Читать книгу Pole Poppenspäler. Novelle - Theodor Storm - Страница 5

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[5]Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln, und beschäftigte mich sogar wohl etwas mehr damit, als meinen gelehrten Studien zuträglich war; wenigstens geschah es, dass mich eines Tags der Subrektor bei Rückgabe eines nicht eben fehlerlosen Exerzitiums seltsamerweise fragte, ob ich vielleicht wieder eine Nähschraube zu meiner Schwester Geburtstag gedrechselt hätte. Solche kleine Nachteile wurden indessen mehr als aufgewogen durch die Bekanntschaft mit einem trefflichen Manne, die mir in Folge jener Beschäftigung zuteilwurde. Dieser Mann war der Kunstdrechsler und Mechanikus Paul Paulsen, auch deputierter Bürger unserer Stadt. Auf die Bitte meines Vaters, der für alles, was er mich unternehmen sah, eine gewisse Gründlichkeit forderte, verstand er sich dazu, mir die für meine kleine Arbeiten erforderlichen Handgriffe beizubringen.

Paulsen besaß mannigfache Kenntnisse und war dabei nicht nur von anerkannter Tüchtigkeit in seinem eigenen Handwerk, sondern er hatte auch eine Einsicht in die künftige Entwickelung der Gewerke überhaupt, so dass bei manchem, was jetzt als neue Wahrheit verkündigt wird, mir plötzlich einfällt: das hat dein alter Paulsen ja schon vor vierzig Jahren gesagt. – Es gelang mir bald seine Zuneigung zu erwerben, und er sah es gern, wenn ich noch außer den festgesetzten Stunden am Feierabend einmal zu ihm kam. Dann saßen wir entweder in der Werkstätte, oder sommers – denn unser Verkehr hat jahrelang gedauert – auf der Bank unter der großen Linde seines Gärtchens. In den Gesprächen, die wir dabei führten, oder vielmehr, welche [6]mein älterer Freund dabei mit mir führte, lernte ich Dinge kennen und auf Dinge meine Gedanken richten, von denen, so wichtig sie im Leben sind, ich später selbst in meinen Primaner-Schulbüchern keine Spur gefunden habe.

Paulsen war seiner Abkunft nach ein Friese und der Charakter dieses Volksstammes aufs Schönste in seinem Antlitz ausgeprägt; unter dem schlichten blonden Haar die denkende Stirn und die blauen sinnenden Augen; dabei hatte, vom Vater ererbt, seine Stimme noch etwas von dem weichen Gesang seiner Heimatsprache.

Die Frau dieses nordischen Mannes war braun und von zartem Gliederbau, ihre Sprache von unverkennbar süddeutschem Klange. Meine Mutter pflegte von ihr zu sagen, ihre schwarzen Augen könnten einen See ausbrennen, in ihrer Jugend aber sei sie von seltener Anmut gewesen. – Trotz der silbernen Fädchen, die schon ihr Haar durchzogen, war auch jetzt die Lieblichkeit dieser Züge noch nicht verschwunden, und das der Jugend angeborene Gefühl für Schönheit veranlasste mich bald, ihr, wo ich immer konnte, mit kleinen Diensten und Gefälligkeiten an die Hand zu gehen.

»Da schau mir nur das Buberl«, sagte sie dann wohl zu ihrem Mann; »wirst doch nit eifersüchtig werden, Paul!«

Dann lächelte Paul. Und aus ihren Scherzworten und aus seinem Lächeln sprach das Bewusstsein innigsten Zusammengehörens.

Sie hatten außer einem Sohne, der damals in der Fremde war, keine Kinder, und vielleicht war ich den beiden zum Teil deshalb so willkommen, zumal Frau Paulsen mir wiederholt versicherte, ich habe grad ein so lustigs Naserl wie ihr Joseph. Nicht verschweigen will ich, dass Letztere auch [7]eine mir sehr zusagende, in unserer Stadt aber sonst gänzlich unbekannte Mehlspeise zu bereiten verstand und auch nicht unterließ, mich dann und wann darauf zu Gaste zu bitten. – So waren denn dort der Anziehungskräfte für mich genug. Von meinem Vater aber wurde mein Verkehr in dem tüchtigen Bürgerhause gern gesehen. »Sorge nur, dass du nicht lästig fällst!«, war das Einzige, woran er in dieser Beziehung zuweilen mich erinnerte. Ich glaube indessen nicht, dass ich meinen Freunden je zu oft gekommen bin.

Da geschah es eines Tages, dass in meinem elterlichen Hause einem alten Herrn aus unserer Stadt das neueste und wirklich ziemlich gelungene Werk meiner Hände vorgezeigt wurde.

Als dieser seine Bewunderung zu erkennen gab, bemerkte mein Vater dagegen, dass ich ja aber auch schon seit fast einem Jahr bei Meister Paulsen in der Lehre sei.

»So, so«, erwiderte der alte Herr; »bei Pole Poppenspäler

Ich hatte nie gehört, dass mein Freund einen solchen Beinamen führe, und fragte, vielleicht ein wenig naseweis, was das bedeuten solle.

Aber der alte Herr lächelte nur ganz hinterhaltig und wollte keine weitere Auskunft geben. –

Zum kommenden Sonntag war ich von den Paulsen’schen Eheleuten auf den Abend eingeladen, um ihnen ihren Hochzeitstag feiern zu helfen. Es war im Spätsommer, und da ich mich frühzeitig auf den Weg gemacht und die Hausfrau noch in der Küche zu wirtschaften hatte, so ging Paulsen mit mir in den Garten, wo wir uns zusammen unter der großen Linde auf die Bank setzten. Mir war das »Pole Poppenspäler« wieder eingefallen, und es ging mir so im [8]Kopf herum, dass ich kaum auf seine Reden Antwort gab; endlich, da er mich fast ein wenig ernst wegen meiner Zerstreuung zurechtgewiesen hatte, fragte ich ihn gradezu, was jener Beiname zu bedeuten habe.

