Читать книгу Hausmannskost statt Hummer am Reisrand - Thimo Beil - Страница 3

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Was bisher geschah

Eigentlich. Was für ein Wort. Ein selten doofes Wort. Ein Wort, das für mich in eine Reihe gehört mit dem Satz „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Oder mit Neonröhren als Zimmerbeleuchtung. Da bekomme ich heute noch Ausschlag, wenn ich daran denke. Wir hatten solche im Wohnzimmer. Früher war das ja so. Es gab sie als gerade Röhre oder als Ring und das Licht war furchtbar. Instantpusteln. Kombiniert mit Gelsenkirchener Barock an Geschmacklosigkeit nicht mehr zu toppen. Höchstens noch durch die Badezimmereinrichtung, über die ich mich bereits ausgelassen habe. Oder von Frauen, die sich eine einzelne grüne oder lilafarbene Strähne ins ansonsten braun getönte Haar färben lassen, wohlgemerkt nicht zu Karneval. Es hat mich stets geschüttelt und es überkommt mich heute noch ein Schauer des Grauens, wenn ich einen Raum mit eingeschalteten Neonröhren betrete. Eigentlich kann das Wort ‚eigentlich‘ ja gar nichts dafür, es liegt eher daran, wie es die Menschen benutzen. Ich kann mich noch an die Einführung des Euro-Bargeldes erinnern. Jeder fing plötzlich an die neuen Euro-Münzen aus sämtlichen teilnehmenden Ländern zu sammeln. Und einige Wochen, bevor der Euro offizielles Barzahlungsmittel wurde, konnte man sich bei seiner Bank und in den Postämtern einen Beutel mit einer Grundausstattung an Münzen abholen. Ich sollte für meinen Vater zu unserem Postamt fahren, um dort ein Paket für ihn abzuholen. Ich sehe die Szene heute noch vor mir. Eine ältere Dame holte sich ihre Ration Euro von der damals noch hinter einem Schalter und durch dickes Glas geschützten Mitarbeiterin des Postamts ab. Sie wollte aber auch ein zweites Beutelchen haben, um es ihrer Enkelin schenken zu können. „Eigentlich nur eines pro Person“, sagte die Dame hinter dem Schalter. Und schob ihr das zweite zeitgleich über die Theke. Warum hält sie nicht einfach die Klappe und gibt es ihr oder bleibt dabei und sagt: „Nein, nur eines pro Person.“ Was hat das Wort „eigentlich“ da zu suchen? Was heißt das eigentlich? Ich habe gelernt, dass Menschen dieses Wort gerne verwenden, aber selten in seiner eigentlichen Bedeutung. Ein anderes Beispiel ist mir noch kürzlich widerfahren. Ich wollte ein Hotel im Spessart reservieren und frage, seitdem wir unseren kleinen Hund haben, da gerne im Vorhinein nach, ob der überhaupt erlaubt ist. In vielen Hotels ist das nicht der Fall, verständlich, wenn man sieht, wie achtlos manche Hundebesitzer mit der Hoteleinrichtung umgehen. Da möchte ich gar nicht wissen, wie es bei denen zu Hause aussieht. Ich habe also dem Hotel eine E-Mail geschrieben und gefragt, ob Hunde erlaubt sind. Die Antwort kam auch prompt. Man dankte mir für mein Interesse und würde sich freuen, uns im Hause als Gäste begrüßen zu dürfen. „Zu Ihrer Frage bezüglich Ihres Hundes: eigentlich sind bei uns seit dem 1.1.2012 Hunde strengstens verboten. Aber wenn es nur ein kleiner Hund ist, machen wir für eine Gebühr von 12 Euro pro Nacht gerne eine Ausnahme.“ Ist ja nett, aber was denn nun? Streng verboten oder nur manchmal und durch den Bakschisch doch erlaubt? Eigentlich eben.

