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Von Frankfurt bis Schwedt
ОглавлениеSaßen all auf dem Verdecke,
Glocken klangen, alte Zeit,
Und der Himmel wurde blauer,
Und die Seele wurde weit.
Zwischen Frankfurt und Stettin ist während der Sommermonate ein ziemlich reger Dampfschiffverkehr. Schleppschiffe und Passagierboote gehen auf und ab, und die Rauchsäulen der Schlote ziehen ihren Schattenstrich über die Segel der Oderkähne hin, die oft in ganzen Geschwadern diese Fahrt machen.
Von besonderer Wichtigkeit sind die Schleppdampfer. Handelt es sich darum, eine wertvolle Ladung in kürzester Frist stromauf zu schaffen, so wird ein Schleppschiff als Vorspann genommen, und in vierundzwanzig Stunden ist erreicht, was sonst vielleicht vierzehn Tage gedauert hätte. Ihre eigentlichen Triumphe aber feiern diese Schleppschiffe, wenn sie, wie von ohngefähr, plötzlich inmitten einer kritisch gewordenen Situation erscheinen und durch ihre bloße Erscheinung die Herzen der geängstigten Schiffer wieder mit Hoffnung erfüllen. Sie sind dann, was der Führer für den Verirrten, was der Zuzug für die Geschlagenen ist, und beherrschen natürlich die Situation. Diese Situation ist fast immer dieselbe: entweder hat der Rettung erwartende Kahn sich festgefahren und müht umsonst sich ab, wieder flott zu werden, oder aber, er ist in ein mit Flößen verfahrenes Défilé geraten, so daß jeden Augenblick ein Zusammenstoß zu gewärtigen steht. Im ersteren Falle handelt es sich um Kraft, im anderen Falle um Geschick und Schnelligkeit, um das Bedenkliche der Lage zu überwinden, und der Schleppdampfer ist in der glücklichen Verfassung, beides, je nach Bedürfnis, bieten zu können. Aber freilich – gegen Zahlung. Nun beginnen die tragikomischsten Unterhaltungen, die man sich denken kann. Sie werden vom Kajütendach des Oderkahns einerseits, andererseits vom Radkasten des Dampfers aus geführt. Der geängstigte Schiffer hebt zunächst einfach seine Hand in die Höh, alle fünf Finger deutungsreich ausspreizend. Der Mann auf dem Radkasten schlägt eine verächtliche Lache auf und donnert seinen Befehl zu größerer Eile in den Maschinenraum hinunter, bis das bittende »Hallo« des Schiffers ihn wieder zu einem »stop« bestimmt. Der Schiffer hebt jetzt seine Hand mit den gespreizten Fingern zweimal in die Luft. Dasselbe Lachen als Antwort. So geht es weiter, bis der Kahnführer, der, namentlich wenn er zwischen Holzflößen steckt, seinen Ruin vor Augen sieht, die Summe bewilligt, die der Kapitän des Dampfers zu fordern für gut befindet. Diese Forderungen wechseln, da der letztere, mit scharfem Auge, je nach dem Grad der Gefahr, auch die Taxe bestimmt. Es kommt vor, daß der geängstigte Schiffer seine fünf Finger zehnmal erheben, das heißt also, seine Befreiung aus dem verfahrenen Défilé mit fünfzig Talern preußisch bezahlen muß.
Die Schleppdampfer, wie hieraus genugsam erhellen wird, spielen also auf der Oderstrecke, die sie befahren, die Doppelrolle des Retters und des Tyrannen, und im Einklang mit dieser Doppelrolle ist auch die Empfindung, mit der sie seitens der Schiffer betrachtet werden. Man liebt sie oder haßt sie. Alles, je nachdem die Gefahr im Anzuge oder glücklich überwunden ist. Die am Horizont heraufdämmernde oder wieder verschwindende Dampfsäule wird erst als Hoffnungsbanner begrüßt, dann als abziehende Piratenflagge verwünscht. Dazwischen liegt die Rettung. Nichts ist kürzer als Dank. Die Kapitäne wissen das; aber als praktische Männer kennen sie keine Empfindelei und halten sich schadlos beim nächsten Fall. Sie haben zudem die ruhige Überlegenheit der herrschenden Kaste.