Er wurde sehr zornig. »Wer hat dich das dumme Wort gelehrt?«, rief er, indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber, bevor ich noch zu antworten vermochte, saß er schon wieder neben mir. »Lass, lass!«, sagte er sich besinnend; »es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben hat. – Ich will es dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu. –

In diesem Haus und Garten bin ich aufgewachsen, meine braven Eltern wohnten hier, und hoffentlich wird einst mein Sohn hier wohnen! – Dass ich ein Knabe war, ist nun schon lange her; aber gewisse Dinge aus jener Zeit stehen noch, wie mit farbigem Stift gezeichnet, vor meinen Augen.

Neben unserer Haustür stand damals eine kleine weiße Bank mit grünen Stäben in den Rück- und Seitenlehnen, von der man nach der einen Seite die lange Straße hinab bis an die Kirche, nach der anderen aus der Stadt hinaus bis in die Felder sehen konnte. An Sommerabenden saßen meine Eltern hier, der Ruhe nach der Arbeit pflegend; in den Stunden vorher aber pflegte ich sie in Beschlag zu nehmen, und hier in der freien Luft und unter erquickendem Ausblick nach Ost und West meine Schularbeiten anzufertigen.

So saß ich auch eines Nachmittags – ich weiß noch gar wohl, es war im September, eben nach unserem Michaelis-Jahrmarkte – und schrieb für den Rechenmeister meine Algebra-Exempel auf die Tafel, als ich unten von der Straße ein seltsames Gefährt heraufkommen sah. Es war ein zweirädriger Karren, der von einem kleinen rauen Pferde [9]gezogen wurde. Zwischen zwei ziemlich hohen Kisten, mit denen er beladen war, saß eine große blonde Frau mit steifen hölzernen Gesichtszügen und ein etwa neunjähriges Mädchen, das sein schwarzhaariges Köpfchen lebhaft von einer Seite nach der anderen drehte; nebenher ging, den Zügel in der Hand, ein kleiner, lustig blickender Mann, dem unter seiner grünen Schirmmütze die kurzen schwarzen Haare wie Spieße vom Kopfe abstanden.

So, unter dem Gebimmel eines Glöckchens, das unter dem Halse des Pferdes hing, kamen sie heran. Als sie die Straße vor unserem Hause erreicht hatten, machte der Karren Halt. ›Du Bub‹, rief die Frau zu mir herüber; ›wo ist denn die Schneiderherberg?‹

Mein Griffel hatte schon lange geruht; nun sprang ich eilfertig auf und trat an den Wagen. ›Ihr seid grad davor‹, sagte ich und wies auf das alte Haus mit der viereckig geschorenen Linde, das, wie du weißt, noch jetzt hier gegenüber liegt.

Das feine Dirnchen war zwischen den Kisten aufgestanden, streckte das Köpfchen aus der Kapuze ihres verschossenen Mäntelchens und sah mit ihren großen Augen auf mich herab; der Mann aber, mit einem ›Sitz ruhig, Diendl!‹ und ›Schönen Dank, Bub!‹ peitschte auf den kleinen Gaul und fuhr vor die Tür des bezeichneten Hauses, aus dem auch schon der dicke Herbergsvater in seiner grünen Schürze ihm entgegentrat.

Dass die Ankömmlinge nicht zu den zunftberechtigten Gästen des Hauses gehörten, musste mir freilich klar sein; aber es pflegten dort – was mir jetzt, wenn ich es bedenke, mit der Reputation des wohlehrsamen Handwerks sich keineswegs reimen will – auch andere, mir viel [10]angenehmere Leute einzukehren. Droben im zweiten Stock, wo noch heute statt der Fenster nur einfache Holzluken auf die Straße gehen, war das hergebrachte Quartier aller fahrenden Musikanten, Seiltänzer oder Tierbändiger, welche in unserer Stadt ihre Kunst zum Besten gaben.

Und richtig, als ich am anderen Morgen oben in meiner Kammer vor dem Fenster stand und meinen Schulsack schnürte, wurde drüben eine der Luken aufgestoßen; der kleine Mann mit den schwarzen Haarspießen steckte seinen Kopf ins Freie und dehnte sich mit beiden Armen in die frische Luft hinaus; dann wandte er den Kopf hinter sich nach dem dunklen Raum zurück und ich hörte ihn ›Lisei! Lisei!‹ rufen. – Da drängte sich unter seinem Arm ein rosiges Gesichtlein vor, um das wie eine Mähne das schwarze Haar herabfiel. Der Vater wies mit dem Finger nach mir herüber, lachte und zupfte sie ein paar Mal an ihren seidenen Strähnen. Was er zu ihr sprach, habe ich nicht verstehen können; aber es mag wohl ungefähr gelautet haben: ›Schau dir ihn an, Lisei! Kennst ihn noch, den Bubn von gestern? – Der arme Narr, da muss er nun gleich mit dem Ranzen in die Schule traben! – Was du für ein glücklichs Diendl bist, die du allweg nur mit unserem Braunen landab landauf zu fahren brauchst!‹ – Wenigstens sah die Kleine ganz mitleidig zu mir herüber, und als ich es wagte, ihr freundlich zuzunicken, nickte sie sehr ernsthaft wieder.

