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Viertes Kapitel.
In Tempelhof
ОглавлениеDer nächste Morgen sah Frau von Carayon und Tochter in demselben Eckzimmer, in dem sie den Abend vorher ihre Freunde bei sich empfangen hatten. Beide liebten das Zimmer, und gaben ihm auf Kosten aller andern den Vorzug. Es hatte drei hohe Fenster, von denen die beiden unter einander im rechten Winkel stehenden auf die Behren- und Charlottenstraße sahen, während das dritte, thürartige, das ganze, breit abgestumpfte Eck einnahm, und auf einen mit einem vergoldeten Rokoko-Gitter eingefaßten Balkon hinausführte. Sobald es die Jahreszeit erlaubte, stand diese Balkonthür offen, und gestattete, von beinah jeder Stelle des Zimmers aus, einen Blick auf das benachbarte Straßentreiben, das, der aristokratischen Gegend unerachtet, zu mancher Zeit ein besonders belebtes war, am meisten um die Zeit der Frühjahrsparaden, wo nicht blos die berühmten alten Infanterieregimenter der Berliner Garnison, sondern, was für die Carayons wichtiger war, auch die Regimenter der Garde du Corps und Gensdarmes unter dem Klang ihrer silbernen Trompeten an dem Hause vorüberzogen. Bei solcher Gelegenheit (wo sich dann selbstverständlich die Augen der Herrn Offiziers zu dem Balkon hinaufrichteten) hatte das Eckzimmer erst seinen eigentlichen Werth, und hätte gegen kein anderes vertauscht werden können.
Aber es war auch an stillen Tagen ein reizendes Zimmer, vornehm und gemüthlich zugleich. Hier lag der türkische Teppich, der noch die glänzenden, fast ein halbes Menschenalter zurückliegenden Petersburger Tage des Hauses Carayon gesehen hatte, hier stand die malachitne Stutzuhr, ein Geschenk der Kaiserin Katharina, und hier paradirte vor allem auch der große, reich vergoldete Trumeau, der der schönen Frau täglich aufs Neue versichern mußte, daß sie noch eine schöne Frau sei. Victoire ließ zwar keine Gelegenheit vorübergehn, die Mutter über diesen wichtigen Punkt zu beruhigen, aber Frau von Carayon war doch klug genug, es sich jeden Morgen durch ihr von ihr selbst zu kontrolirendes Spiegelbild neu bestätigen zu lassen. Ob ihr Blick in solchem Momente zu dem Bilde des mit einem rothen Ordensband in ganzer Figur über dem Sopha hängenden Herrn von Carayon hinüberglitt, oder ob sich ihr ein stattlicheres Bild vor die Seele stellte, war für Niemanden zweifelhaft, der die häuslichen Verhältnisse nur einigermaßen kannte. Denn Herr von Carayon war ein kleiner, schwarzer Koloniefranzose gewesen, der außer einigen in der Nähe von Bordeaux lebenden vornehmen Carayons und einer ihn mit Stolz erfüllenden Zugehörigkeit zur Legation, nichts Erhebliches in die Ehe mitgebracht hatte. Am wenigsten aber männliche Schönheit.
Es schlug elf, erst draußen, dann in dem Eckzimmer, in welchem beide Damen an einem Tapisserierahmen beschäftigt waren. Die Balkonthür war weit auf, denn trotz des Regens, der bis an den Morgen gedauert hatte, stand die Sonne schon wieder hell am Himmel und erzeugte so ziemlich dieselbe Schwüle, die schon den Tag vorher geherrscht hatte. Victoire blickte von ihrer Arbeit auf und erkannte den Schach'schen kleinen Groom, der mit Stulpenstiefeln und zwei Farben am Hut, von denen sie zu sagen liebte, daß es die Schach'schen »Landesfarben« seien, die Charlottenstraße heraufkam.
