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UNSERE ÜBERSIEDLUNG NACH SWINEMÜNDE
– ANKUNFT DASELBST

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Das halbe Jahr bis zur Übernahme des neuen Geschäfts verging langsam, aber es verging. Etwa Ende Mai begann das Verpacken und Aufladen unseres inzwischen durch den Tod des Großvaters vermehrten Mobiliarvermögens, und als vier Wochen später die Nachricht kam, daß alles glücklich in der neuen Heimat angelangt sei, brachen wir am Johannistage 1827 auf, um selber die Reise dorthin zu machen. Meine Mutter war nicht mit dabei, sie hatte sich Mitte Juni nach Berlin begeben, um sich daselbst einer Nervenkur bei dem damals berühmtesten Arzte, dem Geheimrat Horn, zu unterziehn. Horn empfahl ihr das, was noch heute empfohlen wird. »Verpflegen Sie sich gut, meine verehrte Frau« (man sagte damals in bürgerlichen Kreisen noch nicht »meine gnädige Frau«), »und suchen Sie sich unangenehmen Eindrücken nach Möglichkeit zu entziehn.« Und gerade so wie jetzt, dieser ärztliche Rat half auch, solange es möglich war, ihm nachzukommen. In Berlin, unter den dort lebenden Freundinnen aus der Lionnetschen Pension, hatte sich das tun lassen; als meine Mutter aber etliche Wochen später in Swinemünde eintraf und vieles anders fand, als sie wünschte, war es mit »Vermeidung unangenehmer Eindrücke« vorbei, und die Nervenzustände stellten sich wieder ein.

