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Frau von Gundermann schien auf das ihr als einziger, also auch ältester Dame zustehende Tafelaufhebungsrecht verzichten zu wollen und wartete, bis statt ihrer der schon seit einer Viertelstunde sich nach seiner M eerschaumpfeife sehnende Dubslao das Zeichen zum Aufbruch gab. Alles erhob sich jetzt rasch, um vom Esszimmer aus in den nach dem Garten hinaussehenden Salon zurückzukehren, dem es — war es Zufal oder Absicht? — in diesem Augenblick noch an aller Beleuchtung fehlte; nur im Kamin glühten ein paar Scheite, die während der Essenszeit halb niedergebrannt waren, und durch die offenstehende hohe Glastür fiel von der Veranda her das Licht der über den Parkbäumen stehenden Mondsichel. Alles gruppierte sich alsbald um Frau von Gundermann, um dieser die pflichtschuldigen Honneurs zu machen, während Martin die Lampen, Engelke den Kaffee brachte. Das ein paar Minuten lang geführte gemeinschaftliche Gespräch kam, all die Zeit über, über ein unruhiges Hin und Her nicht hinaus, bis der Knäuel, in dem man stand, sich wieder in Gruppen auflöste.

Das erste sich abtrennende Paar waren Rex und Katzler, beide passionierte Billardspieler, die sich — Katzler übernahm die Führung — erst in den Esssaal zurück und von diesem aus in das danebengelegene Spielzimmer begaben. Das hier stehende, ziemlich vernachlässigte Billard war schon an die fünfzig Jahre alt und stammte noch aus des Vaters Zeiten her. Dubslav selbst machte sich nicht viel aus dem Spiel, aus Spiel überhaupt nicht, und interessierte sich, soweit sein Billard in Betracht kam, nur für eine sehr nachgedunkelte Karoline, von der ein Berliner Besucher mal gesagt hatte: ,,Alle Wetter, Stechlin, wo haben Sie die her? Das ist ja die gelbste Karoline, die ich all mein Lebtag gesehen habe“ — Worte, die damals solchen Eindruck auf Dubslav gemacht hatten, dass er seitdem ein etwas freundlicheres Verhältnis zu seinem Billard unterhielt und nicht ungern von seiner Karoline“ sprach.

Das zweite Paar, das sich aus der Gemeinschaft abtrennte, waren Woldemar und Gundermann. Gundermann, wie alle an Kongestionen Leidende, fand es überall zu heiss und wies, als er ein paar Worte mit Woldemar gewechselt, auf die offenstehende Tür. „Es ist ein so schöner Abend, Herr von Stechlin; könnten wir nicht auf die Veranda hinaustreten?“

,,Aber gerpiss, Herr von Gundermann. Und wenn wir uns absentieren, wollen wir auch alles Gute gleich mitnehmen. Engelke, bring uns die kleine Kiste, du weisst schon.“

,,Ah, kapital. So ein paar Züge, das schlägt nieder, besser als Sodamasser. Und dann ist es auch wohl schicklicher im Freien. Meine Frau, wenn wir zu Hause sind, hat sich zmar daran gervöhnen müssen und spricht höchstens mal von ,paffen‘ (na, das is nicht anders, dafür is man eben verheiratet), aber in einem fremden Hause, da fangen denn doch die Rücksichten an. Unser guter alter Kortschädel sprach auch immer von ,Dehors’.“

Unter diesen Worten waren Woldemar und Gundermann vom Salon her auf die Veranda hinausgetreten, bis dicht an die Treppenstufen heran, und sahen auf den kleinen Wasserstrahl, der auf dem Rundell aufsprang.

„Immer wenn ich den Wasserstrahl sehe“, fuhr Gundermann fort, „muss ich wieder an unsern guten alten Kortschädel denken. Is nu auch hinüber. Na, jeder muss mal, und wenn irgendeiner seinen Platz da oben sicher hat, der hat ihn. Ehrenmann durch und durch und loyal bis auf die Knochen. Redner war er nicht, was eigentlich immer ein Vorzug, und hat mit seiner Schwätzerei dem Staate kein Geld gekostet; aber er wusste ganz gut Bescheid, und, unter vier Augen, ich habe Sachen von ihm gehört, grossartig. Und ich sage mir, solchen kriegen wir nicht wieder...“

