nur noch einspurig zu befahren.

Wenige Kilometer weiter kamen sie am Straßenbahndepot an. Der Leiter Gustav Neusche erwartete sie.

»Na, wissen Sie denn nu, wer der Dode war?«, fragte Neusche nach der Begrüßung und starrte Sandra an.

»Leider nein!« Leo Reisinger bat ihn, die beiden Straßenbahnfahrer ins Büro zu holen.

Als alle zusammen waren, stellte er sich und Sandra Kruse als Kriminalpolizisten vor. »Wir sind hier, weil …«

Kunath klopfte ihm unversehens auf die Schulter und sagte: »Du bist aber ooch ni von hier. Bayern, stimmt’s?«

Sandra grinste hämisch, aber der Straßenbahnfahrer strahlte den Kriminalkommissar an. Leo Reisinger hielt einen kurzen Moment inne. Oje, wenn er jetzt nicht aufpasste, würde das ausgehen wie die Kloßgeschichte im Supermarkt.

»… wir sind hier, weil das kein einfacher Todesfall ist, wie sich herausgestellt hat, sondern der Mann auf sehr merkwürdige Weise verstorben ist, möglicherweise sogar erstickt wurde.«

Totenstille im Büro von Gustav Neusche. Dann sprang Kunath hoch, riss die Tür auf und brüllte: »Mensch, Didi, das war kein Herzinfarkt, den hamse dod gemacht!«

Er hätte gar nicht so schreien müssen, denn Didi stand gleich hinter der Tür.

Leo Reisinger verkniff sich, so gut es ging, ein Grinsen und winkte Didi ins Büro.

»Um die Ermittlungen nicht zu gefährden, behalten Sie das erst mal für sich!« Er bedachte Kunath mit einem strengen Blick, worauf dieser enttäuscht dreinschaute. »Für eine Spurensicherung ist es jetzt, nachdem die Bahn ja weiter benutzt wurde, fast schon zu spät, aber ich möchte trotzdem noch einmal den gesamten Ablauf mit jedem von Ihnen rekonstruieren. Also halten Sie sich bitte zur Verfügung und bewahren Sie Stillschweigen zu den Ermittlungen. Wann immer Ihnen noch etwas einfällt zu der Sache, rufen Sie uns an. Hier ist die Nummer unseres Büros in Dresden.« Er gab jedem eine Karte. Neusches Büro leerte sich.

»Da wir immer noch nichts über die Identität des Toten wissen, wird meine Kollegin mit einem Foto die Anwohner hier im Tal befragen. Es gibt offenbar einige Gasthäuser, vielleicht hat ihn ja jemand am Mittwoch hier gesehen«, sagte Reisinger zu Neusche. Sandra machte sich auf den Weg.

»Kann ich Ihr Büro hier für die Befragung benutzen?«, fragte Reisinger. Neusche nickte.

Adele Schuster war völlig eingeschüchtert. Den Tränen nah, beteuerte sie immer wieder, dass die Bahn doch leer gewesen sei, als sie sie am Mittwochabend verlassen habe. Reisinger versuchte sie zu beruhigen. Sie stehe doch nicht unter Mordverdacht, das sei hier nur eine Befragung als Zeugin. Aber der Schuss ging nach hinten los. »Mordverdacht«, wiederholte Adele Schuster ängstlich. »Mein Gott, das gibt’s doch nur im Fernsehen, beim ›Tatort‹, doch nicht bei uns. Tun Sie mich jetze verhaften?«

Reisinger fuhr sich genervt durch die braunen Haare. »Nein!«, sagte er laut und deutlich. Adele zuckte zusammen.

»Jetzt regen Sie sich nicht so auf und sagen Sie mir genau, wie diese letzte Fahrt am Mittwochabend abgelaufen ist.« Adele Schuster schnäuzte sich kräftig die Nase, straffte den Oberkörper, wischte sich die blonden Haare aus der Stirn und begann nochmals, den Mittwochabend zu rekapitulieren: Wie sie nach der halben Stunde Wartezeit am Lichtenhainer Wasserfall die Fahrscheine von sechs Fahrgästen kontrolliert und zwei Fahrscheine verkauft habe. Wie sie dann losgefahren sei und sich gewundert habe, dass an der nächsten Station, am Beuthenfall, tatsächlich wieder jemand ausgestiegen sei. Wie sie dann auf halber Strecke noch einmal am Forsthaus und dann nur noch am Stadtpark gehalten habe, wo die letzten Fahrgäste ausgestiegen wären.

