Читать книгу Schattenparade: Kriminalroman - Theodor Horschelt - Страница 7
II
ОглавлениеDrei Tage später – am Freitag Vormittag – saß O'Keene in seinem Büro am runden Tisch mit seinen beiden Sergeanten Boudy und Smith zusammen, um über den rätselhaften Fall eine Zwischenbesprechung abzuhalten.
„Bisher“, sagte der Leutnant und klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte, „bisher hat sich niemand gemeldet, der den Toten vermisst. Und doch muss er Angehörige haben. Ein Mensch taucht doch nicht aus dem luftleeren Raum auf!“
„Eben“, ließ sich Boudy vernehmen. „Möglicherweise stammt der Tote aber gar nicht aus Cleveland. Was dann?“
„Dann haben wir Pech gehabt. Haben Sie etwas zu melden, Boudy?“
Dieser, ein cleverer, noch junger Mann, schlug sein Taschenbuch auf. „Rechtsanwalt Coleman beschäftigt ein junges Mädchen und einen uralten Bürovorsteher, dem sozusagen schon der Kalk aus den Hosen rieselt. Beiden ist der Mord nicht zuzutrauen. Coleman selbst ist wohl über jeden Verdacht erhaben. Was Deane betrifft, so scheinen ihm ebenfalls alle Voraussetzungen eines Mörders zu fehlen. Er legt für sein Personal die Hand ins Feuer. Wenn Sie wünschen, kann ich aber jede einzelne Person noch einmal unter die Lupe nehmen!“
„Später, Boudy, später. Leider haben wir keinen genauen Todeszeitpunkt. Der Unbekannte ist zwischen fünfzehnten März, zwölf Uhr, und neunzehnten März, null Uhr, getötet worden. Soweit der Autopsiebericht. Die erste Annahme des Arztes, die furchtbare Gesichtsverletzung könne von einem Schlag herrühren, hat sich nicht bewahrheitet. Die Ärzte sind sicher, dass der Mann noch gelebt hat, als er abstürzte, und erst auf der Decke des Fahrkorbes zu Tode gekommen ist. Außerdem wurde noch festgestellt, dass der Unbekannte einen Leberschaden hatte.“
Smith sah auf und bemerkte ruhig: „Man könnte also sämtliche Ärzte abklappern und nach einem leberkranken Patienten forschen, der plötzlich nicht mehr zur Behandlung erschienen ist.“
O'Keene nickte freundlich. „Gute Gedankenarbeit, Smith. Ich habe bereits Sergeant Nalligan und sein Team beauftragt, die Ärzte aufzusuchen. Bis jetzt liegt aber kein positives Ergebnis vor. – Well, Boudy, haben Sie gefragt, wer das Haus eingehend besichtigte?“
Der Sergeant nickte. „Ja, Sir, eine entsprechende Notiz liegt schon in der Akte. Verschiedene Interessenten haben bei Deane & Longfellow angefragt, aber nur vier haben das Haus auch besichtigt. Am zwölften Dezember der Fabrikant Maurice Harell; am fünften Januar ein Geistlicher, Reverend Miles Flas; am ersten März ein gewisser Markus Niven und am fünfzehnten März der Nachtklubbesitzer Tom Flanagan …“
Der Leutnant verzog den Mund, als er den letzten Namen hörte. „Flanagan? Kein sehr angesehener Mann!“
„Aber nicht vorbestraft“, warf Boudy eilig ein. „Soll ich den vier Personen auf den Zahn fühlen?“
„Noch nicht!“, bestimmte der Leutnant. „Hat keinen Sinn, die Leute kopfscheu zu machen, ehe wir den Toten identifiziert haben oder wenigstens ein Motiv kennen. Beides ist nicht der Fall. Vieles wäre leichter, wenn ich endlich wüsste, wer der Tote ist.“
Smith verzog vergnügt die Lippen. Er arbeitete mit O'Keene gut zusammen und durfte sich etwas herausnehmen. „Well, Sir, es ist vielleicht überheblich, wenn ich in Gegenwart eines Vorgesetzten einen Plan entwickle, aber die niedrigen Gehaltsgruppen haben manchmal auch Ideen!“
*
O'Keene hatte an diesem Tag für Humor durchaus keinen Sinn. Er fuhr den Sergeant heftig an, er möge gefälligst kein Blech reden, und forderte ihn auf, seinen Plan zu entwickeln.