Nun zu mir. Ich wurde in einer Stadt nahe der niederländischen Grenze geboren, vor rund 36 Jahren. Aufgewachsen bin ich als Sohn eines Versicherungskaufmanns (der als Maler anfing) und einer Schneiderin. Ich habe eine Schwester, die sieben Jahre älter ist. Ich hatte eine tolle Jugend. Klar, das sieht man immer erst hinterher ein, aber ich habe meinen Eltern vieles zu verdanken. Wir waren nicht reich, aber uns hat es, anders als vorherigen Generationen oder sogar anderen aus meinem Zeitalter, nie an etwas gemangelt. Wir hatten ein Haus mit Garten, ich hatte ein eigenes Zimmer (es war natürlich aus meiner Sicht viel zu klein, aber es war perfekt, weil meins). Ich hatte viele Freunde in der Nachbarschaft, mit den meisten bin ich zusammen fast 20 Jahre lang aufgewachsen. Wir haben gemeinsam die Schulbank gedrückt und nach der Schule gemeinsam „vor der Tür“ gespielt. Und wir hatten ein Auto. Das erste Auto, an das ich mich erinnern kann, war eine Ente. Das zweite ein VW Golf und dann machte sich der Wohlstand breit und wir bekamen einen Mercedes, einen 240 D. Der beschleunigte zwar von 0 auf 100 in weniger als drei Wochen, aber für damalige Verhältnisse war das ein echt tolles Ding. Würde ich gerne heute noch einmal fahren, einfach mal so, die alte Hämorrhoidenschaukel. In den Urlaub ging es, seitdem ich denken kann (manche behaupten, das sei noch nicht so lange her, aber hey!), mit dem Wohnwagen. Seit meinem dritten Lebensjahr kenne ich Urlaub nur in den rollenden vier Wänden. Es mag sein, dass hier ein paar der holländischen Gene über die Grenze geweht wurden, denn unser Haus stand nur etwa 500 Meter von der Grenze entfernt, die aber eigentlich keine wirkliche Grenze war. Ich bin damit aufgewachsen, dass wir immer schon über die Grenze spazieren oder fahren konnten, wann wir es wollten. Das war nach Holland der Fall, ebenso nach Belgien. Denn mein Wohnort lag im Dreiländereck. Die einzige Hürde war ein Zöllner an unserem kleinen Grenzübergang, den im Ort jeder nur „Klappergebiss“ nannte. Er war – oder sah zumindest so aus – schon etwas älteren Jahrgangs und der einzige Zöllner an dieser Grenze, der selbst die Autos, die erkennbar aus der Region kamen, anhielt und dumme Fragen stellte. Ich erinnere mich noch heute an die Dialoge meines Vaters mit ihm, der sich immer fürchterlich über den Grenzer aufregen konnte. „Haben Sie etwas zu verzollen?“ „Nein, habe ich nicht.“ Natürlich hatten wir den Kofferraum voll Kaffee, der „drüben“ billiger war. „Haben Sie in Holland getankt?“ „Nein, habe ich nicht.“ Natürlich war der Tank randvoll mit Diesel, der in Holland damals ungefähr die Hälfte kostete. „Was haben Sie dann drüben gemacht?“ „Ich habe Kunden besucht.“ Mein Vater war ja Versicherungsvertreter und er hatte tatsächlich viele Kunden jenseits der damals noch existierenden Grenze. Meistens Deutsche, die nach Holland gezogen waren, weil die Häuser dort günstiger waren und man dennoch nicht weit zur Arbeitsstelle in Deutschland fahren musste. „Und warum haben Sie Ihren Sohn dabei?