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Erstes Kapitel Berlin 1840 In der Wilhelm Roseschen Apotheke (Spandauer Straße)

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Ostern 1836 war ich in die Rosesche Apotheke – Spandauer Straße, nahe der Garnisonkirche – eingetreten. Die Lehrzeit war wie herkömmlich auf vier Jahre festgesetzt, so daß ich Ostern 40 damit zu Ende gewesen wäre. Der alte Wilhelm Rose aber, mein Lehrprinzipal, erließ mir ein Vierteljahr, so daß ich schon Weihnachten 1839 aus der Stellung eines »jungen Herrn«, wie wir von den »Kohlenprovisors« genannt wurden, in die Stellung eines »Herrn« avancierte. Der bloße Prinzipalswille reichte jedoch für solch Avancement nicht aus, es war auch noch ein Examen nötig, das ich vor einer Behörde, dem Stadt- oder Kreisphysikat, zu bestehen hatte, und bei diesem vorausgehenden Akte möchte ich hier einen Augenblick verweilen.

Etwa um die Mitte Dezember teilte mir Wilhelm Rose mit, daß ich »angemeldet« sei und demgemäß am 19. selbigen Monats um halb vier Uhr nachmittags bei dem Kreisphysikus Dr. Natorp, Alte Jakobstraße, zu erscheinen hätte. Mir wurde dabei nicht gut zumut, weil ich wußte, daß Natorp wegen seiner Grobheit ebenso berühmt wie gefürchtet war. Aber was half es. Ich brach also an genanntem Tage rechtzeitig auf und ging auf die Alte Jakobstraße zu, die damals noch nicht ihre Verlängerung unter dem merkwürdigen, übrigens echt berlinischen Namen »Neue Alte Jakobstraße« hatte. Das noch aus der friderizianischen Zeit stammende, in einem dünnen Rokokostil gehaltene Häuschen, drin Natorp residierte, glich eher einer Prediger- als einer Stadtphysikuswohnung, Blumenbretter zogen sich herum, und ich fühlte deutlich, wie die Vorstellung, daß ich nunmehr einem Oger gegenüberzutreten hätte, wenigstens auf Augenblicke hinschwand. Oben freilich, wo, auf mein Klingeln, die Gittertür wie durch einen heftigen Schlag, der mich beinah wie mit traf, aufsprang, kehrte mir mein Angstgefühl zurück und wuchs stark, als ich gleich danach dem Gefürchteten in seiner mehr nach Tabak als nach Gelehrsamkeit aussehenden Stube gegenüberstand. Denn ich sah deutlich, daß er von seiner Nachmittagsruhe kam, also zu Grausamkeiten geneigt sein mußte; sein Bulldoggenkopf, mit den stark mit Blut unterlaufenen Augen, verriet in der Tat wenig Gutes. Aber wie das so geht, aus mir unbekannt gebliebenen Gründen war er sehr nett, ja geradezu gemütlich. Er nahm zunächst aus einem großen Wandschrank ein Herbarium und ein paar Kästchen mit Steinen heraus und stellte, während er die Herbariumblätter aufschlug, seine Fragen. Eine jede klang, wie wenn er sagen wollte: »Sehe schon, du weißt nichts; ich weiß aber auch nichts, und es ist auch ganz gleichgültig.« Kurzum, nach kaum zwanzig Minuten war ich in Gnaden entlassen und erhielt nur noch kurz die Weisung, mir am andern Tage mein Zeugnis abzuholen. Damit schieden wir.

Als ich wieder unten war, atmete ich auf und sah nach der Uhr. Es war erst vier. Das war mir viel zu früh, um schon wieder direkt nach Hause zu gehn, und da mich der von mir einzuschlagende Weg an dem Hause der d'Heureuseschen Konditorei vorbeiführte, drin – was ich aber damals noch nicht wußte – hundertundfünfzig Jahre früher der Alte Derfflinger gewohnt hatte, so beschloß ich, bei d'Heureuse einzutreten und den »Berliner Figaro«, mein Leib- und Magenblatt, zu lesen, darin ich als Lyriker und Balladier schon verschiedentlich aufgetreten war. Eine spezielle Hoffnung kam an diesem denkwürdigen Tage noch hinzu. Keine vierzehn Tage, daß ich wieder etwas eingeschickt hatte, noch dazu was Großes – wenn das nun vielleicht drin stünde! Gedanke, kaum gedacht zu werden. Ich trat also ein und setzte mich in die Nähe des Fensters, denn es dunkelte schon. Aber im selben Augenblicke, wo ich das Blatt in die Hand nahm, wurden auch schon die Gaslampen angesteckt, was mich veranlaßte, vom Fenster her an den Mitteltisch zu rücken. In mir war wohl die Vorahnung eines großen Ereignisses, und so kam es, daß ich eine kleine Weile zögerte, einen Blick in das schon aufgeschlagene Blatt zu tun. Indessen dem Mutigen gehört die Welt; ich ließ also schließlich mein Auge darüber hingleiten, und siehe da, da stand es: »Geschwisterliebe, Novelle von Th. Fontane.« Das Erscheinen der bis dahin in mal längeren, mal kürzeren Pausen von mir abgedruckten Gedichte hatte nicht annähernd solchen Eindruck auf mich gemacht, vielleicht weil sie immer kurz waren; aber hier diese vier Spalten mit »Fortsetzung folgt«, das war großartig. Ich war von allem, was dieser Nachmittag mir gebracht hatte, wie benommen und mußte es sein; vor wenig mehr als einer halben Stunde war ich bei Natorp zum »Herrn« und nun hier bei d'Heureuse zum Novellisten erhoben worden. Zu Hause angekommen, berichtete ich nur von meinem glücklich bestandenen Examen, über meinen zweiten Triumph schwieg ich, weil mir die Sache zu hoch stand, um sie vor ganz unqualifizierten Ohren auszukramen. Auch mocht' ich denken, es wird sich schon 'rumsprechen, und dann ist es besser, du hast nichts davon gemacht und dich vor Renommisterei zu bewahren gewußt.