„Vielleicht ist es Unsinn, was ich jetzt sage“, gestand Smith freimütig. „Denken Sie an die Kinokarte, Sir! Das Roxy ist ein typisches Vorstadttheater im Süden. Solche Kinos haben wenig Laufkundschaft. Die meisten Besucher kommen immer wieder, viele davon sogar zweimal in der Woche und oft an ganz bestimmten Tagen. Wie wäre es, wenn wir uns mit dem Besitzer und seinem Personal in Verbindung setzten, um zu fragen, ob ein Stammkunde seit dreizehnten März plötzlich weggeblieben ist?“
O'Keene erwies sich von dem Plan sofort fasziniert. „Neunundneunzig zu eins, dass wir damit Pech haben. Aber versuchen wollen wir‘s ohnehin. Boudy, Sie halten hier die Stellung, während ich mit Smith zum Roxy fahre …“
Der Polizeioffizier fand das „Roxy“ im ältesten Stadtviertel in der Nähe des Cuyahoga, der seine trüben Fluten langsam durch das kanalisierte Bett wälzte.
Windschiefe, ungepflegte Häuser säumten den holperigen Platz, auf dem O'Keene seinen Privatwagen abstellte.
„Sehen Sie nur die Kinder an“, sagte er zu Smith. „Spielen mitten im Dreck. Keine Sonne, keine reine Luft. Pfui Teufel, was soll aus denen bloß werden? Wollen gelegentlich dem Sozialamt einen Wink geben!“
Das Lichtspieltheater war in einem etwas besser gehaltenen Bau untergebracht. Die beiden Beamten traten durch ein Tor, über dem ein schreiendes Reklameplakat hing, in einen dunklen Gang und erreichten einen tristen Hof, wo zwei Eisentreppen zum Vorführraum und zur Privatwohnung des Besitzers führten.
O'Keene betrat die Treppe zur Rechten und läutete im Halbstock an einer sauber gestrichenen Tür.
Der Mann, der gleich darauf öffnete, hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem jener Gartenzwerge, die zum Entsetzen aller Kulturmenschen immer wieder Abnehmer finden.
„Mr. Kendall?“, fragte der Leutnant und zeigte seinem Visavis die Dienstmarke. „Ich bin Leutnant O'Keene von der Stadtpolizei. Mein Begleiter ist Sergeant Smith. Ich möchte Sie um eine Auskunft bitten!“
Kendall musterte die Beamten erstaunt, machte aber eine auffordernde Handbewegung. „Aber bitte, meine Herren, kommen Sie herein!“
Der Polizeioffizier betrat ein bescheiden eingerichtetes, blitzsauberes Büro und nahm Platz.
„Mr. Kendall“, begann er. „Am fünfzehnten April wurde in einem Haus an der Park Avenue die Leiche eines unbekannten Mannes gefunden …“
„Ich habe davon gelesen“, warf der Kinobesitzer erschauernd ein, „wüsste aber nicht, was ich damit zu tun hätte.“
„Wir konnten den Toten bis jetzt nicht identifizieren. Er scheint aber am dreizehnten März die dritte Vorstellung Ihres Kinos besucht zu haben …“
Kendall wechselte die Farbe; er reagierte ausgesprochen sauer: „Wenn Sie damit andeuten wollen, Sir, dass ich mit dem Mord zu tun habe, dann möchte ich die Unterredung lieber abbrechen und einen Anwalt nehmen.“
Smith mischte sich herzlich lachend ein. „Niemand denkt an so etwas, Kendall. Wir haben uns was anderes ausgedacht. Sie haben doch sicher viele Stammkunden?“
„Natürlich“, gab der Mann misstrauisch zu. „Achtzig Prozent unserer Besucher sind Stammkunden.“
„Eben. Und da könnte es doch sein, dass auch der Ermordete Stammkunde war. Er wurde jedenfalls nach dem dreizehnten März getötet, ist also, sofern unsere Vermutungen stimmen, plötzlich bei Ihnen ausgeblieben. Und deshalb möchten wir Sie fragen, ob Ihnen das Ausbleiben eines solchen Stammkunden aufgefallen ist.“
*
Ehe sich Kendall äußern konnte, öffnete sich die Tür, und eine freundliche ältere Frau spähte neugierig ins Büro.