„Ach, das ist Schwarzseherei, Herr von Gundermann. Ich glaube, wir haben viele von ähnlicher Gesinnung. Und ich sehe nicht ein, warum nicht ein Mann wie Sie...“

,,Geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil Ihr Herr Papa kandidieren will. Und da muss ich zurückstehen. Ich bin hier ein Neuling. Und die Stechlins waren hier schon...“

„Nun gut, ich will dies letztere gelten lassen, und nur was das Kandidieren meines Vaters angeht — ich denke mir, es ist noch nicht soweit, vieles kann noch dazwischenkommen, und jedenfalls wird er schwanken. Aber nehmen wir mal an, es sei, wie Sie vermuten. In diesem Falle träfe doch gerade das zu, was ich mir soeben zu sagen erlaubt habe. Mein Vater ist in jedem Anbetracht ein treuer Gesinnungsgenosse Kortschädels, und wenn er an seine Stelle tritt, was ist da verloren? Die Lage bleibt dieselbe.“

„Nein, Herr von Stechlin.“

„Nun, was ändert sich?“

„Vieles, alles. Kortschädel war in den grossen Fragen unerbittlich, und Ihr Herr Vater lässt mit sich reden...“

„Ich weiss nicht, ob Sie da recht haben. Aber wenn es so wäre, so wäre das doch ein Glück...“

„Ein Anglück, Herr von Stechlin. Wer mit sich reden lässt, ist nicht stramm, und wer nicht stramm ist, ist schwach. Und Schwäche (die destruktiven Elemente haben dafür eine feine Fühlung), Schwäche ist immer Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.“

Die vier andern der kleinen Tafelrunde waren im Gartensalon zurückgeblieben, hatten sich aber auch zu zwei und zwei zusammengetan. In der einen Fensternische, so dass sie den Blick auf den mondbeschienenen Vorplatz und die draussen auf der Veranda auf und ab schreitenden beiden Herren hatten, sassen Lorenzen und Frau von Gundermann. Die Gundermann war glücklich über das Tête-à-Tête, denn sie hatte wegen ihres jüngsten Sohnes allerhand Fragen auf dem Herzen oder bildete sich wenigstens ein, sie zu haben. Denn eigentlich hatte sie für gar nichts Interesse, sie musste bloss, richtige Berlinerin, die sie war, reden können.

„Ich bin so froh, Herr Pastor, dass ich nun doch einmal Gesetzenheit finde. Gott, wer Kinder hat, der hat auch immer Sorgen. Ich möchte wegen meines Jüngsten so gerne mal mit Ihnen sprechen, wegen meines Arthur. Rudolf hat mir keine Sorgen gemacht, aber Arthur. Er ist nun jetzt eingesegnet, und Sie haben ihm, Herr Prediger, den schönen Spruch mitgegeben, und der Junge hat auch gleich den Spruch auf einen grossen weissen Bogen geschrieben, alle Buchstaben erst mit zwei Linien nebeneinander und dann dick ausgetuscht. Es sieht aus wie ʼn Plakat. Und diesen grossen Bogen hat er sich in die Waschtoilette geklebt, und da mahnt es ihn immer.“

„Nun, Frau von Gundermann, dagegen ist doch nichts zu sagen.“

„Nein, das will ich auch nicht. Eher das Gegenteil. Es hat ja doch was Rührendes, dass es einer so ernst nimmt. Denn er hat zwei Tage dran gesessen. Aber wenn solch junger Mensch es so immer liest, so gewöhnt er sich dran. Und dann ist ja auch gleich wieder die Verführung da. Gott, dass man gerade immer über solche Dinge reden muss; noch keine Stunde, dass ich mit dem Herrn Hauptmann über unsern Volontär Vehmever gesprochen habe, netter Mensch, und nun gleich wieder mit Ihnen, Herr Pastor, auch über so mas. Aber es geht nicht anders. Und dann sind Sie ja doch auch wie verantmortlich für seine Seele.“

Lorenzen lächelte. ,,Gewiss, liebe Frau von Gundermann. Aber was ist es denn? Um was handelt es sich denn eigentlich?“

,,Ach, es ist an und für sich nicht viel und doch auch wieder eine recht ärgerliche Sache. Da haben wir ja jetzt die Jüngste von unserm Schullehrer Brandt ins Haus genommen, ein hübsches Balg, rotbraun und ganz kraus, und Brandt wollte, sie solle bei uns angelernt werden. Nun, wir sind kein grosses Haus, gewiss nicht, aber Mäntel abnehmen und ʼrumpräsentieren, und dass sie weiss, ob links oder rechts, soviel lernt sie am Ende doch.“