Mit diesen Ereignissen schloß 1839 für mich ab, und das neue Jahr 40 brach an. Ich wechselte nicht, wie das gewöhnlich geschieht, meine Stellung, sondern blieb noch fast ein Jahr lang als Avancierter in meiner alten Position. Hatte dies auch nicht zu bedauern. Es war ein sehr angenehmes Jahr für mich, was in sehr verschiedenen Dingen und, so sonderbar es klingt, auch in der frischen politischen Brise, die damals gerade ging, seinen Grund hatte. Denn mit dem Sommer 1840 oder, was dasselbe sagen will, mit dem am 7. Juni erfolgten Tode Friedrich Wilhelms III. brach für Preußen eine neue Zeit an, und ich meinerseits stimmte nicht bloß in den überall um mich her auf Kosten des heimgegangenen Königs laut werdenden Enthusiasmus ein, sondern fand diese ziemlich illoyale Begeisterung auch berechtigt, ja pflichtmäßig und jedenfalls im hohen Maße gesinnungstüchtig. Jetzt denk' ich freilich anders darüber und bekenne mich mit Stolz und Freude zu einer beinah schwärmerischen Liebe zu diesem lange nicht genug gewürdigten und verehrten Könige. Während meiner märkischen Arbeiten, die mich später, durch viele Jahre hin, mit allen Volksschichten in Dorf und Stadt in Berührung brachten, bin ich der Eigenart dieses Königs in von Mund zu Mund gehenden Geschichten und Anekdoten viele hundert Male begegnet, und in immer wachsendem Grade habe ich dabei den Eindruck gehabt: Welch ein herrlicher Mann! Wie mustergültig in seiner wundervollen Einfachheit und wieviel echte wirkliche Weisheit in jedem seiner, vom bloßen Espritstandpunkt aus angesehen, freilich oft prosaisch und nüchtern wirkenden Aussprüche. Wenn überhaupt noch absolut regiert werden soll, was ich freilich weder wünsche noch für möglich halte, so muß es so sein. Ganz Patriarch. Man hat ihm den Beinamen des »Gerechten« gegeben und dann, nach Berliner Art, darüber gewitzelt; aber dies Wort »der Gerechte« drückt es doch aus, und weil es keine Phrase, sondern eine Wahrheit war, war es eine große Sache. Dazu kam noch eines: für mich hat das hohe Ansehen, das der so oft als unbedeutend erklärte König in seiner eignen Familie genoß, immer eine besondre Bedeutung gehabt, wenigstens nach der moralischen Seite hin. Der kluge Kronprinz, sosehr er dem Vater überlegen war, war doch voll Verehrung und rührendster Liebe für ihn. Und so jedes Mitglied des Hauses, die Kinder wie die Schwiegerkinder. Selbst der eiserne Nikolaus konnte dem Zauber dieses schlichten Mannes, der trotzdem ein König war, nicht widerstehn. Er dachte nicht daran, wie's damals hieß, einen »Knäs« oder »Unterknäs« aus ihm machen zu wollen, sondern hatte nur, wie wahrscheinlich für keinen andern Sterblichen, ein Hochmaß von respektvoller und zugleich herzlicher Zuneigung für ihn. Das bewies er noch in des Scheidenden letzter Stunde.

So denn noch einmal: ein König, der, wie wenige, die Liebe seines Volkes verdiente, war an jenem 7. Juni 1840 heimgegangen, aber andrerseits war zuzugestehn – und darin lag die Rechtfertigung für vieles, was geschah und nicht geschah –, daß es politisch nicht so weiter ging; die Stürme von 89 und 13 hatten nicht umsonst geweht, und so war es denn begreiflich, daß das altfranzösische »Der König ist tot, es lebe der König« in vielen Herzen mit vielleicht zu freudiger Betonung der Schlußworte gesprochen wurde. Knüpften sich doch die freiheitlichsten und zunächst auch berechtigtsten Hoffnungen an den Thronfolger. Die Menschen fühlten etwas, wie wenn nach kalten Maientagen, die das Knospen unnatürlich zurückgehalten haben, die Welt plötzlich wie in Blüten steht. Auf allen Gesichtern lag etwas von freudiger Verklärung und gab dem Leben jener Zeit einen hohen Reiz. »Es muß doch Frühling werden.« Alle die, die den Sommer 40 noch miterlebt haben, werden sich dieser Stimmung gern erinnern.

Ich zählte, so jung und unerfahren ich war, doch ganz zu denen, die das Anbrechen einer neuen Zeit begrüßten, und fühlte mich unendlich beglückt, an dem erwachenden politischen Leben teilnehmen zu können. Allwöchentlich hatte ich, neben sonstigen Freistunden, auch einen freien Nachmittag, und mit der Feierlichkeit eines Kirchgängers, ja sogar in der sonntäglichen Aufgeputztheit eines solchen, begab ich mich, wenn dieser freie Nachmittag da war, regelmäßig zu Stehely, um hier allerlei Zeitungen: die Kölnische, die Augsburger, die Leipziger Allgemeine etc. zu lesen. Dieser Wunsch wurde mir freilich immer nur sehr unvollkommen erfüllt, denn es war die Zeit der sogenannten »Zeitungstiger«, die sich unersättlich auf die Gesamtheit aller guten Zeitungen stürzten und diese, grausam erfinderisch, entweder auf dem Stuhl, auf dem sie saßen, oder unterm Arm – oder auch vorn in den Rock geschoben – unterzubringen wußten. Ein Einschreiten dagegen war nicht möglich, denn die betreffenden Herren waren nicht nur Stehelysche Habitués, sondern zugleich auch Leute von gesellschaftlicher Stellung. Es hieß also sich in Geduld fassen, und manchmal wurde man auch belohnt. Aber selbst wenn alles ausblieb, so verließ ich trotzdem das Lokal mit dem Gefühl, mich, eine Stunde lang, an einer geweihten Stätte befunden zu haben.