“ Mein Vater, nie um eine Antwort verlegen, sagte nur: „Der sitzt da seit gestern, wir bekommen die Kindersicherung nicht mehr auf.“ Und dann gab er Gas. Den wahren Namen von Klappergebiss habe ich nie erfahren, aber wenn ich heute an sein Gesicht zurückdenke, dann habe ich das Bild von Erich Honecker im Kopf, so ähnlich hat auch er ausgesehen. Viele Jahre später erlebte ich selbst eine Situation, die mich doch sehr an diese erinnerte. Ich flog beruflich nach Florida und landete zunächst auf dem internationalen Flughafen in Miami. Da die Amerikaner ein Volk sind, das gerne auch einmal in hektische Panik ausbricht (versuchen Sie mal in einem Supermarkt in New York noch Wassergalonen zu erhaschen, wenn ein Blizzard angesagt ist, da erleben Sie Szenen, die stellen selbst den Kampf um die letzte Banane in der DDR noch in den Schatten), hatte man dort beachtliche Gerätschaften zum Auffinden von Essbarem im Gepäck der Einreisenden aufgestellt. Man hatte Angst vor dem Import der Maul- und Klauenseuche. Bitte, ich möchte mich darüber nicht lustig machen, aber wer einmal erlebt hat, wie man in den USA darauf reagiert, wenn einer nur einen kleinen Schnupfen hat und dreimal hintereinander niest, der weiß, wovon ich spreche. Ich hatte also schon die Zollkontrolle hinter mich gebracht und stratzte mit meinem gerade vom Gepäckband abgeholten Koffer Richtung Ausgang, da musste ich meine Habe inklusive Handgepäck nochmals in eine Röhre pressen, um sie auf frische Lebensmittel untersuchen zu lassen. Natürlich war ich mir meiner Sache sicher und tat wie befohlen. Plötzlich stoppte das Band und ich hörte den finster dreinblickenden Menschen hinter dem Monitor etwas von „Second Inspection“ brabbeln, also eine zweite Durchsuchung. Und dann folgte das ganze Programm. Koffer auf, Rucksack auf, alles durchwühlen. Zu meiner eigenen Überraschung tauchte aus meinem Rucksack eine Packung Schokoriegel mit Milchfüllung auf, Kinderschokolade eben. Und der Zöllner hatte so etwas natürlich noch nicht gesehen. Der Dialog spielte sich genauso ab. „Was ist das denn“? „Sieht aus wie Schokolade.“ „Und was ist das Weiße da?“ „Könnte eine Milchfüllung sein.“ „Finden Sie das witzig?“ „Nein, lecker, aber ich weiß nicht, wo die herkommt. Ich denke, meine Frau hat sie mir heimlich eingesteckt.“ „Das ändert nichts daran, dass Sie die nicht einführen dürfen.“ „Aber das ist doch nur Schokolade.“ „Und was noch?“ „Milch.“ „Und wo kommt die Milch her?“ „Aus einer Kuh.“ „Eben, und das kommt hier nicht rein.“ „Aber die sind lecker.“ „Echt?“ Die Szene endete damit, dass wir die Packung öffneten und den Inhalt zusammen verdrückten. Das ist also noch mal gut gegangen. Ob der Zöllner nun nach Feierabend aufgrund der Tatsache, dass er möglicherweise verseuchte Milch verputzt hatte, nicht mehr ins Land durfte, weiß ich leider nicht.