„Gewiss. Und die Frida Brandt, oh, die kenin’ ich ganz gut; die wurde jetzt gerade vorm Jahr eingesegnet. Und es ist, wie Sie sagen, ein allerliebstes Geschöpf und klug und aufgefratzt, ein bisschen zu sehr. Sie will zu Ostern nach Berlin.“

„Wenn sie nur erst da wäre. Mir tut es beinahe schon leid, dass ich ihr nicht gleich zugeredet. Aber so geht es einem immer.“

„Ist denn was vorgefallen?“

,,Vorgefallen? Das will ich nicht sagen. Er is ja doch erst sechzehn und eine Dusche dazu, gerade wie sein Vater; der hat sich auch erst ʼrausgemausert, seit er grau geworden. Was beiläufig auch nicht gut ist. Und da komme ich nun gestern vormittag die Treppe ʼrauf und will dem Jungen sagen, dass er in den Dohnenstrich geht und nachsieht, ob Krammetsvögel da sind, und die Tür steht halb auf, was noch das beste war, und da seh’ ich, wie sie ihm eine Nase dreht und die Zungenspitze ‘raussteckt; so was von spitzer Zunge hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Die reine Eva. Für die Potiphar ist sie mir noch zu jung. Und als ich nu dazwischentrete, da kriegt ja nu der arme Junge das Zittern, und weil ich nicht recht wusste, was ich sagen sollte, ging ich bloss hin und Klappte den Waschtischdeckel auf, wo der Spruch stand, und sah ihn scharf an. Und da wurde er ganz blass. Aber das Balg lachte.“

„Ja, liebe Frau von Gundermann, das ist so; Jugend hat keine Tugend.“

„Ich weiss doch nicht; ich bin auch einmal jung gewesen...“

„Ja, Damen...“

Während Frau von Gundermann in ihrem Gespräch in der Fensternische mit derartigen Intimitäteni kam und den guten Pastor Lorenzen abwechselnd in Versetzenheit und dann auch wieder in stille Heiterkeit verletzte, hatte sich Dubslav mit Hauptmann von Ezako in eine schräg gegenübergelegene Ecke zurückgezogen, wo eine altmodische Causeuse stand, mit einem Marmortischchen davor. Auf dem Tische zwei Kaffeetassen samt aufgeklapptem Likörkasten, aus dem Dubslav eine Flasche nach der anderen herausnahm. „Jetzt, wenn man von Tisch kommt, muss es immer ein Kognak sein. Aber ich bekenne Ihnen, lieber Hauptmann, ich mache die Mode nicht mit; wir aus der alten Zeit, wir waren immer ein bisschen fürs Süsse. Crème de Cacao, na, natürlich, das is Damenschnaps, davon kann keine Rede sein; aber Pomeranzen oder, wie sie jetzt sagen, Curaçao, das ist mein Fall. Darf ich Ihnen einschenken? Oder vielleicht lieber Danziger Goldwasser? Kann ich übrigens auch empfehlen.“

,,Dann bitte ich um Goldmasser. Es ist doch schärfer, und dann bekenne ich Ihnen offen, Herr Major... Sie kennen ja unsre Verhältnisse, so’n bisschen Gold heimelt einen immer an. Man hat keins und dabei doch zugleich die Vorstellung, dass man es trinken kann — es hat eigentlich was Grossartiges.“

Dubslav nickte, schenkte von dem Goldmasser ein, erst für Ezako, dann für sich selbst und sagte: „Bei Tische hab’ ich die Damen leben lassen und Frau von Gundermann im speziellen. Hören Sie, Hauptmann, Sie verstehen’s. Diese Rattengeschichte...“

„Vielleicht war es ein bisschen zuviel.“

„I, keineswegs. Und dann, Sie waren ja ganz unschuldig, die Gnäd’ge fing ja davon an; erinnern Sie sich, sie verliebte sich ordentlich in die Geschichte von den Rinnsteinbohlen, und wie sie drauf ʼrumgetrampelt, bis die Ratten ‘rauskamen. Ich glaube sogar, sie sagte ,Biester’. Aber das schadet nicht. Das ist so Berliner Stil. Und unsre Gnäd’ge hier (beiläufig eine geborene Helfrich) is eine Vollblutberlinerin.“