In gehobener Stimmung nahm ich dann andern Tages meine Arbeit wieder auf und fand es in dieser Stimmung jedesmal leichter, mit meiner Umgebung zu verkehren.

Von dieser nun zunächst ein Wort.

Da war in erster Linie der alte Wilhelm Rose selbst. Dieser – übrigens erst ein Mann in der ersten Hälfte der Vierzig – war, auf Gesellschaftlichkeit hin angesehn, nichts weniger als interessant, aber doch ein dankbarer Stoff für eine Charakterstudie.

Hätte man ihn einen Bourgeois genannt – ich weiß nicht, ob das Wort damals schon im Schwange war –, so hätte er sich einfach entsetzt; er war aber doch einer. Denn der Bourgeois, wie ich ihn auffasse, wurzelt nicht eigentlich oder wenigstens nicht ausschließlich im Geldsack; viele Leute, darunter Geheimräte, Professoren und Geistliche, Leute, die gar keinen Geldsack haben oder einen sehr kleinen, haben trotzdem eine Geldsackgesinnung und sehen sich dadurch in der beneidenswerten oder auch nicht beneidenswerten Lage, mit dem schönsten Bourgeois jederzeit wetteifern zu können. Alle geben sie vor, Ideale zu haben; in einem fort quasseln sie vom »Schönen, Guten, Wahren« und knicksen doch nur vor dem Goldnen Kalb, entweder indem sie tatsächlich alles, was Geld und Besitz heißt, umcouren oder sich doch heimlich in Sehnsucht danach verzehren. Diese Geheimbourgeois, diese Bourgeois ohne Arnheim, sind die weitaus schrecklicheren, weil ihr Leben als eine einzige große Lüge verläuft. Daß der liebe Gott sie schuf, um sich selber eine Freude zu machen, steht ihnen zunächst fest; alle sind durchaus »Zweifelsohne«, jeder erscheint sich als ein Ausbund von Güte, während in Wahrheit ihr Tun nur durch ihren Vorteil bestimmt wird, was auch alle Welt einsieht, nur sie selber nicht. Sie legen sich vielmehr alles aufs Edle hin zurecht und beweisen sich und andern in einem fort ihre gänzliche Selbstsuchtslosigkeit. Und jedesmal, wenn sie diesen Beweis führen, haben sie etwas Strahlendes.

In diese Gruppe gehörte nun auch unser Wilhelm Rose, der, während er glaubte, mit der längsten Elle gemessen werden zu können, doch schon bei gewöhnlichster Zollmessung zu kurz gekommen wäre. Vierundeinhalbes Jahr lang hab' ich ihm in die Karten sehen können. Er war der Mann der ewigen sittlichen Entrüstung, und doch, wenn beispielsweise feinere, also kostspieligere Drogen, an deren Beschaffenheit etwas hing, zu Kauf standen – ich mag hier keine Details geben –, so wurde daran nicht selten gespart, gespart also an Dingen, an denen schlechterdings nicht gespart werden durfte. Dann war er freilich auf zwölf Stunden hin in einer kleinen Verlegenheit. Aber es war nicht die richtige. Er genierte sich bloß, weil er an die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit eines Kontrolliertseins dachte.

Daß unser Wilhelm Rose nebenher auch den zweiten großen Bourgeoiszug hatte: den, alles, was von ihm ausging oder ihm zugehörte, gründlich zu bewundern, versteht sich von selbst; seine Apotheke war die berühmteste, sein Laboratorium war das schönste, seine Gehülfen und Lehrlinge waren die besten oder doch wenigstens durch sein Verdienst am besten untergebracht, und seine Kerbelsuppe (die wir jeden Mittwoch kriegten – eine furchtbare Semmelpampe) war die frühlingsgrünste, die gesündeste, die schmackhafteste. Jegliches, was seine Hand berührte, nahm schon dadurch einen Höhenstandpunkt ein, in Wahrheit aber war alles nur knappzu mittelmäßig. Entschuldigt wurde diese tief in Komik getauchte Hochschätzung freilich durch zweierlei. Zunächst dadurch, daß die ganze Zeit so war: die Scheidung in echt und unecht, in reell und unreell, in anständig und unanständig hatte damals noch nicht stattgefunden; alles, mit verschwindenden Ausnahmen, war angefleckt und angekränkelt. Es ist denn auch ein barer Unsinn, immer von der »guten alten Zeit« oder wohl gar von ihrer »Tugend« zu sprechen; umgekehrt, alles ist um vieles besser geworden, und in der schärferen Trennung von gut und bös, in dem entschiedneren Abschwenken (namentlich auch auf moralischem Gebiete) nach rechts und links hin erkenne ich den eigentlichsten Kulturfortschritt, den wir seitdem gemacht haben. Ich bin sicher, jeder, der sich auf solche Fragen und Dinge nur einigermaßen versteht, wird mir hierin beistimmen.