Ob sie die Personen, die eingestiegen seien, beschreiben könne. Adele Schuster dachte nach.

»Da waren zwei junge Kerle mit Kletterrucksäcken, die hatten ’ne Tageskarte, und zwei ältere Paare. Eins von den Paaren ist am Forsthaus ausgestiegen, die hatten auch ’ne Tageskarte.«

»Wem haben Sie dann den Fahrschein verkauft?«, wollte Leo wissen.

Adele Schuster konzentrierte sich. »Die meisten kaufen ihre Tickets ja schon in Schandau. Es passiert selten, dass jemand nur in eine Richtung fährt. Ich glaube, das war ’n älterer Mann, der die zwei Fahrscheine gekauft hat.«

»War das der Tote?«, fragte Reisinger.

»Nee, dann hätte ich den doch erkannt. Das war jemand anderes. Komisch, jetze, wo Sie mich fragen, kann ich mich gar nicht an sein Gesicht erinnern. Bloß, dass der eher klein und zierlich war für ’nen Mann. Der hatte dunkle Sachen an und eine Mütze off. Ich kann nicht mal sagen, wie alt der war, weil ich sein Gesicht nicht richtig gesehen hab. Aber wahrscheinlich älter. Sind ja elend viele Leute, denen man den ganzen Tag begegnet.«

»Aber der war jedenfalls nicht allein?«, hakte der Kriminalkommissar nach.

»Nee, ich weiß genau, dass im hinteren Wagen zwei Leute saßen. Nebeneinander. Die sind aber eben am Beuthenfall ausgestiegen. Ich erinnere mich deswegen, weil da normalerweise niemand aussteigt, wenn wir zurückfahren. Die Strecke ist ja nicht lang, normalerweise kann man das in fünf Minuten zu Fuß schaffen. Trotzdem sind die gefahren.«

»Und Sie sind sicher, dass beide an der Station ausgestiegen sind?«

»Bestimmt! Am Nassen Grund macht die Straße eine 180-Grad-Kurve, da kann ich immer sehen, wer noch hinten im Wagen sitzt, und da war keiner. Ich schwör’s!« Adele Schusters Stimme hatte wieder angefangen bedenklich zu flattern. »Abends sieht man genau, was in den beleuchteten Waggons los ist. Sie müssen mir glauben!«

Reisinger versuchte sie zu beruhigen. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich versuche nur rauszubekommen, was wirklich passiert ist.«

Als Nächste mussten Neusche, dann Didi, der eigentlich nichts beizutragen hatte, berichten.

Leo Reisinger nahm Kunath bewusst als Letzten dran, um ihn schmoren zu lassen.

»Nun, Herr Kunath, erzählen Sie bitte noch mal genau, wie Sie den Toten gefunden haben.« Leo hatte es sich auf Neusches Bürostuhl leidlich bequem gemacht.

»Hab ich alles schon den zwei Polizisten erzählt«, winkte Kunath ab. »Jetzt sagen Se bloß mal, wie der umgebracht worden sein soll. Hat doch nüscht gefehlt bei dem, sah doch heile aus?«

Leo seufzte: »Er ist an einer Verkettung von mehreren Ursachen gestorben. Genauer: er ist erstickt.«

Kunath kratzte sich am Kopf. »Das soll funktionieren?«

»Haben Sie in der Straßenbahn irgendetwas gesehen, was ungewöhnlich war?«

»Nu, ’ne Colaflasche, so was liegt sonst nicht rum«, sagte Kunath.

»Ich wüsste nicht, wie man damit jemanden ersticken sollte«, meinte Reisinger, »und aufbewahrt haben Sie die sicher auch nicht, oder? Falls sie dem Toten gehörte, wäre die schon interessant gewesen.«

Kunath schüttelte den Kopf. »Nee, die hab ich in den Müll geworfen am Stadtpark vorne. Der Papierkorb wird jeden Tag geleert. Die könn’ Se vergessen.« Reisinger sah das auch so.

