Читать книгу Dunkeltage im Elbsandstein - Thea Lehmann - Страница 5
Montag
Оглавление»Gute Nacht, Tante Hermine!«
Detlef Watzke nickte in Richtung des Blumenbeets, ging durch den kleinen Garten zur Tür und öffnete die drei schweren Schlösser. Von den dunkelbraunen Balken des Umgebindehauses und von der Holztür rieselte der Lack in splittrigen Flocken zu Boden. Am Himmel hing ein käsiger, schmaler Mond gerade noch so über dem Bergrücken, um das nächtliche Tal ein wenig zu beleuchten. Die alten Holzbohlen in dem kleinen Flur knarzten unter Watzkes Gewicht. Vorsichtig und langsam drehte er sich mit seiner Last nach rechts und öffnete die Tür zum Stall. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, erhellte den Raum nur spärlich. Obwohl hier schon seit über zwanzig Jahren keine Tiere mehr standen, konnte man sie immer noch ein wenig riechen. Der Sandsteinboden und die grob zusammengefügten Mauern hatten sich im Laufe der Jahre mit ihren Ausdünstungen vollgesogen. Watzke tappte die drei Steintreppen hinunter, durchquerte den kleinen, mit Gerümpel vollgestellten Raum und stieg vorsichtig die Aluleiter hoch. Oben angekommen kippte er den Inhalt seines Rucksacks über die Holzbohlenwand. Das Abteil dahinter war fast voll. Er konnte das eher hören als sehen, denn der Schein der Birne reichte nicht bis hinter die Wand. Die Steine und das Geröll klonkerten mit dumpfen Schlägen hinunter. In ein paar Wochen würde das Werk vollbracht sein. Außer dem metallischen Quietschen der Aluleiter auf dem Sandsteinboden war es völlig ruhig, als Watzke wieder nach unten stieg. Kein Auto, keine menschlichen Geräusche, nicht mal ein Käuzchen war draußen zu hören. So mochte er es.
Müde stellte er den ausgebeulten Rucksack neben die Küchentür, zog die Jacke aus und schlurfte an den Tisch. Der kleine Raum wurde beherrscht von einem alten, eisernen Küchenofen, den er nie benutzte. Auf dem stand die elektrische Kochplatte, auf der er sein Essen wärmte. Es gab eine hölzerne Eckbank mit Esstisch, den Kühlschrank und ein altertümliches Küchenbüfett. Neben dem hing ein riesiger blauer Müllsack, der halb gefüllt vor sich hin muffelte. Die liebliche Schnörkeltapete in Gelb und Blau mühte sich vergeblich, dem Raum noch etwas Gemütliches zu geben.
Es war drei Uhr morgens. Obwohl die Nacht kühl war, klebte Watzke das Flanellhemd schweißnass am Rücken. Er hatte von zehn Uhr abends bis jetzt wieder sein Arbeitspensum erledigt und war äußerst zufrieden mit sich. Sein Rücken schmerzte, aber es war ein gutes Gefühl, etwas geschafft zu haben. Jetzt kam der beste Teil der Routine, die Belohnung für all die Schufterei. Er holte eine Dose Billigbier aus dem Kühlschrank, setzte sich auf die Eckbank, klemmte seine langen Beine unter den Tisch und schlug ein Kreuzworträtselheft auf. Die Stapel schmutziger Teller schob er mit dem Ellbogen vorsichtig ein wenig zur Seite. Zwei saubere Teller von Tante Hermines kleingeblümtem Geschirr standen noch hinter der gelblichen Butzenscheibe im Schrank. Mit einem Seufzer registrierte Watzke, dass er spätestens übermorgen das Geschirr würde spülen müssen. Dummerweise war ihm letzte Woche ein Teller aus der Hand gerutscht und auf dem Steinboden der Küche zerschellt. Damit hatte sich der Rhythmus des Geschirrspülens von zehn auf neun Tage verkürzt. Watzke hasste Veränderungen, die sein sorgfältig organisiertes Leben durcheinanderbrachten.
Im Schein der blanken 40-Watt-Glühbirne über seinem Kopf füllte er mit einem Bleistift konzentriert Zeile für Zeile des aufgeschlagenen Kreuzworträtsels. Chemisches Element mit P, Nebenarm der Wolga, Schauspiel von Ibsen – ohne zu zögern füllte er alle Kästchen aus. Als er fertig war, holte er ein weiteres Heft ganz links aus dem Küchenschrank und radierte ebenso konzentriert die Eintragungen einer Seite wieder aus.
Gegen vier Uhr morgens hatte er sein Bier ausgetrunken und die Rätselstunde war beendet. Watzke stellte die Hefte an ihren Platz, ging kurz ins Bad und stieg die schmale Holztreppe nach oben. Wie im Erdgeschoss gab es auch hier nur zwei Zimmer, seines und das von Tante Hermine. Sein Schlafzimmer zeigte nach hinten in den Wald. Bei Tante Hermine war die Aussicht nicht so schön. Watzke ersparte sich nach Möglichkeit den Blick auf den schmalen Weg, der zur Straße hinunter ins Kirnitzschtal und zum Sägewerk mit seinen großen Lagerschuppen führte. Am liebsten war es ihm, keine Menschen zu sehen. Man wusste ja nie, was sie im Schilde führten.
Müde hing er sein schmutziges Hemd über den Stuhl und stieg aus seiner staubigen Arbeitshose. Die fadenscheinige Unterwäsche schlackerte an seinem Körper. Dass ihm die Unterhosen deshalb ständig herunterrutschten, nervte ihn gewaltig und er hatte versucht, das Problem mit einem Streifen Klebeband zu lösen. Aber das hielt maximal zwei Tage. Ärgerlich presste er den Klebestreifen auf den dünnen Stoff. Seit er aus Berlin weggegangen war, hatte er mindestens zehn Kilo abgenommen. Er öffnete das Fenster einen Spalt und ließ ein wenig von der kühlen Oktoberluft ins Zimmer. Dann zog er die Socken aus und schlug sie energisch am Bettpfosten tot.