Aber der alte Rose, wie schon angedeutet, wurde nicht bloß durch die Zeitläufte, nicht bloß durch den allgemeinen Gesellschaftszustand entschuldigt, sondern ebensosehr oder vielleicht mehr noch durch seinen speziellen Lebensgang, will sagen durch das Milieu, darin er stand, auch, von Kindheit an, immer gestanden hatte. Sein Vater war ein ausgezeichneter Mann gewesen, und seine beiden Brüder, Heinrich und Gustav Rose, waren es noch. Unter diesen beiden Berühmtheiten bewegte er sich als ein Unberühmter, immer beinah krampfhaft bemüht, sich durch irgendwas Apartes als ein Ebenbürtiger neben ihnen einzureihn. Das führte denn natürlich zu lauter Halbheiten, unter denen sein Geschäft, sein guter Verstand und zuletzt auch sein Charakter zu leiden hatten. Er wurde mehr und mehr eine Zwittergestalt, ein Mann, der Apotheker hieß, während er doch eigentlich keiner war, weil er sich eben zu gut dafür hielt, und der nun allerlei Plänen und Aufgaben nachging, zu deren Bewältigung er weder die äußeren noch die inneren Mittel besaß. Obenan stand hier das Reisen. Er ging darin so weit, daß er sich ganz ernsthaft einbildete, etwas wie ein Entdecker oder Forschungsreisender zu sein, eine Gruppe von Personen, zu der er sich in Wirklichkeit doch nur verhielt wie ein Schlachtenbummler zu Moltke. Natürlich war er in Italien, Frankreich und England gewesen und hatte von London her – ganz charakteristisch für ihn und leider auch für unsre damaligen Gesamtzustände – die große Nachricht mitgebracht, »daß das Annähen eines Knopfes einen Schilling koste«. Da hatte man den Weltreisenden, der über einen Sechser nicht fortkonnte. Paris, London, Italien! Sein eigentlichstes Tummelfeld aber war die Schweiz. Hier bestieg er Berge bis zu 6000 Fuß und kam davon mit einer Siegermiene zurück, als habe sich etwas Ungeheuerliches zugetragen. Zu dieser Einbildung war er nun freilich bis zu einem gewissen Grade berechtigt; er litt nämlich, weil er kurzhalsig und ein Asthmatiker war, unter »Rigi« und »Schyniger Platte« ganz so, wie wenn er den Popokatepetl erstiegen hätte, und unterzog sich dieser Unbequemlichkeit auch nur deshalb, weil er nur so seine zweite, größere und weit über die Reiserei hinausgehende Leidenschaft zu befriedigen vermochte, die: vor einem aus jungen und zum Teil recht hübschen Professorenfrauen zusammengesetzten Kreise seine Reisevorträge halten zu können. Er war dann, den ganzen Tag über, in einer höchsten Aufregung, schnaufte durchs ganze Haus hin – wie denn Schnaufen überhaupt eine Haupteigenschaft von ihm war – und schleppte dabei Reliefkarten und illustrierte Werke vier Treppen hoch auf einen kleinen achteckigen Turm hinauf, der, ganz oben, mit einem mit vielen bunten Aussichtsglasscheiben reich ornamentierten Zimmer abschloß. Stieg man dann, und zwar durch eine aufzuklappende Lukentür, noch etwas höher hinauf, so hatte man, von einer umgitterten Plattform aus, einen wundervollen Überblick über Alt-Berlin. In diesem Turmzimmer, das nach Alchimie und Astrologie, nach Faust und Seni schmeckte, versammelten sich die zur Vorlesung geladenen Damen, und ich sage schwerlich zuviel, wenn ich ausspreche, daß der alte Rose in diesem Allerheiligsten die glücklichsten Stunden seines Daseins verbracht habe. Daß die Damen von einem gleichen Glücksgefühl erfüllt gewesen wären, möchte ich bezweifeln, weil der Vortragende, in Verkennung seiner Gaben, auch allerlei Witziges und Humoristisches einzustreuen liebte, will also sagen grade das, was ihm, neben Grazie, die Natur am meisten versagt hatte.

Dies alles klingt nun ein wenig lieblos und ist insoweit auch unverdient, als mein Lehrherr, gemessen an der Mehrzahl seiner Kollegen, immer noch von einer gewissen Überlegenheit war; in einem allerwichtigsten Punkt aber war er doch wirklich um ein erkleckliches schlimmer als diese. Das war, wie schon angedeutet, die tief eingewurzelte Vorstellung von seiner sittlichen Potenz, eine Vorstellung, deren ungewöhnliches Höhenmaß nur noch von ihrer Unberechtigtheit übertroffen wurde.

Soviel über König Artus selbst, woran ich zunächst nur noch ein Wort über seine Tafelrunde, will sagen seine Gehülfen und Lehrlinge, zu knüpfen habe. Diese letztren, die Lehrlinge also, waren – was sich auch später, in andren Offizinen, immer wiederholte – allerliebste junge Leute, frisch, gescheit, talentvoll, aus denen, ausnahmslos, auch was geworden ist. Daß dem so sein konnte, lag daran, daß sie sämtlich aus guten Häusern stammten, also die berühmte »gute Kinderstube« gehabt hatten. Die Bedeutung davon ist meist entscheidend fürs Leben und gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Die altpreußische Redensart »Je ärmer, je besser« ist eine Torheit. Gäbe es eine einfache Armut, eine Armut an sich, so ließe sich über den Wert des bloßen Entbehrenlernens streiten; aber den von der landesüblichen Armut unzertrennlichen Druck, diesen und seine Wirkung – ein paar Kraftnaturen natürlich abgerechnet – werden die Durchschnittmenschen nicht wieder los. Und deshalb waren denn auch die Gehülfen ein vorwiegend minderwertiges Material, weil sie meist aus kleinen elenden Verhältnissen herkamen. Sie katzbuckelten und setzten sich dann zur Entschädigung aufs hohe Pferd, wo sie's irgendwie glaubten riskieren zu können. Scheiterten sie auch damit, so blieb ihnen immer noch das Intrigieren. Die besten waren deshalb in der Regel die, die sich schon der Karikatur näherten, und wenn sie nicht die besten waren, so waren sie doch jedenfalls die interessantesten. Unter diesen stand mein Freund Martin Döring obenan. Er war, eh er Apotheker wurde, mehrere Jahre lang in Wiesbaden oder Biebrich Soldat gewesen, weshalb wir ihn »unsren Nassau-Usinger« nannten. Er hatte ganz die Haltung eines kleinstaatlichen Unteroffiziers aus dem vorigen Jahrhundert, gradlinig und steif wie ein Ladestock, langer Rock, schwefelgelbe Weste und eine hohe schwarze Militärbinde. Martin Döring, ein guter Kerl, war wohl schon über vierzig. Unvergeßlich ist er mir durch ein besondres Malheur geworden, das eines Tages über ihn hereinbrach. Er war eigentlich sehr tugendhaft; einmal aber litt er doch Schiffbruch und kam dadurch in die Lage, sich eines Arztes versichern zu müssen. Er wählte dazu, höchst unklugerweise, den Roseschen Hausarzt, Geheimrat Dr. Bartels – Großvater des gegenwärtigen Sanitätsrats –, der ihn einfach an die Luft setzte, nachdem er ihm vorher eine Rede gehalten, in der das Wort »ungehörig« in allen möglichen und zum Teil sehr starken Schattierungen wiederkehrte. Der arme Mensch wollte sich denn auch das Leben nehmen, beruhigte sich aber wieder, nachdem er sich, in einer beneidenswert würdigen Haltung, über »Humanität« und »christliche Gesinnung«, die beide durch Bartels schwer geschädigt worden seien, gegen mich ausgesprochen hatte.