Bald aber zog der Vater seinen Kopf zurück und verschwand im Hintergrund seines Bodenraumes. Statt seiner trat jetzt die große blonde Frau zu dem Kinde; sie bemächtigte sich ihres Kopfes und begann ihr das Haar zu strählen. Das Geschäft schien schweigend vollzogen zu werden und das Lisei durfte offenbar nicht mucksen, obgleich es [11]mehrmals, wenn ihr der Kamm so in den Nacken hinabfuhr, die eckigsten Figuren mit ihrem roten Mäulchen bildete. Nur einmal hob sie den Arm und ließ ein langes Haar über die Linde draußen in die Morgenluft hinausfliegen. Ich konnte von meinem Fenster aus es glänzen sehen; denn die Sonne war eben durch den Herbstnebel gedrungen und schien drüben auf den oberen Teil des Herberghauses.

Auch in den vorhin undurchdringlich dunklen Bodenraum konnte ich jetzt hineinsehen. Ganz deutlich erblickte ich in einem dämmerigen Winkel den Mann an einem Tische sitzen; in seiner Hand blinkte etwas wie Gold oder Silber; dann wieder war’s wie ein Gesicht mit einer ungeheuren Nase; aber so sehr ich meine Augen anstrengte, ich vermochte nicht klug daraus zu werden. Plötzlich hörte ich, als wenn etwas Hölzernes in einen Kasten geworfen würde, und nun stand der Mann auf und lehnte aus einer zweiten Luke sich wieder auf die Straße hinaus.

Die Frau hatte indessen der kleinen schwarzen Dirne ein verschossenes rotes Kleidchen angezogen und ihr die Haarflechten wie einen Kranz um das runde Köpfchen gelegt.

Ich sah noch immer hinüber. ›Einmal‹, dachte ich, ›könnte sie doch wieder nicken!‹

– – ›Paul, Paul!‹, hörte ich plötzlich unten aus unserem Hause die Stimme meiner Mutter rufen.

›Ja, ja, Mutter!‹

Es war mir ordentlich wie ein Schrecken in die Glieder geschlagen.

›Nun‹, rief sie wieder, ›der Rechenmeister wird dir schön die Zeit verdeutschen! Weißt du denn nicht, dass es lang schon sieben geschlagen hat?‹

Wie rasch polterte ich die Treppe hinunter!

[12]Aber ich hatte Glück; der Rechenmeister war gerade dabei, seine Bergamotten abzunehmen, und die halbe Schule befand sich in seinem Garten, um mit Händen und Mäulern ihm dabei zu helfen. Erst um neun Uhr saßen wir alle mit heißen Backen und lustigen Gesichtern an Tafel und Rechenbuch auf unseren Bänken.

Als ich um elf, die Taschen noch von Birnen starrend, aus dem Schulhofe trat, kam eben der dicke Stadtausrufer die Straße herauf. Er schlug mit dem Schlüssel an sein blankes Messingbecken und rief mit seiner Bierstimme:

›Der Mechanikus und Puppenspieler Herr Joseph Tendler aus der Residenzstadt München ist gestern hier angekommen und wird heute Abend im Schützenhofsaale seine erste Vorstellung geben. Vorgestellt wird Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genovefa, Puppenspiel mit Gesang in vier Aufzügen.‹

Dann räusperte er sich und schritt würdevoll in der meinem Heimwege entgegengesetzten Richtung weiter. Ich folgte ihm von Straße zu Straße, um wieder und wieder die entzückende Verkündigung zu hören; denn niemals hatte ich eine Komödie, geschweige denn ein Puppenspiel gesehen. – Als ich endlich umkehrte, sah ich ein rotes Kleidchen mir entgegenkommen; und wirklich, es war die kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschossenen Anzuges schien sie mir von einem Märchenglanz umgeben.

Ich fasste mir ein Herz und redete sie an: ›Willst du spazieren gehen, Lisei?‹

Sie sah mich misstrauisch aus ihren schwarzen Augen an. ›Spazieren?‹, wiederholte sie gedehnt. ›Ach du! – du bist gscheit!‹

›Wohin willst du denn?‹

[13]– ›Zum Ellenkramer will i!‹

›Willst du dir ein neues Kleid kaufen?‹, fragte ich tölpelhaft genug.

Sie lachte laut auf. ›Geh! lass mi aus! – Nein; nur so Fetzln!‹

›Fetzln, Lisei?‹

– ›Freili! Halt nur so Resteln zu Gwandl für die Puppn; ’s kost’t immer nit viel!‹

Ein glücklicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf. Ein alter Onkel von mir hatte damals am Markte hier eine Ellenwarenhandlung, und sein alter Ladendiener war mein guter Freund. ›Komm mit mir!‹, sagte ich kühn; ›es soll dir gar nichts kosten, Lisei!‹

›Meinst?‹, fragte sie noch; dann liefen wir beide nach dem Markt und in das Haus des Onkels. Der alte Gabriel stand wie immer in seinem pfeffer-und-salzfarbenen Rock hinter dem Ladentisch, und als ich ihm unser Anliegen deutlich gemacht hatte, kramte er gutmütig einen Haufen ›Rester‹ auf den Tisch zusammen.

›Schau, das hübsch Brinnrot!‹, sagte Lisei, und nickte begehrlich nach einem Stückchen französischen Kattuns hinüber.

›Kannst es brauchen?‹, fragte Gabriel. – Ob sie es brauchen konnte! Der Ritter Siegfried sollte ja auf den Abend noch eine neue Weste geschneidert bekommen.

›Aber da gehören auch die Tressen noch dazu‹, sagte der Alte, und brachte allerlei Endchen Gold- und Silberflittern. Bald kamen noch grüne und gelbe Seidenläppchen und Bänder, endlich ein ziemlich großes Stück braunen Plüsches. ›Nimm’s nur, Kind!‹, sagte Gabriel; ›das gibt ein Tierfell für eure Genovefa, wenn das alte vielleicht [14]verschossen wäre!‹ Dann packte er die ganze Herrlichkeit zusammen und legte sie der Kleinen in den Arm.

›Und es kost’t nix?‹, fragte sie beklommen.