Unser erster Wohnwagen war einer der Marke „Knauss“. Eine winzige Flitzpiepe, aber er konnte von unserem Golf GLS (mit 75 PS) gezogen werden. Das Ding bot gerade einmal ausreichend Platz für uns vier. Die Katze, die später immer mit in Urlaub fuhr, hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es waren zwei Betten vorhanden – besser gesagt, man konnte die beiden Sitzgruppen in zwei solche verwandeln –, aber keine Heizung. Und dieser Umstand wurde uns einmal zum Verhängnis, als wir eines Morgens allesamt bibbernd in Mulartshütte (einem Kaff in der Eifel) aufwachten, weil es über Nacht plötzlich eiskalt geworden war und geschneit hatte. Der anschließend erworbene Elektroheizer brachte auch nicht die erwünschte Wirkung und sorgte nur dafür, dass die Sicherung für unseren Stellplatz ständig heraussprang. Und mit ihr die der anderen Camper auf dem Platz. Um die Geschichte abzukürzen: wir bekamen einen neuen Wohnwagen und noch einen neuen und so weiter. Die Gefährte inklusive Auto wuchsen mit fortschreitenden Einkünften meines Vaters. Und die neueren Modelle hatten neben einer Heizung sogar einen eigenen Waschraum mit eigener Toilette. Die Dinger hießen Porta Potti. Da passte gerade einmal ein Kinderhintern drauf, gespült wurde mit einer anfangs blauen Flüssigkeit mit dem Namen Aquakem, indem man mit der Hand pumpte. Die späteren Modelle hatten eine elektronische Spülung und das fortschreitende Umweltbewusstsein brachte solche Dinge wie Biokem hervor. Den Unterschied in der Zusammensetzung kann und will ich Ihnen nicht erklären, ich weiß nur noch, dass dieses Zeug grün war statt blau. Wir haben die verschiedensten Städte und Regionen besucht. Wenn wir nicht gereist sind, stand der Wohnwagen auf einem sogenannten Dauerstellplatz rund 30 Kilometer entfernt von unserem Wohnort, und da sind wir jeden Freitagnachmittag hin. Da war alles, was man sich als Kind wünschte: andere Kinder, viel Natur, ein Baggersee und viele nette Camper, die es gut mit einem meinten. Ich hatte in meinen ganz jungen Jahren mit einer Bronchitis zu kämpfen und so kam es, dass wir auf Rat unseres Hausarztes häufig an die Nordsee fuhren. An die deutsche Nordsee. Das ist aus Sicht eines Grenzländers nicht ganz so selbstverständlich, denn der Teil der Nordsee, der am nächsten lag, war die holländische Nordsee. Genauer gesagt die Insel Walcheren mit ihren wunderschönen Örtchen Westkappelle und Zoutelande. Um nur zwei zu nennen, in denen die Menschen aus meiner Region an jedem langen Wochenende einfallen, um sich an Friet Speciaal und Bitterballen gütlich zu halten.

Uns aber hat es zur deutschen Nordsee gezogen. Wir sind, glaube ich, hintereinander sieben Jahre an die gleiche Stelle gefahren. Ein Kaff mit Namen Nordholz, mit einem Campingplatz in einem dazugehörigen noch kleineren Kaff genannt Spieka-Neufeld. Der Campingplatz lag vor dem Deich, er war also gewissermaßen ungeschützt den Launen der Nordsee ausgeliefert. Für uns Kinder war es ein Traum. Man traf sich jedes Jahr wieder, es kamen immer wieder neue Camper dazu. Ich hatte mich recht schnell in ein blondes Mädchen namens Birgit verknallt, ich meine, ich war nicht mal fünf und sie war ein paar Jahre älter, aber wir hatten eine gewisse Sympathie füreinander. Dabei kenne ich nicht mal ihren Nachnamen. Für mich war sie immer die Birgit aus Höxter. Sie war jedes Jahr dort, die Familie hatte einen Dauerstellplatz. Für uns Kinder war dieser Platz das Paradies. Als Platzwart, Kassierer, Putzkolonne fungierte ein älterer Herr mit seiner Frau, die beiden hießen Schade. Im Grunde war der Platz einfach nur eine Wiese. Man stand