„Ein Wort, das mich doch einigermassen überrascht.“

„Ah“, drohte Dubslav schelmisch mit dem Finger, „ich verstehe. Sie sind einer gewissen Unausreichendheit begegnet und verlangen mindestens mehr Quadrat (von Kubik will ich nicht sprechen). Aber wir von Adel müssen in diesem Punkte doch ziemlich milde sein und ein Auge zudrücken, wenn das das richtige Wort ist. Unser eigenstes Vollblut bewegt sich auch in Extremen und hat einen linken und einen rechten Flügel; der linke nähert sich unsrer geborenen Helfrich. Übrigens unterhaltliche Madam. Und wie beseligt sie war, als sie den Namenszug auf Ihrer Achselklappe glücklich entdeckt und damit den Anmarsch auf die Münzstrasse gewonnen hatte. Was es doch alles für Lokalpatriotismen gibt!“

An dem unser Regiment teilnimmt oder ihn mitmacht. Die Welt um den Alexanderplatz herum hat übrigens so ihren eigenen Zauber, schon um einer gewissen Unresidenzlichkeit willen. Ich sehe nichts lieber als die grosse Markthalle, wenn beispielsweise die Fischtonnen mit fünfhundert Aalen in die Netze gegossen werden. Etwas Anglaubliches von Gezappel.“

,,Finde mich ganz darin zurecht und bin auch für Alexanderplatz und Alexanderkaserne samt allem, was dazugehört. Und so brech’ ich denn auch die Gesetzenheit vom Zaun, um nach einem Ihrer früheren Regimentskommandeure zu fragen, dem liebenswürdigen Obersten von Zeuner, den ich noch persönlich gekannt habe. Hier unsere Stechliner Gegend ist nämlich Zeunergegend. Keine Stunde von hier liegt Köpernitz, eine reizende Besitzung, drauf die Zeunersche Familie schon in friderizianischen Tagen ansässig war. Bin oft drüben gewesen (nun freilich schon zwanzig Jahre zurück). und komme noch einmal mit der Frage: Haben Sie den Obersten noch gekannt?“

„Nein, Herr Major. Er war schon fort, als ich zum Regimente kam. Aber ich habe viel von ihm gehört und auch von Köpernitz, weiss aber freilich nicht mehr, in welchem Zusammenhange.“

„Schade, dass Sie nur einen Tag für Stechlin festgesetzt haben, sonst müssten Sie das Gut sehen. Alles ganz eigentümlich und besonders auch ein Grabstein, unter dem eine uralte Dame von beinah neunzig Jahren begraben liegt, eine geborene von Zeuner, die sich in früher Jugend schon mit einem Emigranten am Rheinsberger Hof, mit dem Grafen La Roche-Aymon, vermählt hatte. Merkwürdige Frau, von der ich Ihnen erzähle, wenn ich Sie mal wiedersehe. Nui eins müssen Sie heute schon mit anhören, denn ich glaube, Sie haben den Gustus dafür.“

„Für alles, was Sie erzählen.“

„Keine Schmeicheleien! Aber die Geschichte will ich Ihnen doch als Andenken mitgeben. Andre schenken sich Photographien, was ich, selbst wenn es hübsche Menschen sind (ein Fall, der übrigens selten zutrifft), immer greulich finde.“

„Schenke nie welche.“

„Was meine Gefühle für Sie steigert. Aber die Geschichte: Da war also drüben in Köpernitz diese La RocheAymon, und weil sie noch die Prinz-Heinrich-Tage gesehen und während derselben eine Rolle gespielt hatte, so zählte sie zu den besonderen Lieblingen Friedrich Wilhelms IV. Und als nun — sagen wir ums Jahr fünfzig — der Zufall es fügte, dass dem zur Jagd hier erschienenen König das Köpernitzer Frühstück, ganz besonders aber eine Blut- und Zungenmurst, über die Massen gut geschmeckt hatte, so wurde dies Veranlassung für die Gräfin, am nächsten Heiligabend eine ganze Kiste voll Würste nach Potsdam hin in die königliche Küche zu liefern. Und das ging so durch Jahre. Da beschloss zuletzt der gute König, sich für al die gute Gabe zu revanchieren, und als wieder Weihnachten war, traf in Köpernitz ein Postpaket ein, Inhalt: eine zierliche, kleine Blutwurst! Und zwar war es ein wunderschöner, rundlicher Blutkarneol mit Goldspeilerchen an beiden Seiten, und die Speilerchen selbst mit Diamanten besetzt. Und neben diesem Geschenk lag ein Zettelchen: ,Wurst wider Wurftʻ.“