Nein, es kostete nichts. Ihre Augen leuchteten. ›Schön Dank, guter Mann! Ach, wird der Vater schauen!‹

Hand in Hand, Lisei mit ihrem Päckchen unter dem Arm, verließen wir den Laden; als wir aber in die Nähe unserer Wohnung kamen, ließ sie mich los und rannte über die Straße nach der Schneiderherberge, dass ihr die schwarzen Flechten in den Nacken flogen.

– – Nach dem Mittagessen stand ich vor unserer Haustür und erwog unter Herzklopfen das Wagnis, schon heute zur ersten Vorstellung meinen Vater um das Eintrittsgeld anzugehen; ich war ja mit der Galerie zufrieden, und die sollte für uns Jungens nur einen Doppelschilling kosten. Da, bevor ich’s noch bei mir ins Reine gebracht hatte, kam das Lisei über die Straße zu mir hergeflogen. ›Der Vater schickt’s!‹, sagte sie, und eh ich mich’s versah, war sie wieder fort; aber in meiner Hand hielt ich eine rote Karte, darauf stand mit großen Buchstaben: Erster Platz.

Als ich aufblickte, winkte auch von drüben der kleine schwarze Mann mit beiden Armen aus der Bodenluke zu mir herüber. Ich nickte ihm zu; was mussten das für nette Leute sein, diese Puppenspieler! ›Also heute Abend‹, sagte ich zu mir selber; ›heute Abend, und – Erster Platz!‹

*

– – Du kennst unseren Schützenhof in der Süderstraße; auf der Haustür sah man damals noch einen schön gemalten Schützen, in Lebensgröße, mit Federhut und Büchse; im [15]Übrigen war aber der alte Kasten damals noch baufälliger, als er heute ist. Die Gesellschaft war bis auf drei Mitglieder herabgesunken; die vor Jahrhunderten von den alten Landesherzögen geschenkten silbernen Pokale, Pulverhörner und Ehrenketten waren nach und nach verschleudert; den großen Garten, der, wie du weißt, auf den Bürgersteig hinausläuft, hatte man zur Schaf- und Ziegengräsung verpachtet. Das alte zweistöckige Haus wurde von niemandem weder bewohnt noch gebraucht; windrissig und verfallen stand es da zwischen den munteren Nachbarhäusern; nur in dem öden weißgekalkten Saale, der fast das ganze obere Stockwerk einnahm, produzierten mitunter starke Männer oder durchreisende Taschenspieler ihre Künste. Dann wurde unten die große Haustür mit dem gemalten Schützenbruder knarrend aufgeschlossen.

– – Langsam war es Abend geworden; und – – das Ende trug die Last, denn mein Vater wollte mich erst fünf Minuten vor dem angesetzten Glockenschlage laufen lassen; er meinte, eine Übung in der Geduld sei sehr vonnöten, damit ich im Theater stille sitze.

Endlich war ich an Ort und Stelle. Die große Tür stand offen, und allerlei Leute wanderten hinein; denn derzeit ging man noch gern zu solchen Vergnügungen; nach Hamburg war eine weite Reise, und nur wenige hatten sich die kleinen Dinge zu Hause durch die dort zu schauenden Herrlichkeiten leid machen können. – Als ich die eichene Wendeltreppe hinaufgestiegen war, fand ich Liseis Mutter am Eingange des Saales an der Kasse sitzen. Ich näherte mich ihr ganz vertraulich und dachte, sie würde mich so recht als einen alten Bekannten begrüßen; aber sie saß stumm und starr, und nahm mir meine Karte ab, als wenn [16]ich nicht die geringste Beziehung zu ihrer Familie hätte. – Etwas gedemütigt trat ich in den Saal; der kommenden Dinge harrend, plauderte alles mit halber Stimme durcheinander; dazu fiedelte unser Stadtmusikus mit drei seiner Gesellen. Das Erste, worauf meine Augen fielen, war in der Tiefe des Saales ein roter Vorhang oberhalb der Musikantenplätze. Die Malerei in der Mitte desselben stellte zwei lange Trompeten vor, die kreuzweise über einer goldenen Leier lagen; und, was mir damals sehr sonderbar erschien, an dem Mundstück einer jeden hing, wie mit dem leeren Auge darauf geschoben, hier eine finster, dort eine lachend ausgeprägte Maske. – Die drei vordersten Plätze waren schon besetzt; ich drängte mich in die vierte Bank, wo ich einen Schulkameraden bemerkt hatte, der dort neben seinen Eltern saß. Hinter uns bauten sich die Plätze schräg ansteigend in die Höhe, so dass der letzte, die sogenannte Galerie, welche nur zum Stehen war, sich fast mannshoch über dem Fußboden befinden mochte. Auch dort schien es wohlgefüllt zu sein; genau vermochte ich es nicht zu sehen, denn die wenigen Talglichter, welche in Blechlampetten an den beiden Seitenwänden brannten, verbreiteten nur eine schwache Helligkeit; auch dunkelte die schwere Balkendecke des Saales. Mein Nachbar wollte mir eine Schulgeschichte erzählen; ich begriff nicht, wie er an so etwas denken konnte, ich schaute nur auf den Vorhang, der von den Lampen des Podiums und der Musikantenpulte feierlich beleuchtet war. Und jetzt ging ein Wehen über seine Fläche, die geheimnisvolle Welt hinter ihm begann sich schon zu regen; noch einen Augenblick, da erscholl das Läuten eines Glöckchens, und während unter den Zuschauern das summende Geplauder wie mit einem Schlage [17]verstummte, flog der Vorhang in die Höhe. – – Ein Blick auf die Bühne versetzte mich um tausend Jahre rückwärts. Ich sah in einen mittelalterlichen Burghof mit Turm und Zugbrücke; zwei kleine ellenlange Leute standen in der Mitte und redeten lebhaft miteinander. Der eine mit dem schwarzen Barte, dem silbernen Federhelm und dem goldgestickten Mantel über dem roten Unterkleide war der Pfalzgraf Siegfried; er wollte gegen die heidnischen Mohren in den Krieg reiten, und befahl seinem jungen Hausmeister Golo, der in blauem silbergestickten Wamse neben ihm stand, zum Schutze der Pfalzgräfin Genovefa in der Burg zurückzubleiben. Der treulose Golo aber tat gewaltig wild, dass er seinen guten Herrn so allein in das grimme Schwerterspiel sollte reiten lassen. Sie drehten bei diesen Wechselreden die Köpfe hin und her und fochten heftig und ruckweise mit den Armen. – Da tönten kleine langgezogene Trompetentöne von draußen hinter der Zugbrücke, und zugleich kam auch die schöne Genovefa in himmelblauem Schleppkleide hinter dem Turm hervorgestürzt und schlug beide Arme über des Gemahls Schultern: ›O mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich die grausamen Heiden nur nicht massakrieren!‹ Aber es half ihr nichts; noch einmal ertönten die Trompeten, und der Graf schritt steif und würdevoll über die Zugbrücke aus dem Hofe; man hörte deutlich draußen den Abzug des gewappneten Trupps. Der böse Golo war jetzt Herr der Burg. –