»Erstickt«, wiederholte Kunath gedankenverloren. »Nu, die Straßenbahn ist jedenfalls nicht so luftdicht, dass da einer ersticken könnte. Obwohl die Luft am Sonntagnachmittag, wenn die Boofer aus ’m Wald kommen, manchmal schon ganz schön dicke ist.«

»Wenn wer aus dem Wald kommt?« Leo Reisinger versuchte, schulbuchmäßig Vertrauen aufzubauen. Dieser Kunath wusste vielleicht doch mehr, als es schien.

»Na, die Boofer.« Er sah, dass der Kriminalkommissar mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. »Leute, die im Wald übernachten. Das machen hier viele, dafür gibt’s die Boofen.«

»Aha«, brummte Reisinger; er wollte zurück zum Thema.

»Wie es genau vor sich gegangen ist, wissen wir noch nicht. Der Fall ist ungewöhnlich. Der Mann hatte nämlich auch noch eine gebrochene Rippe und blaue Flecken am ganzen Körper.«

»Ich an Ihrer Stelle würde mal bei den Boofern nachfragen. Mit denen hat der nämlich Ärger gehabt. Das ist mir heute Morgen wieder eingefallen«, sagte Kunath.

Reisinger schnellte aus dem Bürostuhl. »Sie kennen den Mann?«

»Nu«, sagte der Straßenbahnfahrer. Leo Reisinger legte verzweifelt die Hand an die Stirn. Dieses »Nu« machte ihm echte Probleme. Die Sachsen benutzten es ständig, aber nie wusste er, wie es gemeint war. War es ein »Ja«, ein »Nein«, ein »Vielleicht«, oder bedeutete es gar nichts? Er versuchte ruhig zu bleiben.

»Also was jetzt, ja oder nein?«

Kunath machte es sich auf seinem Platz gemütlich. »Nu, kennen ist zu viel gesagt. Ich hab ihn ein oder zwei Mal in diesem Sommer gesehen. Und einmal hat der sich mit Boofern in der Wolle gehabt.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Nee!«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Nee!«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Reisinger wartete gespannt auf eine Antwort und starrte Kunath an.

Der zog ein schiefes Gesicht. »Möglicherweise vor zwei Wochen, oder vielleicht drei. Ich weiß bloß, dass der Maik stinksauer auf den war und die sich am Parkplatz vom Nassen Grund angeschrien haben.«

»Und wer ist der Maik?«

»Ä Boofer.«

»Und?«

»Und nüscht!«

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!« Reisinger war aufgestanden, hatte sich auf den Schreibtisch gestützt und schwebte bedrohlich nahe über Kunath.

Dieser sah, dass der Kommissar jetzt wirklich sauer war, und zog den Kopf ein.

»Wir ermitteln hier in einem wahrscheinlichen Mordfall, und Sie kippen mir wichtige Informationen in Minibröckchen vor die Füße. Können Sie nicht einfach erzählen, was Sie über den Toten und diesen Maik noch wissen?«

Jetzt war Kunath sichtlich beleidigt. »Ich weiß nicht mehr. Ich weiß bloß, dass der Maik heißt, weil der Kevin ihn Maik nennt. Den Kevin kenne ich ooch nur als Kevin, weil die seit Jahren ungefähr jedes zweite Wochenende im Sommer zum Boofen in den Wald fahren. Die sind aus Dresden. Mehr weiß ich nicht.«

Kunath sah auf seine Uhr. »Ich hab jetzt Feierabend. Wie lange soll das hier noch dauern?«

»Bis wir fertig sind«, brummte Leo Reisinger.