Die Schiffer blicken, wie wir gesehen haben, mit geteilter Empfindung auf den Schleppdampfer – nicht so die Floßführer. Diese geben sich ungeschwächt einer einzigen Empfindung, und zwar ihrem polnischen oder böhmisch-oberschlesischen Hasse, hin. Sie können es wagen. Das Floß, das an manchen Stellen die halbe Breite der Oder deckt, kann wohl den Schleppschiffen, aber das Schleppschiff kann nie und nimmer dem Floße gefährlich werden. Wenigstens nicht ernstlich. Es liegt also kein Grund vor, weshalb sie mit ihrer Abneigung hinter dem Berge halten sollten. Und zu dieser Abneigung ermangelt es nicht an triftigsten Gründen. Die Schleppdampfer nämlich, weil sie den Flößen in Wahrheit weder nützen noch schaden können, begnügen sich damit, die reizbare slawische Natur zu nergeln und zu ärgern. Wie Reiter, die lustig durch einen Tümpel jagen, alles, was in der Nähe ist, nach rechts und links hin mit Wasser und Schlamm bespritzen, so jagen hier die Dampfer an dem schwerfällig zur Seite liegenden Floß vorüber und unterhalten sich damit, das Floß unter Wasser zu setzen. Die zur Seite gedrückte Welle eilt, immer höher werdend, auf das Floß zu; jetzt trifft sie den ersten Balken und spritzt hoch auf. Aber nicht genug damit; die Hälfte der Welle gleitet unter dem Floß hin fort, und überall da, wo eine Lücke sich bietet, nach oben tretend, setzt sie, an sechs, acht Stellen zugleich, das Floß unter Wasser. Nun sollte man glauben, die Flößer müßten gleichgültig sein gegen ein solches Fußbad; aber als wär es Feuer, sieht man jetzt die Besatzung des Floßes auf den Bäumen und Querbalken hin und her springen, als gält es, vor ihrem bittersten Feinde zu fliehen. Diese Zickzacksprünge nehmen sich ebenso komisch wie malerisch aus. Mit vielem Geschick wissen sie immer eine Stelle zu treffen, wo ein Querbalken, ein Holzblock oder am liebsten einer jener Erd- und Rasenhügel sich vorfindet, deren viele sich nicht nur über das Floß hin ausbreiten, sondern auch einen wesentlichen Teil der häuslichen Einrichtung desselben bilden. Bei dieser häuslichen oder wirtschaftlichen Einrichtung des Floßes hab ich noch einen Augenblick zu verweilen.
Die Gesamtökonomie eines solchen Floßes besteht aus zwei gleich wichtigen Teilen, aus einem Kochplatz und einem Aufbewahrungsplatz, oder aus Küche und Kammer. Beide sind von gleich einfacher Konstruktion. Der Kochplatz, der Herd, besteht aus dem einen oder andern jener eben erwähnten Erdhügel, das heißt aus ein paar Dutzend Rasenstücken, die morgens am Ufer frisch abgestochen und wie Mauersteine neben- und aufeinandergelegt wurden. An jedem Morgen entsteht ein neuer Herd. Den alten Herdstellen aber gönnt man ihren alten Platz und benutzt sie entweder als Inseln, wenn die Wellen kommen, oder nimmt sie auch wohl, nach einigen Tagen, als Herdstelle wieder auf. Auf diesem improvisierten Herde wird nun gekocht, was sich malerisch genug ausnimmt, besonders um die Abendstunde, wenn die Feuer wie Irrlichter auf dem Wasser zu tanzen scheinen. Ebenso wichtig wie der Kochplatz ist der Aufbewahrungsplatz. Seine Konstruktion ist von noch größerer Einfachheit und besteht aus einem halbausgebreiteten Bündel Heu. Auf dieser Heuschicht liegen die Röcke, Jacken, Stiefel der Floßleute, und ausgerüstet mit diesen primitivsten Formen einer Küche und Kammer, machen die Flößer ihre oft wochenlange Reise.