Seine Socken waren ihm nicht geheuer. Irgendwann, wahrscheinlich während seiner Zeit im Gefängnis, hatte ihn die Sorge beschlichen, dass sie nachts, wenn er ihnen hilflos ausgeliefert war, lebendig wurden. Da ging er lieber auf Nummer sicher.
Fünf Minuten später war Detlef Watzke eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin.
Kriminalkommissar Leo Reisinger bemerkte erstaunt, dass er sich freute, als er die schwere Tür des Polizeipräsidiums in der Dresdner Schießgasse aufdrückte. »Meine zweite Heimat«, dachte er sich, als er in die Eingangshalle trat. Morgens um acht Uhr war hier ein reges Kommen und Gehen. Er begrüßte den Beamten am Empfang und zückte an der Schranke seinen Ausweis. Als er gerade an der Treppe um die Ecke bog, sah er seine Kollegin Sandra Kruse zur Tür hereinkommen. Was war denn das? Leo hatte nur noch einen kurzen Blick auf sie erhaschen können. Hatte sie tatsächlich eine Hundeleine in der Hand gehabt?
Na, das würde er gleich wissen. Im Büro begrüßte er zunächst die Sekretärin, Frau Kerschensteiner. Sein Chef, der Abteilungsleiter Reinhard Richter, war noch nicht da. Kriminalkommissar Reisinger schaute im Zimmer seiner Kollegen Kai Nolde und Uwe Kröger vorbei.
»Und, hast du dein Hochdeutsch verlernt und laberst jetzt wieder im Alpenjargon?«, fragte Nolde zur Begrüßung.
»Du willst nicht ernsthaft behaupten, dass ihr Sachsen Hochdeutsch sprecht, oder?«, konterte Leo und klopfte zur Begrüßung an den Türstock. Kröger sah ihn erwartungsvoll unter seinen buschigen, grauen Augenbrauen an: »Hast du ein extra frisches Oktoberfestbier auf mich getrunken?«
»Nicht nur eins!« Leo grinste schuldbewusst. »Ich habe zwei Kilo zugenommen.« Er kniff sich kritisch in seine Hüfte. »Ab morgen stehen wieder Joggen und Hanteltraining auf dem Programm.«
»Da solltest du Sascha mitnehmen, der hat vor lauter Kummer über deine dreiwöchige Abwesenheit gefuttert wie ein Scheunendrescher«, bemerkte Nolde.
»Ich feiere übernächsten Freitag meinen Geburtstag. Wir grillen im Garten, wenn das Wetter noch hält. Kommst du?«, fragte Kröger.
»Gern, wenn ich Zeit habe.« Leo wusste nicht recht, ob er sich über diese Einladung freuen sollte. Seit Beginn des Jahres war er bei der Dresdner Kriminalpolizei als Kommissar tätig und fühlte sich wohl mit den sächsischen Kollegen. Dass nun auch private Bande geknüpft werden sollten, war ihm jedoch nicht so recht. Er blieb lieber auf Distanz. Eine private Einladung unter Kollegen, das gab später nur Verwicklungen bei der Arbeit. Aber vielleicht würde er doch hingehen. Nachdem das letzte Treffen mit Veronika so schiefgelaufen war, würde er wohl nicht so schnell nach Bayern zurückkehren.
Er wandte sich um, um in sein Büro zu gehen, als ein tapsiger, schwarz-weiß-brauner Hund auf ihn zu gewedelt kam. Sandra Kruse hatte sich tatsächlich einen Welpen zugelegt. Sie ließ sich von dem kniehohen Tier den Flur entlang ziehen.
»Ah, hallo Leo, schönen Urlaub gehabt?«, fragte sie und versuchte den Hund zurückzuhalten. Der zog mit aller Macht Richtung Leo und hörte erst auf, als er dessen Hosenbein beschnüffeln konnte.
»Was ist denn das, bist du jetzt auf den Hund gekommen?«, fragte Leo ungläubig.
»Das ist Laika. Olli ist letzte Woche bei mir eingezogen und damit wir eine richtige Familie sind, haben wir uns Laika geholt. Sie ist ein Hovawart und noch ein Baby, wie man an den großen Pfoten sieht.« Sandra tätschelte liebevoll Laikas schwarzen Hundekopf. Leo registrierte, dass sie ihre Haare hatte schneiden lassen und statt des langen Pferdeschwanzes jetzt einen kurzen Bob trug.
»Und diesen Hund bringst du jetzt täglich mit ins Büro?«, fragte er entgeistert.
»Nein, nur diese Woche, weil Olli auf einem Lehrgang in Frankfurt ist. Nächste Woche nimmt er sie wieder mit.«
»Aha.« Leo wusste nicht, was er noch sagen sollte. Mit seiner Kollegin hatte er sich immer ganz schnell in der Wolle. Im Sommer noch war sie mit kohlrabenschwarz gefärbten Haaren und in schwarzen Gothic-Klamotten herumgelaufen. Nun sah sie eher brav aus und trug kein Make-up mehr.
»Bist du jetzt auf Öko?«, fragte er, nachdem er sie eingehend gemustert hatte.
Noch während er sprach, wanderte sein Blick nach unten, denn das Geräusch, das heraufdrang, war alarmierend. Es plätscherte. Laika hatte ihre rechte Hinterpfote ein wenig angehoben, balancierte wacklig auf drei Beinen und pinkelte auf seine neuen Schuhe.
»Verdammt!«, rief er und machte einen Satz zur Seite. Laika störte das nicht im Geringsten. Sie schnüffelte an ihrer kleinen Pfütze auf dem Linoleum-Boden und schaute Sandra dann schwanzwedelnd an.
»Ach, Laika!«, sagte die lächelnd und kramte ein Päckchen ungebleichte Papiertaschentücher aus ihrer Umhängetasche. »Sie ist noch nicht ganz stubenrein, aber das lernt sie schon noch«, erklärte sie Leo.
»Dieses blöde Vieh hat mich eben angepinkelt!«, rief der entrüstet. Inzwischen standen alle aus der Abteilung mit schadenfrohen Gesichtern im Flur.
Während Sandra den Boden wischte, tippte Frau Kerschensteiner Leo auf die Schulter. »Sie sollten den Schuh mit viel Wasser auswaschen, sonst stinkt der noch wochenlang und jeder Hund wird das riechen.« Wütend marschierte er in die Herrentoilette, um seinen neuen Lederschuh im Waschbecken zu versenken.