Sandra arbeitete inzwischen an der Ostrauer Mühle, beim Campingplatz, im Gasthof Forsthaus und im Gasthof Lichtenhainer Wasserfall mittels Frageliste und Fotos ab, ob jemand den Toten kannte oder am Mittwoch etwas Auffälliges passiert war. Überall stand sie im Weg, denn die Tische in und vor den Lokalen waren gut besucht, und die Bedienungen flitzten hin und her. Am Campingplatz war noch Ruhezeit, hier konnte man erst ab 16 Uhr wieder einchecken und einen offiziellen Vertreter antreffen. Der Platz lag leer und verlassen, die Kurzzeitbewohner waren offenbar unterwegs. Die Bedienungen in den Gasthäusern, die Sandra ansprach, starrten sie erst entgeistert an, dann schickten sie die Kommissarin weiter zu den Wirten. Nachdem sie zum zweiten Mal gemustert worden war wie ein Alien, war Sandra stinksauer. »Landpomeranzen!«, schimpfte sie, als sie am Forsthaus wieder in das Auto stieg. Zwischen all den Touristen in karierten Hemden und sportlichen Hosen fühlte Sandra sich zunehmend unwohl. Außerdem brannte die Sonne auf ihre schwarzen Kleider.

Sie fuhr weiter bis zur Endhaltestelle der Straßenbahn am Lichtenhainer Wasserfall und fand erst mal keinen Parkplatz. Schließlich stellte sie den Wagen ins Parkverbot vor den Garagen des Gasthauses. Sandra klemmte den Polizeiausweis hinter die Windschutzscheibe und zückte ihre Dienstmarke. Kaum hatte sie das Auto verlassen und sich Richtung Eingang bewegt, als auch schon ein Kopf in einem der Erdgeschossfenster erschien und eine Männerstimme rief: »He, Sie da, da ist Parkverbot, da könn’ Se ni stehenbleiben!«

»Nun regen Sie sich mal nicht auf, guter Mann«, beschwichtigte ihn Sandra. Sie hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase. »Kripo Dresden. Wir ermitteln wegen eines Todesfalles. Ich befrage alle Anwohner entlang der Straßenbahnstrecke, ob sie diesen Mann hier kennen. Moment …« Die Kommissarin begann die Fotos aus ihrer Umhängetasche zu kramen.

»Nee, also das gloob’ ich ni, dass Sie von der Kripo sind. Das ist ja wohl ein Witz. Fahren Sie Ihr Auto da weg, sonst hol’ ich die Polizei.« Der Mann auf der anderen Seite des Fensters trug einen weißen Kittel und hatte dunkle, lockige Haare.

»Hier, bitte«, Sandra hielt ihm durch das geöffnete Fenster nochmals ihre Dienstmarke vor die Nase und den Ausweis dazu.

»Solche Leute wie Sie nehmen die bei der Kripo?«, fragte der Mann ungläubig.

Ärgerlich pustete Sandra eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Mit diesen Landeiern war es wirklich schwierig.

»Wer sind Sie?«

»Na, der Wirt vom Gasthaus, Rudolf Kaiser mein Name.«

»Herr Kaiser, jetzt sehen Sie sich bitte diese Fotos an. Kennen Sie den Mann?«

Der Wirt warf einen kurzen Blick auf das oberste Foto. »Nee, den kenn’ ich nicht. Vielleicht war der mal hier, aber Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Ich hab zu tun.« Er schloss das Fenster und ließ Sandra Kruse einfach draußen stehen. Sie versuchte ihr Glück bei den Bedienungen, die zwischen Gaststube, Biergarten und der Terrasse am Bach hin und her liefen. Die warfen nur unwillig einen schnellen Blick auf die Fotos und verneinten alle beide.

Tja, das war nicht besonders erfolgreich gewesen. Ihre neuen Stiefel scheuerten an der Ferse, sie brauchte dringend ein Pflaster. Überall wimmelte es von Leuten in Wanderkluft, die sie anstarrten. Sie machte sich frustriert auf den Rückweg. Am Straßenbahndepot gab es wenigstens einen Parkplatz.

Es klopfte an der Bürotür, und Sandra schneite herein. Sie war sichtlich genervt. »Gibt’s hier ’ne Cola?« fragte sie. »Woher soll ich das wissen, ist doch nicht mein Büro«, antwortete Leo Reisinger nicht gerade freundlich.

Kunath starrte die Kommissarin genauso an wie Neusche und wahrscheinlich alle anderen Menschen in diesem hinterwäldlerischen Tal.