„Komm rein, Kate“, sagte Kendall hastig. „Die Herren sind von der Polizei und haben Fragen an uns.“
Er informierte seine unruhig auf dem Sessel hin und her rutschende Frau, und Mrs. Kendall sagte am Ende etwas erleichtert: „Das ist natürlich etwas anderes. – Well, Gentlemen, wie soll der Mann denn ausgesehen haben?“
O'Keene zuckte die Achseln. „Das wissen wir eben nicht. Wir haben nur erfahren, dass er zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und groß und kräftig war. Außerdem scheint er leberkrank gewesen zu sein.“
Mrs. Kendall rieb sich mit dem dürren Zeigefinger sacht die Nase, was ihr entfernte Ähnlichkeit mit der Märchentante aus dem Film gab.
„Sie müssen wissen“, fiel ihr Mann ein, „Kate sitzt selbst an der Kasse, während ich vorführe. Wenn also einer etwas weiß …“
Seine bessere Hälfte ließ ihn gar nicht ausreden. „Wer weiß, ob der Bedauernswerte nicht nur zufällig und ein einziges Mal in unser Kino kam? Von unseren Stammkunden fehlen aber tatsächlich in letzter Zeit einige. Warten Sie mal … Da wäre Jan Holland. Aber der ist vielleicht dreißig und kommt nicht in Frage. Carner ist Ende März noch mal bei uns gewesen und erst dann weggeblieben.
Hm, Ballett habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Ballett käme in Frage. Er ist sechzig und ziemlich dick. Und dann natürlich der alte George. Ich glaube, beide waren um den fünfzehnten März das letzte Mal bei uns.“
„Ausgezeichnet!“, lobte der Leutnant. „Weiter fällt Ihnen niemand ein?“
Die Frau schüttelte den Kopf, und Kendall sagte erleichtert, die Herren könnten sich auf sie verlassen, denn sie hätte die Augen eines Habichts und das Gedächtnis eines Professors. „Muss ja nicht sein, nicht? Viele lassen anschreiben und erinnern sich später an nichts. Da muss man aufpassen wie ein Luchs!“
Smith klappte sein Taschenbuch auf. „Wo finden wir Ballett?“
„Keine Ahnung. Aber fragen Sie mal Joe. Joe ist in dem Fischgeschäft von Stow Market beschäftigt. Der kennt Ballett. – Mit George ist das eine andere Sache. Ich glaube, er wohnt irgendwo am Hillgate Row zur Untermiete. Sie werden sicher jemanden finden, der Ihnen Näheres sagen kann.“
O'Keene bedankte sich bei dem freundlichen Ehepaar, das einen vertrauenswürdigen Eindruck machte, und bat, strengstes Stillschweigen zu bewahren.
*
Joe aus dem Fischgeschäft hatte eine schiefe Nase, aber einen guten Charakter.
„Ballett wollen Sie sprechen, Con Ballett? Hab ihn lange nicht gesehen, den alten Kumpel! – Warten Sie mal, wo wohnt der doch gleich? – Ah, ich hab‘s. Gehen Sie hier lang und dann die zweite Querstraße links. Nach ein paar Metern kommen Sie zu einer Kneipe; in dem Haus muss er wohnen. Sofern er nicht inzwischen gestorben ist, hahaha! – Nichts zu danken, die Auskunft war kostenlos!“
Man sah dem Haus, in dem Con Ballett wohnen sollte, von außen an, dass sich die Bewohner rührende Mühe gaben, wenigstens das Dekorum zu wahren, aber dass die Mittel nicht ausreichten.
Ein flachsköpfiges, kleines Mädchen klärte die beiden Beamten darüber auf, dass die Balletts in der vierten Etage wohnten.