Nach dieser Beschreibung wird es jedem klar sein, was eine solche Dampfschiffsneckerei für die Floßleute zu bedeuten hat. Jede aus den Lücken des Floßes hervorbrodelnde Welle spült nicht bloß über die Füße der Betroffenen hin, sondern schädigt sie auch wirklich an ihrem Hab und Gut, als handele es sich um eine Überschwemmung im kleinen. Hier fährt das Wasser zischend in das Herdfeuer und löscht es aus, dort hebt es das Heubündel mitsamt seinen Garderobestücken von unten her in die Höhe und tränkt es entweder mit Wasser oder schwemmt es gar hinweg. Das weckt dann freilich Stimmungen, die der Vorstellung von einer wachsenden »Fraternität« des Menschengeschlechts völlig hohnsprechen und zu Unterhaltungen führen, von denen es das beste ist, daß sie im Winde verklingen.
Soviel von den Schleppschiffen. Von geringerer Bedeutung sind die Passagierboote, die übrigens, wie sich von selbst versteht, gelegentlich die Rolle tauschen und auch ihrerseits als »Retter« und »Tyrannen« ganz in der oben geschilderten Weise debütieren.
Die Passagierboote gehen von Frankfurt aus zweimal wöchentlich, Mittwoch und Sonnabend, und machen die Fahrt nach Küstrin in zwei, nach Schwedt in acht, nach Stettin in zehn Stunden. Die Benutzung erfolgt mehr stationsweise und auf kleineren Strecken als für die ganze Tour. Schon deshalb, weil die Eisenbahnverbindung die Reisenden eher und sicherer ans Ziel führt. Eher unter allen Umständen, und zwar um so mehr, als es bei niedrigem Wasserstande vorkommt, daß die Fahrt auf Stunden unterbrochen oder gar wohl ganz eingestellt werden muß. Die Regulierung des Oderbetts, ein in den Zeitungen stehend gewordener Artikel, würde diesem Übelstande vielleicht abhelfen und eine Konkurrenz der Dampfschiffe mit der Eisenbahn möglich machen. Damit hat es aber noch gute Wege; Flußregulierungen sind nicht unsre starke Seite, und so werden sich die beiden Passagierboote, die jetzt das Bedürfnis decken, noch längere Zeit mit dem Publikum behelfen müssen, das jetzt zu ihnen hält. Dies Publikum, wenn auch nicht zahlreich, ist immerhin mannigfach genug. Tagelöhner, die auf die Güter, Handwerker, die zu Markte ziehen, dazu Kaufleute und Gutsbesitzer, auch gelegentlich Badereisende, besonders solche, die in den schlesischen Bädern waren. Nur eine Klasse fehlt, der man sonst wohl auf den Flußdampfern unserer Heimat, besonders im Westen und Süden, zu begegnen pflegt: der Tourist vom Fach, der eigentliche Reisende, der keinen andern Zweck verfolgt, als Land und Leute kennenzulernen.
Dieser »Eigentliche« fehlt noch, aber er wird nicht immer fehlen; denn ohne das unfruchtbare und mißliche Gebiet der Vergleiche betreten zu wollen, so sei doch das eine hier versichert, daß an den Ufern der Oder hin allerlei Städte und reiche Dörfer liegen, die wohl zum Besuche einladen können, und daß, wenn Sage und Legende auch schweigen, die Geschichte um so lauter und vernehmbarer an dieser Stelle spricht.