»O sieh nur,« sagte Victoire, »da kommt Schachs kleiner Ned. Und wie wichtig er wieder thut! Aber er wird auch zu sehr verwöhnt, und immer mehr eine Puppe. Was er nur bringen mag?«
Ihre Neugier sollte nicht lange unbefriedigt bleiben. Schon einen Augenblick später hörten beide die Klingel gehn, und ein alter Diener in Gamaschen, der noch die vornehmen Petersburger Tage miterlebt hatte, trat ein, um auf einem silbernen Tellerchen ein Billet zu überreichen. Victoire nahm es. Es war an Frau von Carayon adressirt.
»An Dich Mama.«
»Lies nur,« sagte diese.
»Nein, Du selbst; ich hab eine Scheu vor Geheimnissen.«
»Närrin,« lachte die Mutter und erbrach das Billet und las: »Meine gnädigste Frau. Der Regen der vorigen Nacht hat nicht nur die Wege gebessert, sondern auch die Luft. Alles in allem ein so schöner Tag, wie sie der April uns Hyperboreern nur selten gewährt. Ich werde vier Uhr mit meinem Wagen vor Ihrer Wohnung halten, um Sie und Fräulein Victoire zu einer Spazierfahrt abzuholen. Ueber das Ziel erwarte ich Ihre Befehle. Wissen Sie doch wie glücklich ich bin, Ihnen gehorchen zu können. Bitte Bescheid durch den Ueberbringer. Er ist gerade firm genug im Deutschen, um ein »ja« oder »nein« nicht zu verwechseln. Unter Gruß und Empfehlungen an meine liebe Freundin Victoire (die zu größerer Sicherheit vielleicht eine Zeile schreibt) Ihr Schach.«
»Nun, Victoire, was lassen wir sagen …?«
»Aber Du kannst doch nicht ernsthaft fragen, Mama?«
»Nun denn also ›ja‹.«
Victoire hatte sich mittlerweile bereits an den Schreibtisch gesetzt, und ihre Feder kritzelte: »Herzlichst acceptirt, trotzdem die Ziele vorläufig im Dunkeln bleiben. Aber ist der Entscheidungsmoment erst da, so wird er uns auch das Richtige wählen lassen.«
Frau von Carayon las über Victoires Schulter fort. »Es klingt so vieldeutig,« sagte sie.
»So will ich ein bloßes Ja schreiben, und Du kontrasignirst.«
»Nein; laß es nur.«
Und Victoire schloß das Blatt, und gab es dem draußen wartenden Groom.
Als sie vom Flur her in das Zimmer zurückkehrte, fand sie die Mama nachdenklich. »Ich liebe solche Pikanterien nicht, und am wenigsten solche Räthselsätze.«
»Du dürftest sie auch nicht schreiben. Aber ich? Ich darf alles. Und nun höre mich. Es muß etwas geschehen, Mama. Die Leute reden so viel, auch schon zu mir, und da Schach immer noch schweigt und Du nicht sprechen darfst, so muß ich es thun statt Eurer und Euch verheirathen. Alles in der Welt kehrt sich einmal um. Sonst verheirathen Mütter ihre Tochter, hier liegt es anders, und ich verheirathe Dich. Er liebt Dich und Du liebst ihn. In den Jahren seid ihr gleich, und ihr werdet das schönste Paar sein, das seit Menschengedenken im französischen Dom oder in der Dreifaltigkeitskirche getraut wurde. Du siehst, ich lasse Dir wenigstens hinsichtlich der Prediger und der Kirche die Wahl; mehr kann ich nicht thun in dieser Sache. Daß Du mich mit in die Ehe bringst, ist nicht gut, aber auch nicht schlimm. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten.«