mit seinem Wohnwagen direkt an der Fahrrinne, durch welche die Krabbenkutter hereinfuhren und den Fang 300 m weiter landeinwärts von Bord luden. Ein herrliches Spektakel. Man bekam als Kind von den Fischern eine Handvoll Krabben für 50 Pfennig. Und wir Kinder hatten schnell raus, wie wir an dieses Geld herankommen konnten, ohne unsere Eltern anzupumpen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen auf dem Platz und hilfreiche Hände – auch wenn es Kinderhände waren – wurden immer gebraucht. So kurz wir noch waren, hatten wir aber durchaus schon Erfahrung im Aufbauen von Zelten, dem Aufbocken von Wohnwagen auf die Stützen, damit sie nicht wackeln. Wir holten auch Frischwasser und was sonst noch so anfiel und wir erledigen konnten. Dabei fiel immer die eine oder andere Mark ab. Frisch zu Geld gekommen warteten wir auf die Kutter versuchten möglichst noch vor diesen am Anlageplatz zu sein. Die Schiffe waren durchnummeriert, sie trugen die Namen Spieka 1, Spieka 2 und so weiter. Jeder von uns hatte sein Lieblingsschiff. Meins war blau, den Namen – bzw. die Nummer – weiß ich leider nicht mehr. Aber es war ein großer Spaß, wir durften in die Krabbenkisten greifen und uns eine Handvoll rausholen. Die Krabben waren bereits gekocht, das wurde auf dem Schiff erledigt, aber ungepult, wie man dort sagt. Also haben wir uns die Viecher gegriffen und in unsere Öljacken gesteckt. Damit sind wir dann zum Platz zurückgetrottet und haben erst mal weitergespielt und irgendwann die Krabben gepult und verdrückt. Der Effekt war natürlich, dass die Jacken unendlich nach Fisch stanken – das ging nie wieder raus und hat nicht gerade für große Erheiterung im heimischen Wohnwagen geführt. Ich kann Ihnen versichern, da war der Imperator (auch genannt Mama) schwer am Sicken. Häufig kamen wir auch von oben bis unten mit Schlamm verdreckt wieder. Warum? Weil wir uns entweder bei Ebbe in irgendeinem Priel gesuhlt oder mal wieder in der leeren Fahrrinne nach Krebsen gesucht hatten. In einigen Jahren gab es regelrechte Quallenplagen und die Biester konnten eine stattliche Größe annehmen. Während das beim Schwimmen in der Fahrrinne recht lästig war und die Quallen noch in der besseren Position waren, rächten wir uns bei Ebbe fürchterlich. Chinaböller! Einer pro Qualle – wie gesagt, die waren groß – und es flogen im wahrsten Sinne des Wortes die Fetzen. Danach war immer eine ausgiebige Dusche angesagt. Aber so gerne ich das heute über mich ergehen lasse, so sehr habe ich damals das Wasser aus einer Leitung von oben gehasst. Ich habe geschrien wie am Spieß und der ganze Campingplatz wusste sofort: da wird Thimo wieder gequält. Dazu kam noch, dass die Toiletten und Duschen in einem Container untergebracht waren. Ich erinnere mich noch an eine rotgraue Außenfarbe, der Innenraum war giftgrün, eine Farbe, die ich später noch mal im Aachener Klinikum wiedersah. Manchmal kam das Wasser aber nicht nur von oben, sondern auch in Form einer Sturmflut oder Springflut von unten, indem die Nordsee sich auf dem Land breit machte, auf dem die Wohnwagen und Zelte standen. Zur Erinnerung: wir waren vor dem Deich, da war also nichts zwischen uns und der See. Im Grunde war das eine Riesengeschichte für Erwachsene und Kinder. Es war ja niemand wirklich in Lebensgefahr, aber man wollte natürlich vermeiden, dass das Wasser den Wohnwagen und/oder das Zelt umschließt. So wurde bei entsprechender Warnung Nachtwache gehalten. Das Ganze kam einmal pro Urlaub vor. Die Erwachsenen nutzten das nasskalte Wetter, das so eine Sturmflut mit sich brachte, als Vorwand, sich von innen zu wärmen. Ich habe mir