O'Keene stieg mit seinem Begleiter über ächzende Treppenstufen nach oben und klingelte an der Wohnungstür. Er musste viermal klingeln, bis sich endlich die Tür öffnete und eine verhärmte Frau entsetzt durch den Spalt spähte.
„Möchten Mr. Ballett sprechen!“, sagte O'Keene.
Der Frau liefen sofort die Tränen über die bleichen Backen. „O mein Gott, haben Sie etwa eine Rechnung?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte Smith entgeistert.
„Seit dem Unglück“, schluchzte die Frau, „kommt einer nach dem anderen und verlangt Geld. Wenn das meine selige Mutter noch erlebt hätte! Dabei ist Con nicht schlecht, nur ein bisschen leichtsinnig. Und dafür, dass ihm ein Splitter ins Auge gedrungen ist, kann er doch wirklich nichts!“
„Natürlich nicht!“, fiel O'Keene überzeugt ein. „Nein, wir haben kein Geld von Ihrem Mann zu bekommen, aber ich würde ihn gern mal sprechen.“
Die bedauernswerte Frau wagte keinen Widerspruch und führte die Besucher in eine ärmliche Schlafstube, wo sich ein großer, schwerer Mann unruhig im Bett wälzte. Er trug über dem linken Auge einen Verband und schien Fieber zu haben.
„Das ist Mr. Ballett?“, fragte der Leutnant.
„Wer denn sonst? Werd doch meinen eigenen Mann kennen!“
„Ist allerdings anzunehmen! – Well.“ Der Beamte trat wieder in den Flur zurück. „Wann ist das Unglück denn geschehen?“
„Am siebzehnten März, Sir. Aber ich verstehe immer noch nicht, was Sie wünschen!“
O'Keene zückte verlegen seine Brieftasche und drückte der Erstaunten einen Geldschein in die Hand. „Wir kommen vom Unterstützungsverein Süd – hm! und wollten nach dem Rechten sehen!“
*
Als die beiden Beamten wieder zu ihrem Wagen zurückgingen, sagte Smith respektvoll:
„Nehmen Sie mir‘s nicht übel, Sir, aber ein Mann mit Ihrem guten Herzen hätte besser einen anderen Beruf ergriffen!“
Der Leutnant lachte trocken auf. „So, finden Sie? Ich denke, auch ein Polizist darf ein Herz haben; dort, wo es angebracht ist. Wie ich dagegen Verbrecher anzupacken pflege, ist Ihnen ja wohl bekannt! – Also, auf nach Hillgate Row!“
„Hillgate Row, wenn ich das schon höre!“ Der Sergeant verzog das Gesicht. „Hoffentlich kommen wir dort ohne Läuse und Wanzen wieder raus.“
„Das ist mir ziemlich egal, Smith. Hauptsache, ich komme in meinem Fall endlich weiter!“
Smith hatte nicht zu viel gesagt. Hillgate Row war tatsächlich ein Elendsquartier, das man bei Nacht nicht gern allein betreten hätte.
Die wenigen Häuser wirkten so, als warteten sie nur darauf, auf Abbruch verkauft zu werden, und das, was die beiden Beamten von den Bewohnern zu sehen bekamen, war erschütternd.
O'Keene fragte einen schlaksigen Bengel, ob er den alten George kenne, und dieser erwiderte, er kenne ihn und könne für einen Dollar sogar sagen, wo er wohne.
Hier zu feilschen hatte keinen Sinn. Der Dollar wechselte seinen Besitzer und die beiden bekamen die Auskunft, George wohne bei Donald Proctor im Haus Nummer 16.
Im Erdgeschoss des Hauses fand Smith einen an die Tür geklebten Zettel Donald Proctor. Er klingelte.
Minuten später öffnete eine vielleicht dreißigjährige Frau die Tür. Sie war sicher früher einmal hübsch gewesen, jetzt aber längst verblüht und ziemlich schlampig.
„Was wollen Sie?“, fragte sie mit tiefer, verrauchter Stimme, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Ihre rechte Hand hielt ein halbvolles Whiskyglas. Und das am hellen Mittag!