Unsere Reise hatte mittlerweile begonnen und ging, auf drei Tage berechnet, auf nächstem Wege durch Uckermark, Mecklenburg-Strelitz und Schwedisch-Pommern. Wir waren, groß und klein, sechs Personen: mein Vater, vier Kinder und die Amme des jüngsten Kindes, eine zigeunerhafte, häßliche Wendin von, wie sich später herausstellte, schlechtem Charakter, die sich durch nichts als durch eminente spezielle Berufserfüllung meinem erst halbjährigen jüngsten Bruder gegenüber auszeichnete. Den ersten Tag kamen wir bis Neustrelitz, wo sich uns ein für die Apotheke brieflich engagierter Gehilfe zugesellte, Herr Wolff, ein sehr hübscher, krausköpfiger Mann, und trotzdem er Mecklenburger war, von durchaus brünettem Typus. Er empfahl sich unserm Hause, wie gleich hier bemerkt werden mag, durch Brauchbarkeit und gute Manieren und hatte das Glück, seine durch zwei lange Jahre hin nicht bloß von Erfolgen, sondern auch von »Folgen« begleiteten Liebesverhältnisse beständig pardonniert zu sehen, bis ihm endlich eine junge, bildschöne Person, ein Liebling meiner Eltern, zum Opfer fiel. Da fiel er denn, sehr berechtigt, mit. Aber das alles stand zu der Zeit, von der ich hier spreche, noch weit aus. Vorläufig war er, trotz weiterer Beengung des ohnehin engen Platzes, ein sehr angenehmer Reisegefährte, der sich mit uns Kindern ebenso geschickt wie liebenswürdig unterhielt und in seiner mehr als korrekten Haltung der Amme gegenüber auch nicht das geringste von seiner starken »schwachen Seite« vermuten ließ. Der zweite Tag führte uns bis Anklam. »Hier sind wir nun schon in Pommern«, sagte mein Vater, der eine Gelegenheit, etwas Geographisch-Historisches anzubringen, nicht gern vorübergehen ließ. »Anklam hat den höchsten Turm in ganz Pommern, und Gustav Adolf ist, soviel ich weiß, hier durchgekommen. Es ist aber auch möglich, daß es Karl XII. war.« Von Anklam bis Swinemünde war die kürzeste Wegstrecke, nur noch sechs Meilen. Auf einer Fähre setzten wir, ich weiß nicht mehr von welchem Punkt aus, nach der Insel Usedom über und fuhren nun unserm Ziele zu. Das letzte Dorf hieß Kamminke. Halben Wegs zwischen diesem Dorf und Swinemünde selbst passierten wir eine mitten im Walde gelegene Bohlenbrücke, zu deren beiden Seiten sich eine dunkelschwarze Wasserfläche mit weißen Nymphäen ausbreitete; die niedergehende Sonne stand schon hinter den Tannen, und ein roter Schimmer, der zwischen den Wipfeln glühte, spiegelte sich unten in dem schönen und zugleich etwas unheimlichen Teich. Es steht vor mir, als hätt ich es gestern gesehen. Bald hinter dieser Brücke hörte der Wald auf, und ein kurzer chaussierter Weg kam, von dem aus man, etwas zurückgelegen, ein weites Moor überblickte, drauf wie Indianerhütten, die ich aus meinen Bilderbüchern kannte, zahllose Torfpyramiden standen. Der chaussierte Weg, auf dem wir fuhren, war von jungen Silberpappeln eingefaßt, und als diese kurze Chausseestrecke hinter uns lag, begann die Stadt selbst, deren erstes Haus, nicht weitab zu unsrer Linken, auf einer kleinen Anhöhe lag. Ein Tischler wohnte darin. Das Strohdach des Hauses hing weit herab und ließ den Lehm- und Fachwerkbau mit seinen Fensterchen nur undeutlich erkennen, aber neben dem Hause zog sich ein Hof- und Gartenstreifen, und auf einem den Garten durchschneidenden und allmählich ansteigenden Wege stand ein Sarg, der, weil eben mit einem frischen Lack gestrichen, hell in der Abendsonne blinkte. Das war der Empfang. Ich erschrak in meinem Kinderherzen und wies scheu darauf hin, aber mein Vater wollte von Angst und schlechter Vorbedeutung nichts wissen und sagte: »Sei nicht so dumm. Das ist das Beste, was uns passieren kann. Das ist, wie wenn einem eine Karre mit einem toten Pferd darauf begegnet, und das hier ist noch besser. Das tote Pferd bedeutet immer bloß Geld, aber ein Sarg bedeutet Glück überhaupt. Und bei allem Respekt vor Geld, Glück ist noch besser. Glück ist alles. Wir werden also hier Glück haben. Nicht wahr, Herr Wolff? Glück sag ich. Und Sie auch.« Herr Wolff nickte. Übrigens hatte mein Vater ganz recht prophezeit. Es ging uns gut hier, und was mitunter anders aussah, daran war das Glück nicht schuld, das tat, umgekehrt, sein Möglichstes für uns.

Mit dem Tischlerhause begann die Stadt, aber mir wollte es noch immer nicht so vorkommen, als führen wir schon wirklich in eine Stadt hinein. Ein Tor war nicht da, Pflaster auch nicht, Menschen auch nicht. Der Abstand zwischen den Häuserreihen links und rechts war unendlich breit und jedes Haus klein und häßlich, viele noch mit Strohdach. Ein Glück, daß die meisten einen Giebel hatten, der mit einer Flaggenstange zu Häupten aus dem eigentlichen Frontdach herauswuchs. So mahlten wir im Sande weiter, bis wir nach Passierung etlicher Querstraßen einen großen, merkwürdig geformten Platz erreichten, halb kahl, halb hoch im Gras stehend, ganz nach Art einer dörfischen Gänsewiese. Auf diesem völlig ungepflegten Platze, der, wie uns etliche auf hohen Böcken liegende Baumstämme zeigten, zugleich auch als Holzsägeplatz diente, ragte ein scheunenartiger Bau mit hohen Fenstern auf: die Kirche. Dieser gegenüber und nur durch die Straßenbreite von ihr getrennt, stand ein mit Feuerherds-Rot gestrichenes Haus, dessen endlos aufsteigendes Dach wohl fünfmal so hoch war als das Haus selber. Drei, vier umherstehende, von einem Holzgitter eingefaßte Kastanienbäume ließen, außer dem hohen Dache, wenig erkennen. Zwischen Haus und Kirche aber hielt jetzt unser Wagen, und mein Vater, der mein verlegenes Gesicht sehen mochte, sagte mit aufgesteifter Heiterkeit: »Da sind wir nun also. Gott segne unsern Eingang. Hier gleich das erste Zimmer rechts, Herr Wolff, das ist das Ihre.« Herr Wolff verbeugte sich, schien aber noch verwunderter als ich. Nur der Amme war nichts anzumerken.