Zur selben Zeit, als wir uns dieses guten »Nassau-Usingers« erfreuten, hatten wir auch einen viven kleinen Sachsen in unsrer Mitte, der ein Bruder des damals noch unberühmten und seinen städtischen Beinamen noch nicht führenden Schulze-Delitzsch war. Dieser letztre, zu jener Zeit noch Assessor, sprach öfter bei uns vor und brachte mir seine nun wohl schon längst in Vergessenheit geratenen Dichtungen mit, an denen ich mich aufrichtig erbaute. Besonders an einem Liede, das glaub' ich »Der Verbannte« oder »Der Geächtete« hieß und mit den Worten schloß:

Frei allein sind im Walde die Vögel,

Und ich, ich bin vogelfrei...

Das erschien mir großartig, und ich war ganz hingerissen davon.

Ich habe bis hierher von den Personen im Hause gesprochen und möchte nun auch erzählen, wie das Leben darin war. Dies hatte manches Eigentümliche, was zum Teil an der lokalen Umgebung lag, zu der, wie schon eingangs erwähnt, auch die Garnisonkirche gehörte. Diese griff mannigfach in unser Leben ein. Meist um Ostern und Pfingsten herum gab es in dieser Kirche große Musikaufführungen, Oratorien von Graun, Händel, Mendelssohn, und an solchem Oratoriumstage verwandelte sich dann unsre Apotheke in eine Art Tempelvorhalle, drin die Billets verkauft wurden. Ich war jedesmal der »Mann am Schalter« und hatte dabei das Vergnügen – statt der üblichen Sommersprossenschönheiten mit krausem roten Haar, die Kurellasches Brustpulver oder Lippenpomade kauften –, ein gut Teil der vornehmen Berliner Welt an meinem Schiebefenster erscheinen zu sehn. Zum Schluß dann, wenn an weitren Billetverkauf nicht mehr zu denken war, ging ich auch wohl selber in die Kirche, blieb aber nie lange. Der erste Eindruck, wenn die Töne mächtig einsetzten, war immer groß, und ich fühlte mich wie gen Himmel gezogen; aber nach zehn Minuten schon kam eine gewisse Schläfrigkeit über mich, und ich machte dann, daß ich wieder fortkam. So ist es mir, bei großen Musikaufführungen, mein Lebelang ergangen. Man muß etwas davon verstehn, muß folgen können; kann man das nicht – und die meisten bilden sich wohl nur ein, daß sie's können –, so wird das »angenehme Geräusch« sehr bald langweilig. Ich bin überzeugt, daß gerade wirkliche Musiker mir hierin recht geben werden; es ist eben nicht für jeden. Der berühmte Satz »Kunst sei für alle« ist grundfalsch; Kunst ist umgekehrt für sehr wenige, und mitunter ist es mir, als ob es immer weniger würden. Nur das Beefsteak, dem sich leicht folgen läßt, ist in einer steten Machtsteigerung begriffen.

Unsre Apotheke war aber nicht bloß eine Verkaufsvorhalle für die Garnisonkirchenkonzerte, der alte Rose suchte auch was darin, sein Haus selbst auf eine gewisse Kunsthöhe zu heben. Ohne was von diesen Dingen zu verstehn, fand er es doch fein und seines Namens würdig, sich um alles Dahingehörige zu kümmern und innerhalb eng gezogener Grenzen sogar den Mäzen zu spielen. Er verstieg sich dabei bis zu Bilderankäufen – kleine italienische Landschaften –, und allerlei höhere Kunstleute gingen ein und aus, darunter Schinkel, der durch seine Frau ein ziemlich naher Verwandter des Hauses war. Trotz all dieser Allüren aber stand Kunst erst in zweiter Reihe; weit darüber hinaus wurde, wenigstens dem Anscheine nach, das Literarische gepflegt. W. Rose war Mitbegründer eines eine bestimmte Zahl von Professorenfamilien umschließenden Lesezirkels, und jeden dritten oder fünften Tag erschienen moderne Bücher in merkwürdig guten Einbänden, die von mir in Empfang genommen und an eine für sie bestimmte Stelle niedergelegt wurden. Aber damit war auch eigentlich alles getan. Alle diese Bücher blieben an der erwähnten Stelle liegen und wanderten nur sehr ausnahmsweise die Treppe hinauf, in die Wohn- und Familienräume. Der einzige, der wirklichen Nutzen davon zog, war ich. Mit besondrer Regelmäßigkeit erschien zu meiner großen Freude Gutzkows »Telegraph«, wahrscheinlich jedesmal ein Sammelband, der aus einer bestimmten Anzahl von Nummern bestehen mochte. Beinah alles, was ich vom »Jungen Deutschland« weiß, weiß ich aus der Zeit her, und Mundt, Kühne, Laube, Wienbarg – Gutzkows selbst ganz zu geschweigen – waren damals Haushaltworte für mich. Von Wienbarg las ich eine mich ganz hinreißende Geschichte, die den Titel führte: »Byrons erste Liebe«. Wenn dann der alte Rose spät nach Mitternacht aus einer Gesellschaft heimkam und mich über der sonderbaren Lektüre betraf, so war er damit freilich nicht recht einverstanden, unter anderm auch schon deshalb nicht, weil ich immer alle Flammen brennen ließ, also sehr viel Gas konsumierte. Daneben aber klang es in seiner glücklicherweise nicht bloß von Sparsamkeitsrücksichten, sondern auch von Eitelkeit erfüllten Seele: »Nun ja, ja, für gewöhnlich ginge das nicht, für gewöhnlich ist eben darauf zu halten, daß die jungen Leute ›den alten Hagen‹ – ein berühmtes altes Apothekerbuch – lesen. Dieser hier liest statt dessen Gutzkow. Zunächst durchaus ungehörig. Aber in der Roseschen Apotheke darf so was am Ende vorkommen: das ist eben das, wodurch wir uns von dem Gros der übrigen unterscheiden. Das Rosesche muß mit einer andern Elle gemessen werden.« Und so blieben mir die Kränkungen erspart, die sich sonst nur zu häufig an solche Dinge knüpfen.

