Читать книгу Das eine Prinzip - Thea von den Buschen - Страница 4
Die Idee oder das eine Prinzip
ОглавлениеThea rückte ihren Stuhl zurecht und schrieb am Küchentisch gleich mit: „Wir nehmen an, dass es ein universelles Prinzip geben muss, nach dem die Natur funktioniert. Es ist Polarität. Wir formulieren Polarität als das eine Prinzip.“
„Anschließend wenden wir das Prinzip auf die Physik an. Wir stellen fest, dass es dort zwar längst vorkommt, aber nicht als allgemeines Prinzip erkannt wurde. Wie nebenbei eint es alle Naturwissenschaften – weil es ein universelles Prinzip ist, ergänzte Max.“
„Ist das nicht ein Zirkelschluss?“, fragte Thea.
„Gibt es auch etwas anderes? Wir gehen einfach davon aus. Von irgendeiner Idee geht man immer aus. Dann werden wir feststellen, ob es Widersprüche gibt oder nicht“, sagte Max.
„Gerade wenn Du das Ergebnis bereits zu kennen glaubst, solltest Du es nicht vorwegnehmen. Das muss ausgerechnet ich Dir sagen?“, wandte Thea ein.
„Wir wollten von der Idee ausgehen, und das tun wir“, sagte Max. „Nach Widersprüchen zu suchen, ist dabei selbstverständlich.“
„Das ist gar nicht nötig, es gibt schon genügend davon“, meinte Thea.
„Wir werden sehen, dass es sogar weniger werden“, versprach Max.
„Sollten wir nicht vorher klären, was Polarität überhaupt ist?“, fragte Thea.
„Was für eine Frage, und das von Dir. Polarität an sich gibt es wohl nicht, nicht einmal als Prinzip. Das hängt stets von der Umgebung ab. Außerdem hatten wir das schon. Das Besondere daran ist nicht, dass es Polarität gibt. Sie ist uralt, wurde in jeder Kultur erkannt, und googeln kann heute jeder“, sagte Max.
„Dort findet man unter ‚Polarität‘ nicht viel mehr als einige Gegensatzpaare. Solche wie hell/ dunkel, schwarz/ weiß, plus/ minus, männlich/ weiblich und so weiter. Das meinte ich nicht. Ich meinte das Prinzipielle daran“, sagte Thea.
„Etwa wie Yin und Yang?“, fragte Max.
„Nicht ganz. Es ist zwar ein polares Prinzip, aber ein bestimmtes. Danach suchen wir nicht“, sagte Thea.
„Wichtig ist vor allem die Anwendung der Polarität auf die Physik, das ist recht prinzipiell“, sagte Max.
„Wichtig ist vor allem die Anwendung der Polarität auf die Natur, das ist etwas anderes“, sagte Thea.
Max blieb beharrlich: „Natürlich. Dafür brauchen wir die Physik. Ich dachte, wir wären in diesem Punkt einig gewesen. Denn wenn sie der Idee im Grundsatz widerspricht, brauchen wir gar nicht erst damit anzukommen.“
Thea wirkte nicht zufrieden. „Natürlich kann ich nach Definitionen suchen. Ich möchte aber nicht ein Prinzip mit physikalischen Definitionen abgleichen. Schon gar nicht mit solchen, die sich untereinander widersprechen. Ich möchte mir ein Bild vom Ganzen machen. Ein Gesamtbild. Darum geht es.“
„Dann gehen wir von etwas aus, das alle kennen“, überlegte Max.
„Von Elektrizität“, schlug Thea vor. „Das ist geradezu ein Paradebeispiel für Polarität.“
„Fragen wir also einen Elektriker, was er unter Elektrizität versteht“, sagte Max.
„Genau das tun wir nicht. Er würde als erstes vermutlich fragen, ob Du Gleichstrom oder Wechselstrom meinst“, wandte Thea ein, „und das Gespräch wäre so gut wie beendet.“
„Warum denn das?“, fragte Max.
„Weil jeder nur Spezialist auf seinem eigenen Gebiet ist, fängt er im Detail an. Genau das suche ich nicht, wenn ich nach einem allgemeinen Prinzip frage“, antwortete Thea.