Sehen wir selbst.
Es ist Sonnabend um fünf Uhr morgens. An dem breiten Quai der alten Stadt Frankfurt, hohe Häuser und Kirchen zur Seite – das Ganze mehr oder weniger an den Kölner Quai zwischen der Schiffbrücke und der Eisenbahnbrücke erinnernd –, liegt der Dampfer und hustet und prustet. Es ist höchste Zeit. Kaum daß wir an Bord, so wird auch das Brett schon eingezogen, und der Dampfer, ohne viel Kommando und Schiffshallo, löst sich leicht vom Ufer ab und schaufelt stromabwärts. Zur Linken verschwindet die Stadt im Morgennebel; nach rechts hin, zwischen Pappeln und Weiden hindurch, blicken wir in jenes Hügelterrain hinein, dessen Name historischen Klang hat trotz einem – Kunersdorf. Wir werden noch oft, während unserer Fahrt, an dieses Terrain und diesen Namen erinnert werden.
Der Morgen ist frisch; der Wind, ein leiser, aber scharfer Nordost, kommt uns entgegen, und wir suchen den Platz am Schornstein auf, der Wärme gewährt und zugleich Deckung gegen den Wind. Es ist nicht leicht mehr, ein gutes Unterkommen zu finden, denn bereits vor uns hat ein Gipsfigurenhändler, mit seinem Brett voll Puppen, an ebendieser Stelle Platz genommen. Er ist aber umgänglich, rückt sein Brett beiseite und wartet auf Unterhaltung. Das Puppenbrett bietet den besten Anknüpfungspunkt. König und Königin; Amor und Psyche; Goethe, Schiller, Lessing; drei »betende Knaben« und zwei Windhunde, außerdem, alle andern überragend, eine Aurora und eine Flora bilden die Besatzung des Brettes. Der Aurora sind ihre beiden Flügel, der Flora das Bouquet genommen; beides, Bouquet und Flügel, liegen, wie abgelegter Schmuck, zu Füßen der Figuren.
»Was geht denn so am besten?« eröffne ich die Konversation.
»Ja, das ist schwer zu sagen, mein Herr«, erwidert der Figurenmann (der sich durch das hierlands selten gebrauchte »mein Herr« sofort als ein Mann von gewissen »Allüren« einführt), »es richtet sich nach der Gegend.«
»Ich dachte, König und Königin.«
»Versteht sich, versteht sich«, unterbricht er mich lebhaft, als sei er mißverstanden, »königliches Haus und Goethe-Schiller immer voran. Selbstverständlich.«
»Aber außerdem?«
»Ja, das war es eben, mein Herr. Hier herüber« – und dabei deutete er, nach rechts hin, in die Sandgegenden der Neumark hinein –, »hier herüber verkauf ich wenig oder nichts, nur dann und wann einen ›betenden Knaben‹. Ich könnte von meinem Standpunkt aus sagen« – und dabei überflog ein feines Lächeln sein Gesicht –, »wo der gute Boden aufhört, da fängt der ›betende Knabe‹ an.«
»Nun, da gehen diese wohl ins Bruch«, erwiderte ich lachend, indem ich auf Flora und Aurora zeigte.
»Aurora und Flora gehen ins Bruch«, wiederholte er mit humoristischer Würde. »Auch Amor und Psyche.«
Ich nickte verständnisvoll.
Wir standen nun auf und traten an die Schiffswandung. Er sah, daß ich einen Blick in die Landschaft tun wollte, und wartete, bis ich die Unterhaltung wieder aufnehmen würde.
Das linke Oderufer ist hüglig und malerisch, das rechte flach und reizlos. Der eigentliche Uferrand ist aber auch hier steil und abschüssig und die Wandung mit Weidengebüsch besetzt. Inmitten des gelblichen, um die Sommerzeit ziemlich wasserarmen Stromes schwimmen Inseln, und die Passage erweist sich, selbst bei genauer Kenntnis des Fahrwassers, als sehr schwierig. Vorn am Bugspriet stehen zwei Schiffsknechte mit langen Stangen und nehmen beständig Messungen vor, die um so unerläßlicher sind, als die Sandbänke ihre Stelle wechseln und heute hier und morgen dort sich finden.