als Kind nicht merken können, welche Art Wärmemittel eingesetzt wurden. Wenn es dann allerdings so weit war, dass das Salzwasser an die Wagen klopfte, mussten diese natürlich entsprechend weggeschoben werden, denn der gesamte Platz war recht schnell überflutet. Es war also einiges zu tun. Jetzt muss man sich die Szene wie folgt vorstellen: betrunkene Erwachsene schieben singend Wohnwagen durch die Gegend und johlende Kinder ringsherum feuerten sie dabei an. Es ist nie etwas Ernstes passiert, aber eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass nicht einer der Wagen plötzlich in der Fahrrinne gelandet ist statt auf dem Trockenen. Die beste Szene allerdings hatten wir in einem Jahr, in dem das Wasser ungefähr einen halben Meter hoch stand. Alle Wohnwagen waren bereits weggeräumt, plötzlich entdeckte noch jemand ein Zelt in den Fluten, das fest im Boden verankert war. Wir näherten uns also alle diesem Zelt und bemerkten, dass noch jemand im Zelt war. Alle riefen quer durcheinander „Nicht den Reißverschluss öffnen, wir ziehen Euch weg, nicht aufmachen.“ Das hielt den Berliner Besitzer des Zeltes nicht davon ab, doch den Reißverschluss zu öffnen und nachzusehen, was denn da draußen vor sich geht. Ich glaube die Töpfe, Luftmatratzen, Schuhe, T-Shirts wurden nie wieder gesehen. Alle nahmen es mit Humor und als Anlass, sich noch mal aufzuwärmen. Auch der Berliner.

Im Grunde hatte ich eine ziemlich erstklassige Jugend. Natürlich sieht man das als Jugendlicher zunächst anders, aber im Rückblick kann ich sagen, dass wir eine ziemlich intakte Familie waren und sind. Wir wohnten in einem Dorf mit rund 20.000 Einwohnern, waren als Familie vertreten im örtlichen Karnevalsverein, mein Vater war als einer der zur damaligen Zeit wenigen Versicherungsvertreter und dank seiner dort verbrachten Jugend und Vereinstätigkeit bekannt wie ein bunter Hund. Ich habe meine Karriere in der örtlichen Grundschule gestartet. Was will ich sagen, ich hatte kein Interesse an Bildung, fand es aber irgendwie ganz witzig, dort andere Kinder zu treffen, und fühlte mich auch wohl. Eine Szene ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Es gab einen Jungen namens Conrad-Peter, meine erste Begegnung mit der Eigenschafft „arrogant“. Ich hatte irgendwann eine kleine Karnevalspistole dabei, so eine richtig coole, keine drei Zentimeter groß, aber mit zwei Läufen wie eine Piratenpistole. Die machte ordentlich Krach. Damit wollte ich mich an Mister Arroganz rächen und knallte ihm ins Ohr. Leider stand eine der Lehrerinnen – Doppelname, Pottfrisur – in der Nähe. Sie nahm mir die Pistole ab und übergab sie dem Rektor, der auch gleichzeitig mein Klassenlehrer war. Vor dem hatte ich Respekt. Der Mann war für damalige Kinderdimensionen ein Riese, rund zwei Meter groß und irgendwie respekteinflößend. Er schloss die Pistole in seine Schreibtischschublade, nicht ohne mich vor der ganzen Klasse noch zu ermahnen. Arschloch, beide, der schmierige Conrad-Peter und der Lehrer. Aber irgendwann rief mich der Rektor zu sich und meinte, ich könnte die Pistole wiederhaben, wenn ich meinen Vater dazu animieren könnte, das anstehende Schulsportfest zu moderieren. Ich sagte ihm nur: „Das ist Erpressung, darauf lasse ich mich nicht ein“, und ließ ihn ziemlich verdutzt mit der Pistole in der Hand stehen und ging. Nur zur Erinnerung, ich war in der dritten Klasse. Er wiederum fand meine Standhaftigkeit so klasse, dass er zu meinem Vater fuhr und ihm alles erzählte, wirklich nicht, um mich anzuschwärzen, sondern um ihn selbst um die Moderation des Sportfestes zu bitten. Das hat er dann auch gemacht.