Frau von Carayons Auge wurde feucht. »Ach meine süße Victoire, Du siehst es anders, als es liegt. Ich will Dich nicht mit Bekenntnissen überraschen, und in bloßen Andeutungen zu sprechen, wie Du gelegentlich liebst, widerstreitet mir. Ich mag auch nicht philosophiren. Aber das laß Dir sagen, es liegt alles vorgezeichnet in uns, und was Ursach scheint, ist meist schon wieder Wirkung und Folge. Glaube mir, Deine kleine Hand wird das Band nicht knüpfen, das Du knüpfen möchtest. Es geht nicht, es kann nicht sein. Ich weiß es besser. Und warum auch? Zuletzt lieb' ich doch eigentlich nur Dich.«
Ihr Gespräch wurde durch das Erscheinen einer alten Dame, Schwester des verstorbenen Herrn von Carayon, unterbrochen, die jeden Dienstag ein für allemal zu Mittag geladen war, und unter »zu Mittag« pünktlicherweise zwölf Uhr verstand, trotzdem sie wußte, daß bei den Carayons erst um drei Uhr gegessen wurde. Tante Marguerite, das war ihr Name, war noch eine echte Koloniefranzösin, d. h. eine alte Dame, die das damalige, sich fast ausschließlich im Dativ bewegende Berlinisch mit geprüntem Munde sprach, das ü dem i vorzog, entweder »Kürschen« aß, oder in die »Kürche« ging, und ihre Rede selbstverständlich mit französischen Einschiebseln und Anredefloskeln garnirte. Sauber und altmodisch gekleidet, trug sie Sommer und Winter denselben kleinen Seidenmantel, und hatte jene halbe Verwachsenheit, die damals bei den alten Koloniedamen so allgemein war, daß Victoire einmal als Kind gefragt hatte: »Wie kommt es nur, liebe Mama, das fast alle Tanten so ›ich weiß nicht wie‹ sind?« Und dabei hatte sie eine hohe Schulter gemacht. Zu dem Seidenmantel Tante Margueritens gehörten auch noch ein Paar seidene Handschuhe, die sie ganz besonders in Ehren hielt, und immer erst auf dem obersten Treppenabsatz anzog. Ihre Mittheilungen, an denen sie's nie fehlen ließ, entbehrten all und jedes Interesses, am meisten aber dann, wenn sie, was sie sehr liebte, von hohen und höchsten Personen sprach. Ihre Spezialität waren die kleinen Prinzessinnen der königlichen Familie: la petite princesse Charlotte, et la petite princesse Alexandrine, die sie gelegentlich in den Zimmern einer ihr befreundeten französischen Erzieherin sah, und mit denen sie sich derartig liirt fühlte, daß, als eines Tages die Brandenburger Thorwache beim Vorüberfahren von la princesse Alexandrine versäumt hatte, rechtzeitig ins Gewehr zu treten und die Trommel zu rühren, sie nicht nur das allgemeine Gefühl der Empörung theilte, sondern das Ereigniß überhaupt ansah, als ob Berlin ein Erdbeben gehabt habe.
Das war das Tantchen, das eben eintrat.