Fluß, Ufer, Fahrt, alles hat den norddeutschen Charakter. Inzwischen ist es heller geworden, die Nebel haben der Sonne Platz gemacht, und mit dem Sonnenschein zugleich dringen, von rechts her, Glockenklänge zu uns herüber. Dorf und Kirche aber sind nicht sichtbar. Ich horche eine Weile; dann wend ich mich zu meinem Nachbar und frage: »Wo klingt das her?«
»Das ist die Siebenzentnerige von Groß-Rade – mein besonderer Liebling.«
»Was tausend«, fahr ich fort, »kennen Sie die Glocken hier herum so genau?«
»Ja, mein Herr, ich kenne sie alle. Viele davon sind meine eigenen Kinder, und hat man selber erst Kinder, so kümmert man sich auch um die Kinder anderer Leute.«
»Wie das? Haben Sie denn die Glocken gegossen? Sind Sie Gürtler oder Glockengießer? Oder sind Sie's gewesen?«
»Ach, mein Herr, ich bin sehr vieles gewesen: Tischler, Korbmacher, dazwischen Soldat, dann Former, dann Glockengießer; nun gieß ich Gips. Es hat mir alles nicht recht gefallen, aber das Glockengießen ist schön.«
»Da wundert's mich doppelt, daß Sie vom Erz auf den Gips gekommen sind.«
»Mich wundert es nicht, aber es tut mir leid. Wenn der ›Zink‹ nicht wäre, so göß ich noch Glocken bis diesen Tag.«
»Wieso?«
»Seit der Zink da ist, ist es mit dem reellen Glockenguß vorbei. In alten Zeiten hieß es ›Kupfer und Zinn‹, und waren's die rechten Leute, gab's auch wohl ein Stück Silber mit hinein. Damit ist's vorbei. Jetzt wird abgezwackt; von Silber ist keine Rede mehr; wer's billig macht, der hat's. Der Zink regiert die Welt und die Glocken dazu. Aber dafür klappern sie auch wie die Bunzlauer Töpfe. Ich kam bald zu kurz; die Elle wurde länger als der Kram; wer noch für Zinn ist, der kann nicht bestehen, denn Zinn ist teuer, und Zink ist billig.«
»Wieviel Glocken haben Sie wohl gegossen?«
»Nicht viele, aber doch sieben oder acht; die Groß-Radener ist meine beste.«
»Und alle für die Gegend hier?«
»Alle hier herum. Und wenn ich mir mal einen Feierabend machen will, da nehm ich ein Boot und rudere stromab, bis über Lebus hinaus. Wenn dann die Sonne untergeht und rechts und links die Glocken den Abend einläuten und meine Glocken dazwischen, dann vergeß ich vieles, was mir im Leben schiefgegangen ist, und vergeß auch den ›Turban‹ da.« – Dabei zeigte er auf die runde, kissenartige Mütze, die die Gipsfigurenhändler zu tragen pflegen und die jetzt, in Ermangelung eines anderen Platzes, der Goethe-Schiller-Statue über die Köpfe gestülpt war.
So plaudernd, waren wir, eine Viertelstunde später, bis Lebus gekommen. Der Gipsfigurenmann verabschiedete sich hier, und während das Boot anlegte, hatt ich Gelegenheit, die »alte Bischofsstadt« zu betrachten.
