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DOPPELT GEMOPPELT

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Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.

Seltsam, dass dieser Satz Julia immer dann einholte, wenn er ihr so gar nicht gelegen kam. Nicht, weil er sie prinzipiell zu erschüttern verstünde. Nicht, weil er sie auf eigene Umtriebe zurückwürfe. Hier. Heute Abend.

Andererseits wieder doch. Gerade hier. Gerade heute Abend.

Wie auch immer. Jedenfalls schaffte dieser Satz eines: Er führte ihr vor Augen, wie endlos nah Süße und Bitterkeit beisammen lagen, diese vorherrschenden Geschmacksrichtungen auf der Zunge, die sich Leben nannte. War es nun die eigene oder die anderer Leute.

Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.

Längst hatte Julia vergessen, wo sie den Satz gelesen hatte, und auch, wem er zugeschrieben wurde (war es einer der großen deutschen Dichter? Goethe? Schiller? So lange lag die Schulzeit ja noch nicht zurück. Die paar Jahre. Nein. Keiner von denen. Und das andere Extrem? Aber nein. Die schon gar nicht. Nicht selbst ernannte Netzgurus. Wie lachhaft! Schließlich war das ein Sager mit Gehalt.)

War’s der Christian Morgenstern?

Scheißegal. Entscheidend war, jetzt und hier, dass die Menschenmenge, die sie keine hundert Meter voraus im Laternenschein ausmachte, sich in Luft auflöste. Am besten sofort. Ehe sie selbst dort ankamen. Schließlich waren sie nicht zum Vergnügen hier. Julia und Sarah. Zwei Ladies auf … Mission … andererseits … mmhhmm …

Und dann kannte Julia zum Thema noch diesen hier:

Treu bis in den Tod sind nur die Dummköpfe. Die Treue hat ihre Grenze im Verstand.

Der, wusste sie, war wie der Griff ins Klo. Oder auf die zweischneidige Klinge eines Schwertes. Frisch geschliffen, versteht sich. Da wie dort mit bloßen Händen, versteht sich. Das konnte nicht gutgehen. Auch wenn sie sich oft genug genau darin wiederfand.

Ja. Exakt so würde es auch heute Abend laufen. Ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sie hatte es im Blut. Weil sie ihre Pappenheimer längst kannte. Weil es einer dieser Abende war, die sie ebenfalls nur zu gut kannte. Einer dieser Abende, dem das Übel vorauslag, obwohl er aufs rechte Gegenteil getrimmt war. Einer dieser vordergründig herrlichen, zauberhaft lauen Abende, die einem schon mal das Herz übergehen, die einen tief nach Atem schöpfen lassen konnten im trügerischen Glauben, nichts wäre mächtig genug, die Stimmung zu trüben.

Oh ja. Sie konnte es verdammt nochmal riechen. Gerade so verhielt es sich jetzt und hier. Alles ringsum wie in Watte gepackt, und die schwüle Lust nach Aufbruch greifbar. Von schräg gegenüber funkelten die Nachtlichter der beiden Museumsriesen herüber. Die Schlussakkorde von Wagners Walküre in der Staatsoper im Rücken hingen noch vage in der Luft. Und aus dem Burggarten zur Rechten trug eine sanfte, nur mäßig kühlende Brise unwiderstehliche Aromen heran.

Bestimmt Jasmin. Oder wenigstens Rosen.

Julia wusste, dass es um diese Jahreszeit in Wirklichkeit nach feuchter Erde und Moos und gewärmten Blättern roch, tatsächlich also modrig und faulig. Doch das, sagte sie sich, sollte nichts zur Sache tun. Insgeheim wollte auch sie an das Ungetrübte glauben. Wie all die Menschen ringsum, denen diese Hoffnung auf die eine oder andere Stunde Unbeschwertheit in die Gesichter geschrieben stand. Einfach ausblenden, dass dort, wo sie und Sarah hinwollten, womöglich ganz andere Gerüche vorherrschen würden. Wenn alles nach Plan lief. Nach wessen Plan eigentlich? Ausdünstungen, die nach menschlicher Niedertracht stanken.