»Die Schuhe waren richtig teuer, Sandra. Du hast hoffentlich eine Versicherung für deinen blöden Köter!«, brüllte er noch im Gehen. Der Tag fing ja gut an! Mit einem beschuhten und einem nackten Fuß tappte er nach einer gründlichen Schuhspülung in sein Büro und begann, seine E-Mails durchzuarbeiten. Um zehn Uhr rief Richter zum Montagsfrühstück in den Konferenzraum. Leo hörte nur mit halbem Ohr zu, als Kai Nolde von einem aktuellen Fall von schwerer Körperverletzung am Dresdner Hauptbahnhof berichtete.
Nicht mal seine original bayerische Leberkäs-Semmel, die er sich wie jeden Montag bei der Fleischerei Sachse am Neumarkt geholt hatte, konnte seine Laune heben. Ärgerlich starrte er beim Kauen auf seinen nackten Fuß. Unter dem Tisch rückte eine braune Hundeschnauze in sein Blickfeld. Stück für Stück robbte sich Laika in seine Richtung und blickte ihn mit feuchten Hundeaugen an. Sein Kollege, Sascha Pröve, der montags immer den Hackepeter für die ganze Runde besorgte, hatte Laika offensichtlich auch entdeckt. Blitzschnell knappste er etwas vom Hackepeter auf seinem Brötchen ab und warf es Laika unter dem Tisch zu.
Die schnappte es praktisch im Flug auf und hatte das Fleischbällchen bereits verschluckt, bevor Leo richtig registrierte, was hier passiert war. »Wenn du so weitermachst, ist der Hund bald so mopsig wie du«, knurrte er leise.
Sascha schüttelte den Kopf. »Quatsch, der ist doch noch jung und wächst. Der braucht Energie.«
Jetzt wurde auch Sandra aufmerksam. »Der Hund bekommt nichts vom Tisch zu fressen«, sagte sie mit drohender Stimme Richtung Sascha. Auch Richter hatte es mitbekommen und bat ärgerlich um Ruhe. »Wenn dieser Hund Sie mehr beschäftigt als unsere Arbeit, müssen Sie ihn zu Hause lassen, Frau Kruse«, sagte er mit drohendem Unterton.
Sandra zuckte zusammen und nickte. Sie zog an Laikas Leine, um sie aus Saschas Radius zu bekommen und vertiefte sich in die Unterlagen vor ihr.
»Darf ich jetzt wieder?«, fragte Nolde genervt und fuhr fort, vom Stand seiner Ermittlungen zu sprechen.
In dem Moment kam Frau Kerschensteiner mit einem Telefon in der Hand herein.
An diesem sonnigen Oktobermontag machte Helga Dünnebier den Fund ihres Lebens. Schon morgens, als sie die Fensterläden ihres Hauses in Ottendorf aufstieß und die herrlich frische Luft ins Schlafzimmer ließ, hatten sich ihre Nasenlöcher erwartungsfroh aufgebläht und Beute gewittert.
Den gesamten Sonntag hatte es ausdauernd geregnet, nun schien wieder die Sonne von einem knallblauen Himmel und aus dem Kirnitzschtal stiegen verheißungsvolle Dunstwolken auf.
Gleich nach dem Frühstück machte sie sich mit Messer und Korb auf den Weg. »Ich geh in de Pilze«, rief sie ihrem Mann Heinrich zu, bevor sie die Haustür hinter sich zuzog. In festen Wanderschuhen, einer karierten Kittelschürze und einer selbst gestrickten Wolljacke in Altrosa schnürte Helga Dünnebier durch den Wald unterhalb von Ottendorf und besuchte all die vielversprechenden Stammplätze, die sie nie im Leben jemandem verraten würde.
Eine Stunde später lagen in ihrem Korb gut zwei Dutzend Braunhedel, fünf bildschöne Steinpilze, neun Perlpilze, fünf Semmelpilze und acht Ziegenlippen. Nachdem ihr mit ihren dreiundsiebzig Jahren das Bücken langsam etwas schwerfiel, beschloss sie, dass es für ein deftiges Mittagessen reichte und machte sich über den unteren Feldweg wieder zurück auf den Weg ins Dorf.
Das Erste, das Helga Dünnebier sah, als sie neugierig um den schwarzen BMW mit Dresdner Nummernschild herumging, war, dass da jemand lag. Jemand mit komischen weißen Cowboystiefeln und einer schwarzen Lederjacke. Vorsichtig stellte sie ihren Pilzkorb ab und ging auf die Gestalt zu. Direkt unterhalb der einzigen flachen Stelle am Feldweg lag ein Mensch auf dem Bauch. Ein magerer, junger, pickeliger, blonder Mann, wie Helga Dünnebier feststellte. Und er lag da wohl schon länger, denn seine Kleider waren völlig durchnässt vom Regen und in den offenen Augen, die leer in die Wiese starrten, saßen schon die Fliegen.
»Nu, das is ja ’n Ding!«, staunte die Rentnerin.
Sie sah sich um, ob noch jemand den Toten entdeckt hatte, konnte aber niemanden sehen. Entschlossen griff sie sich ihren Pilzkorb und eilte, so schnell es ihre Beine zuließen, nach Hause.
»Heinrich«, schrie Helga Dünnebier, kaum dass sie im Hausflur stand, »schnell, das Telefon! Ich hab was gefunden!« Noch ehe ihr verdutzter Gatte reagieren konnte, saß Helga am Telefontischchen im Wohnzimmer und blätterte im Telefonbuch nach der Nummer der nächsten Polizeistation. »Was meinst du, soll ich in Pirna oder in Sebnitz anrufen?«
»Was ist denn los?«, fragte Heinrich Dünnebier, der bis eben gemütlich am Küchentisch gesessen und seine Zeitung gelesen hatte.
»Da liegt einer auf dem Feldweg. Und ich, Helga Dünnebier, hab ihn entdeckt.« Sie strahlte über das ganze Gesicht.