Freilich erinnert hier nichts mehr an die Tage früheren Glanzes und Ruhmes. Die alte Kathedrale, das noch ältere Schloß, sie sind hin, und eines Lächelns kann man sich nicht erwehren, wenn man in alten Chroniken liest, daß um den Besitz von Lebus heiße Schlachten geschlagen wurden, daß hier die slawische und die germanische Welt, Polenkönige und thüringische Herzöge, in heißen Kämpfen zusammenstießen und daß der Schlachtruf mehr als einmal lautete: »Lebus oder der Tod«. Unter allen aber, denen dieser Schlachtruf jetzt ein Lächeln abnötigt, stehen wohl die Lebuser selbst obenan. Ihr Stadtsiegel ist ein »Wolf mit einem Lamm im Rachen«; die neue Zeit ist der Wolf, und Lebus selbst ist das Lamm. Mitleidslos wird es verschlungen.
Lebus, die Kathedralenstadt, ist hin, aber Lebus, das vor dreihundert Jahren einen fleißigen Weinbau trieb, das Lebus existiert noch. Wenigstens landschaftlich. Nicht daß es noch Wein an seinen Berglehnen zöge, nur eben der malerische Charakter eines Winzerstädtchens ist ihm erhalten geblieben.
Die Stadt, so klein sie ist, zerfällt in eine Ober- und Unterstadt. Jene streckt sich, so scheint es, am First des Berges hin, diese zieht sich am Ufer entlang und folgt den Windungen von Fluß und Hügel. Zwischen beiden, am Abhang, und, wie es heißt, an selber Stelle, wo einst die alte Kathedrale stand, erhebt sich jetzt die Lebuser Kirche, ein Bau aus neuer Zeit. Die »Unterstadt« hat Höfe und Treppen, die an das Wasser führen; die »Oberstadt« hat Zickzackwege und Schluchtenstraßen, die den Abhang bis an die Unterstadt hemiedersteigen. Auf diesen Wegen und Straßen bewegt sich ein Teil des städtischen Lebens und Verkehrs. Gänse und Ziegen weiden dort unter Gras und Gestrüpp; Frauengestalten, zum Teil in die malerische Tracht des Oderbruchs gekleidet, schreiten bergab; den Zickzackweg hinauf aber steigt eben unser Freund, der Gipsfigurenmann, und seine »Aurora« schimmert im Morgenstrahl.
Nun aber Kommandowort vom Radkasten aus, und unser Dampfer schaufelt weiter.
Lebus liegt zurück, und wir treten jetzt, auf etwa eine Meile hin, in jenes Terrain ein, wo Stadt und Dorf, zu beiden Seiten des Flusses, an die Tage mahnen, die jenem Kunersdorfer 12. August vorausgingen und ihm folgten. Es sind drei Namen vorzugsweise, denen wir hier begegnen: Reitwein, Göritz und Ötscher, alle drei mit der Geschichte jener Tage verwoben.
In Reitwein erschien am 10. August die Avantgarde des Königs, um eine Schiffbrücke vom linken aufs rechte Oderufer zu schlagen. Man wählte dazu die Schmälung des Flusses, wo die alte Stadt Göritz, malerisch am Hügelabhang, dem Dorfe Reitwein gegenüberliegt. Am 10. abends erschien der König selbst und führte seine Bataillone (sechzig an der Zahl) ans andre Ufer; die Kavallerie ging durch eine Furt. In Göritz aber blieb General Flemming mit sieben Bataillons zur Deckung der Schiffbrücke zurück. Zwei Tage später, am Abend des 12., befanden sich die Trümmer der geschlagenen Armee an derselben Furt, an derselben Schiffbrücke. Aber das Spiel war vertauscht; statt von links nach rechts, ging es jetzt von rechts nach links. Die Brücke, die am Abend des 10. von Reitwein nach Göritz vorwärts geführt hatte, führte jetzt, am Abend des 12., von Göritz nach Reitwein zurück.