Nein. Daran wollte Julia noch gar nicht denken. Nicht jetzt. Lieber ausblenden. Wie auch die miefige Abgasglocke der vierspurigen Ringstraße, die die Abendstunden nicht fortzublasen vermocht hatten und in deren Riechweite sie beide standen. Julia und Sarah. Einfach ausblenden. Und stattdessen den Duftmolekülen der Vorstellung und ihren eigenen Melodien erliegen. Weil an einem Abend wie diesem im Gehirn bloß ankommen sollte, was auch ankommen wollte: ein wiesenblumenfrisches Bouquet. Es war wie mit einem fabrikneuen Wagen: Er konnte wohlig duften oder abgestanden stinken. Je nachdem, ob der Stolz des Besitzes überwog oder die Sorge um die Leasingraten. Heue Abend jedenfalls war die Welt auf Duft getrimmt.

Frühling über Wien.

Kichernd und beschwingt von einem köstlichen Abendmahl mit gebratenem Seeteufel und Salat und ein, zwei nachgeschossenen Drinks, mehr aber noch in angespannter Erwartung, was da kommen möge, lenkten sie ihre Schritte zielstrebig auf den Abgang zu. Es war kurz vor Mitternacht. Wenig verwunderlich, dass ganze Horden auf dieselbe Location wie sie verfallen waren, abtanzen in der ge, Samstagnacht im Spätmai, und so mussten sie geraume Zeit auf der Treppe ausharren, sich Stufe um Stufe hinabdrängeln, um irgendwann doch noch Einlass zu bekommen.

»Wo sind die Fiaker?«, fragte Sarah, während sie zwei Stufen hinabstieg. Sie hob das Kinn nach der Ringstraße, die nun fast auf Augenhöhe lag.

»Um die Zeit?«, gab Julia ungläubig wider. »Und überhaupt, was willst du mit einem Fiaker? Das ist was für die alten Knacker. Und die Japaner. Und die Dreckskerle, die daheim etwas gutzumachen haben.«

»Stimmt«, sagte Sarah. Ein wissendes Schmunzeln umspielte ihre Lippen. Sie warf einen letzten Blick hinüber zum Ring, ehe es endlich weiter ein Stück treppab ging und sie mit einem Grüppchen in die Katakomben des In-Clubs abtauchten. »Außerdem, wenn ich mich so umsehe, wer braucht schon Fiakerpferde? Freilaufende Stuten gibt’s auch da jede Menge.« Sie lachte laut auf, warf den Kopf in den Nacken, dass ihr die Mähne aufflog.

Julia lachte herzhaft mit. Sie taxierte die junge Frau an ihrer Seite aus den Augenwinkeln. Sarah war, was man echt scharf nannte. Der Reihe nach würden sie auf sie abfahren. Langes, glattes, blitzblondes, gestyltes Haar. Ein hübsches, wie gedrechseltes Gesicht mit maßvoll konturierten Zügen. Ein makelloser Body mit nicht einem überschüssigen Gramm. Wäre sie nicht gefestigt in ihren Vorlieben, und wäre sie nicht ebenso mit einem Selbstbewusstsein und einem Körper ausgestattet, der ihr doch ganz brauchbare Chancen bei Männern einräumte, die sie einmal auserkoren hatte – glatt hätte Julia darauf verfallen können, neidisch zu werden. Oder am besten Sarah gleich selbst anzubaggern.

Doch das stand nicht zur Diskussion.

Es war nicht das erste Mal, dass sie und Sarah gemeinsam auf Tour gingen. Sie waren ein gutes Gespann. Erfolgreich. Einerseits verhielt es sich bei ihnen wie bei Tag und Nacht. Oder Yin und Yang. Oder Sonne und Mond. Teufel und Engel. Andererseits waren sie wie aus einem Guss. Alle beide keine Mitte zwanzig. Alle beide fantastisch aussehend. Alle beide aus demselben Grund hier.

Sie selbst, Julia (darin hob sie sich nun wieder von Sarah ab), hatte sich für den Weniger-ist-mehr-Joker entschieden. Ein Overall in verschossenem Schwarz als schlichtes, fast keusches Outfit. Und gerade darum so reizvoll. Hauteng obendrein. Dazu schwarze, hohe Schuhe. Wie Sarah trug sie ihr Haar offen, kastanienbraun, in fluffig die Schulter hinabwallenden Locken. Einzig schriller Kontrast: der knallrote Lippenstift, den sie aufgelegt hatte.