„Allerliebst.“

„Mehr als das. Ich persönlich ziehe solchen guten Einfall einer guten Verfassung vor. Der König, glaub’ ich, tat es auch. Und es denken auch heute noch viele so.“

„Gerpiss, Herr Major. Es denken auch heute noch viele so, und bei dem Schwankezustand, in dem ich mich leider befinde, sind meine persönlichen Sympathien gelegentlich nicht meitab davon. Aber ich fürchte doch, dass wir mit dieser unsrer Anschauung sehr in der Minorität bleiben.“

,,Werden wir. Aber Vernunft ist immer nur bei wenigen. Es wäre das beste, wenn ein einziger Ulter-Fritzen-Verstand die ganze Geschichte regulieren könnte. Freilich braucht ein solcher oberster Wille auch seine Werkzeuge. Die haben wir aber noch in unserm Adel, in unsrer Armee und speziell auch in Ihrem Regiment.“

Während der Alte diesen Trumpf ausspielte, kam Engelke, um ein paar neue Tassen zu präsentieren.

„Nein, nein, Engelke, wir sind schon weiter. Aber stell nur hin... In Ihrem Regiment, sag’ ich, Herr von Czako. Schon sein Name bedeutet ein Programm, und dieses Programm heisst: Russland. Heutzutage darf man freilich kaum noch davon reden. Aber das ist Unsinn. Ich sage Ihnen, Hauptmann, das waren Prenssens beste Tage, als da bei Potsdam herum die Russische Kirche‘ und das Rüssische Haus’ gebaut wurden und als es immer hin und her ging zwischen Berlin und Petersburg. Ihr Regiment, Gott sei Dank, unterhält noch was von den alten Beziehungen, und ich freue mich immer, wenn ich davon lese, vor allem, wenn ein russischer Kaiser kommt und ein Doppelposten vom Regiment Alexander vor seinem Palais steht. Und noch mehr freu’ ich mich, wenn das Regiment Deputationen schickt: Georgsfest, Namenstag des hohen Chefs, oder wenn sich’s auch bloss um Uniformabänderungen handelt, beispielsweise Klappkragen statt Stehkragen (diese verdammten Stehkragen) — und wie dann der Kaiser alle begrüsst und zur Tafel zieht und so bei sich denkt: ,Ja, ja, das sind brave Leute; da hab’ ich meinen Halt.ʻ “

Czako nickte, war aber doch in sichtlicher Versetzenheit, weil er, trotz seiner vorher versicherten „Sympathien“, ein ganz moderner, politisch stark angekränkelter Mensch war, der, bei strammster Dienstlichkeit, zu all dergleichen Überspanntheiten ziemlich kritisch stand. Der alte Dubslav nahm indessen von alledem nichts wahr und fuhr fort: „Und sehen Sie, lieber Hauptmann, so hab’ ich’s persönlich in meinen jungen Jahren auch noch erlebt und vielleicht noch ein bisschen besser; denn, Pardon, jeder hält seine Zeit für die beste. Vielleicht sogar, dass Sie mir zustimmen, wenn ich Ihnen mein Sprüchel erst ganz hergesagt haben werde. Da haben wir ja nun ,jenseits, des Nemen’, wie manche Gebildete jetzt sagens, die ,drei Alexander’ gehabt, den ersten, den zweiten und den dritten, alle drei grosse Herren und alle drei richtige Kaiser und fromme Leute oder doch beinah fromm, die’s gut mit ihrem Volk und mit der Menschheit meinten, und dabei selber richtige Menschen; aber in dies Alexandertum, das so beinah das ganze Jahrhundert ausfüllt, da schiebt sich doch noch einer ein, ein Nicht-Alexander, und, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, der war doch der Häupter. Und das war. unser Nikolaus. Manche dummen Kerle haben Spottlieder auf ihn gemacht und vom schwarzen Niklas gesungen, wie man Kinder mit dem schwarzen Mann graulich macht, aber war das ein Mann! Und dieser selbige Nikolaus, nun, der hatte hier, ganz wie die drei Alexander, auch ein Regiment, und das waren die Nikolaus-Kürassiere, oder sag’ ich lieber: das sind die Nikolaus-Kürassiere, denn wir haben sie, Gott sei Dank, noch. Und sehen Sie, lieber Czako, das war mein Regiment, dabei hab’ ich gestanden, als ich noch ein junger Dachs war, und habe dann den Abschied genommen; viel zu früh; Dummheit, hätte lieber dabeibleiben sollen.“