Ein paar Personen, die bestimmt waren, vorläufig wohl oder übel den Hausstand zu führen, standen an der mit beiden Flügeln geöffneten Haustür und kamen uns etwas verlegen entgegen. »Ein Abendbrot ist doch wohl da«, sagte mein Vater, und ehe wir noch darüber beruhigt waren, traten wir auch schon in einen gelbgestrichenen, mit Mauersteinen gepflasterten Flur, der durch die ganze Tiefe des Hauses lief. Auch das berührte mich ganz eigentümlich. Zum Glück aber war, von Anfang an, immer etwas da, was mit dem Rohen und Unkultivierten wieder versöhnen mußte. So gestattete mir der gepflasterte Flur, weil seine Hintertür weit offenstand, einen Blick in den Garten und auf den Abendhimmel, an dem eben die schmale Mondsichel sichtbar wurde. Das blasse Licht derselben fiel auf eine Geißblattlaube, vor deren halbüberwachsenem Eingang eine ziemlich junge Tanne stand. Dieser Anblick erfüllte mich mit etwas wie Hoffnung, und diese Hoffnung trog auch nicht. Es war ein wunderbar schönes Leben in dieser kleinen Stadt, dessen ich noch jetzt, wie meiner ganzen buntbewegten Kinderzeit, unter lebhafter Herzensbewegung gedenke.

Wir setzten uns bald nach Eintritt in unser Haus zum Abendbrot nieder. Für uns Kinder war es Milchsuppe, für gewöhnlich nicht mein Geschmack. Ich aß aber ein gut Teil, und mein Vater sagte schmunzelnd: »Das ist recht. Wer lange suppt, lebt lange. Nur nicht kiesetig. Und überhaupt, es wird uns hier schon gefallen. Wenn es nur Mama gefällt. Der verdammte Sand. Aber für die Pferde ist es besser; dabei bleibe ich.«

Dann standen wir auf, und mein Papa, der, weil kein anderer da war, sich in seinem Redebedürfnis wohl oder übel mit mir unterhalten mußte, sagte: »Nun geh noch mal hinaus und sieh dir die Kirche an; das ist nämlich die große Remise gerade gegenüber. Hat übrigens nichts auf sich, daß sie so nach nichts aussieht; das protestantische Wort ist nicht an Örtlichkeit gebunden oder von einem gemalten Sternenhimmel abhängig. Gutes tun, keusch und züchtig leben.« Diese seine letzten Worte richteten sich an Herrn Wolff, dem er doch nicht recht trauen mochte, trotzdem noch nichts gegen ihn vorlag.

Ich war froh, meine Neugierde befriedigen zu können, und ging hinaus. Als ich auf die Straße trat, traf ich einen kleinen, schon ältlichen und etwas verwachsenen Mann, der, nachdem er das Pferd in den Stall geführt hatte, mit Abladung unsers Gepäcks beschäftigt war. Er hieß, wie ich gleich erfahren sollte, Ehm, wahrscheinlich Abkürzung von Adam, und war, obwohl er nichts von Pferden verstand, im voraus dazu bestimmt, unser Kutscher zu werden. Er blieb es auch Jahr und Tag.

»Wie heißt du?« fragte ich.

»Ehm.«

»Ehm? Das habe ich noch nicht gehört. Aber sage, Ehm, was ist das, das immer so rauscht und donnert? Und dabei geht doch kein Wind und keine Luft.«

»Dat's de See.«

»Das Meer?«

»Joa, de See.«

»Wie weit ab ist es? Es klingt ja so nah.«

»Na, ne Viertelstuun. Un mitunner kümmt se bis ran un steiht hier rümm in alle Straten. Un so'n Lütting wie du, de kann denn versupen.«

Theodor Fontane: Meine Kinderjahre

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