Beherrschendes Thema beim Abendessen vorhin waren ihre Motive gewesen. Vor allem Sarahs. Was sie daran reizte. Warum sie mit von der Partie war. Warum überhaupt. Warum heute Abend.

»Ich habe meinen Glauben verloren«, sagte Sarah und angelte wie lustlos mit der Gabel nach dem letzten Bissen Fisch.

»Deinen Glauben?«

»Ja. Den Glauben an die Treue. Männer sind Schweine.« Die Erfahrungen mit ihren beiden letzten Verflossenen erlaube ihr keinen anderen Befund als diesen. Bei dem einen habe sie überhaupt erst lange nach der Trennung erfahren, mit wem sie es da zu tun gehabt, mit wem er sie wie oft hintergangen hatte. Darunter der Klassiker: die beste Freundin.

»Darum mache ich es«, sagte sie. Wie auch aus einer Reihe anderer Beweggründe, die sie Julia nach und nach darlegte.

Schweine?, dachte Julia. Ein Buchstabe stieg vor ihrem geistigen Auge empor. Ein fettes, übergroßes S. S wie Schönebeck, jene Stadt im Herzen Sachsen-Anhalts, die ihr vor ein paar Jahren noch Heimat gewesen war. S wie Scheidungskind (auch ohne Heirat der Eltern). S wie Schulabbruch. S wie Schnapsidee. S wie Selfie. S wie Straps. S wie steigern. S wie Sex. S wie siedeln. S wie Stefan.

Stefan.

S wie sympathisch. S wie sprachgewandt. S wie Schmeichler. S wie Schlaftabletten? S wie Schwangerschaft? S wie Sehnsucht nach Sicherheit. Insbesondere aber auch, weil so übermächtig präsent in ihrer jüngsten Erinnerung: S wie Selbstaufgabe. Und, über allem: S wie

Scheißkerl.

Nun waren sie soweit. Endlich Einlass in die Passage. Die mitgeführten dünnen Jäckchen (man wusste ja schließlich nie) an die Garderobe geworfen. Dann ab ins Gewühl. Mit ausgestellten, teils rudernden Armen und im Takt der wummernden Bässe die Menge durchpflügen. Eine erste Runde. Blicke in geisterhaft aufblitzende Gesichter. Datenabgleich. Nein. Und weiter. Quer durch den ganzen verdammten Club. Nichts. Ein resigniertes Kopfschütteln. Ein Drink an der Bar. Lagebesprechung. Eine zweite Runde. Diesmal geteilt. Sarah die eine Hälfe. Julia die andere.

Acht Männer, die Geburtstag feierten. Angeblich. Die mussten doch zu finden sein. Easy cheesy. Die konnten doch nicht … Andererseits, vielleicht waren sie gar nicht …? Vielleicht war auch das bloß …? Das würde bestätigen, was sie im Vorfeld gehört und was sie längst auch selbst zu vermuten begonnen hatte.

Julia war erst ein paar Schritte vorangekommen auf ihrer Solorunde, als sie Sarahs blonde Mähne unvermutet aufblitzen sah. Sie durchtauchte die dampfende Menge mit aller Vehemenz in ihre Richtung. Ein Drängen und Zwängen auf verlorenem Posten und darin ein ähnlich hoffnungsloses Unterfangen wie der Versuch einer Sardine, sich doch noch gegen ihr Schicksal aufzubäumen, wo sie bereits in der Dose lag. Keine drei Meter vor ihr war dann auch Endstation. Eingequetscht zwischen zwei aufgepumpten Hünen, brüllte Sarah ihr etwas zu. Tonlos, wie Julia empfand, denn der Schall der Worte flog mit den dröhnenden Beats von Aviciis Lay Me Down hoffnungslos auf und davon.

»Ich hab ihn«, brüllte Sarah abermals, nun in schrillen Lagen, fast panisch.