»Das muss ich sofort der Marianne und der alten Lätsch erzählen. Aber erst mal de Polizei! Wer is denn für uns zuständig?«
»Nimm die in Sebnitz«, murmelte ihr Mann. »Die sind näher.«
Helga wählte.
»Polizeidienststelle Sebnitz«, melde sich eine freundliche Frauenstimme.
»Nu, hier is Frau Dünnebier aus Ottendorf. Ich hab einen gefunden. Also, eigentlich wollte ich ja nur Pilze suchen, weil heute Morgen war es so schön und da hab ich mir gedacht, bestimmt gibt es noch Pilze. Und ich hatte auch Recht und, also, als ich dann den Korb ganz voll hatte, …«
»Moment mal«, unterbrach sie die freundliche Stimme.
»Sie sind in der Telefonzentrale. Wollen Sie ein Verbrechen melden oder mit jemandem Bestimmten sprechen?«
Helga Dünnebier stutzte einen Moment.
»Ein Verbrechen?«, echote sie. »Nee, das gloob ich ni. Ich hab Ihnen doch schon erzählt, dass ich beim Pilzesuchen …«
»Was möchten Sie dann melden?«, fragte die Frau zunehmend ungeduldiger.
»Na, dass ich einen gefunden hab, so einen Jungen.«
»Aber Sie rufen hier doch wohl nicht an, weil Sie Pilze gefunden haben, oder?«, fragte es aus dem Telefonhörer.
»Nee, also, jetzt lassen Se mich doch mal ausreden«, rief Helga Dünnebier ärgerlich.
»Da liegt ein Toter auf dem Weg! Und den hab ich gefunden, Helga Dünnebier. Schreiben Se bloß meinen Namen auf. Dünnebier mit zwei ›n‹ und ›ie‹.«
»Sie haben einen Toten gefunden?«, fragte die Dame ungläubig.
»Nu«, strahlte Helga Dünnebier.
»Warum sagen Sie das denn nicht gleich? Moment, ich gebe Sie sofort an den zuständigen Beamten weiter.«
Noch ehe Helga Dünnebier etwas erwidern konnte, klickte es in der Leitung und Marschmusik drang ihr ins Ohr. Irritiert betrachtete sie den Hörer.
»Wenn du 'nen Toten gefunden hast, musst du die Kripo in Dresden anrufen, da sind die in Sebnitz ni zuständig«, grummelte ihr Mann vom Esstisch her, »und sag gleich, dass da ein Toter liegt.«
»Ach so?« Helga Dünnebier knallte den Hörer wieder auf die Gabel und suchte nach dem Telefonbuch für Dresden. Die Ausgabe war aus dem Jahr 2005 und reichlich angestaubt. Aber die Kripo, so tröstete sie sich, würde ja wohl nicht alle paar Jahre ihre Telefonnummer ändern. Sie zog ihre Strickjacke aus, wählte die Nummer, setzte sich kerzengerade in den Sessel und wartete.
Nachdem sie zweimal ihr Sprüchlein heruntergebetet hatte, jedes Mal etwas wirrer als zuvor, landete sie bei einer Frau Kerschensteiner. Die hörte sich das noch einmal an und fragte dann nach:
»Da liegt also ein toter junger Mann auf einem Feldweg unterhalb von Ottendorf?«
»Mausetot«, bestätigte Frau Dünnebier.
»Sie wohnen im Seifenweg 8 in Ottendorf?«
»Nu«, sagte Helga, »mein Name is Helga Dünnebier mit zwei ›n‹ und ›ie‹. Dass Se mir den ja richtig schreiben!«
»Frau Dünnebier, ich schicke sofort zwei Beamte zu Ihnen nach Hause. Bitte warten Sie, bis die zwei Sie abholen! Von Dresden bis zu Ihnen raus sind die aber sicher eine Stunde unterwegs. Die Polizei aus Sebnitz wird solange den Fundort sichern.«
»Is gut«, sagte Helga Dünnebier und fühlte sich prächtig.
Heinrich Dünnebier hatte ihrer Erzählung am Telefon mit Erstaunen zugehört und war aufgestanden. Als seine Frau den Telefonhörer auf- und erwartungsvoll die Hände in den Schoß legte, um auf die Polizei aus Dresden zu warten, schlurfte er zur Haustür. Dort zog er sich Schuhe und Jacke an.
»Wo gehst du hin?«, fragte seine Frau erstaunt.
»Na, zur Wiese, den muss ich mir doch ansehen«, sagte er und machte sich mit kleinen, unsicheren Schritten auf den Weg.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Leo und schnürte seinen Schuh zu, als Sascha Pröve den Wagen aus der Innenstadt Richtung A 17 lenkte.
»Nach Ottendorf.«
»Und wo ist das?«
»Oberhalb vom Kirnitzschtal, also gar nicht weit von da, wo wir im August den Fall mit der Straßenbahn hatten.«
»Na, das scheint ja eine interessante Gegend zu sein«, murmelte Leo und versuchte, seine kalten Zehen in dem nassen Schuh zu bewegen.
Er kannte die Strecke von den Ermittlungen zum Toten in der Kirnitzschtalbahn. Im Gegensatz zum Sommer war das Tal aber an diesem Montagmittag nur spärlich besucht und die Kirnitzschtalbahn, die ihnen unterwegs entgegenkam und sie auf die linke Straßenseite zwang, war nur mit drei Fahrgästen besetzt.
»Wenig los heute«, sagte Leo, nachdem er während der Fahrt nach Bad Schandau mit der Spurensicherung telefoniert hatte. Manni Tannhauser und sein Team waren ebenfalls auf dem Weg nach Ottendorf, hatten aber noch nicht gewusst, dass es auch ein Fahrzeug zu bergen galt. Wenn Leo aber versuchte, die Dame anzurufen, die den Toten gemeldet hatte, bekam er immer nur ein Besetztzeichen.
»Ja, dabei ist es jetzt am schönsten«, sagte Sascha. Er trug altmodische Cordhosen und einen vermutlich von seiner Mutter gestrickten Pulli mit breiten Querstreifen in Beige und Braun. »Die Wälder sehen im Herbst aus wie gemalt und das Licht ist einfach wunderbar.« Dann herrschte wieder Schweigen.