Und nun spielte das Stück sich weiter, wie es in deinem Lesebuche gedruckt steht. – Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert; diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen, die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen, – es war ein [18]unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog.

Im zweiten Aufzuge aber sollte es noch besser kommen. – Da war unter den Dienern auf der Burg einer im gelben Nankinganzug, der hieß Kasperl. Wenn dieser Bursche nicht lebendig war, so war noch niemals etwas lebendig gewesen; er machte die ungeheuersten Witze, so dass der ganze Saal vor Lachen bebte; in seiner Nase, die so groß wie eine Wurst war, musste er jedenfalls ein Gelenk haben; denn wenn er so sein dumm-pfiffiges Lachen herausschüttelte, so schlenkerte der Nasenzipfel hin und her, als wenn auch er sich vor Lustigkeit nicht zu lassen wüsste; dabei riss der Kerl seinen großen Mund auf und knackte, wie eine alte Eule, mit den Kinnbackenknochen. ›Pardauz!‹, schrie es; so kam er immer auf die Bühne gesprungen; dann stellte er sich hin und sprach erst bloß mit seinem großen Daumen; den konnte er so ausdrucksvoll hin und wider drehen, dass es ordentlich ging, wie ›Hier nix und da nix; kriegst du nix, so hast du nix!‹ Und dann sein Schielen; – das war so verführerisch, dass im Augenblick dem ganzen Publikum die Augen verquer im Kopfe standen. Ich war ganz vernarrt in den lieben Kerl!

Endlich war das Spiel zu Ende, und ich saß wieder zu Hause in unserer Wohnstube und verzehrte schweigend das Aufgebratene, das meine gute Mutter mir warm gestellt hatte. Mein Vater saß im Lehnstuhl und rauchte seine Abendpfeife. ›Nun, Junge‹, rief er, ›waren sie lebendig?‹

›Ich weiß nicht, Vater‹, sagte ich und arbeitete weiter in meiner Schüssel; mir war noch ganz verwirrt zu Sinne.

Er sah mir eine Weile mit seinem klugen Lächeln zu. ›Höre, Paul‹, sagte er dann, ›du darfst nicht zu oft in diesen [19]Puppenkasten; die Dinger könnten dir am Ende in die Schule nachlaufen.‹

*

Mein Vater hatte nicht Unrecht. Die Algebra-Aufgaben gerieten mir in den beiden nächsten Tagen so mäßig, dass der Rechenmeister mich von meinem ersten Platz herabzusetzen drohte. – Wenn ich in meinem Kopfe rechnen wollte: ›a + b gleich x – c‹, so hörte ich stattdessen vor meinen Ohren die feine Vogelstimme der schönen Genovefa: ›Ach, mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich die bösen Heiden nur nicht massakrieren!‹ Einmal – aber es hat niemand gesehen – schrieb ich sogar ›x + Genovefa‹ auf die Tafel. – Des Nachts in meiner Schlafkammer rief es einmal ganz laut ›Pardauz!‹ und mit einem Satz kam der liebe Kasperl in seinem Nankinganzug zu mir ins Bett gesprungen, stemmte seine Arme zu beiden Seiten meines Kopfes in das Kissen und rief grinsend auf mich herabnickend: ›Ach, du liebs Brüderl, ach, du herztausig liebs Brüderl!‹ Dabei hackte er mir mit seiner langen roten Nase in die meine, dass ich davon erwachte. Da sah ich denn freilich, dass es nur ein Traum gewesen war.

Ich verschloss das alles in meinem Herzen und wagte zu Hause kaum den Mund aufzutun von der Puppenkomödie. Als aber am nächsten Sonntag der Ausrufer wieder durch die Straßen ging, an sein Becken schlug und laut verkündigte: ›Heute Abend auf dem Schützenhof: Doktor Fausts Höllenfahrt, Puppenspiel in vier Aufzügen!‹ – da war es doch nicht länger auszuhalten. Wie die Katze um den süßen Brei, so schlich ich um meinen Vater herum, und [20]endlich hatte er meinen stummen Blick verstanden. – ›Pole‹, sagte er, ›es könnte dir ein Tropfen Blut vom Herzen gehen; vielleicht ist’s die beste Kur, dich einmal gründlich satt zu machen.‹ Damit langte er in die Westentasche und gab mir einen Doppelschilling.