Julia las ihr mehr von den Lippen, als dass sie hörte, riss die Augen auf. »Ja? Sicher?«

Sarah nickte aufgeregt. Endlich boten die Muskelpakete einen Spaltbreit Platz, und so zog Sarah sie augenblicklich mit sich fort. »Dieses Schwein!«, fauchte sie in einem fort. »Er knutscht mit irgendeiner Tussi rum.«

Still lächelte Julia in sich hinein, wie zur Bestätigung einer unverbrüchlichen Wahrheit, die sie schon so oft so eindrücklich bestätigt bekommen hatte, während die Kollegin energiegeladen voranstapfte, zielstrebig und unaufhaltsam wie ein Eisbrecher im Polargewässer, dessen stählerner Bug alles aus dem Weg räumte. Es war unübersehbar und zugleich wohlvertraut: Sarah war voll entbrannt, glühte im Jagdfieber, und sie schleppte sie, Julia, nun mit aller Entschlossenheit hinter sich her, um gleichermaßen stolz wie empört ihren Fang zu präsentieren.

»Dort vorne ist er«, rief Sarah und fuchtelte wild mit dem Arm.

Julia dachte an das Foto, das sie aufs Handy geschickt bekommen und das sie beide eben noch eingehend gemustert hatten, bevor sie auf Runde gegangen waren. Auf Kontrollgang. Der Kerl sah darauf alles andere als übel aus. Ende dreißig. Schlank. Hoch aufgeschossen. Kantige Backenknochen. Aber nicht zu kantig. Dunkles, kurzes Haar. Leicht graumeliert. Grundtenor: charismatisch.

Julia sah den Kerl fürs Erste nur von hinten. Das soll er sein? Doch dann, als er sich mit ein paar schunkelnden Bewegungen in ihre Richtung drehte, ohne die Körpereinheit zwischen sich und seiner Begleitung aufzugeben und auch ohne seine Zunge aus ihrem Hals zu bekommen, war jeder Zweifel ausgeräumt: Ja, dieser Scheißkerl.

Wer, verdammt, ist diese Frau?

Da war auch Julia im Jagdmodus. Nun schleppte sie ihrerseits Sarah hinter sich her, hin zur nahen Bar. Während sie zwei Drinks orderte, scannte Julia das Umfeld des Gigolos. Ja, dachte sie, das dürften seine Freunde sein. Sie müssten zusehen, Kontakt zu kriegen.

»Kannst du einen von ihnen anmachen?«, raunte sie Sarah ins Ohr, ohne die Augen von den acht Männern und dem weiblichen Appendix des einen zu nehmen.

Sarah nickte kurz, nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Gin Tonic, dann schlenderte sie los. Betont cool. Julia sah, wie sie ihren Körper auf eine Weise in Szene setzte, die den Widerstand kategorisch ausschloss. Erst recht den des starken, in Wahrheit schwachen Geschlechts. Es sei denn, alle acht waren aus Stahlbeton. Oder vom anderen Ufer.

Keine fünf Minuten später saßen sie und Sarah am Tisch der Gruppe. Ein paar flotte Sprüche. Gelächter. Blickkontakt. Zuprosten. Da eine flüchtige, wie unabsichtliche Berührung am Unterarm. Dort das übliche Geplänkel. Julia maß alledem keine Bedeutung bei. Was wirklich zählte, war er. Um seinetwillen waren sie gekommen.

Er hieß Tobias.

Nach fast schon endlosem Zuwarten, als seine angewachsene zweite Hälfte sich doch einmal von ihm löste, um auf die Toilette oder wohin immer zu tingeln, und auch die Reihe der Freunde am Tisch vorübergehend gelichtet war, ergriff Julia ihre Chance.

»Schade, dass du nicht allein hier bist«, sagte sie.

Tobias sah sie herausfordernd an. »Ja, das ist wirklich schade. So … so interessant, wie du bist.«

Julia ließ es sich nicht anmerken, doch die Blitzartigkeit, mit der Tobias alias Tobi sich bereiterklärte, sie hemmungslos anzubraten, während seine Freundin gerade mal ein paar Schritte entfernt war, machte sie doch einigermaßen sprachlos. Noch dazu, wo sie (wer auch immer sie sein mochte) bestimmt nicht wusste, dass er …

»Tja«, sagte Julia mit verschmitztem Lächeln. »Da bin ich wohl zu spät gekommen.«

»Es ist niemals zu spät.«

»Ach nein? Sieht mir aber nicht danach aus.«

Tobi schnitt eine diffuse Grimasse.