Ezako nickte. Dubslav nahm ein neues Glas von dem Goldwasser. „Unsere Nikolaus-Kürassiere, Gott erhalte sie, wie sie sind! Ich möchte sagen, in dem Regiment lebt noch die Heilige Alliance fort, die Waffenbrüderschaft von Anno dreizehn, und dies Anno dreizehn, das wir mit den Russen zusammen durchgemacht haben, immer nebeneinander im Biwak, in Glück und Unglück, das war doch unsre grösste Zeit. Grösser als die jetzt grosse. Grosse Zeit ist es immer nur, wenn’s beinah schiefgeht, wenn man jeden Augenblick fürchten muss: Jetzt ist alles vorbei.ʻ Da zeigt sich’s. Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser. Ausdauer, das ist die Hauptsache. Nichts im Leibe, nichts auf dem Leibe, Hundekälte, Regen und Schnee, so dass man so in der nassen Patsche liegt, und höchstens ʼnen Kornus (Kognak, ja hast du was, den gab es damals kaum), und so die Nacht durch, da konnte man Jesum Christum erkennen lernen. Ich sage das, wenn ich auch nicht mit dabeigemesen. Anno dreizehn, bei Grossgörschen, das war für uns die richtige Waffenbrüderschaft jetzt haben wir die Waffenbrüderschaft der Orgeldreher und Mausefallenhändler. Ich bin für Russland, für Nikolaus und Alexander. Preobraschensk, Semenow, Kaluga — da hat man die richtige Anlehnung; alles andre ist revolutionär, und was revolutionär ist, das wackelt.“

Kurz vor elf, der Mond war inzwischen unter, brach man auf, und die Wagen fuhren vor, erst der Katzlersche Kaleschwagen, dann die Gundermannsche Chaise; Martin aber, mit einer Stallaterne, leuchtete dem Pastor über Vorhof und Bohlenbrücke fort, bis an seine ganz im Dunkel liegende Pfarre. Gleich darauf zogen sich auch die drei Freunde zurück und stiegen, unter Vorantritt Engelkes, die grosse Treppe hinauf, bis auf den Podeft. Hier trennten sich Rex und Czako von Woldemar, dessen Zimmer auf der andern Flurseite gelegen war.

Czako, sehr müde, war im Nu bettfertig. „Es bleibt also dabei, Rex, Sie logieren sich in dem Rokokozimmer ein — wir wollen es ohne weiteres so nennen —, und ich nehme das Himmelbett hier in Zimmer Nummer eins. Vielleicht wäre das Umgekehrte richtiger, aber Sie haben es so gewollt.“

Und während er noch so sprach, schob er seine Stiefel auf den Flur hinaus, schloss ab und legte sich nieder.

Rex war derweilen mit seiner Plaidrolle beschäftigt, aus der er allerlei Toilettengegenstände hervorholte. ,,Sie müssent mich entschuldigen, Ezako, wenn ich mich noch eine Viertelstunde hier bei Ihnen aufhalte. Habe nämlich die Angervohnheit, mich abends zu rasieren, und der Toilettentisch mit Spiegel, ohne den es doch nicht gut geht, der steht nun mal hier an Ihrem, statt an meinem Fenster. Ich muss also stören.“

„Mir sehr recht, trotz aller Müdigkeit. Nichts besser, als noch ein bisschen aus dem Bett heraus plaudern können. Und dabei so warm eingemummelt. Die Betten auf dem Lande sind überhaupt das beste.“