Max nickte. „Anscheinend denkt niemand mehr in Prinzipien, warum sollte es ausgerechnet ein Elektriker tun? Er kennt den Pluspol und den Minuspol und weiß, dass der Strom von Plus nach Minus fließt.“
„Möglicherweise nennt er außerdem Elektronen. Die soll es geben und sie sind negativ geladen“, sagte Thea. „Wie sie es machen, wird er nicht mehr erklären, weil es ziemlich unverständlich ist, zumindest aus meiner beschränkten Sicht“, sagte Thea.
„Darauf kommen wir später zurück“, sagte Max. Zuerst machen wir aus unserer Kenntnis der Elektrizität ein Prinzip...“
„Im Prinzip ganz einfach“, fiel ihm Thea ins Wort. Man braucht es nur zu behaupten. Wir definieren es einfach, das machen alle so.“
„Nennen wir es nicht Polarität, sondern Universalität der Elektrizität“, schob Max ein, dann versteht man es besser.“
„Du meinst wohl die Komplexität der Polarität unter besonderer Berücksichtigung der Universalität der Elektrizität“, spottete Thea.
Das fand Max nicht mehr so amüsant. Thea kam erst so richtig in Fahrt: „Warum nicht gleich: Wir sind elektrisch!“
Max protestierte: „Wenn wir so anfangen, begehen wir einen Fehler. Wir machen ein Detail zum Ganzen. So etwas führt zu fatalen Missverständnissen.“
„Erstens sah es gerade so aus, als ob Du genau das vorhattest. Und zweitens führt es durchaus zu einfachem Denken zurück“, meinte Thea. „Ich dachte, das wollten wir. Aber offensichtlich haben auch wir verlernt, einfach zu denken. In den Wissenschaften scheint es richtig verpönt.“
„Einfaches Denken ist nicht dasselbe wie diese Vereinfachung. Elektrizität ist und bleibt zu speziell, um sie 1:1 auf uns Menschen zu übertragen. Das wäre das Gegenteil eines Prinzips, das nicht nur vereinfachen soll, sondern vereinheitlichen“, sagte Max.
„Merkst Du es nicht? Du machst es wieder kompliziert. Es liegt natürlich nicht an Dir“, meinte Thea.
„Wie großzügig“, sagte Max.“
„Wir brauchen etwas, das wir bereits kennen. Sonst können wir uns unter dem Neuen nichts vorstellen“, forderte Thea.
„Ich habe nichts gegen eine Analogie zur Elektrizität“, sagte Max, „ich habe allerdings etwas gegen solche Pauschalisierungen.“
„So ganz verstehe ich nicht, was daran falsch sein soll. Darunter kann sich wenigstens jeder etwas vorstellen“, sagte Thea.
Max blieb stur: „Das ist es, was uns hinterher Schwierigkeiten bereitet. Weil wir den Anschein erwecken, etwas wäre dasselbe, das sich höchstens ähnelt.“
„Dann sage mir endlich, worin der Unterschied besteht zwischen Polarität und Elektrizität“, verlangte Thea.
„Das ist hoffentlich offensichtlich“, sagte Max. „Elektrizität ist ein Ausschnitt. Wenn man so will, eine Sonderform der Polarität. Sie wird in der Physik mit einer eigenen Lehre beschrieben. Diese gilt ausschließlich dort, wo sie definiert wurde, also gerade nicht überall.“
„Wo existiert sie denn nicht?“, fragte Thea. „Ich sehe sie sehr wohl überall. In Stromkabeln soll es sie ebenso geben wie in der Luft. Blitze sind nichts anderes als sichtbare Elektrizität, die nicht einmal ein Kabel braucht, um in den Boden zu gelangen. Außerdem gibt es Elektrizität in der Chemie. Moleküle sind elektrisch geladen. Diese Eigenschaft lässt sie mit anderen Molekülen reagieren.“
„Dort heißt das allerdings anders, wie Du als Biologin weißt. Man beschreibt beispielsweise Elektronegativität“, sagte Max. „Es ist ein Kriterium für eine bestimmte Reaktionsfähigkeit von Stoffen und insofern ein gewisses Maß für Polarität.“
„Das ist das Gleiche“, behauptete Thea.