»Um wie viel bin ich eigentlich zu spät?«, setzte sie nach.

Er taxierte sie aus zugekniffenen Augen. »Wenn du es genau wissen willst, um zwei Jahre.«

Tobis Flamme tänzelte zurück an den Tisch und warf sich ihrem Geliebten augenblicklich und auf eine einnehmende, besitzergreifende Art an den Hals, als stünde Ewiges Glück darauf, eingraviert in fetten, bunten Tattoolettern. Während die Unbekannte sich abermals an Tobi zu schaffen machte, löste Julia sich von ihrem Sitz, zwinkerte ihm unbemerkt zu und tanzte wenig später dicht an dicht mit Sarah, die an ihrem Aufriss nur bescheidenen Gefallen fand, was sie durch dezente Zurückhaltung demonstrierte. Mit wenigen Sätzen hatte sie Sarah darüber ins Bild gesetzt, was sie in aller Kürze in Erfahrung gebracht hatte.

»Zwei Jahre schon?«, rief die. Eine Mischung aus Unglauben und Abscheu lag in Sarahs Stimme. »Dieses Dreckschwein!«

Julia nickte. Mission Ärsche hatte Sarah ihr Auftreten heute Abend im Vorfeld genannt. Und sie konnte nicht umhin, ihr uneingeschränkt Recht zu geben. Schlagartig kippte nun auch Julias Stimmung. Es war geworden, was sie vermutet hatte. Und wäre sie privat, rein privat, hier gewesen, mein Gott, wie hätte sie diesem Dreckskerl die Leviten gelesen. Aber so, nein. Das durfte sie nicht. Das war nicht ihre Aufgabe.

Julia hatte mehr als genug gesehen. Sie gab Sarah ein Zeichen. Kurz danach standen sie an der Bar, nahmen demonstrative Distanz ein. Zu Tobi. Zu seiner Flamme. Überhaupt zur ganzen Clique. Zum einen, weil alle beide von Grund auf angeekelt waren, insbesondere von diesem Saukerl mit seiner Andrea, wie sie mittlerweile wussten. Zum anderen aber auch, weil sie sehen wollten, ob er nicht doch bereit wäre, noch einen Schritt weiterzugehen. Darum waren sie letztlich hier. Obendrein hatten sie beschlossen, ein wenig zu feiern. Schließlich waren sie blutjung. Und die Nacht war es auch.

»Rufst du sie an?«, fragte Sarah, während sie an ihrem frisch bestellten Drink nippte.

»Ja«, gab Julia zurück, »aber nicht heute. Würdest du es jetzt wissen wollen? Mitten in der Nacht?«

»Nicht wegen diesem Arsch.« Sarah schüttelte den Kopf, und Julia lachte spontan auf, mehr aus Bitterkeit denn Heiterkeit, doch ihr Lachen ging als ein vermeintlich fröhliches auf die Reise. Und es kam geradewegs dort an, wo es gar nicht ankommen sollte. Eben noch, keine Minute war’s her, hatte Julia erwogen, ob sie nicht doch weitermachen sollten. Ob sie nicht doch noch einen Angriff starten sollte. Eines ultimativen Beweises wegen. Wie auch immer alle beide aussehen mochten. Der Angriff. Und der Beweis.

Und genau da entfuhr ihr dieser Lacher, der auf Reisen ging. Und genau da trat Tobi ihn selbst an: den ultimativen Beweis. Aus gänzlich freien Stücken und im unerschütterlichen Glauben an die Unwiderstehlichkeit seiner Person, an die absolute Kraft seiner Männlichkeit. Eng umschlungen mit seiner Flamme auf der Tanzfläche, mit beiden Händen ihre Pobacken Zentimeter um Zentimeter und auf eine Weise abtastend, als bestünden die Fingerkuppen aus Funksensoren, die ihre Koordinaten direkt in die Datenbank eines Skulpteurs weitergaben, begannen seine Augen, Julia an der Bar auszuziehen. Sie konnte spüren, wie Schicht um Schicht von ihr abfiel. Und dann, als sie ihm wohl bereits splitternackt vor Augen stand, löste er sich mit einem Ruck von seiner Angebeteten, steuerte schnurstracks auf sie zu.

