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ERSTES BUCH

Ein gebildeter und
verzweifelter junger Mann 1. Kapitel.

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Dr. Friedrich Löwenberg saß in tiefer Melancholie an dem runden Marmortische seines Kaffeehauses. Es war eines der alten gemütlichen Wiener Cafes auf dem Alsergrunde. Er kam seit Jahren dahin, schon als Student. Mit der Regelmäßigkeit eines Bureaukraten pflegte er um die fünfte Nachmittagsstunde einzutreten. Der blasse, kranke Kellner begrüßte ihn ergebenst. Löwenberg machte eine höfliche Verbeugung vor der ebenfalls blassen Kassiererin, mit der er nie sprach. Dann setzte er sich an den runden Lesetisch, trank seinen Kaffee, las alle Zeitungen durch, die ihm der Kellner beflissen brachte. Und wenn er mit den Tages- und Wochenzeitungen, Witzblättern und Fachjournalen fertig war, was nie weniger als anderthalb Stunden in Anspruch nahm, kamen die Gespräche mit Freunden oder die einsamen Träume.

Das heißt: ehemals waren es Plaudereien gewesen, jetzt waren es nur noch Träumereien, denn die zwei guten Gesellen, die jahrelang mit ihm diese eigentümlich leeren und charmanten Abendstunden im Cafe Birkenreis verbracht hatten, sie waren beide in den letzten Monaten verstorben. Beide waren älter gewesen als er, und es war wie der eine, Heinrich, in seinem Abschiedsbrief an Löwenberg schrieb, bevor er sich eine Revolverkugel in die Schläfe schoß: »es war sozusagen chronologisch begreiflich, daß sie früher verzweifeln als er.« Der andere, Oswald, war nach Brasilien gezogen, um für eine Ansiedlung jüdischer Proletarier tätig zu sein, und dort war er unlängst dem gelben Fieber erlegen.

So kam es, daß Friedrich Löwenberg seit einigen Monaten einsam an dem alten Tische saß und, wenn er sich durch den Zeitungshaufen durchgeschlagen hatte, vor sich hinträumte, ohne eine Ansprache zu suchen. Er war zu müde, neue Bekanntschaften zu schließen, als wäre er nicht dreiundzwanzig Jahre alt, sondern ein Greis gewesen, der schon zu oft hatte von lieben Leuten Abschied nehmen müssen. Da saß er und starrte in den leichten Dunst hinein, der die ferneren Winkel des Saales verschleierte. Um den Billardtisch standen mit langen Stöcken und kühnen Stoßgeberden einige junge Leute. Die waren nicht unvergnügt, obwohl sie sich in ähnlicher Lage befanden, wie er: es waren angehende Ärzte, neugebackene Doktoren der Rechte, absolvierte Techniker. Die höheren Studien hatten sie vollendet, und zu tun gab es nichts. Die meisten waren Juden und pflegten zu klagen, wenn sie nicht gerade Billard oder Karten spielten, wie schwer es »in dieser Zeit« sei, das Fortkommen zu finden. Einstweilen vertrieben sie sich diese Zeit mit endlosen Spielpartien. Löwenberg bedauerte und beneidete zugleich diese Gedankenlosen. Sie waren eigentlich nur bessere Proletarier, Opfer einer Anschauungsweise, die vor zwanzig oder dreißig Jahren in den mittleren Schichten der Judenschaft geherrscht hatte. Die Söhne sollten etwas anderes werden, als die Väter gewesen. Los vom Handel, von den Geschäften. Da hatte ein Massenauszug des Nachwuchses nach den »gebildeten« Berufen stattgefunden. Das Ende war ein jammervoller Überfluss an studierten Leuten, die keine Beschäftigung fanden, zu bescheidener Lebensführung nicht mehr taugten, in Ämtern nicht unterschlüpfen konnten, wie ihre christlichen Kollegen, und sozusagen auf dem Markte lagen. Dabei hatten sie Standespflichten, ein kümmerlich hochmütiges Standesbewusstsein und recht mittellose Titel. Die einiges Vermögen besaßen, konnten es langsam aufzehren, oder sie lebten aus der väterlichen Tasche weiter.

Andere lauerten auf die »gute Partie«, mit der hübschen Aussicht, Eheknecht im Solde eines Schwiegervaters zu werden. Die dritten unternahmen eine rücksichtslose und nicht immer reinliche Konkurrenz in Berufen, welche eine vornehmere Lebenshaltung erforderten. So daß man das wunderliche und traurige Schauspiel hatte, sie, die nicht einfache Kaufleute sein wollten, als »Akademiker« Geschäfte machen zu sehen: Geschäfte mit geheimen Krankheiten oder unerlaubten Prozessen. Manche wurden aus Not Journalisten und handelten mit öffentlicher Meinung. Noch andere tummelten sich in Volksversammlungen herum, hausierten mit wertlosen Schlagworten, um bekannt zu werden und parteiliche Beziehungen zu ergattern, die später Nutzen bringen mochten.