„Nun, Ezako, das freut mich, dass Sie so bereit sind, mir Quartier zu gönnen. Aber wenn Sie noch eine Plauderei haben wollen, so müssen Sie sich die Hauptsache selber leisten. Ich schneide mich sonst, was dann hinterher immer ganz schändlich aussieht. Übrigens muss ich erst Schaum schlagen, und solange wenigstens kann ich Ihnen Red’ und Antwort stehen. Ein Glück nebenher, dass hier ausser der kleinen Lampe noch diese zwei Leuchter sind. Wenn ich nicht Licht von rechts und links habe, komme ich nicht von der Stelle; das eine wackelt zwar (alle diese dünnen Silberleuchter wakkeln), aber wenn gute Reden sie begleiten...‘ Also strengen Sie sich an. Wie fanden Sie die Gundermanns? Sonderbare Leute — haben Sie schon mal den Namen Gundermann gehört?“

„Ja. Aber das war in Waldmeisters Brautfahrtʻ.“

„Richtig! so mirkt er auch. Und nun gar erst die Frau. Der einzige, der sich sehen lassen konnte, war dieser Katzler. Ein Karambolespieler ersten Ranges. Übrigens Eisernes Kreuz.“

„Und dann der Pastor.“

„Nun ja, auch der. Eine ganz gescheite Nummer. Aber doch ein wunderbarer Heiliger, wie die ganze Sippe, zu der er gehört. Er hält zu Stoecker, sprach es auch aus, was neuerdings nicht jeder tut; aber der „neue Lutherʻ, der doch schon gerade bedenklich genug ist — Majetztät hat ganz recht mit seiner Verurteilung —, der geht ihm gewiss nicht weit genug. Dieser Lorenzen erscheint mir, im Gegensatz zu seinen Jahren, als einer der Allerjüngsten. Und zu verwundern bleibt nur, dass der Alte so gut mit ihm steht. Freund Woldemar hat mir davon erzählt. Der Alte liebt ihn und sieht nicht, dass ihm sein geliebter Pastor den Aft abfägt, auf dem er sitzt. Ja, diese von der neuesten Schule, das sind die Allerschlimmsten. Immer Volk und wieder Volk, und mal auch etwas Christus dazwischen. Aber ich lasse mich so leicht nicht hinters Licht führen. Es läuft alles darauf hinaus, dass sie mit uns aufräumen wollen, und mit dem alten Christentum auch. Sie haben ein neues, und das überlieferte behandeln sie despektierlich.“

„Kann ich ihnen unter Umständen nicht verdenken. Seien Sie gut, Rex, und lassen Sie Konventikel und Partei mal beiseite. Das Überlieferte, was einem da so vor die Klinge kommt, namentlich wenn Sie sich die Menschen ansehen, wie sie nun mal sind, ist doch sehr reparaturbedürftig, und auf solche Reparatur ist ein Mann wie dieser Lorenzen eben aus. Machen Sie die Probe. Hie Lorenzen, hie Gundermann. Und Ihren guten Glauben in Ehren, aber Sie werden diesen Gundermann doch nicht über den Lorenzen stellen und ihn überhaupt nur ernsthaft nehmen wollen. Und wie dieser Wassermüller aus der Brettschneidebranche, so sind die meisten. Phrase, Phrase. Mitunter auch Geschäft oder noch Schlimmeres.“

„Ich kann jetzt nicht antworten, Ezako. Was Sie da sagen, berührt eine grosse Frage, bei der man doch aufpassen muss. Und so mit dem Messer in der Hand, da verbietet sich’s. Und das eine wacklige Licht hat ohnehin schon einen Dieb. Erzählen Sie mir lieber was von der Frau von Gundermann. Debattieren kann ich nicht mehr, aber wenn Sie plaudern, brauchʼ ich bloss zuzuhören. Sie haben ihr ja bei Tisch ʼnen langen Vortrag gehalten.“

„Ja. Und noch dazu über Ratten.“

„Nein, Szako, davon dürfen Sie jetzt nicht sprechen; dann doch lieber über alten und neuen Glauben. Und gerade hier. In solchen alten Kasten ist man nie sicher vor Spuk und Ratten. Wenn Sie nichts andres wissen, dann bitt’ ich um die Geschichte, bei der wir heute früh in Kremmen unterbrochen wurden. Es schien mir was Pikantes.“

,,Ach, die Geschichte von der kleinen Stubbe. Ja, hören Sie, Rex, das regt Sie aber auch auf. Und wenn man nicht schlafen kann, ist es am Ende gleich, ob wegen der Ratten oder wegen der Stubbe.“

Der Stechlin

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