So waren die Personen, so war das Leben im Hause, Schilderungen, bei denen ich bereits an mehr als einer Stelle mit einklingen ließ, wie mein eignes Tun verlief. Aber über diesen letztern Punkt möcht' ich mich doch noch etwas ausführlicher auslassen dürfen.

Die beste Zeit im Hause war immer der Sommer, wo wir, weil die Prinzipalität dann auf ganze Monate hin ausflog, uns selbst überlassen blieben und einem Vizekönige unterstellt wurden. Solche Vizekönige sind oft strenger als die eigentlichen Herrscher, aber man nimmt den Kampf mit ihnen doch leichter auf; man sieht ihre Autorität nicht für voll an oder geht davon aus: »Ach, diese armen Teufel müssen eine Ernsthaftigkeitskomödie bloß spielen; eigentlich wären sie gern so ausgelassen wie ihr selbst.« Im ganzen lag es so, daß wir, während dieser herrenlosen Zeit, ordentlich und ehrlich unsre Schuldigkeit taten, aber in den Freistunden um vieles ungebundner auftraten. Ich nun schon gewiß. Solange ich Lehrling war, waren dieser Ungebundenheit immer bestimmte Grenzen gezogen, aber vom Sommer 1840 ab benutzte ich mein inzwischen eingetretenes Avancement zu allerhand Tollheiten, und eines Tages gab ich sogar ein Fest, ein reines Bacchanal, wenn ich die Dürftigkeit der Mittel erwäge, die mir zur Verfügung standen. Mein im Hinterhause gelegenes Zimmer war ausgeräumt worden, um eine lange Tafel decken zu können, an der nun, bunt untereinandergemischt, meine ganze Kollegenschaft und meine literarischen Freunde saßen, unter diesen auch ein junger Offizier von der Garde, der aber wohlweislich seinen Offiziersrock mit einem Durchschnittszivil vertauscht hatte. Das Fest selbst galt meinem eben damals Berlin verlassenden Freunde Egbert Hanisch, den ich in einem spätren Kapitel ausführlicher zu schildern haben werde. Waldmeisterbowlen wurden in immer neuer Zahl und Menge gebraut, den ganzen Tisch entlang standen Vergißmeinnichtkränze in Schüsseln, Toaste drängten sich an Toaste, und so sangen wir bis in die Nacht hinein. Mir ist nachträglich immer das hohe Maß von Freiheit erstaunlich, das sich die Jugend unter allen Umständen zu verschaffen weiß. Dabei muß ich noch hinzusetzen, daß das, was ich damals pekzierte, nur ein schwacher Ausläufer dessen war, was, Mitte der dreißiger Jahre, meine Lehrlingsvorgänger geleistet hatten. Einer dieser letztern war ein junger Falkenberg, entzückender Kerl, angehender oder auch schon etablierter Don Juan und dabei Sohn eines richtigen, in seiner Sphäre sogar berühmt gewordenen Polizeirats. Dieser junge Falkenberg nun – er besaß später die Viktoria-Apotheke, Friedrichstraße, dicht am Belle-Alliance-Platz – war ein Ausbund von Keckheit und Ausgelassenheit, worin er nur noch von seinem ältren Kollegen, einem Roseschen Neffen, übertroffen wurde. Mit diesem zusammen hatte Falkenberg, in Tagen und Wochen, wo sie gemeinschaftlich den Nachtdienst hatten, die ganze Spandauer-Straßen-Gegend devastiert und auf den Kopf gestellt, und zwar dadurch, daß sie, der eine mit einer kleinen festen Leiter, der andre mit allerlei Handwerkszeug ausgerüstet, überall die Geschäftsbilder abbrachen und diese vertauschten, so daß, wo beispielsweise »Pastor Berduscheck« wohnte, den Tag darauf »Hebamme Mittermeier« zu lesen war und umgekehrt. Wie sich denken läßt, kam es ihnen bei diesem Treiben darauf an, sich in Anzüglichkeiten zu überbieten. Mitunter aber scheiterten sie, wenn sie vor einem plötzlich sichtbar werdenden Nachtwächter die Flucht ergreifen mußten; in solchem Falle nahmen sie dann die bereits abgerissenen, aber noch nicht umgetauschten Schilder einfach als gute Prise mit nach Hause. Diese Prisenstücke hatten sich, wie sich denken läßt, im Laufe zweier Jahre zu einem förmlichen, in einem Kohlenkeller untergebrachten Museum erweitert. Da standen und lagen sie, verstaubt und vergessen, bis der endliche Abgang des vorgenannten Roseschen Neffen ihnen noch einmal zu einer fröhlichen Auferstehung verhalf. Falkenberg, dem Scheidenden ein Fest gebend, wandelte das gemeinschaftlich von ihnen bewohnte Zimmer in eine Art Ruhmeshalle um, drin all die geraubten Gegenstände – darunter namentlich Doktorklingeln mit der Aufschrift »Nachtglocke« sowie auch von Weißbier- und Budikerkellern abgebrochene »Genrestücke« – hoch aufgespeichert waren. Alle diese Spolia opima standen, lagen oder hingen umher, Tannengirlanden dazwischen, und, unter Absingung wehmutsvoller Lieder, gedachte man der schönen Räuberzeit, um auf immer Abschied von ihr zu nehmen.