»Here comes Mister Dreckskerl«, knurrte Julia Sarah voller Verachtung aus geschlossenen Zähnen zu, lächelte dabei aber unverfänglich in Tobis Richtung. Blitzartig war er bei ihnen, zwängte sich zwischen die beiden, presste seinen Körper an Julias und orderte zwei Drinks. Währenddessen schob er ihr eine Visitenkarte zu. Unbemerkt, ohne einen Anflug von Nervosität und mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, die auf beträchtliche Routine in solchen Dingen verwies. So schnell er an sie herangerückt war, so schnell war Tobi, zwei volle Gläser in Händen, auch schon wieder weg, ehe sein Vögelchen, das zwischenzeitlich angeflogen kam, sie erreicht hatte.

»Wir gehen«, sagte Julia. Ihr war nicht länger nach Feiern zumute. Feiern? Was auch? Dass sie ein Ekel der Sonderklasse getroffen hatten? Einen Businessman aus dem Bilderbuch, der seit fünf Jahren in festen Händen in Graz war und hier, in Wien, ein nahezu perfektes Doppelleben führte? Aber eben doch nur nahezu perfekt. Weil er in der Unfehlbarkeit, die er in seinem Auftreten für sich reklamierte, doch um einen Tick zu blöd war. Zu hormongeladen. Und darum fehlerhaft agierte. Weil er angefangen hatte, seine Langzeitpartnerin ein ums andere Mal zu versetzen. Weil er Termine, Meetings, Dienstreisen vorschützte, die es natürlich nicht gab. Weil die Ausreden zwar immer schlagartig erfolgten, zugleich aber auch immer schaler, immer billiger, immer unglaubwürdiger ausfielen. Weil er Nachrichten mit schwerem Erklärungsbedarf im Handy hatte stehen lassen. Weil er Frauen unter Männernamen im Kontaktspeicher führte.

Zwei Minuten später waren sie draußen bei der Tür und fassten erstmal tief Atem.

»Willst du sie doch noch anrufen?«, fragte Sarah, da sie sah, wie Julia an ihrem Handy nestelte.

Julia schüttelte den Kopf. »Ich checke bloß die Bilder von drinnen. Das gehört zum Service.«

Nein. Kein Anruf. Nicht mitten in der Nacht. Was sie gesehen hatte, würde bis morgen warten können. Dieses Paket aus Lügen und Testosteron und Selbstüberhebung war es nicht wert, anderen Menschen auch nur eine Sekunde kostbaren Schlafs zu rauben. Das kam ohnedies bald genug. Darum würde sie bis zum nächsten Morgen warten.

Der Gedanke daran schnürte ihr ohnedies die Kehle eng. Jetzt schon, beim allerersten Bissen vom Kebab, den sie sich gleich beim Aufgang des Clubs zur Belohnung gönnten. Das Telefonat. Gleich morgen früh. Schließlich war morgen früh ziemlich bald. Julia gedachte der Fassungslosigkeit, die ihr entgegenschlagen würde. An das Schweigen, das sie nur zu gut kannte. An das Nach-Luft-Ringen. An ein Meer von Tränen, das im Gefolge womöglich durch die Leitung schwappen würde. An die Frage der Fragen, die immer wieder kam.

Warum ich?

Und sie dachte an die systematische Schmierenkomödie, die hinter alledem stand. An die viele, durchaus knochenharte Arbeit des Verschleierns. Das Löschen von Nachrichten. Mails. Chatverläufen. Das Verbergen von unerklärlichen Unkosten. Kreditkartenabrechnungen. Essensbelege. Hotelrechnungen. Kilometerstände auf Tachos. Was immer. Das Umschiffen von Orten, wo Bekannte, Freunde des ersten Lebens anzutreffen sein könnten. Das Erklären jäh geänderter Lebensgewohnheiten. Vom neuen Körperbewusstsein über den neuen Kleidungsstil bis zu sprachlichen Gepflogenheiten, weil Affären, Parallelbeziehungen meist auch ihre eigenen Codes generierten, über die man sich verständigte. Die Menschen zusammenschweißten und Welten schufen, in die andere keinen Zutritt bekamen.