Der König verbrachte die Nacht, eine Viertelmeile südlich von der Schiffbrücke, im Dorfe Ötscher; er schlief auf Stroh in einer verödeten Bauernhütte. Auf dem Rücken Rittmeisters von Prittwitz, der ihn gerettet, schrieb er mit Bleistift die Worte an den Minister Finckenstein: »Alles ist verloren, retten Sie die königliche Familie; Adieu für immer.« Anderntags nahm er Quartier in Reitwein, damals noch den Burgsdorfs gehörig. Hier war es, wo er die berühmte, an den General Finck gerichtete Instruktion aufsetzte, in der er den Prinzen Heinrich zum Generalissimus ernannte und den Willen aussprach, daß die Armee seinem Neffen schwören sollte.
An diesen Plätzen führt uns jetzt unsere Fahrt vorüber. Ötscher, wiewohl nah gelegen, verbirgt sich hinter Hügeln, desto malerischer treten Reitwein und Göritz hervor. Schöner freilich muß der Anblick dieses Bildes gewesen sein, als die alte Göritzer Kirche, ein berühmter Wallfahrtsort, auf der Höhe des Hügels lag und sich mit der Kirche von Reitwein drüben begrüßte. Aber Göritz und seine Kirche sind in jedem Sinne von ihrer Höhe herabgestiegen. Keine Wallfahrer kommen mehr, und als sei es nicht länger mehr nötig, das berühmte Wallfahrtshaus, die Kirche, schon von weither sichtbar zu machen, hat man die neue Kirche (nachdem die alte, kurz vor der Zorndorfer Schlacht, von den Russen zerstört worden war) in der Tiefe wieder aufgebaut.
Die Göritzer Kirche hat uns zu guter Zeit an die Russen und die Zorndorfer Schlacht gemahnt; denn wir verlassen eben das Kunersdorfer Terrain, um in das von Zorndorf einzutreten.
Was wir zunächst erblicken, ist Küstrin, turmlos, grau, in dünne Nebel gehüllt die alte neumärkische Hauptstadt, um deren Rettung es sich handelte, als am 21. August 1758 der König von Schlesien her am linken Oderufer erschien. Alle Namen zu beiden Seiten des Flusses erinnern auch hier an Tage bitterer Bedrängnis und schwer erkauften Siegs.
Zuerst Gorgast am linken Oderufer. In Gorgast war es, wo der König seine chiffonniert aussehenden Truppen mit den glatt und wohlgenährt dastehenden Regimentern Dohnas vereinigte und sein Mißfallen in die Worte kleidete: »Meine sehen aus wie Grasteufel, aber sie beißen.«
Weiter flußabwärts die Fähre von Güstebiese. Ein wenig poetischer Name, aber doch voll guten Klangs. Hier setzte der König seine Regimenter über, als er von Küstrin aus jenen glänzenden Bogenmarsch ausführte, der ihn, genau da, wo der Gegner einen Frontangriff erwartete, plötzlich in den Rücken desselben führte.
Rechts hin, fast am Ufer des Flusses entlang, dehnt sich die Drewitzer Heide – ein grüner Schirm, der das eigentliche Schlachtfeld dem Auge des Vorüberfahrenden entzieht. Dahinter liegen die Dörfer und Stätten, deren Namen mit der Geschichte jenes blutigen Tages verwoben sind: die Neudammsche Mühle, der Zaber- und Galgengrund, endlich Zorndorf selbst.
Wir haben Küstrin passiert – ein scheuer Blick nur traf jenen halb verbauten Wallgang zwischen Bastion König und Bastion Brandenburg, wo am 6. November 1730 Kattes Haupt in den Sand rollte –; auch das Schlachtfeld liegt bereits hinter uns, das achtundzwanzig Jahre später diesen Terrainabschnitt zu historischem Ansehen erhob, und wir fahren nun, als hätten sich die Flußufer vorgesetzt, durch Kontraste zu wirken, in jene friedlich-fruchtbaren Gegenden ein, die, vor 100 oder 150 Jahren noch ein ödes, wertloses Sumpfland, seitdem so vielfach und mit so vielem Recht die Kornkammern unseres Landes genannt worden sind. Das Oderbruch dehnt sich auf Meilen hin zu unserer Linken aus.
