Читать книгу Denkanstöße - Acht Fragen unserer Zeit - Thies Claussen - Страница 8
Оглавление„Es ist nicht zu wenig Zeit,
die wir haben, sondern es ist zu
viel Zeit, die wir nicht nutzen.“
Lucius Annaeus Seneca
Was ist die Zeit?
Was ist die Zeit? Diese Frage stellt Thomas Mann am Beginn des sechsten Kapitels seines Romans „Der Zauberberg“1:
„Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, - wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie ‚zeitigt‘. Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung.“
Die Zeit ist knapp. Wie aber kann Zeit überhaupt knapp werden? Zeit selbst kann nicht knapp werden, sie wird knapp nur im Verhältnis zu bestimmten Vorhaben. Zahlreiche Philosophen haben sich mit dem Wesen der Zeit befasst.2 Seneca sah in der Zeit das höchste aller Güter. Dabei bezog er sich auf die Lebenszeit, die ein Mensch hat. Je mehr diese vergeudet wird, umso kürzer ist das tatsächliche Leben. Der Philosoph Martin Heidegger widmete der Zeit ein ganzes Werk „Sein und Zeit“. Seiner Ansicht nach ist Zeit von Grund auf nur dann knapp, wenn es dem Tod entgegengeht,
Kinder und Jugendliche denken wenig über die Zeit nach. Sie leben häufig in den Tag hinein. Sie scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Viele neue Erlebnisse und Entdeckungen erfüllen sie. Ein Lebensjahr erscheint ihnen dadurch als langer Zeitraum. Für Kinder und Jugendliche sind selbst 30-Jährige bereits „uralt“.
70-, 80- oder 90-Jährige denken häufiger darüber nach, dass ihr Leben begrenzt ist und ihre Lebenszeit knapp wird. Vieles läuft in geregelten Bahnen ab. Neue Erlebnisse und Entdeckungen sind eher selten. Durch ihre gleichförmigere Lebensweise scheint die Zeit schneller zu verfliegen. Ein Lebensjahr nach dem anderen ist schnell vorbei.
Die Zeit ist für uns alle nur ein schmaler Streifen von Gegenwärtigkeit: Noch nicht Vergangenheit, aber auch noch nicht Zukunft. Friedrich Schiller beschreibt dies in „Sprüche des Confuzius“ zutreffend:
Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen.
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.
Die Zeit, das Erleben der Zeit und die Messung der Zeit haben philosophische, biologische, physiologische und physikalische Aspekte, die in den unterschiedlichen Disziplinen verschieden betrachtet werden.3
Zwei Beispiele: In der Physiologie umfasst die subjektiv erlebte Gegenwart eine Zeitspanne zwischen 30 Millisekunden und 3 Sekunden. Das heißt, nach mehr als 3 Sekunden ist die Gegenwart bereits wieder Vergangenheit. Die Physik hingegen versteht unter Gegenwart die scharfe Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Kompliziert wird es in der Relativitätstheorie von Albert Einstein. Nach dieser ist die Zeit relativ. Das heißt: Die Zeit vergeht in sich bewegenden Körpern anders als in stillstehenden. Nach Albert Einstein wird die Zeit langsamer, je näher die Geschwindigkeit an die Lichtgeschwindigkeit herankommt.
Ist Zeit dasjenige, was die Uhren messen? Was ist die Uhr? Charakteristisch für Uhren sind periodische Vorgänge, die zur Festlegung von Zeitspannen herangezogen werden.4 Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Zeitmessung von Sand- oder Wasseruhren und Räderuhren hin zu moderneren technischen Konstrukten. Ein Meilenstein war der Chronograph des englischen Tischlers, Erfinders und autodidaktischen Uhrmachers John Harrison aus dem Jahr 1759. Die Entwicklung führte weiter zu den heutigen Quarzuhren und Atomuhren.
Heute operieren wir mit einer einheitlichen Weltzeit, wir sind insofern „gleich – zeitig“ geworden, als wir dieselben Maßeinheiten der Zeit nutzen. England führte Ende des 19. Jahrhunderts die Greenwich Mean Time (GMT) ein, eine einheitliche Uhrzeit, benannt nach dem Stadtteil, in dem sich die Londoner Sternwarte befindet.
Die einheitliche Uhrzeit hat, wie es Rüdiger Safranski in seinem beachtenswerten Werk „Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ beschreibt, zu dem wunderlichen Phänomen der Pünktlichkeit geführt.5 Bauern und Handwerker konnten früher ihre Zeit relativ frei einteilen, die Fabrikarbeiter mussten sich hingegen bereits nach dem zeitlichen Rhythmus der Dampfmaschine richten. Dies zwang die Menschen zur Pünktlichkeit, und zwar nicht nur auf die Stunde, sondern auf die Minute genau.
Bei Revolten zerschlugen englische Industriearbeiter im 19. Jahrhundert nicht etwa nur die Maschinen, an denen sie arbeiteten, sondern auch die Uhren über den Fabrikanlagen. Ihr Zorn richtete sich gegen die allgegenwärtigen Instrumente der Zeitmessung, zugleich die Symbole einer tiefgehenden Kontrolle. Trotzdem: In Werkhallen, auf Bahnhöfen und auf Kirchtürmen zogen die Uhren ein. Bald fanden sich die Uhren auch am Handgelenk der Menschen. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Zwang zur Pünktlichkeit nahm drastisch zu. Damit stieg auch der gesellschaftlich erzeugte Zeitdruck.