Frau von Carayon ging ihr entgegen und hieß sie herzlich willkommen, herzlicher als sonst wohl, und das einfach deshalb, weil durch ihr Erscheinen ein Gespräch unterbrochen worden war, das selbst fallen zu lassen, sie nicht mehr die Kraft gehabt hatte. Tante Marguerite fühlte sofort heraus, wie günstig heute die Dinge für sie lagen, und begann denn auch in demselben Augenblicke, wo sie sich gesetzt und die Seidenhandschuh in ihren Pompadour gesteckt hatte, sich dem hohen Adel königlicher Residenzien zuzuwenden, diesmal mit Umgehung der »Allerhöchsten Herrschaften«. Ihre Mittheilungen aus der Adelssphäre waren ihren Hofanekdoten in der Regel weit vorzuziehn, und hätten ein für allemal passiren können, wenn sie nicht die Schwäche gehabt hätte, die doch immerhin wichtige Personalfrage mit einer äußersten Geringschätzung zu behandeln. Mit andern Worten, sie verwechselte beständig die Namen, und wenn sie von einer Escapade der Baronin Stieglitz erzählte, so durfte man sicher sein, daß sie die Gräfin Taube gemeint hatte. Solche Neuigkeiten eröffneten denn auch das heutige Gespräch, Neuigkeiten, unter denen die, »daß der Rittmeister von Schenk vom Regiment Garde du Corps der Prinzessin von Croy eine Serenade gebracht habe« die weitaus wichtigste war, ganz besonders als sich nach einigem Hin- und Herfragen herausstellte, daß der Rittmeister von Schenk in den Rittmeister von Schach, das Regiment Garde du Corps in das Regiment Gensdarmes, und die Prinzessin von Croy in die Prinzessin von Carolath zu transponiren sei. Solche Richtigstellungen wurden von Seiten der Tante jedesmal ohne jede Spur von Verlegenheit entgegengenommen, und solche Verlegenheit kam ihr denn auch heute nicht, als ihr, zum Schluß ihrer Geschichte, mitgetheilt wurde, daß der Rittmeister von Schenk alias Schach noch im Laufe dieses Nachmittags erwartet werde, da man eine Fahrt über Land mit ihm verabredet habe. Vollkommener Kavalier wie er sei, werde er sich sicherlich freuen, eine liebe Verwandte des Hauses an dieser Ausfahrt mit theilnehmen zu sehen. Eine Bemerkung, die von Tante Marguerite sehr wohlwollend aufgenommen und von einem unwillkürlichen Zupfen an ihrem Taftkleide begleitet wurde.
Um Punkt drei war man zu Tische gegangen und um Punkt vier – l'exactitude est la politesse des rois, würde Bülow gesagt haben – erschien eine zurückgeschlagene Halbchaise vor der Thür in der Behrenstraße. Schach, der selbst fuhr, wollte die Zügel dem Groom geben, beide Carayons aber grüßten schon reisefertig vom Balkon her, und waren im nächsten Moment mit einer ganzen Ausstattung von Tüchern, Sonnen- und Regenschirmen unten am Wagenschlag. Mit ihnen auch Tante Marguerite, die nunmehr vorgestellt und von Schach mit einer ihm eigenthümlichen Mischung von Artigkeit und Grandezza begrüßt wurde.
»Und nun das dunkle Ziel, Fräulein Victoire.«
»Nehmen wir Tempelhof,« sagte diese.
»Gut gewählt. Nur Pardon, es ist das undunkelste Ziel von der Welt. Namentlich heute. Sonne und wieder Sonne.«
In raschem Trabe ging es, die Friedrichsstraße hinunter, erst auf das Rondel und das Hallesche Thor zu, bis der tiefe Sandweg, der zum Kreuzberg hinaufführte, zu langsamerem Fahren nöthigte. Schach glaubte sich entschuldigen zu müssen, aber Victoire, die rückwärts saß und in halber Wendung bequem mit ihm sprechen konnte, war, als echtes Stadtkind, aufrichtig entzückt über all und jedes, was sie zu beiden Seiten des Weges sah, und wurde nicht müde Fragen zu stellen und ihn durch das Interesse, das sie zeigte, zu beruhigen. Am meisten amüsirten sie die seltsam ausgestopften Alt-Weiber-Gestalten, die zwischen den Sträuchern und Gartenbeeten umher standen, und entweder eine Strohhutkiepe trugen oder mit ihren hundert Papilloten im Winde flatterten und klapperten.
Endlich war man den Anhang hinauf, und über den festen Lehmweg hin, der zwischen den Pappeln lief, trabte man jetzt wieder rascher auf Tempelhof zu. Neben der Straße stiegen Drachen auf, Schwalben schossen hin und her, und am Horizonte blitzten die Kirchthürme der nächstgelegenen Dörfer.