Der Anblick, den es, im Vorüberfahren, vom Fluß aus gewährt, ist weder schön und malerisch, noch verrät er eine besondere Fruchtbarkeit; gegenteils, das Vorland, das sich dem Auge bietet, macht kaum den Eindruck eines gehegten Stück Wiesenlands, während die Raps- und Gerstenfelder, die sich golden dahinter ausdehnen, dem Auge durch endlose Damm- und Deichwindungen entzogen werden. Durch Damm und Deiche, die freilich, indem sie die Niederung gegen ihre früheren Überschwemmungen schützten, erst den Reichtum schufen, der sich jetzt hinter diesen Linien verbirgt.
Der Reichtum dieser Gegenden offenbart sich uns nicht in seinen goldenen Feldern, aber wir erkennen ihn doch an seinen ersten und natürlichsten Folgen – an den Dörfern, die er geschaffen. Da gibt es kein Strohdach mehr, der rote Ziegel lacht überall aus dem Grün der Wiesen hervor, und statt der dürftig hölzernen Kirchtürme des vorigen Jahrhunderts, die kümmerlich wie ein Schilderhaus auf dem Kirchendach zu sitzen pflegten, wachsen jetzt in solidem Backsteinbau – die Campanellen Italiens oft nicht unglücklich kopierend – die Kirchtürme in die Luft. An diesem Reichtume nehmen die Dörfer des andern (rechten) Oderufers teil, und ansteigend an der Hügelkette gelegen, die sich eine Meile unterhalb Küstrin am rechten Oderufer hinzuziehen beginnt, gesellen sich Schönheit und malerische Lage, viel mehr, als man in diesen Gegenden erwartet, zu dem Eindruck des Reichtums und beinahe holländischer Sauberkeit.
Nun sind wir über Amt Kienitz (ein altes Dorf, vor zwei Jahrhunderten dem General Görtzke, dem »Paladin des Großen Kurfürsten«, gehörig) und nun über Kloster Zellin hinaus; der Fluß wird schmäler, aber tiefer, und das Landschaftsbild verändert sich. Der Barnim liegt hinter uns, und wir fahren in die Uckermark hinein, wo sich uns Uferlandschaften erschließen, sehr ähnlich denen, wie sie die Stettiner Umgegend dem Auge bietet. Andere Namen, in nichts mehr an die triviale Komik von »Güstebiese« oder »Lietzegöricke« erinnernd, tauchen auf – Namen voll poetischem Klang und Schimmer: Hohensaaten, Raduhn und Hohen-Kränig.
Der Fluß, bis dahin im wesentlichen in einem Bette fließend, fängt an, ein Netz von Kanälen durch die Landschaft zu ziehen; hierhin, dorthin windet sich der Dampfer, aber eh es uns noch gelungen ist, uns in dem malerischen Wirrsal zurechtzufinden, tauchen plötzlich weiße Giebelwände, von Türmen und hohen Linden überragt, aus dem Landschaftsbilde auf. Noch eine Biegung, und das übliche Hoi-ho, das immer laut wird, wenn das Schiff sich einer Landungsstelle nähert, läßt sich aufs neue vernehmen. Eine alte Holzbrücke, mit Hunderten von Menschen besetzt, sperrt uns den Weg; ein Fangseil fliegt über unsere Köpfe weg, dem Brückengeländer zu; der Dampfer legt an. Ein Drängen, ein Grüßen, dazwischen das Läuten der Glocke. Vom linken Ufer her aber wirft ein weitläuftiger Bau, in Bäumen und Laubgängen halb versteckt, sein Spiegelbild in den Fluß. Es ist das alte Markgrafenschloß. Wir sind in Schwedt.