Keinen dieser Wege wollte Löwenberg gehen. »Du taugst nicht fürs Leben,« hatte der arme Oswald ihm vor der Abreise nach Brasilien in grimmiger Laune gesagt, »denn du ekelst dich vor zu vielen Dingen. Man muss was hinunterschlucken können, zum Beispiel Ungeziefer, Unrat. Davon wird man dick und kräftig, und man bringt es zu etwas. Aber du, du bist nichts als ein feiner Esel. Geh’ in ein Kloster, Ophelia! … Daß du ein anständiger Mensch bist, wird dir niemand glauben, weil du ein Jud’ bist … also was? Du wirst mit den paar Groschen Erbteil früher als mit deiner Rechtspraxis fertig werden. Dann wirst du doch etwas anfangen müssen, wovor du dich ekelst — oder dich aufhängen. Ich bitte dich, kauf dir einen Strick, solange du noch einen Gulden hast. Auf mich kannst du nicht rechnen. Erstens werde ich nicht hier sein, zweitens bin ich dein Freund.«

Oswald hatte ihn bereden wollen, mit nach Brasilien zu gehen. Friedrich Löwenberg aber konnte sich dazu nicht entschließen. Den heimlichsten Grund seiner Weigerung nannte er freilich dem Freunde nicht, der damals hinauszog, um auf fremder Erde früh den Tod zu finden. Es war ein blonder, schwärmerischer Grund, ein äußerst süßes Geschöpf. Nicht einmal den beiden vertrauten Freunden wagte er von Ernestinen zu sprechen. Er fürchtete die Scherze über sein zartestes Gefühl. Und nun waren die beiden Guten nicht mehr da. Er konnte sie nicht mehr, auch wenn er wollte, um ihren Rat und ihre Teilnahme bitten. Denn es war eine schwere, schwere Sache. Er wollte sich vorstellen, was wohl die beiden dazu gesagt hätten, wenn sie nicht von ihm gegangen wären, sondern noch dasäßen auf ihren alten Plätzen an dem runden Lesetische. Er schloss die Augen ein wenig und träumte das Gespräch.

»Meine Freunde, ich bin verliebt — nein, ich liebe …«

»Armer Kerl!« würde Heinrich sagen.

Oswald aber: »Eine solche Dummheit sieht dir ganz ähnlich, lieber Friedrich.«

»Es ist mehr als eine Dummheit, meine lieben Freunde, es ist schon ausgewachsener Wahnsinn. Denn Herr Löffler, ihr Vater, wird mich wahrscheinlich auslachen, wenn ich ihn um die Hand Ernestinens bitte. Ich bin nichts als ein Advokaturskandidat mit vierzig Gulden Monatsgehalt. Ich habe nichts, gar nichts mehr. Die letzten Monate waren mein Ruin. Die wenigen hundert Gulden, die noch von meinem Erbe übrig waren, sind aufgezehrt. Ich weiß ja, daß es ein Unsinn war, mich so von allem zu entblößen. Aber ich wollte in ihrer Nähe sein, ihre Anmut sehen, ihre holde Stimme hören. Da musste ich im Sommer den Kurort besuchen, wo sie war, und nun Theater, Konzerte. Ich mußte mich auch gut kleiden, um in ihre Gesellschaften zu kommen. Und jetzt habe ich nichts mehr und liebe sie noch immer so, nein, mehr als je.«

»Und was willst du tun?« würde Heinrich fragen. »Ich will ihr sagen, daß ich sie liebe, und will sie bitten, ein paar Jahre auf mich zu warten, bis ich mir eine Existenz geschaffen habe.«

Da hörte er im Traume Oswalds höhnisches Lachen »Jawohl, warten! So unvernünftig ist Ernestine Löffler nicht, daß sie auf einen Hungerleider warten wird, bis sie verblüht ist. Hahaha!«

Aber das Lachen erscholl wirklich neben Friedrich Löwenberg, und er öffnete bestürzt die Augen, Herr Schiffmann, ein junger Bankbeamter, den Friedrich im Löfflerschen Hause kennengelernt hatte, stand vor ihm und lachte herzlich:

»Scheinen gestern spät ins Bett gegangen zu sein, Herr Doktor, daß Sie jetzt schon schläfrig sind.«

»Ich habe nicht geschlafen,« sagte Friedrich verlegen.

»Na, heute wird es auch lange dauern. Sie gehen doch zu Löfflers?« Herr Schiffmann setzte sich ungezwungen an den Lesetisch.