»Du bist so still, Sascha. Probleme?«, fragte Leo ins Blaue hinein. Für gewöhnlich bestritt Sascha das Gespräch, wenn sie beide unterwegs waren, aber bisher hatte er noch kaum einen Ton von sich gegeben.
Sie fuhren gerade am Gasthaus Lichtenhainer Wasserfall vorbei, wo nur wenige Autos auf dem Parkplatz standen.
»Geht so«, antwortete Sascha knapp.
Leo zuckte mit den Schultern. Er würde nicht darum betteln, in Saschas Sorgen eingeweiht zu werden.
Die Kirnitzsch führte recht viel Wasser und warf in ihrem Bett neben der Straße kleine Schaumkronen. Sie folgten weiter der gewundenen Talstraße, an zwei Gasthäusern und einem historischen Mühlengebäude vorbei, bis Sascha den Blinker setzte und im rechten Winkel in eine kleine kurvige Straße nach links Richtung Ottendorf abbog. Nach dem ausgiebigen Regen vom Wochenende war die Luft wie frisch gewaschen. Überall glänzten die bunten Blätter nass in der Sonne.
Die Straße führte nun in steilen Serpentinen bergan. Linkerhand passierten sie ein Sägewerk und erreichten nach wenigen hundert Metern die ersten Ausläufer des Dorfes.
»Ganz schön steil hier«, stellte Leo fest.
Sascha folgte den Anweisungen des Navigationssystems in die Parkstraße, folgte dem schmalen Gässchen immer weiter an den Dorfrand, bog nach links ab und blieb schließlich vor einem hübschen, alten Häuschen mit Blumenkästen und kleinem Vorgarten stehen.
»Da muss diese Helga Dünnebier wohnen, die den Toten gefunden hat«, erklärte Sascha. Vor dem Haus standen bereits zwei Polizeiwagen. Noch bevor sie ausgestiegen waren, stürmte eine drahtige, kleine Frau mit schneeweißen Haaren auf sie zu.
»Da sind Se ja endlich! Ich wart mir hier schon die Beine in den Bauch!«
»Frau Dünnebier?« Leo schaute von seinen einsfünfundachtzig hinunter auf die kleine Dame in Kittelschürze und Strickjacke, die ihn an seine Oma erinnerte.
»Genau die, und nun kommen Se schon, die Sebnitzer Polizei ist schon dahin gelaufen. Ich hab denen gesagt, ohne de Kripo aus Dresden sag ich nix!« Sie drehte sich um und marschierte die Straße entlang, die beiden Kripobeamten resolut hinter sich her winkend, damit die endlich in die Gänge kämen.
»Na, das kann ja heiter werden«, sagte Leo.
Sie folgten Helga Dünnebier zuerst entlang der Straße, dann in einen Feldweg, anschließend nach links zu einem Abzweiger und sahen schließlich kurz vor dem Waldrand einen schwarzen BMW auf einem kaum noch zu erkennenden Weg an der abschüssigen Wiese stehen. Hinter dem Wagen war anscheinend das halbe Dorf versammelt, denn da tummelten sich gut und gerne zwanzig Leute, vor allem ältere Herrschaften, aber auch ein paar junge Mütter mit kleinen Kindern waren dabei. Eine junge Frau warf sich gerade in Pose, um mit ihrem Smartphone ein Selfie mit Leiche zu schießen. Dabei lehnte sie sich über die Absperrung, die mehrere Polizeibeamte bereits um den Wagen und den Toten aufgebaut hatten.
»Das ist jetzt nicht wahr, oder?!«, kommentierte Leo den Menschenauflauf.
Auch Hauptwachtmeister Kopischke hatte das nicht komisch gefunden. Als er vor einer halben Stunde mit seinen Leuten am Tatort angekommen war, hatten bereits jede Menge Schaulustige herumgestanden und Fotos geknipst. Überall in der nassen Wiese waren Spuren von Kinderwagen eingegraben. Energisch hatte Kopischke die Menschen auseinandertreiben müssen, damit seine Leute das Gelände um den Toten absperren konnten.
Als Helga Dünnebier mit den beiden Kripobeamten auftauchte, nahm er sich die alte Dame zur Brust.
»Uns wollten Sie erst nicht sagen, wo der Tote liegt, aber dem halben Dorf haben Sie verklickert, dass hier die Leiche zu finden ist. Das ist Behinderung der Polizeiarbeit, Frau Dünnebier. Alle Spuren sind zertrampelt und wer weiß, was die Leute alles angefasst haben. So geht das nicht!«
Helga Dünnebier war sich keiner Schuld bewusst. »Ich hab denen allen gesagt, dass se erst kommen sollen, wenn de Polizei da is«, verteidigte sie sich. »Kann ich doch nix dafür, wenn die so lange brauchen.« Ihr strafender Blick fiel auf Leo und Sascha.
»Wenn Sie in Sebnitz angerufen hätten und nicht in Dresden, wären wir innerhalb von fünfzehn Minuten da gewesen«, blaffte Kopischke zurück. »So ein Fundort muss abgeriegelt werden!«
»Hast du das gehört, Heinrich?« Der zuckte trotz des scharfen Tons seiner Frau mit den Schultern, als ginge ihn das alles nichts an.
Manni Tannhauser traf wenige Minuten später ein. Er und sein Team machten Fotos und versuchten, noch verwertbare Spuren zu finden. Leo und Sascha sahen sich inzwischen den Toten genauer an. Es war ein junger, dünner Mann mit auffälligen, weißen Cowboystiefeln und einer schwarzen Lederjacke mit Fransen. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Sein rechtes Bein war in einem unnatürlichen Winkel verdreht, die Jeans war allerdings kaum blutig, obwohl es sich um einen offenen Bruch handeln musste. Gesicht und Hals des Mannes zeigten mehrere blaue Flecke. Eine eindeutige Todesursache war nicht festzustellen. Leo schätzte den Mann auf etwa fünfundzwanzig Jahre, vielleicht war er auch jünger, denn in seinem Gesicht sah man neben den Blutergüssen auch einige Akne-Pickel.
Ein Leichenwagen kam nun auf dem Feldweg angerumpelt.