Ich rannte sofort aus dem Hause; erst auf der Straße wurde es mir klar, dass ja noch acht lange Stunden bis zum Anfang der Komödie abzuleben waren. So lief ich denn hinter den Gärten auf den Bürgersteig. Als ich an den offenen Grasgarten des Schützenhofs gekommen war, zog es mich unwillkürlich hinein; vielleicht, dass gar einige Puppen dort oben aus den Fenstern guckten; denn die Bühne lag ja an der Rückseite des Hauses. Aber ich musste dann erst durch den oberen Teil des Gartens, der mit Linden- und Kastanienbäumen dicht bestanden war. Mir wurde etwas zag zumute; ich wagte doch nicht weiter vorzudringen. Plötzlich erhielt ich von einem großen hier angepflockten Ziegenbock einen Stoß in den Rücken, dass ich um zwanzig Schritte weiterflog. Das half! als ich mich umsah, stand ich schon unter den Bäumen.

Es war ein trüber Herbsttag; einzelne gelbe Blätter sanken schon zur Erde; über mir in der Luft schrieen ein paar Strandvögel, die ans Haff hinausflogen; kein Mensch war zu sehen noch zu hören. Langsam schritt ich durch das Unkraut, das auf den Steigen wucherte, bis ich einen schmalen Steinhof erreicht hatte, der den Garten von dem Hause trennte. – Richtig! dort von oben schauten zwei große Fenster in den Hof herab; aber hinter den kleinen in Blei gefassten Scheiben war es schwarz und leer, keine Puppe war zu sehen. Ich stand eine Weile, mir wurde ganz unheimlich in der mich rings umgebenden Stille.

[21]Da sah ich, wie unten die schwere Hoftür von innen eine Handbreit geöffnet wurde, und zugleich lugte auch ein schwarzes Köpfchen daraus hervor.

›Lisei!‹, rief ich.

Sie sah mich groß mit ihren dunklen Augen an. ›Bhüt Gott!‹, sagte sie; ›hab i doch nit gewusst, was da außa rumkraxln tät! Wo kommst denn du daher?‹

›Ich? – Ich geh spazieren, Lisei! – Aber sag mir, spielt ihr denn schon jetzt Komödie?‹

Sie schüttelte lachend den Kopf.

›Aber, was machst du denn hier?‹, fragte ich weiter, indem ich über den Steinhof zu ihr trat.

›I wart auf den Vater‹, sagte sie; ›er ist ins Quartier, um Band und Nagel zu holen; er macht’s halt firti für heunt Abend.‹

›Bist du denn ganz allein hier, Lisei?‹

– ›O nei; du bist ja aa no da!‹

›Ich meine‹, sagte ich, ›ob nicht deine Mutter oben auf dem Saal ist?‹

Nein, die Mutter saß in der Herberge und besserte die Puppenkleider aus; das Lisei war hier ganz allein.

›Hör‹, begann ich wieder, › du könntest mir einen Gefallen tun; es ist unter euern Puppen einer, der heißt Kasperl; den möcht ich gar zu gern einmal in der Nähe sehen.‹

›Den Wurstl meinst?‹, sagte Lisei, und schien sich eine Weile zu bedenken. ›Nu, es ging’ scho; aber gschwind musst sein, eh denn der Vater wieder da ist!‹

Mit diesen Worten waren wir schon ins Haus getreten und liefen eilig die steile Wendeltreppe hinauf. – Es war fast dunkel in dem großen Saale; denn die Fenster, welche sämtlich nach dem Hofe hinaus lagen, waren von der [22]Bühne verdeckt; nur einzelne Lichtstreifen fielen durch die Spalten des Vorhangs.

›Komm!‹, sagte Lisei und hob seitwärts an der Wand die dort aus einem Teppich bestehende Verkleidung in die Höhe; wir schlüpften hindurch, und da stand ich in dem Wundertempel. – Aber, von der Rückseite betrachtet, und hier in der Tageshelle sah er ziemlich kläglich aus; ein Gerüst aus Latten und Brettern, worüber einige bunt bekleckste Leinwandstücke hingen: das war der Schauplatz, auf welchem das Leben der heiligen Genovefa so täuschend an mir vorübergegangen war. – Doch, ich hatte mich zu früh beklagt; dort, an einem Eisendrahte, der von einer Kulisse nach der Wand hinübergespannt war, sah ich zwei der wunderbaren Puppen schweben; aber sie hingen mit dem Rücken gegen mich, so dass ich sie nicht erkennen konnte.

›Wo sind die anderen, Lisei?‹, fragte ich; denn ich hätte gern die ganze Gesellschaft auf einmal mir besehen.

›Hier im Kastl‹, sagte Lisei und klopfte mit ihrer kleinen Faust auf eine im Winkel stehende Kiste; ›die zwei da sind scho zugricht; aber geh nur her dazu und schau’s dir a; er is schon dabei, dei Freund, der Kasperl!‹

Und wirklich, er war es selber. ›Spielt denn der heute Abend auch wieder mit?‹, fragte ich.

›Freili, der is allimal dabei!‹

Mit untergeschlagenen Armen stand ich und betrachtete meinen lieben lustigen Allerweltskerl. Da baumelte er, an sieben Schnüren aufgehenkt; sein Kopf war vorn übergesunken, dass seine großen Augen auf den Fußboden stierten, und ihm die rote Nase wie ein breiter Schnabel auf der Brust lag. ›Kasperle, Kasperle‹, sagte ich bei mir selber, ›wie hängst du da elendiglich!‹ Da antwortete es ebenso: ›Wart [23]nur, liebs Brüderl, wart nur bis heut Abend!‹ – War das auch nur so in meinen Gedanken oder hatte Kasperl selbst zu mir gesprochen? –