„Ich muss den alten George sprechen“, sagte der Leutnant, ohne sich zu erkennen zu geben.
„Da kommen Sie zu spät. George ist abgerauscht. Nach New York. Wo er hergekommen ist.“
„Und wann ist er ausgezogen?“
„Was geht Sie das an?“
Die verkommene Frau wollte dem Beamten die Tür vor der Nase zuknallen, zögerte aber, als er ihr blitzschnell seine Marke zeigte. „Ich bin Leutnant O'Keene von der Stadtpolizei. Darf ich eintreten?“
„Was ist denn los, Jane?“, fragte eine Männerstimme aus der Düsternis des muffigen Flurs heraus. Gleich darauf tauchte auch der Besitzer der Stimme auf: ein vielleicht vierzigjähriger, herkulischer Mann. Er trug Bluejeans; sein Buschhemd stand über der Brust offen.
„Die Herren kommen von der Polizei und wollen George Anderson sprechen!“, erwiderte die Frau.
Sofort wurde Proctor kriecherisch freundlich. „Das ist natürlich was anderes. Treten Sie ein, Gentlemen, in unsere bescheidene Hütte, hahaha!“
Er öffnete einladend eine Tür. O'Keene trat in einen Raum, wie selbst er ihn selten gesehen hatte: ein roher Bretterfußboden, in allen Farben des Regenbogens schimmernde, ungetünchte Wände, ein altes Sofa, ein Stuhl ohne Lehne, ein Tisch, dessen viertes Bein durch einen Holzklotz ersetzt war.
Zu dieser Einrichtung, die vielleicht einem Höhlenbewohner alle Ehre gemacht hätte, standen ein riesiger, brandneuer Fernsehapparat und eine wuchtige Musiktruhe mit Radioapparat, Zehn-Platten-Wechsler und eingebautem Tonbandgerät in geradezu groteskem Gegensatz.
*
Proctor bot dem Leutnant einen Drink an. O'Keene wäre lieber gestorben, als dass er einen Schluck aus der schmierigen Flasche genommen hätte.
Er blieb steif stehen und fragte verdächtig freundlich: „Ihr Untermieter ist also nicht mehr in Cleveland?“
„Natürlich nicht!“, erwiderte Proctor herausfordernd. „Er hat am sechzehnten März Knall und Fall gekündigt und ist nach New York gefahren. Das hat er wenigstens gesagt.“
„Können Sie mir seine neue Anschrift geben?“
„Kann ich eben nicht. Er hatte ja noch keine. Wollte sich erst eine Bleibe suchen.“
„Wie lange hat er denn bei Ihnen gewohnt?“
„Seit August vierundfünfzig – bis vor einem Monat.“
„Und wo hat er vorher gewohnt?“
„In New York.“
„Aha! Was war Anderson von Beruf?“
Der Mann wiegte den Kopf. „Weiß ich nicht. Er hat nicht gearbeitet.“
„Und wovon hat er dann gelebt?“
„Das ging uns nichts an!“, fiel die Frau mit schriller Stimme ein. „Er hat seine paar Kröten Miete immer ordentlich bezahlt. Auf mehr kam es mir nicht an.“
„Bekam er viel Post?“
„Nie!“
„Aber er muss doch wenigstens eine Rente gehabt haben.“
„Keine Ahnung.“
„Er hatte doch wohl Geld zum Leben!“
„Vielleicht hatte er es im Sparstrumpf. Ich hab ihn nie gefragt.“
„Wie sah er denn aus?“
„Was soll ich schon sagen: er war fünfundfünfzig. Hat er selbst gesagt. Er war für sein Alter recht stattlich und hatte graues Haar. War früher mal rot, nehme ich an.“
Smith schielte seinen Vorgesetzten unschuldig an.
O'Keene gab den Blick voll zurück. Beide waren über den Märchenerzähler einer Meinung.