»Kommt Dr. Gräber noch?«, frage Leo den Chef der Spurensicherung. Tannhauser schüttelte den Kopf. »Der Doc ist auf einer Schulung, wir müssen selber ran.«
Leo zog sich Latex-Handschuhe über und suchte in den Taschen des Toten nach etwas, das ihn identifizieren könnte. Beim ersten Griff in die Jacke wurde er fündig. Er förderte eine feuchte Brieftasche mit diversen Ausweisen von Videotheken, reichlich Bargeld und einem deutschen Führerschein zutage. »Dirk Schmidt«, las er vor. Auch die Videothek-Ausweise lauteten auf diesen Namen. Sascha übernahm die Brieftasche und gab per Handy ans Kommissariat den Namen und eine erste Personenbeschreibung durch.
Leo inspizierte derweil weiter die Kleidung des Toten. In der Gesäßtasche seiner Jeans fand er ein durchsichtiges Plastiktütchen mit Spuren einer weißlichen, klebrigen Masse und ein Mobiltelefon.
»Das müssen wir untersuchen lassen«, sagte er zu dem Polizeibeamten, der neben ihm kauerte. »Sieht nach Rauschgift aus.« Der nickte und ließ das Tütchen in einem sterilen Beutel verschwinden. Das Telefon war klitschnass und mausetot. Vielleicht konnten es die Künstler von der Technischen Abteilung wieder zum Leben erwecken.
Als die Kollegen von der Spurensicherung den Leichnam anhoben, gab es ein saugendes Geräusch. Unter dem Bauch des Mannes hatten sich Schnecken, Regenwürmer und anderes Getier versammelt. Die Totenstarre begann sich schon wieder zu lösen.
»Hm, ich bin kein Pathologe«, sagte Leo, »aber das sieht so aus, als ob der Mann schon mindestens zwei Tage hier herumliegt.«
Er wandte sich an die umstehenden Dörfler, die immer noch gebannt zuschauten, was die Polizisten trieben.
»Ist das hier ein Weg, auf dem viele Leute unterwegs sind?«
Einige schüttelten den Kopf. »Nee«, sagte ein älterer Herr. »Hier geht selten jemand lang. Da vorne is ja auch schon Schluss.«
Leo richtete seinen Blick in die angezeigte Richtung, und tatsächlich endete der Weg in der steil abfallenden Wiese, die ein Stück weiter unten vom Waldrand begrenzt wurde.
Die Leiche wurde fotografiert und schließlich abtransportiert, in die gerichtsmedizinische Abteilung von Dr. Gräber. Wo sie gelegen hatte, war der Boden immer noch nass und voller Regenwürmer.
Sascha kam wieder, immer noch mit dem Telefon am Ohr. Er klappte es schließlich zu und meinte: »Weder der Name Dirk Schmidt noch das Kennzeichen sind aktenkundig. In der Zentrale prüfen sie noch, wo das Auto angemeldet ist und wo dieser Dirk Schmidt wohnt.«
Den schwarzen BMW fanden die Beamten unverschlossen vor. Auf dem Beifahrersitz lagen mehrere Fastfood-Verpackungen, die Rückbank war leer.
Die Sebnitzer Polizisten lotsten inzwischen den Abschleppwagen über den schmalen Feldweg, der den BMW in die Spurensicherung bringen würde.
»Irgendwie passt hier nichts zusammen«, sagte Leo zu Sascha. »Ein toter junger Mann mit einer dicken Brieftasche liegt ein ganzes Stück vor einem unverriegelten Auto. Das sieht weder nach einem Überfall noch nach einem handfesten Streit aus. Was wollte er in dieser abgelegenen Gegend auf einem noch abgelegeneren Feldweg?« Er sah auf und betrachtete die sanft geschwungenen Bergrücken in der Ferne.
»Die Aussicht hier ist ja ganz schön, aber das war wohl kaum der Grund für ihn hierher zu kommen. Woran ist er gestorben? Und wer oder was hat sein rechtes Bein zerschmettert?«
Seufzend schaute er um sich. Außerhalb der Absperrung trampelten die Schaulustigen die vom Vortag noch feuchte Wiese platt. Wenn da jemals Spuren gewesen waren, konnte man die getrost abschreiben.
»Hat jemand von Ihnen am Samstag oder Sonntag irgendetwas Auffälliges beobachtet?«, rief er in die Traube von Menschen.
Alle verneinten. Aber das überraschte ihn nicht. Auf eine so vage Frage konnte man keine vernünftige Antwort erwarten.
»Hat jemand von Ihnen diesen schwarzen BMW am Samstag oder Sonntag hierherfahren sehen?«, versuchte er es noch mal.
»Ich wohne in der Parkstraße. Am Samstagnachmittag ist da ein sandfarbener Geländewagen hinter gefahren«, sagte eine junge Frau mit Kinderwagen. »Um welche Uhrzeit, wissen Sie das noch?«, fragte Leo nach. Sie überlegte. »So gegen drei vielleicht. Mein Kleiner ist da gerade wieder aufgewacht«, sagte sie. Sascha notierte ihren Namen und ihre Telefonnummer. Dann nahmen sie sich Helga Dünnebier vor.
»Wann genau haben Sie den Toten gefunden?«
»Na, so gegen viertel elf würd ich sagen. Da kam ich gerade vom Pilzesuchen zurück«, antwortete sie und straffte ihren krummen Rücken.
»Also zehn Uhr fünfundvierzig«, folgerte Leo.
»Nein, zehn Uhr fünfzehn«, verbesserte ihn Sascha. Helga Dünnebier sah irritiert von einem zum anderen. »Gehen die Uhren in Bayern anders?«
»Aber …?« Leo sah Sascha an.