Ich sah mich um. Das Lisei war fort; sie war wohl vor die Haustür, um die Rückkehr ihres Vaters zu überwachen. Da hörte ich sie eben noch von dem Ausgang des Saales rufen: ›Dass d’ mir aber nit an die Puppen rührst!‹ – – Ja, – nun konnte ich es aber doch nicht lassen. Leise stieg ich auf eine neben mir stehende Bank und begann erst an der einen, dann an der anderen Schnur zu ziehen; die Kinnladen fingen an zu klappen, die Arme hoben sich, und jetzt fing auch der wunderbare Daumen an ruckweise hin und her zu schießen. Die Sache machte gar keine Schwierigkeit; ich hatte mir die Puppenspielerei doch kaum so leicht gedacht. – Aber die Arme bewegten sich nur nach vorn und hinten aus; und es war doch gewiss, dass Kasperle sie in dem neulichen Stück auch seitwärts ausgestreckt, ja dass er sie sogar über dem Kopfe zusammengeschlagen hatte! Ich zog an allen Drähten, ich versuchte mit der Hand die Arme abzubiegen; aber es wollte nicht gelingen. Auf einmal tat es einen leisen Krach im Innern der Figur. ›Halt!‹, dachte ich; ›Hand vom Brett! Da hättest du können Unheil anrichten!‹

Leise stieg ich wieder von meiner Bank herab, und zugleich hörte ich auch Lisei von außen in den Saal treten.

›Gschwind, gschwind!‹, rief sie und zog mich durch das Dunkel an die Wendeltreppe hinaus; ›’s is eigentli nit recht‹, fuhr sie fort, ›dass i di eilassn hab; aber, gell, du hast doch dei Gaudi ghabt!‹

Ich dachte an den leisen Krach von vorhin. ›Ach, es wird ja nichts gewesen sein!‹ Mit dieser Selbsttröstung lief ich die Treppe hinab und durch die Hintertür ins Freie.

[24]So viel stand fest, der Kasper war doch nur eine richtige Holzpuppe; aber das Lisei – was das für eine allerliebste Sprache führte! und wie freundlich sie mich gleich zu den Puppen mit hinaufgenommen hatte! – Freilich, und sie hatte es ja auch selbst gesagt, dass sie es so heimlich vor ihrem Vater getan, das war nicht völlig in der Ordnung. Unlieb – zu meiner Schande muss ich’s gestehen – war diese Heimlichkeit mir grade nicht; im Gegenteil, die Sache bekam für mich dadurch noch einen würzigen Beigeschmack, und es muss ein recht selbstgefälliges Lächeln auf meinem Gesicht gestanden haben, als ich durch die Linden- und Kastanienbäume des Gartens wieder nach dem Bürgersteig hinabschlenderte.

Allein zwischen solchen schmeichelnden Gedanken hörte ich von Zeit zu Zeit vor meinem inneren Ohre immer jenen leisen Krach im Körper der Puppe; was ich auch vornahm, den ganzen Tag über konnte ich diesen, jetzt aus meiner eigenen Seele herauftönenden unbequemen Laut nicht zum Schweigen bringen.

*

Es hatte sieben Uhr geschlagen; im Schützenhofe war heute, am Sonntagabend, alles besetzt; ich stand diesmal hinten, fünf Schuh hoch über dem Fußboden, auf dem Doppelschillingsplatze. Die Talglichter brannten in den Blechlampetten, der Stadtmusikus und seine Gesellen fiedelten; der Vorhang rollte in die Höhe.

Ein hochgewölbtes gotisches Zimmer zeigte sich. Vor einem aufgeschlagenen Folianten saß im langen schwarzen Talare der Doktor Faust und klagte bitter, dass ihm all seine [25]Gelehrsamkeit so wenig einbringe; keinen heilen Rock habe er mehr am Leibe und vor Schulden wisse er sich nicht zu lassen; so wolle er denn jetzo mit der Hölle sich verbinden. – ›Wer ruft nach mir?‹, ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme von der Wölbung des Gemaches herab. – ›Faust, Faust, folge nicht!‹, kam eine andere feine Stimme von der Rechten. – Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten. – ›Weh, weh deiner armen Seele!‹ Wie ein seufzender Windeshauch klang es von der Stimme des Engels; von der Linken schallte eine gellende Lache durchs Gemach. – – Da klopfte es an die Tür. ›Verzeihung, Eure Magnifizenz!‹ Fausts Famulus Wagner war eingetreten. Er bat, ihm für die grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehülfen zu gestatten, damit er sich besser aufs Studieren legen könne. ›Es hat sich‹, sagte er, ›ein junger Mann bei mir gemeldet, welcher Kasperl heißt und gar fürtreffliche Qualitäten zu besitzen scheint.‹ – Faust nickte gnädig mit dem Kopfe und sagte: ›Sehr wohl, lieber Wagner, diese Bitte sei Euch gewährt.‹ Dann gingen beide miteinander fort. – –

›Pardauz!‹, rief es; und da war er. Mit einem Satz kam er auf die Bühne gesprungen, dass ihm das Felleisen auf dem Buckel hüpfte.

– – ›Gott sei gelobt!‹, dachte ich; ›er ist noch ganz gesund; er springt noch ebenso, wie vorigen Sonntag in der Burg der schönen Genovefa!‹ Und seltsam, so sehr ich ihn am Vormittage in meinen Gedanken nur für eine schmähliche Holzpuppe erklärt hatte, – mit seinem ersten Worte war der ganze Zauber wieder da.

Emsig spazierte er im Zimmer auf und ab. ›Wenn mich jetzt mein Vater-Papa sehen tät‹, rief er, ›der würd sich was [26]Rechts freuen! Immer pflegt’ er zu sagen: Kasperl, mach, dass du dein Sach in Schwung bringst! – O jetzund hab ich’s in Schwung; denn ich kann mein Sach haushoch werfen!‹ – Damit machte er Miene, sein Felleisen in die Höhe zu schleudern; und es flog auch wirklich, da es am Draht gezogen wurde, bis an die Deckenwölbung hinauf; aber – Kasperles Arme waren an seinem Leibe kleben geblieben; es ruckte und ruckte, aber sie kamen um keine Handbreit in die Höhe.