»Was hast du rausgefunden?«

»Nichts. Die sind hier alle wie zugenagelt. Die haben mich alle angestarrt wie eine Außerirdische. Der Wirt vom Gasthof Lichtenhainer Wasserfall hat mal kurz aufs Foto geguckt und gemeint, den könnte er schon mal gesehen haben. Aber sonst Fehlanzeige. Ich habe rein gar nichts herausbekommen«

Sie ließ sich auf den letzten freien Stuhl sinken und begann ihre löchrigen Stiefel auszuziehen.

»Herr Kunath sagt, dass der Tote schon öfters im Tal war und mindestens einmal Ärger mit Wanderern, sogenannten Boofern, hatte.«

»Na, das ist doch schon mal was!« Sandras Laune besserte sich. »Boofen ist cool. Habe ich damals mit Olli auch gemacht.«

»Hast du was gehört von der Zentrale, gibt es inzwischen eine Vermisstenmeldung?«, fragte Reisinger.

Sie winkte müde mit ihrem Handy. »Ich habe hier keinen Empfang. Du etwa?«

Er holte sein brandneues Smartphone aus der Hemdtasche. Der Empfangsbalken war ganz tief unten, die Batterie fast leer. »Du liebe Zeit, das ist ja hier wie am Ende der Welt.«

»Nu, so ungefähr«, bestätigte Kunath.

Reisinger beschloss, es für heute gut sein zu lassen.

»Wir machen Montag weiter. Halten Sie sich per Telefon zur Verfügung, Herr Kunath. Und wenn Ihnen noch was einfällt, rufen Sie bitte an.«

Auf der Fahrt zurück nach Dresden war wieder so viel Verkehr, dass sie sich in eine lange Autoschlange einreihen mussten.

Sandra war schweigsam und kaute an ihrem schwarzen Nagellack. In Königstein raffte sie sich plötzlich auf und fragte Reisinger unvermittelt: »Wie fandest du eigentlich den Olli?«

Leo Reisinger starrte auf die Straße und kramte in seinem Gedächtnis nach einem Olli. Kannte er einen? In seinen Gedanken war er bei Mandy und dem heutigen Abend. »Äh, ich weiß gerade nicht, welchen Olli du meinst, Sandra«, versuchte er es vorsichtig.

»Na, meinen vorherigen Freund. Ich habe mir heute gedacht, als ich da im Tal war, dass das mit ihm eigentlich besser war als jetzt mit Kurt. Draußen in der Natur sein ist irgendwie cooler als in den verräucherten Gothic-Kneipen.«

Reisinger sah sie unsicher an. Sollte ausgerechnet er jetzt Beziehungstipps geben? Aber er erinnerte sich doch, diesen Olli einmal gesehen zu haben, als der Sandra abends abholte. Er versuchte, so behutsam wie möglich zu formulieren: »Also, ich fand diesen Olli ausgesprochen sympathisch. Viel besser jedenfalls als so Typen wie den Dr. Gräber, die offenbar auf Vampire stehen. Aber das sagt natürlich gar nichts, du musst dich ja mit ihm verstehen.« Er schaute prüfend nach rechts. Seine Beifahrerin ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.

»Du magst Kurt also nicht!« Reisinger seufzte hörbar. War er doch auf eine Tellermine getreten. Er sollte sich auf diese Art von Gesprächen mit Frauen nicht einlassen.

»Ich kenne diesen Kurt doch gar nicht!«, protestierte er. »Da kann man weder von mögen noch von nicht mögen sprechen!« Sandra versank wieder in dumpfes Brüten. Am Kreisverkehr in Königstein schnappe Reisinger sich sein Smartphone. Aber nun war die Batterie endgültig leer. »Mist!«, schimpfte er. Wenn Mandy jetzt eine Nachricht hinterlassen hatte?

Kurz vor Dresden wachte Sandra aus ihren stillen Betrachtungen auf. »Das mit dem Gräber war echt gruselig«, sagte sie. »Vielleicht ist das mit Gothic doch nicht das Wahre für mich. Ich muss mal eine neue Pro-und-Kontra-Liste wegen Kurt und Olli machen.«

Leo Reisinger atmete hörbar aus. Er schwor bei sich selbst, keinen Ton mehr zu Fräulein Kruses Beziehungskisten von sich zu geben.

Ärgerlich fuhr er Sandra nach Hause und machte sich daraufhin selbst auf den Heimweg.

Tod im Kirnitzschtal

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