Der winkte ab. »Das verstehst du nicht. Mach einfach weiter.«
Leo erinnerte sich, dass er das schon öfter gehört hatte: viertel irgendwas. Jeder sagte in so einem Fall »viertel nach zehn« – nur die Sachsen, die machten ein viertel elf draus. Er wandte sich wieder an Frau Dünnebier:
»Haben Sie den Leichnam angefasst? Oder das Auto?«
»Iieh, Gott bewahre!«, sagte Helga Dünnebier entrüstet. »Wo der doch tot war. Und kennen tu ich den ja auch ni.«
»Ist Ihnen, bevor Sie das halbe Dorf hierher beordert haben, irgendetwas aufgefallen? Lagen Gegenstände herum, haben Sie Spuren wahrgenommen?«
Oma Dünnebier schüttelte den Kopf. »Ne, ich hab da nix gesehen, aber ehrlich gesagt, so gut sehen tu ich ja auch ni mehr.«
Als Watzke gegen Mittag aufwachte und aus dem Fenster sah, war er sofort höchst alarmiert. Zwei Polizisten marschierten vom Sägewerk kommend über den Waldweg auf sein Häuschen zu. In wenigen Minuten würden sie vor seiner Tür stehen. Die Gewissheit, dass sie ihn nun doch gefunden hatten, grub sich wie eine Bleikugel in seine Magengrube. »Der Notfallplan!«, schoss es ihm durchs Gehirn. Er hastete so schnell er konnte die enge Treppe hinunter und in den Stall. Dort klappte er die Aluleiter zusammen und legte sie an die Seite. Den Rucksack stellte er in den Vorraum im Stall. Als er die Stalltür zum Hausflur verschloss, klopfte es bereits. Ohne Hose, im lose hängenden Hemd und barfuß öffnete er.
Die beiden Polizisten musterten ihn erstaunt.
Watzke war sich der absurden Situation bewusst, aber sie tangierte ihn nicht. Er hatte im Dorf ohnehin den Ruf, ein komischer Kauz zu sein. Ihm war es egal, wenn er nun mit noch vom Schlaf zerwühlten Haaren und einer schlackerigen Unterhose zur Mittagszeit in der Haustür stand.
»Ja, bitte?«, sagte er so neutral wie möglich, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug und er die Arme vor dem Körper verschränken musste, damit man nicht sah, wie sehr seine Hände zitterten.
Die Polizisten stellten sich als Beamte der Polizeiinspektion in Sebnitz vor und wollten wissen, ob ihm am Wochenende irgendetwas Besonderes aufgefallen war. Man habe einen verwaisten BMW und einen toten Mann oben beim Dorf gefunden.
Watzke war so erleichtert, dass er einen fahren ließ. Die beiden jungen Polizisten traten synchron einen Schritt zurück.
»Nee, also, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich schlafe immer sehr lange und sitze nachts über meinen Büchern, aber dass was Besonderes passiert wär, habe ich in den letzten Tagen nicht bemerkt.« Er sprach gepflegtes Hochdeutsch und nur bei genauerem Hinhören ließ sich eine leichte Berliner Färbung feststellen.
»Sie haben also nichts festgestellt? Keine nächtlichen Geräusche, ungewöhnlich viel Autoverkehr oder Ähnliches?«, fragte einer der Polizisten.
Watzke schüttelte energisch den Kopf. Die Spitzen seiner langen Haare flogen ihm um die Ohren, der Rest klebte am Schädel.
»Nein, leider, mir ist überhaupt nichts Merkwürdiges aufgefallen«, beeilte er sich zu sagen. Dem Naserümpfen des einen Polizisten zufolge schien er nicht nur optisch eine Zumutung zu sein.
»Na«, sagte der Polizist. »Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, dann rufen Sie bitte hier an.« Er reichte ihm mit ausgestrecktem Arm eine Karte, auf der mehrere Telefonnummern notiert waren. Die beiden hatten es eilig, von hier wegzukommen, und verabschiedeten sich. Das war Watzke nur recht. Er nahm die Karte und ging zurück ins Haus.
Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, verriegelte Watzke sie und lehnte sich mit zitternden Knien dagegen. Das war knapp gewesen! Die würden ihn nicht noch einmal in die Finger kriegen, niemals!
Wenn er einmal in der Woche nach Sebnitz zum Einkaufen ging, war er mental immer darauf vorbereitet, andere Menschen zu treffen. Aber gleich morgens auf leeren Magen zwei Polizisten! Diese Begegnung brachte ihn völlig aus dem Konzept. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie gekommen, um ihn auszuspionieren? Hatten sie ihn letztlich doch gefunden? Wussten sie von seinem Geheimnis? Er wankte in die kleine Küche und ließ sich auf die Bank sinken. Stück für Stück analysierte er den Vorfall. War es nur ein Vorwand gewesen? Oder sprachen sie die Wahrheit und das Ganze hatte nichts mit ihm zu tun? Er drehte und wendete die Gedanken in seinem Kopf so lange hin und her, bis er sich wieder beruhigt hatte. Die Kälte kroch an seinen nackten Beinen nach oben und zwang ihn dazu, in den ersten Stock zu gehen und sich anzuziehen. Er schnupperte kurz an seinen Achseln und stellte fest, dass es wohl wirklich Zeit war, mal wieder zu baden. Unschlüssig starrte er auf den Kalender neben seinem Bett. Heute war Montag. Eigentlich badete er nur mittwochs.
Montag war sein Einkaufstag. Nervös setzte er sich auf sein Bett und konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einer langen Weile beschloss er, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Er band seine Haare mit einem Haargummi zusammen und zog sich an.
Zum Frühstück kochte er sich wie immer einen Tee und aß drei Scheiben Zwieback. Als er fertig war, spähte er vorsichtig zum Fenster hinaus. Auf dem Waldweg waren keine Polizisten mehr zu sehen. Die Luft schien rein zu sein.
Er beschloss, es zu wagen. Watzke brauchte die Routine, um sich zu beruhigen. Da heute Montag war, würde er einkaufen gehen, wie immer. Nichts war auffälliger, als Routinen zu durchbrechen.
Weil er kein Auto besaß, ging er die acht Kilometer nach Sebnitz immer zu Fuß. Bei schönem Wetter war der Hinweg sogar ganz nett. Aber an diesem Montagnachmittag nieselte es wieder und das Wetter gab einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter. Watzke griff zu Tante Hermines altem Regenmantel und stopfte seine langen, inzwischen ziemlich grau gewordenen Haare unter einen speckigen Hut, bevor er aus der Haustür trat. Ohne das Sägewerk eines Blickes zu würdigen, machte er sich hinauf auf den Weg durch Ottendorf und wandte sich dort nach rechts Richtung Sebnitz. Er vermied es, auf die Häuser links und rechts der Straße zu schauen. Er wollte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Als sich die gewundene Straße hinter der Ortschaft wieder hinunter ins Sebnitztal senkte, hörte der Nieselregen auf. Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor. Aus dem Wald leuchteten Birken und Buchen mit buntem Laub, und auf den Wiesen neben der Straße glitzerten die Regentropfen im Sonnenlicht. Wenn die noch warmen Strahlen auf die Straße trafen, stieg die Feuchtigkeit in kleinen Dampfschwaden auf.