„Well“, nahm der Leutnant wieder das Wort. „Anderson muss doch gesagt haben, warum er plötzlich Cleveland verlassen wollte.“
„Er hat Sehnsucht nach seiner alten Heimat bekommen.“
„Wann genau hat er Ihr Haus verlassen?“
„Am sechzehnten März gegen Abend.“
„Was ist aus seinen Habseligkeiten geworden?“
„Er hatte nicht viel. Er hat alles in zwei alten Koffern mitgenommen.“
O'Keene tat, als denke er nach. Dann sah er Proctor scharf an. „Sie sind im Augenblick arbeitslos?“
„Man kann so sagen.“
„Trotzdem scheint es Ihnen nicht schlecht zu gehen, wie der Fernsehapparat und die Musiktruhe beweisen.“
„Das geht keinen was an“, fiel Jane Proctor schnell ein, ehe sie ihr Mann zum Schweigen bringen konnte. „Ist alles bar bezahlt.“
„Ich zweifle nicht daran“, versetzte der Beamte ironisch. „Darf ich mir einmal das Zimmer ansehen, in dem George Anderson gehaust hat?“
Er durfte. Das Ehepaar führte die Beamten in einen mäßig großen Raum. Er war sauber getüncht, hatte einfache Holzmöbel, die bestimmt noch vor Kurzem gepflegt gewesen waren, und ein neues Murphy-Bett. An der Wand hing ein Foto, das fünf Männer mittleren Alters in ziemlich herausfordernder Pose zeigte.
Der Leutnant nahm das Bild gedankenvoll von der Wand und drehte es um. Auf der Rückseite erkannte er einen Blind-Stempel und entzifferte die Buchstaben: New York 1941.
„Ich muss Sie leider bitten, mitzukommen“, sagte er kurz. „Stammt das Bild von Ihnen?“
Die Frau wurde blutrot im Gesicht. „Nein … Sir. Es gehört Anderson. Er hat es vergessen. Er ist selber mit drauf …“ Sie deutete mit dem Finger auf den ganz links stehenden Mann. „Das ist er, Sir.“
„Kann ich das Bild für ein paar Tage mitnehmen?“
„Von mir aus mit Vergnügen!“, polterte Proctor los. „Aber was soll denn das ganze Affentheater, he? Von Mitkommen und so will ich nichts hören …“ Sein Gesicht verzog sich lauernd. „Sind ehrliche, rechtschaffene Leute, Sir!“
Es lag O'Keene auf der Zunge, zu sagen: So seht ihr genau aus, aber er verkniff sich diese Bemerkung und meinte stattdessen beiläufig: „Sie sollen einen Toten identifizieren. Sie können sich natürlich weigern, aber das hilft auf die Dauer doch nichts!“
„Well, wir kommen mit. Warten Sie einen Augenblick, wir ziehen uns nur an!“
Die beiden Beamten blieben allein. Sie verstanden einander schweigend.
„Ich zögere die Identifizierung so lange wie möglich hinaus!“, murmelte der Leutnant tonlos. „Ich setze Sie unterwegs ab. Sie gehen sofort zum Kommissar und melden, was wir erfahren haben. Er soll einen Haussuchungsbefehl beschaffen. Es muss schnell gehen. Wenn Sie den haben, kommen Sie sofort zurück und fangen an. Klar?“
Smith konnte nur noch nicken, denn in diesem Augenblick betrat das würdige Ehepaar das Zimmer. O'Keene hätte beinahe gelacht.
Der unrasierte Donald steckte jetzt in einem zitronenfarbenen Dreihundert-Dollar-Anzug, zu dem er eine blaue Krawatte mit aufgemalten Palmen und Affen trug, und seine bessere Hälfte hatte sich mit einem teuren Nylon-Kleid ausstaffiert, das ihr zu der verwurstelten Frisur und den bleichen, faltigen Gesichtszügen bildschön stand.
Als O'Keene seinen auf der Straße abgestellten Wagen erreichte, hätte er beinahe laut geflucht. Die Chromteile der vier Radzierkappen waren mutwillig eingebeult, und auf die Kühlerhaube hatte jemand mit einem scharfen Gegenstand ein nicht wiederzugebendes Schimpfwort eingekratzt.
Die Laune des Polizeioffiziers sank auf den absoluten Nullpunkt.