Es ging dann weiter auf die Realschule. Keine besonders hervorzuhebende Zeit. Ich schwamm so mit. Hatte Fünfen in Mathe, war also besonders gut geeignet für den Job des Bankkaufmanns. War aber auch egal, ich wollte ja Automechaniker werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein dreiwöchiges Praktikum anstand. Ich meine, wie kann man so etwas auch nur im Oktober veranstalten? Draußen ist es nass und kalt und Autowerkstätten sind nun mal nicht sonderlich warm abgedichtet. So bin ich dann bei der Bank gelandet. Und zwar in der Zahlungsverkehrsabteilung der D-Bank. Mensch, was hatte ich Respekt vor den Leuten da. Die taten ja Dinge, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie gab. Aber im Nachhinein war das prägend. Zum einen, weil ich mich letztlich vom Traum, Automechaniker zu werden, komplett verabschiedete. Zum anderen, weil da noch echte Handarbeit gefragt war, um Überweisungen zu bearbeiten. Mehr habe ich damals auch nicht verstanden, schon gar nicht, was ein Aval oder ein Wechsel ist. Aber dabei traf ich meinen ersten Mentor. Er hatte eine besondere Art, Menschen zu leiten, aber auch einen großen Fehler: er war FC-Köln-Fan. Trotzdem habe ich ihm sehr viel zu verdanken. Man konnte ihn zum Feind haben, dann hatte man besser ein ganz dickes Fell. Man konnte ihm egal sein und das war für alle die er nicht leiden konnte noch die beste Variante. Oder man hatte ihn auf seiner Seite, was man aber nur durch Ehrlichkeit und Fleiß schaffte. Ehrlich war ich schon immer. Fleiß kam etwas später dazu.

Aber zurück zur Realschule. Wie gesagt, nichts Aufregendes. Während manche da schon zwischen Kind und Mann standen, blieb ich ein Kind. Ich kriegte dann aber irgendwie die Kurve und wurschtelte mich bis zur Höheren Handelsschule durch. Da hatten wir jede Menge Spaß. Ich erinnere mich an meine Klasse, wir waren vier Jungs und ungefähr 25 Mädchen, wobei man in dem Alter, glaube ich, schon „junge Frauen“ sagt. Die Lehrer behandelten einen auch nicht mehr wie Kinder, hatten jedoch häufig auch wenig Verständnis für unsere dummen Scherze. Ich erinnere mich an den Leberwurstbrot-an-die-Decke-werfen-Wettbewerb. Nur Frederiks blieb hängen, zumindest für etwa drei Wochen und landete dann im BWL-Unterricht vor seiner Nase. Wir hatten das Brot alle komplett vergessen. Vor allem Frederik schaute ganz dumm, als ihn das Brot von oben ansprang. Stellen Sie sich eine Kuh vor, die beim Kacken vom Blitz getroffen wird. Ungefähr so.

Ich trat dann bei der D-Bank, in der ich mein Praktikum absolviert hatte, auch meine Ausbildung an, und muss sagen, es war kein unbedingter Fehler. Man hielt da etwas auf sich, man war sozusagen der FC Bayern unter den Banken. Uns wurde immer eingeredet, Ihr seid die Elite! Ihr bekommt die beste Ausbildung! Ihr werdet die Besten bei der Prüfung sein. Was soll ich sagen, damals hat man selber daran geglaubt. Unsere Konkurrenz war von der Sparkasse, anderen Privatbanken und den Volksbanken. Konnte ja nichts sein, wer da arbeitet! Mit Blick zurück muss ich darüber doch sehr schmunzeln. Denn mit unserem Jahrgang hatte die Bank, glaube ich, kein Glück. Wir waren nicht schlecht, verschlechterten aber doch eher den Schnitt. Aber egal, man lernt fürs Leben und nicht für die Schule. Das Blöde am Leben ist, man lernt nicht aus. Es gibt keinen Punkt, an dem man sagen kann: „Ich kann jetzt alles.“ Wichtig ist, weiterzulernen und sich weiterzuentwickeln. Stillstand ist Rückschritt. Glauben Sie mir, ich kenne Leute, die sind irgendwo stehen geblieben, wo, ist noch nicht mal erkennbar, aber dazu gleich mehr.