Neben diesem Übermute verschwand natürlich mein Zauberfest, das, wenn ich nicht irre, in den Juli des Sommers vierzig fiel. Anfang September kam dann der alte Rose zurück. Ich seh' ihn noch, wie er mit einem Male vor uns stand: der auf kurzem Halse sitzende Kopf in einer Schnurenkapuze – wie man ihnen auf alten Schweizer- oder Hussitenbildern begegnet –, dazu ganz verbrannt im Gesicht vom ewigen Bergklettern und die Augen leuchtend von Entdecker- und Erobererglück. Denn er hatte mal wieder an einer vor ihm noch unbetretenen Stelle gestanden oder bildete sich's wenigstens ein.

Armer Enthusiast, dein Glück sollte nicht lange dauern! Gleich am andern Morgen durchschritt er sein Gewese, zog sich dann, als er den Rundgang beendet, in sein nur durch einen schmalen Flur von der Apotheke selbst getrenntes Zimmer zurück und wollte hier sehr wahrscheinlich gleich mit Aufzeichnung all der erlebten Herrlichkeiten beginnen. Aber das Schicksal hatte, für diesen Tag wenigstens, anders über ihn beschlossen. In seiner Abwesenheit nämlich war es, unter den Gehülfen, zu Bildung zweier feindlicher Parteien gekommen, die sich nun gegenseitig verklagten und mich mitschleppten, um ihnen nötigenfalls als Zeuge dienen zu können. Jede Partei trug denn auch ihre Sache vor, und der alte Rose hörte eine Weile ruhig zu, wenn man ein dampfmaschinenartiges Prusten und Schnauben ein ruhiges Zuhören nennen kann. Endlich aber unterbrach er die Zänkerei, weil er seinen Unmut nicht länger bezwingen konnte: »Meine Herren... ich bitte Sie... haben Sie Mitleid mit einem alten Manne. Haben Sie denn kein Gefühl für meine Lage...? Da war ich dritthalb Monat in einer großen Natur, ja, meine Herren, in einer sehr großen Natur, und nun komme ich zurück, erhoben in meinem Gemüt, erhoben und glücklich, und das erste, was ich hier hören muß, sind Ihre Nichtigkeiten, Ihre Kleinheiten, Ihre Jämmerlichkeiten. Oh, oh... Ich dächte, Sie hätten mehr Rücksicht auf mich nehmen können.«

Und so ging es noch eine Weile weiter.

Er hatte mit seiner »sittlichen Empörung« aber mal wieder total unrecht und erwies sich nur aufs neue als jener Bourgeois, als den ich ihn schon eingangs zu schildern versucht habe. Wie's uns in den dritthalb Monaten ergangen war – gut genug, aber es konnte doch auch schlecht gewesen sein –, war ihm vollkommen gleichgültig; er fand es »kleinlich« und »elendiglich«, daß sich zwei Menschen gezankt hatten, nicht weil sie sich überhaupt gezankt, denn er konnte sich auch zanken, sondern lediglich, weil ihm dieser Zank unbequem war und ihn hinderte, seine Reisebeschreibung frischweg zu beginnen. Er hatte bloß einen Schein des Rechts auf seiner Seite. Daß es Interessen neben den seinigen gab, leuchtete ihm nicht ein; wir waren einfach Spielverderber. Er gehörte ganz in die Klasse der naiven Egoisten.

In ebendiesem Sommer vierzig war ich sehr fleißig. Wie dies möglich war, ist mir in diesem Augenblick ziemlich unfaßlich. Den Tag über treppauf, treppab, so daß von Muße für Nebendinge keine Rede sein konnte, dazu nachts wenig Schlaf, weil nur allzuhäufig geklopft und geklingelt und ellenlange Rezepte durch eine kleine Kuckluke hineingereicht wurden. Ich weiß also wirklich nicht, wo die Zeit für mich herkam. Aber sie fand sich trotzdem. Ich kann es mir nur so erklären, daß meine geschäftliche Tätigkeit in zwei sehr verschiedene Hälften zerfiel und daß auf vier Wochen »Frontdienst« immer vier Wochen in der »Reserve« folgten. Der Frontdienst nahm mich jedesmal völlig in Anspruch, kam ich dann aber in die Reserve, das heißt ins Laboratorium, wo jede Berührung mit dem Publikum aufhörte, so besserte sich die Situation sehr wesentlich. Hier paßte mir alles vorzüglich, und schon der hohe gewölbte Raum heimelte mich an, was mir aber ganz besonders zustatten kam, das war eine für mich wie geschaffene Beschäftigung, die meiner, durch einen glücklichen Zufall, hier harrte.

Dieser Zufall war der folgende.

Der alte Wilhelm Rose hatte geschäftliche Beziehungen nach England hin, und diese Beziehungen trugen ihm – immer natürlich mit der Elle von damals gemessen – enorme Bestellungen auf einen ganz bestimmten Artikel ein. Dieser Artikel hieß Queckenextrakt oder Extractum Graminis. Jeder Eingeweihte wird nun lachen, weil er eben als Eingeweihter weiß, daß es keinen gleichgültigeren und beinah auch keinen obsoleteren Artikel gibt als Extractum graminis. In England aber muß es damals Mode gewesen sein, statt unsrer uns nach Marienbad und ähnlichen Plätzen führenden Brunnenkuren eine Queckenextraktkur durchzumachen – nur so läßt es sich erklären, daß wir große Fässer davon nach London, ganz besonders aber nach Brighton hin zu liefern hatten. Alles drehte sich um diesen Exportartikel. Mir fiel die Herstellung desselben zu, und so saß ich denn, tagaus tagein, mit einem kleinen Ruder in der Hand, an einem großen eingemauerten Zinnkessel, in dem ich, unter beständigem Umherpätscheln, die Queckensuppe kochte. Schönere Gelegenheit zum Dichten ist mir nie wieder geboten worden; die nebenherlaufende, durchaus mechanische Beschäftigung, die Stille und dann wieder das Auffahren, wenn ich von der Eintönigkeit eben schläfrig zu werden anfing – alles war geradezu ideal, so daß, wenn zwölf Uhr herankam, wo wir unser Räuberzivil abzulegen und uns für »zu Tisch« zurechtzumachen hatten, ich die mir dadurch gebotene Freistunde jedesmal zum Niederschreiben all dessen benutzte, was ich mir an meinem Braukessel ausgedacht hatte. Bevor der Herbst da war, hatte ich denn auch zwei größere Arbeiten vollendet: eine Dichtung, die sich »Heinrichs IV. erste Liebe« nannte, und einen Roman unter dem schon das Sensationelle streifenden Titel: »Du hast recht getan«.