Watzke atmete tief durch. Einmal mehr beglückwünschte er sich dafür, dass er von Berlin hierher nach Ottendorf gezogen war. Ohne Tante Hermine wäre sein Leben wahrscheinlich furchtbar kompliziert geworden. Jetzt war er dagegen fast am Ziel seiner Träume und die Zukunft erschien ihm so rosig wie schon lange nicht mehr, immer vorausgesetzt, dass die Polizisten nicht nach ihm suchten.
Watzke hörte ein Auto kommen. Er trat nach rechts an den Straßenrand, um den Wagen an der engen Stelle vorbeizulassen. Doch der fuhr nicht vorbei, sondern hielt neben ihm an. Eine junge Frau mit einer viel zu großen Strickjacke und einem geblümten Kleid saß am Steuer des silbergrauen Toyotas. Sie beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster herunter. »Soll ich Sie ein Stück mitnehmen? Ich fahre nach Sebnitz.« Erwartungsvoll sah sie Watzke an.
Der war vor Schreck wie erstarrt. In seinem Gehirn ratterte es. Das war nun schon das zweite Mal heute, dass er von einem anderen Menschen angesprochen wurde. Immer wieder boten ihm Autofahrer auf dem Fußmarsch über die Landstraße nach Sebnitz an, ihn mitzunehmen, selten stieg er ein. Aber gerade heute? Waren sie ihm doch auf der Spur? War sie eine gut getarnte Agentin? Oder doch harmlos? Machte er sich verdächtig, wenn er ablehnte? War er in Gefahr, wenn er mitfuhr? Woran sollte er erkennen, ob sie ein Spitzel war? Fieberhaft flitzten seine Augen durch das Wageninnere. Er sah einen Einkaufskorb auf dem Rücksitz, einige Bonbonpapierchen auf dem Boden und einen Nylonbeutel im Fußraum des Beifahrersitzes. Wahrscheinlich war eine Geldbörse drin, wie eine Waffe sah das jedenfalls nicht aus. Watzkes Herz schlug bis zum Hals. Die junge Frau wurde langsam ungeduldig und sah ihn immer noch fragend an: »Wollen Sie jetzt mitfahren oder nicht?«
Sie hatte ein paar Silberfäden in ihrem langen, dunklen Haar und war völlig ungeschminkt. War das jetzt ein gutes Omen oder ein schlechtes? Watzke wusste immer noch nicht, wie er reagieren sollte. Die Sonne wurde von einer grauen Wolke verdeckt und es wurde plötzlich dunkler. Er nahm das als Zeichen mitzufahren und öffnete die Beifahrertür.
»Danke für das Angebot. Ich will zu Aldi«, sagte er und ließ sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken.
»Genau da fahre ich auch hin«, sagte die junge Frau und legte den Gang ein. Watzke kurbelte das Fenster wieder hoch und fummelte nach dem Sicherheitsgurt.
Ihm entging nicht, dass die Fahrerin die Nase rümpfte, als das Fenster zu war. Hin und hergerissen zwischen seinem Bedürfnis nach Routine und dem Bestreben, möglichst nicht aufzufallen, beschloss er, heute Nacht eben zu baden. Er würde auch seine Hemden einweichen, wenn es denn nötig war. Dieser Tag lief ja ohnehin schon völlig aus dem Ruder, da konnte er auch alle unangenehmen Dinge auf einmal erledigen.
Zehn Minuten später stieg er auf dem Parkplatz vor dem Discounter aus und bedankte sich höflich fürs Mitnehmen. »Gern geschehen«, sagte die junge Frau knapp. »Zurück mitnehmen kann ich Sie aber nicht. Ich muss noch ein paar andere Sachen erledigen.« Sie log, da war sich Watzke sicher. Er wünschte ihr einen schönen Tag und machte sich mit seinem Einkaufsrucksack auf den Weg. Im Laden versuchte er, der Frau aus dem Weg zu gehen. Hauptsache, sie erinnerte sich nicht allzu genau an ihn. Er würde in Zukunft nie wieder mit einem Auto mitfahren, schwor er sich.
Es war schon Abend, als Sascha und Leo wieder in Dresden waren. Sie brachten die Fundstücke, die sie bei dem Toten gefunden hatten, in die Asservatenkammer und Sascha meldete sich freiwillig, die erste Befundaufnahme in den Computer zu tippen.
»Du hast es nicht besonders eilig, nach Hause zu kommen, kann das sein?«, mutmaßte Leo.
Sascha brummte etwas Unverständliches vor sich hin.
Leo hatte es eigentlich auch nicht eilig, schließlich wartete niemand auf ihn. Aber seinen ersten Tag nach dem Urlaub gleich mit Überstunden zu beginnen, das musste nun auch nicht sein.
Seine kalten Füße erinnerten ihn überdies daran, dass er dringend den immer noch feuchten Schuh ausziehen musste.
»Sag mal«, wandte er sich beim Gehen an seinen Kollegen, »was ist denn mit Sandra los? Ich hätte sie beinahe nicht wiedererkannt und dazu noch dieser Hund. Was soll das?«
Sascha sah vom Computer auf. »Du kennst Sandra doch inzwischen. Wenn sie was macht, dann richtig. Jetzt hat sie offensichtlich beschlossen, Ehefrau und Mutter zu werden, und das zieht sie jetzt durch bis zur Perfektion. Anscheinend hat sie ihren Traummann gefunden.« Sascha schaute Leo düster an.
»Egal, was sie macht, ich finde, sie übertreibt immer ein bisschen«, bestätigte Leo.
»Na, da ist sie aber nicht die Einzige«, hörte er Sascha beim Hinausgehen noch sagen.