Eine der schönsten Zeiten meines Lebens bisher verbrachte ich in Frankfurt. Ich lebte und arbeitete dort fast drei Jahre, hatte viel Spaß und kann sämtliche Vorurteile über Frankfurt entkräften. Es ist nicht hässlich und kriminell (vorausgesetzt man meidet Offenbach und Darmstadt). Meine Wahrnehmung ist sicherlich aber auch davon geprägt, dass ich dort sehr gute Freunde kennenlernte. Und meinen zweiten Mentor. Der erwischte später leider irgendwo auf der Bahnlinie seines Lebens die falsche Weiche und rast mit Vollgas auf eine sehr wackelige Brücke zu. Ich kann nur hoffen, dass ihm rechtzeitig jemand eine Machete für sein geistiges Dickicht reicht und er noch einmal auf die Gleise schaut. Nach acht Jahren zog es mich zurück ins Rheinland. Dort begann für mich ein rasanter beruflicher Aufstieg. Es war eine sehr spannende Zeit und wohl eine ganz wichtige für meine Entwicklung. Ich besetzte eine Führungsposition in einem der größten Unternehmen in seiner Branche weltweit. Ich reiste um die Welt und bekam es mit Vorständen, Politikern und anderen Großkopferten zu tun. Als junger Mensch ist das eine interessante Welt. Man muss aufpassen, dass man nicht abhebt, denn der Umgang und der Rahmen, in dem man zusammentrifft, sind häufig schon sehr schmeichelhaft. Aber wenn man das hinbekommt, dann kann man eine Menge lernen. Die interessanteste Erfahrung war, dass die Herrschaften alle nur mit Wasser kochen. Der eine beherrschte seine Materie besser, der andere schlechter. Aber eines hatten Sie alle gemein, man merkte ihnen nicht an, wenn sie keine Ahnung hatten. Wie gesagt, die meisten, die ich kennenlernte, waren wirklich fachlich gut. Die Besten unter ihnen waren auch noch menschlich in der Lage, einem das Gefühl zu geben, man sei kein Untermensch. Aber es gab auch einige, bei denen man sich ernsthaft die Frage stellen musste, durch welche Lotterie sie es in die obersten Sphären eines solchen Unternehmens geschafft hatten. Das gilt im Übrigen nicht nur für Vorstände, sondern auch für die Ebenen darunter, die sich noch Topmanagement nennen dürfen. Da vielleicht sogar noch mehr. Meiner Entwicklung hat es sicher nicht geschadet. Ich wurde aufgrund meines jungen Alters nicht immer ganz ernst genommen, versuchte aber durch Leistung, möglichst viele Leute davon zu überzeugen, dass dies ein Fehler sein könnte. Ich beobachtete die Menschen genau und es gab, wie gesagt, viel zu lernen. Vieles, was man für seinen eigenen Lebens- und Berufsweg als nützlich erachten kann. Aber auch viele abschreckende Beispiele, die jedoch vielleicht sogar noch die wichtigeren Lehrstücke waren.

Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre. Bitte nehmen Sie nicht alles immer ernst, dies ist jedoch auch kein reines Spaßbuch. Ich habe mir Mühe gegeben, die ernsten Abschnitte auch so zu halten, aber ein wenig Auflockerung kann bei so manch hartem Tobak dennoch nicht schaden. Ich bin mir sicher, Sie werden die entsprechenden Stellen richtig zu lesen und zu deuten wissen.

Hausmannskost statt Hummer am Reisrand

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