„Das ist es nicht“, entgegnete Max. „Es ist nur ähnlich.“
„So ähnlich, dass man bereits von Polarität spricht. Es werden im Groben polare und unpolare Moleküle unterschieden. Die polaren Moleküle lösen sich gut in Wasser, denn sie sind stark elektrisch geladen. Die unpolaren weniger bis gar nicht. Sie lösen sich besser in Fett, weil dieses ebenfalls wenig polar ist“, sagte Thea.
„Was lediglich bedeutet, dass man anhand von elektrischen Ladungsunterschieden Kategorien bilden kann. Schwach polare Stoffe lösen sich gut untereinander, ebenso die stark polaren. Öl und Wasser mischen sich schließlich deshalb so schlecht, weil sie sich in ihrer Polarität so stark unterscheiden“, ergänzte Max.
„Das ist alles altbekannt und passt somit hervorragend zu unserem Polaritätsprinzip. Wasser ist sogar so polar, dass es elektrischen Strom leitet“, sagte Thea.
„Weil es selbst aus elektrisch geladenen Molekülen besteht. Das hast Du bereits erwähnt. Was nicht heißt, dass ‚wir‘ elektrisch sind“, insistierte Max. „Höchstens, dass alles Chemie ist.“
„Mache Dich ruhig über mich lustig“, sagte Thea. „Hätten wir nicht für jedes Phänomen eine andere Disziplin, dürfte ich ungestraft behaupten, dass wir elektrisch sind. Das darf ich nicht, weil die Chemie es anders beschreibt als die Physik?“
Max schüttelte mit dem Kopf. Bevor er etwas sagen konnte, stellte Thea schon die nächste Frage: „Was ist mit unseren Nervenbahnen? Sind wenigstens die elektrisch?“
„Jedenfalls nicht wie Oberleitungen von Straßenbahnen“, antwortete Max. „Ich dachte, das wüsstest Du ebenfalls besser als ich.“
Thea wurde immer lauter. „Deshalb bleibe ich dabei. Wir sind elektrisch! Wer legt eigentlich fest, was das ist? Die Physik? Oder die Biologie, das Spezialgebiet wäre in dem Fall die Neurologie, und die braucht dafür die Chemie? Weil es keine Straßenbahn ist? Was ist, wenn alles dasselbe ist?“
„Dasselbe nicht, nicht einmal das Gleiche. Weil es sich ähnelt, geht es auf ein gemeinsames Prinzip zurück“, sagte Max, „und das ist die Polarität“.
„Genau das meinte ich“, sagte Thea, nicht mehr ganz so laut.
„Gesagt hast Du aber Elektrizität“, beharrte Max.
„Wir sind also polar, ist das besser?“, fragte Thea.
„Nein, ist es nicht. Es ist nicht so populär“, sagte Max.
„Sage ich doch“, meinte Thea.
„Erklärt hast Du damit nichts“, stellte Max fest.
„Wir haben eine Analogie zur Elektrizität – was ich nicht so nennen darf“, sagte Thea. „Ich bleibe dabei, dass man sich darunter wenigstens etwas vorstellen kann.“
„Was denn genau?“, fragte Max.
„Das habe ich mich schon häufiger gefragt“, sagte Thea. „Was ist ein Pluspol und was ist ein Minuspol? Letztlich nur eine Differenz. Ein Unterschied, den man im Fall der Elektrizität einen Ladungsunterschied nennt. Weil es diesen gibt, fließt etwas. Wir nennen das Strom. Dieser braucht ein Gefälle wie ein Fluss. So bekommt er eine Richtung.“
„Was schon die nächste Analogie wäre“, sagte Max.
„Darum kommen wir wohl kaum herum“, bemerkte Thea. „Die entscheidende Frage scheint allerdings zu sein, welche erlaubt ist und welche nicht. Ich frage mich zwischenzeitlich, wer von uns behauptet hat, es sei einfach.“
„Es bleibt einfach, wenn wir verschiedene Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Polarität ist der allgemeinere Begriff“, sagte Max.
„Dagegen habe ich gar nichts“, sagte Thea. „Davon gingen wir aus. Probleme gibt es erst, wenn es in die einzelnen Wissenschaften hineingeht. Sie scheinen aus dem Einen so viel Verschiedenes gemacht zu haben.“
„Deshalb müssen wir so genau bleiben. Wenn wir behaupten, alles sei elektrisch, überträgt man dabei alles, was man mit Elektrizität verbindet, auf die anderen Phänomene. So werden wir dem Ganzen nicht mehr gerecht“, sagte Max.