Tante Marguerite, die, bei dem Winde der ging, beständig bemüht war, ihren kleinen Mantelkragen in Ordnung zu halten, übernahm es nichtsdestoweniger den Führer zu machen, und setzte dabei beide Carayonsche Damen ebenso sehr durch ihre Namensverwechselungen, wie durch Entdeckung gar nicht vorhandener Aehnlichkeiten in Erstaunen.
»Sieh, liebe Victoire, dieser Wülmersdörfer Kürchthürm! Aehnelt er nicht unsrer Dorotheenstädtschen Kürche?«
Victoire schwieg.
»Ich meine nicht um seiner Spitze, liebe Victoire, nein, um seinem Corps de Logis.«
Beide Damen erschraken. Es geschah aber was gewöhnlich geschieht, das nämlich, das alles das was die Näherstehenden in Verlegenheit bringt, von den Fernerstehenden entweder überhört oder aber mit Gleichgültigkeit aufgenommen wird. Und nun gar Schach! Er hatte viel zu lang in der Welt alter Prinzessinnen und Hofdamen gelebt, um noch durch irgend ein Dummheits- oder Nicht-Bildungszeichen in ein besondres Erstaunen gesetzt werden zu können. Er lächelte nur und benutzte das Wort »Dorotheenstädtische Kirche«, das gefallen war, um Frau von Carayon zu fragen »ob sie schon von dem Denkmal Kenntniß genommen habe, das in ebengenannter Kirche, seitens des hochseligen Königs seinem Sohne, dem Grafen von der Mark errichtet worden sei?«
Mutter und Tochter verneinten. Tante Marguerite jedoch, die nicht gerne zugestand, etwas nicht zu wissen oder wohl gar nicht gesehen zu haben, bemerkte ganz ins allgemeine hin. »Ach, der liebe, kleine Prinz. Daß er so früh sterben mußte. Wie jämmerlich. Und ähnelte doch seiner hochseligen Frau Mutter um beiden Augen.«
Einen Augenblick war es, als ob der in seinem Legitimitätsgefühle stark verletzte Schach antworten und den »von seiner hochseligen Mutter« geborenen »lieben kleinen Prinzen« aufs schmählichste dethronisiren wollte, rasch aber übersah er die Lächerlichkeit solcher Idee, wies also lieber um doch wenigstens etwas zu thun, auf das eben sichtbar werdende grüne Kuppeldach des Charlottenburger Schlosses hin, und bog im nächsten Augenblick in die große, mit alten Linden bepflanzte Dorfgasse von Tempelhof ein.
Gleich das zweite Haus war ein Gasthaus. Er gab dem Groom die Zügel und sprang ab, um den Damen beim Aussteigen behülflich zu sein. Aber nur Frau von Carayon und Victoire nahmen die Hülfe dankbar an, während Tante Marguerite verbindlich ablehnte, »weil sie gefunden habe, daß man sich auf seinen eigenen Händen immer am besten verlassen könne.«
Der schöne Tag hatte viele Gäste hinausgelockt, und der von einem Staketenzaun eingefaßte Vorplatz war denn auch an allen seinen Tischen besetzt. Das gab eine kleine Verlegenheit. Als man aber eben schlüssig geworden war, in dem Hintergarten, unter einem halboffenen Kegelbahnhäuschen, den Kaffee zu nehmen, ward einer der Ecktische frei, so daß man in Front des Hauses, mit dem Blick auf die Dorfstraße verbleiben konnte. Das geschah denn auch, und es traf sich, daß es der hübscheste Tisch war. Aus seiner Mitte wuchs ein Ahorn auf und wenn es auch, ein paar Spitzen abgerechnet, ihm vorläufig noch an allem Laubschmucke fehlte, so saßen doch schon die Vögel in seinen Zweigen und zwitscherten. Und nicht das blos sah man; Equipagen hielten in der Mitte der Dorfstraße, die Stadtkutscher plauderten, und Bauern und Knechte, die mit Pflug und Egge vom Felde herein kamen, zogen an der Wagenreihe vorüber. Zuletzt kam eine Heerde, die der Schäferspitz von rechts und links her zusammenhielt, und dazwischen hörte man die Betglocke, die läutete. Denn es war eben die sechste Stunde.