All das bedeutete einen enormen Energieaufwand, der anderswohin floss. Nur nicht in die eigene Beziehung. Oder wenigstens in die Kraft zum Mut, endlich Farbe zu bekennen, endlich ehrlich zu sein.

Daran musste Julia vor so einem Telefonat denken. Und wie es wohl Polizisten ergehen musste, die Hiobsbotschaften zu den Menschen trugen. Nichts anderes war im Prinzip, was sie tat. Auch sie legte fremde Welten in Trümmer. Nicht immer. Aber oft genug. Der entscheidende Unterschied war bloß, dass sie nicht die Gewissheit vom Tod eines Menschen brachte, sondern schlimmstenfalls die Gewissheit vom Tod einer Beziehung, die ohnedies nicht erhaltenswert war. Den Einsturz eines Gebäudes mit durch und durch morschen Grundfesten. Wie auch, dass sie nicht aus eigenem Antrieb Schicksalsengel spielte, sondern letztlich immer darum gebeten wurde. Weil Menschen nach Gewissheiten suchten, die sie auf andere Weise nicht erhielten. Weil Menschen die Courage aufbrachten wissen zu wollen, woran sie waren. Oder vielleicht auch, weil sie inbrünstig hofften, sich zu irren. Oder die Kunst des Manipulierens durch ihre Partner so weit fortgeschritten war, dass sie für alles bei sich selbst die Schuld suchten. Und manchmal auch fanden. Und sich für Dinge entschuldigten, die der andere verbrochen oder zumindest verursacht hatte.

*

Am Folgemorgen, kurz nach neun, rief Julia Frau B. an. Ihre Auftraggeberin aus Graz. Sie hatte wissen wollen, ob ihr Lebensgefährte allzu leicht für einen Flirt und ein bisschen mehr zu haben wäre. Ob er sich (was sie ohnedies im Grunde ihres Herzens vermutete) zu einem Seitensprung entschließen, schlimmstenfalls sogar eine Affäre anfangen würde.

Frau B. war auf der Suche nach Gewissheit. Und nach Erfüllung einer schon angeschlagenen Hoffnung: dass nämlich sie die Einzige wäre, die über alles Geliebte. Darum schrieb sie das Mail an Die Treuetester. Nach einer (wenngleich wackeligen) Sicherheit hat sie gesucht. Bekommen hat sie das seit Jahren praktizierte Doppelleben eines skrupellos notorischen Betrügers. Natürlich zog ihr das fürs Erste die Schuhe aus. Dann aber war Frau B. dankbar, ist es heute noch. Weil man ihr die Augen geöffnet hat.

Man. Das sind in diesem Fall Julia und Sarah. Im Gespann. Manches lässt sich eben nur zu zweien wirklich effektiv bewerkstelligen.

Sarah, die Gelegenheits-Detektivin, die es liebt, Sherlock Holmes im Kleinen zu spielen, die ein Faible fürs Hobby-Psychologisieren hat, wie sie es nennt, es insbesondere aber darum tut: Weil sie Menschen wie Tobi aufs Blut nicht ausstehen kann, mehr noch, weil sie Menschen wie Frau B. vor Menschen wie Tobi um jeden Preis zu schützen gedenkt. Da sind sie schon zwei. Sarah und Julia.

Mission Ärsche.

Und Julia? Die mit dem knallengen, schwarzen Overall und den grell aufgeschminkten Lippen?

Ja, Julia, das bin ich.

Und Die Treuetester?

Das bin auch ich. Meine Agentur, um präzise zu sein. Mit einer Heerschar von Testerinnen und Testern an meiner Seite. An die dreihundert sind es inzwischen, Frauen und Männer jeden Alters, jeden Aussehens, der Querschnitt eines Blicks auf eine belebte Straße. Erlauben Sie, dass ich mich nun selbst vorstelle:

Mein Name ist Kersten.

Therese Kersten.