Friedrich konnte den Burschen nicht sonderlich leiden. Dennoch ließ er sich seine Gesellschaft gefallen, weil er mit ihm von Ernestinen reden durfte und öfters durch ihn erfuhr, in welches Theater Ernestine gehen werde. Herr Schiffmann hatte nämlich feine Beziehungen zu Theaterkassierern und verschaffte Sperrsitze selbst zu den unzugänglichsten Vorstellungen.

Friedrich sagte: »Ja, ich bin heute auch zu Löfflers eingeladen.«

Herr Schiffmann hatte eine Zeitung in die Hand genommen und rief aus: »Das ist doch sonderbar!«

»Was denn?«

»Diese Annonce!«

»Ah, Sie lesen auch die Annoncen?« sagte Friedrich, ironisch lächelnd.

»Wie heißt: auch?« erwiderte Schiffmann. »Ich lese hauptsächlich die Annoncen. Die sind das Interessanteste in der Zeitung — vom Börsenbericht abgesehen.«

»So? Ich habe den Börsenbericht noch nie gelesen.«

»Nun ja, Sie! … Aber ich ich brauche nur einen Blick auf den Kurszettel, so sag’ ich Ihnen die ganze europäische Lage. Dann kommen aber gleich die Annoncen. Sie haben keine Ahnung, was da alles drin steht. Das ist, wie wenn ich auf einen Markt geh. Da gibt es eine Menge Sachen und Menschen zu verkaufen. Das heißt: zu verkaufen ist ja eigentlich alles in der Welt — nur der Preis ist nicht immer zu erschwingen … Wenn ich da hereinschau’ in den Inseratenteil, erfahr’ ich immer, was es für Gelegenheiten gibt. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen… Aber da seh’ ich schon seit ein paar Tagen eine Annonce, die ich nicht versteh’.«

»Ist sie in einer fremden Sprache?« »Da sehen Sie her, Doktor!« Schiffmann hielt ihm das Blatt hin und deutete auf eine kleine Anzeige, die so lautete:

»Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter N.O. Body an die Expedition.«

»Ja, Sie haben recht,« sagte Friedrich, »das ist ein merkwürdiges Inserat. Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Solche sind vielleicht zu finden. Aber der Nachsatz macht die Sache schwerer. Wie verzweifelt muß einer sein, wenn er mit seinem Leben ein letztes Experiment wagen soll.«

»Er scheint ihn auch nicht gefunden zu haben, der Herr Body. Ich seh’ die Annonce immer wieder. Wissen möcht’ ich aber doch, wer dieser Body mit dem sonderbaren Geschmack ist.«

»Das ist niemand.«

»Wie heißt niemand?«

»N. O. Body = nobody. Niemand auf Englisch.«

»Ah, so … Ans Englische hab’ ich nicht gedacht. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen … Aber es wird Zeit, wenn wir nicht zu spät zu Löfflers kommen wollen. Grad’ heute muß man pünktlich sein.«

»Warum gerade heute?« fragte Löwenberg.

»Bedaure, kann ich nicht sagen. Bei mir ist Diskretion Ehrensache … Aber Sie können sich auf eine Überraschung gefasst machen … Kellner, zahlen!«

Eine Überraschung? Friedrich empfand plötzlich eine unbestimmte Angst.

Als er mit Schiffmann das Kaffeehaus verließ, bemerkte er einen Knaben von etwa zehn Jahren außen in der Türnische. Der Junge hatte in seinem dünnen Röckchen die Schultern hoch hinaufgezogen, die Arme verschränkt an den Leib geklemmt, und er stampfte mit den Füßen den leicht herangewehten Schnee dieses geschützten Winkels. Das Hüpfen nahm sich beinahe possierlich aus. Aber Friedrich sah, daß das arme Kind in den zerrissenen Schuhen bitterlich fror. Er griff in die Tasche, suchte beim Scheine der nächsten Laterne drei Kupferkreuzer aus dem Kleingelde hervor und gab sie dem Knaben. Dieser nahm sie, sagte leise mit fröstelnder Stimme »Dank!« und lief schnell davon.

»Was? Sie unterstützen den Straßenbettel?« sagte Schiffmann indigniert.

»Ich glaube nicht, daß dieser Kleine sich zum Vergnügen im Dezemberschnee herumtreibt … Mir scheint auch, es war ein Judenjunge.«

»Dann soll er sich an die Kultusgemeinde wenden oder an die israelitische Allianz und nicht am Abend bei Kaffeehäusern herumstehen!«

»Regen Sie sich nicht auf, Herr Schiffmann, Sie haben ihm doch nichts gegeben.«

»Mein lieber Doktor,« sagte Schiffmann bestimmt, »ich bin Mitglied des Vereines gegen Verarmung und Bettelei. Jahresbeitrag ein Gulden.« …

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