Der Stoff zu der erstgenannten epischen Dichtung war einer Zschokkeschen Novelle, der Roman einem Ereignis entnommen, das sich eben damals in einem abgelegenen Teile von Mark Brandenburg zugetragen hatte. Folgendes war der Verlauf: Eine schöne Amtsratstochter, an einen Oberförster verheiratet, lebte seit ein paar Jahren in einer sehr glücklichen Ehe. Da mit einem Male stellte sich ein mauvais sujet bei ihr ein, ein Mann von kaum dreißig, der früher als Gärtner oder Jäger in ihres Vaters Diensten gestanden und mit dem sie damals ein Liebesverhältnis unterhalten hatte. Der forderte jetzt Geld, überhaupt Unterstützung von ihr, weil er arm und elend sei. Sie gab ihm denn auch, was sie hatte. Dies wiederholte sich mehrere Male, und weil ihre Mittel zuletzt erschöpft waren und sie nicht mehr aus noch ein wußte, der Strolch aber immer zudringlicher wurde, so beschloß sie, der Sache ein Ende zu machen. Sie lud ihn in den Wald zu einer neuen Begegnung ein, zu der er auch kam, und zwar bewaffnet, weil er der Sache nicht recht mehr trauen mochte. Ganz zuletzt aber, als er sich wieder in der Liebhaberrolle zu versuchen trachtete, war er unvorsichtig genug, das Gewehr beiseite zu stellen. Im selben Augenblicke griff sie danach und schoß ihn über den Haufen. Dann ging sie zurück, um ihrem Manne zu sagen, wie's stünde. Dieser war mit allem einverstanden und sagte ruhig: »Du hast recht getan.« Der Spruch der Gerichte, vor die die Sache kam, lautete auf etliche Jahre Gefängnis, ein Urteil, das der König in kurze Festungshaft in Glatz oder Kosel umwandelte. Nachdem die junge Frau hier Gegenstand allgemeiner Huldigung gewesen war, kehrte sie in die Oberförsterei zurück, von ihrem Manne im Triumph eingeholt. – So die Geschichte, die mich begeistert hatte; der Naturalist steckte mir schon im Geblüt. Was ich geschrieben, schickte ich an ein zu jener Zeit vielgelesenes Blatt, das, glaub' ich, der »Volksfreund« hieß, erhielt es aber mit dem Bemerken zurück, »es ginge nicht; es sei zu anzüglich.« Ich beruhigte mich dabei und deponierte das Manuskript, weil ich bald danach Berlin verließ, in die Hände eines Bekannten von mir. Wie mir berichtet worden, ist dann alles viele Jahre später, während ich im Auslande war, irgendwo gedruckt worden, eine Sache, die mir mit einem andern Romane noch ein zweites Mal passiert ist. Es war diese zweite Arbeit die Übersetzung einer sehr guten Erzählung der Mrs. Gore. Titel: »The money-lender«. Ein armer Anfänger kann seine Sachen, sie seien gut oder schlecht, nie recht anbringen, weil er nicht Bescheid weiß; hat dann aber ein Geschäftskundiger, der mitunter in ziemlich sonderbarer Weise zu solchem Manuskripte gekommen ist, die Sache in Händen, so ist es für den wie bar Geld; kriegt er nicht viel, so kriegt er wenig.

»Du hast recht getan« hatte für mich noch ein Nachspiel oder dergleichen, um dessentwillen ich überhaupt in solcher Ausführlichkeit bei der Geschichte verweilt habe.

Sommer zweiundneunzig, also zweiundfünfzig Jahre nach Niederschreibung jener Jugendarbeit, saß ich in einer Sommerwohnung in Schlesien, den schönen Zug des Riesengebirges als Panorama vor mir. Eines Morgens traf »eingeschrieben« ein ziemlich umfangreiches Briefpaket ein, augenscheinlich ein Manuskript. Absender war ein alter Herr, der, zur Zeit als Pensionär in Görlitz lebend, in seinen besten Mannesjahren Bürgermeister in jener Stadt gewesen war, in deren Nähe die vorerzählte Tragödie gespielt und in deren Mauern die Prozeßverhandlung stattgefunden hatte. Während seiner Amtsführung war ihm die Lust gekommen, sich eingehender mit jener Cause célèbre zu beschäftigen, und was er mir da schickte, war das den Akten entnommene Material zu einem, wie er mit Recht meinte, »märkischen Roman«. In den Begleitzeilen hieß es: »Ich schicke Ihnen das alles; denn Sie sind der Mann dafür, und ich würde mich freun, den Stoff, der mir ein sehr guter zu sein scheint, durch Sie behandelt zu sehn.«

Man stelle sich vor, wie das auf mich wirkte. Die Beantwortung des Briefes war nicht leicht, und ich schrieb ihm ausweichend, »ich sei zu alt dafür.« Wenn aber dem liebenswürdigen Herrn diese »Mitteilungen aus meinem Leben« in Blatt oder Buch zu Gesicht kommen sollten, so wird er aus ihnen den eigentlichen Grund meiner Ablehnung ersehn. Ihm diesen eigentlichsten Grund zu schreiben, war damals unmöglich; es hätte auf ihn wirken müssen, wie wenn man einen freundlichen Anekdotenerzähler undankbar mit dem Zurufe: »Kenn' ich schon« unterbricht.

Von Zwanzig bis Dreißig

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