Ja, auch ich mag Martini. Nein, es spielt keine Rolle, ob geschüttelt oder gerührt. Ja, auch ich neige bisweilen dazu, mich in seltsamen Situationen wiederzufinden. Nein, nicht aus Prinzip seltsam. Ja, auch ich neige zu etwas bizarren Vorgehensweisen. Nein, keinesfalls verbotene. Ja, auf gewisse Weise bin auch ich auf Mission. Nein, ich trage keine scharf geladene … ich bin die Waffe. Ja, ich könnte es gut verstehen, würden Sie darauf verfallen, mich allerspätestens am Ende dieses Buches süffisant Agentin 006 zu nennen. Nein, freuen Sie sich bloß nicht zu früh über Ihr Späßchen.

Doppelnull Sex.

Seien Sie stattdessen versichert: In den allermeisten Fällen, die Ihnen auf den folgenden mehr als zweihundert Seiten begegnen, dreht es sich, wenn schon, um das Duell Sex gegen Doppelnull. Einen anderen Schluss lassen die ernüchternden, erschreckenden Einblicke in Moral und Werte, Raffinesse und Durchtriebenheit, Risikofreude und Selbsteinschätzung, kurzum: in die Psyche mancher Zeitgenossen (und -innen) kaum zu.

Ja, man kann mich buchen. www.die-treuetester.eu. Sie können es in Ihrem eigenen Interesse tun. Andere Leute in deren, was dem Ihren womöglich grundlegend widerstrebt. In diesem Fall bin ich nicht länger ein Traum, sondern der Alp. Seien Sie also auf der Hut, ehe Sie auch nur erwägen, den Partner, die Partnerin … andererseits … sind wir Menschen denn geschaffen für absolute, ewige Treue?

Mein Name ist Kersten.

Therese Kersten.

Alter: 27 Jahre.

Beruf: Lockvogel.

PS.: Frau B. wollte es ganz genau wissen. Genauer als genau. Also gab sie einen zweiten Test in Auftrag. Ob (da immer noch ihr) Tobi tatsächlich bereit wäre, sich mit mir zu treffen. Privat. Für … na, Sie wissen schon, Frau Kersten. Für eindeutige Dinge eben. Und ob er dabei zugleich seine Freundin eingestünde.

Schriftlich.

Zehn Minuten nach meinem SMS funkte Tobi zurück. Ja, natürlich wolle er mich (treffen). Nein, natürlich sei das mit der Freundin kein Problem. Also vereinbarten wir ein Treffen. In Wien.

Wer an meiner statt in das Hotel in der City kam, war Frau B. Eigens aus Graz angereist. Das, verriet sie im Vorfeld, sei ihr den letztmaligen Aufwand wert. Ein letzter Aufwand. Für ihn. Das Letzte.

PPS: Erinnern Sie sich noch an den Wortlaut des zweiten, eingangs erwähnten Zitats?

Treu bis in den Tod sind nur die Dummköpfe. Die Treue hat ihre Grenze im Verstand.

Dieser Satz geht auf einen gewissen Talleyrand zurück. Charles Maurice de Talleyrand-Périgord. Erst Bischof von Autun. Dann Außenminister Napoleons. Dann Vertreter auf dem Wiener Kongress von 1814.

Ist demnach schon ein Weilchen von uns gegangen, der gute, alte Talleyrand. Und ohnedies ein Mann, den das historische Gedächtnis Frankreichs weitgehend von der Festplatte getilgt hat. Insbesondere, weil er im Ruf stand und steht, ein recht spezielles Verhältnis zur Loyalität und Treue (wenngleich im politischen Sinne) gehabt zu haben. Ein williger Diener vieler Herren. Ein Meister von Beweglichkeit und Anpassung, Lüge, Verrat und Intrige. Manche nennen es schlichtweg: Opportunismus.

Talleyrand ist vergessen. Ein vom Sturm der Geschichte fortgeblasenes Staubkorn. Durchaus Bestand hat jedoch die Kernaussage zu ihm, weil sie ins Heute reicht und für zahlreiche der Spezialisten, die ich Ihnen nun mit all ihren Besonderheiten (und dabei wieder Alltäglichkeiten) näherbringen möchte, nach wie vor Gültigkeit hat. Ein Zitat, das Bonaparte zugeschrieben wird und an aktuellem Bezug und Treffsicherheit kaum überbietbar scheint.

Wie also sagte Napoleon Bonaparte einst über Talleyrand?

Ein Haufen Scheiße in Seidenstrümpfen.

Lockvogel

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