„Damit ich das verstehe, müssen wir etwas mehr ins Detail gehen. Wie kommt elektrischer Strom von A nach B?“, fragte Thea.
„Das hast Du bereits angedeutet“, sagte Max. „Im Prinzip durch Differenz. Weil es einen Ladungsunterschied gibt.“
„Also ist das die Verallgemeinerung, die wir brauchen. Was ist das Universelle daran?“, fragte Thea und fuhr fort: „Die Differenz. Polarität ist nichts anderes. Elektrizität allerdings auch.“
„Deine Frage war, wie diese Differenz sich auswirkt, also wie eine Ladung von A nach B kommt“, sagte Max.
Thea tastete sich heran: „Indem sie transportiert wird? Indem sich etwas verschiebt, anzieht oder abstößt, wie man dies aus der Elektrizität kennt?“
„Womit wir wieder bei der Analogie wären. Eine physikalische Erklärung ist, dass es elektrisch geladene Teilchen gibt, die sich bewegen und dabei Ladung übertragen“, sagte Max.
„Die Elektronen, eine Erfindung der Wissenschaften. Was dabei ‚tatsächlich‘ geschieht, habe ich nie verstanden. Sie sollen negativ geladen sein. Was bedeutet das überhaupt? Fehlt ihnen etwas?“, fragte Thea.
Max lachte. „Was ihnen fehlt, ist höchstens Neutralität. Irgendwie muss man die Differenz benennen. Dafür wählte man eben plus und minus.“
„Wie kann man nun negative Ladung übertragen?“, bohrte Thea weiter. „Nur über umherwandernde Elektronen? Wie verträgt sich das mit einem elektromagnetischen Feld? Das soll es außerdem geben.“
„Jetzt kommst auf einmal Du mit Physik an. Zunächst einmal zu den Elektronen“, sagte Max. „Man stellt sie sich als negativ geladene Teilchen vor, die unter anderem Bestandteile eines Atoms sein sollen.“
„Falls es das Atom überhaupt gibt“, wandte Thea ein.
„Natürlich ist es ein Modell“, räumte Max ein. „Ein Modell, das es gibt.“
„Die Diskussion kennen wir schon seit Demokrit“, sagte Thea. „Es ging von jeher darum, ob es eine kleinste Einheit gibt. Ob Atom oder Elementarteilchen, ist von historischer Bedeutung, mehr nicht“, behauptete sie.
Max schüttelte den Kopf. „Das habe ich befürchtet“, sagte er. „Solche Diskussionen enden immer an der gleichen Stelle.“
„Sicherlich, denn es folgt nach dem Teilchen stets das mit der Welle. Da war für mich schon von jeher Schluss mit dem Verstehen. Genau diese alte Debatte ist an der ganzen Verwirrung schuld. Also die Physik“, stellte sie fest.
„Du erwartest nicht von mir, dass ich das so stehen lasse“, sagte Max.
„Nein, das erwarte ich nicht“, sagte Thea. „Ich bin allerdings nach wie vor der Meinung, dass es nicht an Dir liegt, sondern an der Physik. Denn jedes Mal, wenn wir anfangen, uns mit deren Definitionen herumzuschlagen, verlieren wir uns im Detail und damit unsere Idee. Gerade sind wir wieder auf dem besten Weg dorthin.“
Max konnte nicht wirklich widersprechen, und so kam Thea ausnahmsweise nicht dazu, ihn zu unterbrechen. Sie schwiegen sich eine lange Weile an, was höchst selten vorkam – und sie erinnerten sich. An die simplen Fragen, an denen schon ein Erdbeerkuchen verzehrender Akademikerkreis am Starnberger See gescheitert war:
Wie klein darf es sein? Geht es mit dem Teilen des Kuchens immer so weiter, womöglich unendlich? Oder geht es irgendwann nicht mehr kleiner?
Sicher schien in diesem Augenblick nur, dass Thea und Max auf genau solche Diskussionen keine Lust mehr hatten.
Irgendwann fragte er: „Wie wäre es mit einem kleinen Gedankenexperiment?“
„Gerne“, antwortete Thea, „wenn es nichts mit Mathematik zu tun hat.“