Kasperl sprach und tat nichts weiter. – Hinter der Bühne entstand eine Unruhe, man hörte leise aber heftig sprechen, der Fortgang des Stückes war augenscheinlich unterbrochen.

Mir stand das Herz still; da hatten wir die Bescherung! Ich wäre gern fortgelaufen, aber ich schämte mich. Und wenn gar dem Lisei meinetwegen etwas geschähe!

Da begann Kasperl auf der Bühne plötzlich ein klägliches Geheule, wobei ihm Kopf und Arme schlaff herunterhingen, und der Famulus Wagner erschien wieder und fragte ihn, warum er denn so lamentiere.

›Ach, mei Zahnerl, mei Zahnerl!‹, schrie Kasperl.

›Guter Freund‹, sagte Wagner, ›so lass’ Er sich einmal in das Maul sehen!‹ – Als er ihn hierauf bei der großen Nase packte und ihm zwischen die Kinnladen hineinschaute, trat auch der Doktor Faust wieder in das Zimmer. – ›Verzeihen Eure Magnifizenz‹, sagte Wagner, ›ich werde diesen jungen Mann in meinem Dienst nicht gebrauchen können; er muss sofort in das Lazarett geschafft werden!‹

›Is das a Wirtshaus?‹, fragte Kasperle.

›Nein, guter Freund‹, erwiderte Wagner, ›das ist ein Schlachthaus. Man wird Ihm dort einen Weisheitszahn aus [27]der Haut schneiden, und dann wird Er seiner Schmerzen ledig sein.‹

›Ach, du liebs Herrgottl‹, jammerte Kasper, ›muss mi arms Viecherl so ein Unglück treffen! Ein Weisheitszahnerl, sagt Ihr, Herr Famulus? Das hat noch keiner in der Famili gehabt! Da geht’s wohl auch mit meiner Kasperlschaft zu End?‹

›Allerdings, mein Freund‹, sagte Wagner; ›eines Dieners mit Weisheitszähnen bin ich bass entraten; die Dinger sind nur für uns gelehrte Leute. Aber Er hat ja noch einen Bruderssohn, der sich auch bei mir zum Dienst gemeldet hat. Vielleicht‹, und er wandte sich gegen den Doktor Faust, ›erlauben Eure Magnifizenz!‹

Der Doktor Faust machte eine würdige Drehung mit dem Kopfe.

›Tut, was Euch beliebt, mein lieber Wagner‹, sagte er; ›aber stört mich nicht weiter mit Euren Lappalien in meinem Studium der Magie!‹

– – ›Heere, mei Gutester‹, sagte ein Schneidergesell, der vor mir auf der Brüstung lehnte, zu seinem Nachbar, ›das geheert ja nicht zum Stück; ich kenn’s, ich hab es vor ä Weilchen erst in Seifersdorf gesehn.‹ – Der andere aber sagte nur: ›Halt’s Maul, Leipziger!‹ und gab ihm einen Rippenstoß.

– – Auf der Bühne war indessen Kasperle, der Zweite, aufgetreten. Er hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem kranken Onkel, auch sprach er ganz genau wie dieser; nur fehlte ihm der bewegliche Daumen, und in seiner großen Nase schien er kein Gelenk zu haben.

Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, als das Stück nun ruhig weiterspielte, und bald hatte ich alles um mich [28]her vergessen. Der teuflische Mephistopheles erschien in seinem feuerfarbenen Mantel, das Hörnchen vor der Stirn, und Faust unterzeichnete mit seinem Blute den höllischen Vertrag:

›Vierundzwanzig Jahre sollst du mir dienen; dann will ich dein sein mit Leib und Seele.‹

Hierauf fuhren beide in des Teufels Zaubermantel durch die Luft davon. Für Kasperle kam eine ungeheure Kröte mit Fledermausflügeln aus der Luft herab. ›Auf dem höllischen Sperling soll ich nach Parma reiten?‹, rief er, und als das Ding wackelnd mit dem Kopfe nickte, stieg er auf und flog den beiden nach.

– – Ich hatte mich ganz hinten an die Wand gestellt, wo ich besser über alle die Köpfe vor mir hinwegsehen konnte. Und jetzt rollte der Vorhang zum letzten Aufzug in die Höhe.

Endlich ist die Frist verstrichen. Faust und Kasper sind beide wieder in ihrer Vaterstadt. Kasper ist Nachtwächter geworden; er geht durch die dunklen Straßen und ruft die Stunden ab:

›Hört ihr Herrn und lasst euch sagen,

Meine Frau hat mich geschlagen;

Hüt’t euch vor dem Weiberrock!

Zwölf ist der Klock! Zwölf ist der Klock!‹

Von fern hört man eine Glocke Mitternacht schlagen. Da wankt Faust auf die Bühne; er versucht zu beten; aber nur Heulen und Zähneklappen tönt aus seinem Halse. Von oben ruft eine Donnerstimme:

Fauste, Fauste, in aeternum damnatus es!

[29]Eben fuhren in Feuerregen drei schwarzhaarige Teufel herab, um sich des Armen zu bemächtigen; da fühlte ich eins der Bretter zu meinen Füßen sich verschieben. Als ich mich bückte, um es zurechtzubringen, glaubte ich aus dem dunklen Raume unter mir ein Geräusch zu hören; ich horchte näher hin; es klang wie das Schluchzen einer Kinderstimme. – ›Lisei!‹, dachte ich; ›wenn es Lisei wäre!‹ Wie ein Stein fiel meine ganze Untat mir wieder aufs Gewissen; was kümmerte mich jetzt der Doktor Faust und seine Höllenfahrt!

Pole Poppenspäler. Novelle

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