Die Carayons, so verwöhnte Stadtkinder sie waren, oder vielleicht auch weil sie's waren, enthusiasmirten sich über all und jedes, und jubelten, als Schach einen Abendspaziergang in die Tempelhofer Kirche zur Sprache brachte. Sonnenuntergang sei die schönste Stunde. Tante Marguerite freilich, die sich »vor dem unvernünftigen Viehe« fürchtete, wäre lieber am Kaffeetische zurückgeblieben, als ihr aber der zu weiterer Beruhigung herbeigerufene Wirth aufs eindringlichste versichert hatte, »daß sie sich um den Bullen nicht zu fürchten brauche,« nahm sie Victoirens Arm und trat mit dieser auf die Dorfstraße hinaus, während Schach und Frau von Carayon folgten. Alles, was noch an dem Staketenzaune saß, sah ihnen nach.
»Es ist nichts so fein gesponnen,« sagte Frau von Carayon und lachte.
Schach sah sie fragend an.
»Ja lieber Freund, ich weiß alles. Und niemand Geringeres als Tante Marguerite hat uns heute Mittag davon erzählt.«
»Wovon?«
»Von der Serenade. Die Carolath ist eine Dame von Welt und vor allem eine Fürstin. Und Sie wissen doch, was Ihnen nachgesagt wird, ›daß Sie der garstigsten princesse vor der schönsten bourgeoise den Vorzug geben würden.‹ Jeder garstigen Prinzeß sag ich. Aber zum Ueberfluß ist die Carolath auch noch schön. Un teint de lys et de rose. Sie werden mich eifersüchtig machen.«
Schach küßte der schönen Frau die Hand. »Tante Marguerite hat Ihnen richtig berichtet, und Sie sollen nun alles hören. Auch das Kleinste. Denn, wenn es mir, wie zugestanden, eine Freude gewährt, einen solchen Abend unter meinen Erlebnissen zu haben, so gewährt es mir doch eine noch größere Freude, mit meiner schönen Freundin darüber plaudern zu können. Ihre Plaisanterien, die so kritisch und doch zugleich so voll guten Herzens sind, machen mir erst alles lieb und werth. Lächeln Sie nicht. Ach daß ich Ihnen alles sagen könnte. Theure Josephine, Sie sind mir das Ideal einer Frau: klug und doch ohne Gelehrsamkeit und Dünkel, espritvoll und doch ohne Mocquanterie. Die Huldigungen, die mein Herz darbringt, gelten nach wie vor nur Ihnen, Ihnen, der Liebenswürdigsten und Besten. Und das ist Ihr höchster Reiz, meine theure Freundin, daß Sie nicht einmal wissen, wie gut Sie sind, und welch stille Macht Sie über mich üben.«
Er hatte fast mit Bewegung gesprochen, und das Auge der schönen Frau leuchtete, während ihre Hand in der seinen zitterte. Rasch aber nahm sie den scherzhaften Ton wieder auf und sagte: »Wie gut Sie zu sprechen verstehen. Wissen Sie wohl, so gut spricht man nur aus der Verschuldung heraus.«
»Oder aus dem Herzen. Aber lassen wir's bei der Verschuldung, die nach Sühne verlangt. Und zunächst nach Beichte. Deshalb kam ich gestern. Ich hatte vergessen, daß Ihr Empfangsabend war, und erschrak fast, als ich Bülow sah, und diesen aufgedunsenen Roturier, den Sander. Wie kommt er nur in Ihre Gesellschaft?«
»Er ist der Schatten Bülows.«