Heute leben die meisten von uns unter einem strikten Zeitregime. Genau geregelte Arbeitszeit, Freizeit, Schul- und Ausbildungszeit. Genau koordinierte Zeitpläne im Verkehr und in der Produktion.
Unsere moderne Wettbewerbswirtschaft verlangt, früher mit neuen Produkten am Markt zu sein, Innovationen schneller umzusetzen. Dabei geht es häufig um Marktchancen und Gewinnerzielung. Zeitdruck und Tempo kann aber auch Leben retten. Dies zeigt der beispiellose weltweite Wettlauf der Labore und Forschungseinrichtungen, um geeignete Corona-Impfstoffe und Medikamente verfügbar zu machen. Diesen Anfang 2020 begonnenen Wettlauf gewann das deutsch-amerikanischen Unternehmen Biontech/Pfizer mit der Notfallzulassung ihres Impfstoffs am 12. Dezember 2020 in den USA und der Zulassung am 21. Dezember 2020 in der EU. Weitere Impfstoffe von Moderna, AstraZeneca und anderen folgten zeitnah.
Das heutige strikte Zeitregime nötigt uns dazu, ständig an die Zeit zu denken, wie man sie optimal nutzt, wo man sie einsparen kann, ob man sie jemand schenken darf. Der Einzelne fühlt sich oft in Zeitplänen gefangen, selbstbestimmten und fremdbestimmten.
Der Zeitdruck der Arbeitswelt wirft viele Fragen auf: Nehmen wir uns genügend Zeit für die Familie und für Freunde, Zeit für Pausen, Zeit für Nachdenken, Zeit für Hobbies, Urlaube oder Spaziergänge, Zeit für gute Gespräche, Zeit für ein Buch? Lassen wir uns durch unsere Handys und durch andere neue Medien zu viel Zeit rauben oder gehen wir achtsam damit um? Sind wir schon Opfer einer schier unendlichen Informationsflut geworden? Jede und jeder wird diese Fragen unterschiedlich beantworten.
Vieles versäumen wir, vieles schieben wir vor uns her: Das hat doch Zeit für später, das machen wir morgen, nächste Woche, nächsten Monat oder nächstes Jahr. Vieles Notwendige und auch vieles Wünschenswerte bleibt dabei auf der Strecke. Zeit lässt sich nicht zurückholen.
Wenn Familienangehörige oder gute Freunde sterben, fragen sich viele von uns, warum haben wir uns vorher nicht noch mehr Zeit für diese genommen? Was haben wir versäumt? Warum haben wir die Zeit mit ihnen nicht besser genutzt? Zu spät. Das hat keine Zukunft mehr, dass ist unwiederbringliche Vergangenheit.
Die erlebte Beschleunigung der Zeit hat zahlreiche Aspekte.6 Mit der technischen Beschleunigung bei Verkehr, Kommunikation, Produktion und Konsum beschleunigt sich auch unser Wandel in Beruf und Privatem. Unsere schnelllebige Zeit führt zu dem Gefühl, dass individuelle Zeitressourcen immer knapper werden gemessen an dem wachsenden Umfang der Angebote und Anforderungen.
Wird das Prinzip „immer schneller, weiter und höher“ künftig an Grenzen stoßen? Allein das Thema Klimawandel zeigt, dass wir unsere Umwelt und unsere natürlichen Ressourcen nicht weiter grenzenlos nutzen können. Wie steht es bei den persönlichen Ressourcen? Ist der Zeitdruck gepaart mit dem Anspruch der permanenten Erreichbarkeit den Menschen so weiter zumutbar? Oder zeigen hier gesundheitliche Beeinträchtigungen Grenzen auf?
Können wir durch Selbstbeschränkung und durch die Konzentration auf das Wesentliche aus der Zeitdruckfalle und der Überbeanspruchung entrinnen? Müssen wir uns selbst ständig unter Druck setzen, um immer mehr zu verdienen und um dadurch einen höheren Lebensstandard und vermeintlich mehr Anerkennung zu erreichen? Müssen wir beim Konsum immer die neuesten oder teuersten Produkte erwerben? Können wir manchmal vielleicht auch schlichter und einfacher leben, was manchmal sogar erlebnisreicher sein kann?
Fragen über Fragen: Wie schaffen wir es, mit unserer begrenzten Zeit der zunehmenden Flut von Anforderungen und Angeboten zu entsprechen? Kann weniger mehr sein? Wer außer uns selbst hilft uns, unseren Kompass auf das für uns Wesentliche und Wichtige auszurichten? Welche Ziele sind dabei für uns wichtig und vorrangig? Haben wir darüber einmal gründlicher nachgedacht? Kennen wir unsere Ziele, wie wir mit unserer begrenzten (Lebens-)Zeit umgehen wollen?
1 Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt am Main, 15. Auflage 2002, S. 474
2 Vgl. zum Beispiel: https://denkbrocken.com/2019/01/05/seneca-briefe-an-luciliuszeitbegriff/#:~:text=Der%20Zeitbegriff%20in%20Senecas%20erstem%20Brief %20an%20Lucilius&text=Im%20e [Stand: 5.1.2021]
3 Vgl. dazu: Gernot Münster: Was ist die Zeit?, unter: https://www.uni-muenster.de/Physik.TP/~munsteg/10Zeit.pdf [Stand: 5.1.2021]
4 Ebd.
5 Vgl. im Folgenden: Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen; München 2015, S. 90 ff.
6 Rüdiger Safranski, ebd., S.126 ff.