»Ein sonderbarer Schatten, der dreimal schwerer wiegt als der Gegenstand, der ihn wirft. Ein wahres Mammuth. Nur seine Frau soll ihn noch übertreffen, weshalb ich neulich spöttisch erzählen hörte, ›Sander, wenn er seine Brunnenpromenade vorhabe, gehe nur dreimal um seine Frau herum.‹ Und dieser Mann Bülows Schatten! Wenn Sie lieber sagten, sein Sancho Pansa …«
»So nehmen Sie Bülow selbst als Don Quixote?«
»Ja, meine Gnädigste … Sie wissen, daß es mir im allgemeinen widersteht, zu medisiren, aber dies ist au fond nicht medisiren, ist eher Schmeichelei. Der gute Ritter von La Mancha war ein ehrlicher Enthusiast, und nun frag ich Sie, theuerste Freundin, läßt sich von Bülow dasselbe sagen? Enthusiast! Er ist excentrisch, nichts weiter, und das Feuer, das in ihm brennt, ist einfach das einer infernalen Eigenliebe.«
»Sie verkennen ihn, lieber Schach. Er ist verbittert, gewiß; aber ich fürchte, daß er ein Recht hat, es zu sein.«
»Wer an krankhafter Ueberschätzung leidet, wird immer tausend Gründe haben, verbittert zu sein. Er zieht von Gesellschaft zu Gesellschaft, und predigt die billigste der Weisheiten, die Weisheit post festum. Lächerlich. An allem, was uns das letzte Jahr an Demüthigungen gebracht hat, ist, wenn man ihn hört, nicht der Uebermuth oder die Kraft unserer Feinde schuld, o nein, dieser Kraft würde man mit einer größeren Kraft unschwer haben begegnen können, wenn man sich unsrer Talente, will also sagen, der Talente Bülows rechtzeitig versichert hätte. Das unterließ die Welt, und daran geht sie zu Grunde. So geht es endlos weiter. Darum Ulm und darum Austerlitz. Alles hätt ein andres Ansehen gewonnen, sich anders zugetragen, wenn diesem korsischen Thron- und Kronenräuber, diesem Engel der Finsterniß, der sich Bonaparte nennt, die Lichtgestalt Bülows auf dem Schlachtfeld entgegengetreten wäre. Mir widerwärtig. Ich hasse solche Fanfaronaden. Er spricht von Braunschweig und Hohenlohe, wie von lächerlichen Größen, ich aber halte zu dem fridericianischen Satze, daß die Welt nicht sicherer auf den Schultern des Atlas ruht, als Preußen auf den Schultern seiner Armee.«
Während dieses Gespräch zwischen Schach und Frau von Carayon geführt wurde, war das ihnen voranschreitende Paar bis an eine Wegstelle gekommen, von der aus ein Fußpfad über ein frisch gepflügtes Ackerfeld hin sich abzweigte.
»Das ist die Kürche,« sagte das Tantchen und zeigte mit ihrem Parasol auf ein neugedecktes Thurmdach, dessen Roth aus allerlei Gestrüpp und Gezweig hervorschimmerte. Victoire bestätigte, was sich ohnehin nicht bestreiten ließ, und wandte sich gleich danach nach rückwärts, um die Mama durch eine Kopf- und Handbewegung zu fragen, ob man den hier abzweigenden Fußpfad einschlagen wolle? Frau von Carayon nickte zustimmend, und Tante und Nichte schritten in der angedeuteten Richtung weiter. Ueberall aus dem braunen Acker stiegen Lerchen auf, die hier, noch ehe die Saat heraus war, schon ihr Furchennest gebaut hatten, ganz zuletzt aber kam ein Stück brachliegendes Feld, das bis an die Kirchhofsmauer lief, und, außer einer spärlichen Grasnarbe, nichts aufwies, als einen trichterförmigen Tümpel, in dem ein Unkenpaar musizirte, während der Rand des Tümpels in hohen Binsen stand.
»Sieh, Victoire, das sind Binsen.«
»Ja, liebe Tante.«
»Kannst Du Dir denken, ma chère, daß, als ich jung war, die Binsen als kleine Nachtlichter gebraucht wurden, und auch wirklich ganz ruhig auf einem Glase schwammen, wenn man krank war oder auch bloß nicht schlafen konnte …«
»Gewiß,« sagte Victoire. »Jetzt nimmt man Wachsfädchen, die man zerschneidet, und in ein Kartenstückchen steckt.«
»Ganz recht, mein Engelchen. Aber früher waren es Binsen, des joncs. Und sie brannten auch. Und deshalb erzähl' ich es Dir. Denn sie müssen doch ein natürliches Fett gehabt haben, ich möchte sagen etwas Kienenes.«
»Es ist wohl möglich,« antwortete Victoire, die der Tante nie widersprach, und horchte, während sie dies sagte, nach dem Tümpel hin, in dem das Musiziren der Unken immer lauter wurde. Gleich danach aber sah sie, daß ein halberwachsenes Mädchen von der Kirche her im vollen Lauf auf sie zukam und mit einem zottigen weißen Spitz sich neckte, der bellend und beißend an der Kleinen empor sprang. Dabei warf die Kleine, mitten im Lauf, einen an einem Strick und einem Klöppel hängenden Kirchenschlüssel in die Luft, und fing ihn so geschickt wieder auf, daß weder der Schlüssel noch der Klöppel ihr weh thun konnte. Zuletzt aber blieb sie stehn und hielt die linke Hand vor die Augen, weil die niedergehende Sonne sie blendete.
»Bist Du die Küsterstochter?« fragte Victoire.
»Ja,« sagte das Kind.
»Dann bitte, gieb uns den Schlüssel oder komm mit uns und schließ uns die Kirche wieder auf. Wir möchten sie gerne sehen, wir und die Herrschaften da.«
»Gerne,« sagte das Kind und lief wieder vorauf, überkletterte die Kirchhofsmauer und verschwand alsbald hinter den Haselnuß- und Hagebuttensträuchern, die hier so reichlich standen, daß sie, trotzdem sie noch kahl waren, eine dichte Hecke bildeten.
Das Tantchen und Victoire folgten ihr und stiegen langsam über verfallene Gräber weg, die der Frühling noch nirgends mit seiner Hand berührt hatte; nirgends zeigte sich ein Blatt, und nur unmittelbar neben der Kirche war eine schattig-feuchte Stelle wie mit Veilchen überdeckt. Victoire bückte sich, um hastig davon zu pflücken, und als Schach und Frau von Carayon im nächsten Augenblick den eigentlichen Hauptweg des Kirchhofes heraufkamen, ging ihnen Victoire entgegen und gab der Mutter die Veilchen.
Die Kleine hatte mittlerweile schon aufgeschlossen und saß wartend auf dem Schwellstein; als aber beide Paare heran waren, erhob sie sich rasch und trat, allen vorauf, in die Kirche, deren Chorstühle fast so schräg standen, wie die Grabkreuze draußen. Alles wirkte kümmerlich und zerfallen, der eben sinkende Sonnenball aber, der hinter den nach Abend zu gelegenen Fenstern stand, übergoß die Wände mit einem röthlichen Schimmer und erneuerte, für Augenblicke wenigstens, die längst blind gewordene Vergoldung der alten Altarheiligen, die hier noch, aus der katholischen Zeit her, ihr Dasein fristeten. Es konnte nicht ausbleiben, daß das genferisch reformirte Tantchen aufrichtig erschrak, als sie dieser »Götzen« ansichtig wurde, Schach aber, der unter seine Liebhabereien auch die Genealogie zählte, fragte bei der Kleinen an, ob nicht vielleicht alte Grabsteine da wären?
»Einer ist da,« sagte die Kleine. »Dieser hier,« und wies auf ein abgetretenes, aber doch noch deutlich erkennbares Steinbild, das aufrecht in einen Pfeiler, dicht neben dem Altar, eingemauert war. Es war ersichtlich ein Reiteroberst.