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II. Fabelhafte Verhältnisse

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»Aber eine Armee von Gespenstern beansprucht seine Schuhe.«

Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei

Die eigentlich lähmende Ruhe eines Feiertags und eine auf einem grellbunten Plakat beworbene Attraktion treibt Dich aus Deinem gemütlichen Zimmer, es zieht Dich förmlich auf die Straße, weg von Deiner verlotterten Polizeistation, die Du vor weniger als einem Monat in desolatem Zustand vorgefunden und nach Durchführung der notwendigsten Reparaturen übernommen hast. Du machst einen kurzen Halt beim städtischen Postamt und gibst eine der gefälschten Ansichtskarten auf, die eigentlich eine chiffrierte Nachricht an Deine Dir übergeordnete Dienststelle ist. Adressiert ist das kleine, nachlässig bedruckte Kartonrechteck an Leute, die Du kaum kennst, wie könnte es auch anders sein. In einer Ecke des Amts, unweit des Schalters, lungern ein paar Einheimische, die sich wohl schon vor ihrem Besuch des sich angekündigten Jahrmarkts, ein selten zu sehendes Spektakel in dieser Gegend, das, neben anderen Dingen, eben auch Deine Hoffnung auf billige Ablenkung in diesen tristen Tagen unerfreulicher Ermittlungen geweckt hat, ein wenig mit Fusel betrinken wollen, wohl auch, um Zeit und Geld bei den später erhofften Vergnügungen einzusparen. Einer von ihnen stößt eine Flasche um, und Du musst, ganz gegen Deinen eigentlich vorhandenen Vorsatz, Dich bei solchen Geräuschen nicht mehr ruckartig nach deren Quelle umzudrehen, aufschauen, Dir ein Bild machen, wie immer, wenn ein Glas, ein Teller zu Boden fällt oder ein morsch gewordener Stuhl unter dem Gewicht eines Gastes zu Bruch geht. Du betrachtest die sorglosen Gäste, ihre geröteten Nasen und suchst unter ihnen nach Gesichtern, die Dir zumindest entfernt vertraut erscheinen, horchst möglichst genau auf das Geraune ihrer leisen Stimmen. Du musst Dich sehr konzentrieren, um weder aufzufallen noch enttarnt zu werden. Auch das könntest Du alles verlernen, alles kann wieder verlernt werden. Die einzige natürliche Fertigkeit, die man für Deine eigentliche, vor allen verheimlichte Arbeit je mitbringen musste, war und ist das Lügen. Zivilisatorische Normen kann man ablegen, Regel für Regel, der eigentliche Akt des Tötens geht schneller als erwartet und wie von selbst von der sprichwörtlichen Hand. Du hast diese Gabe in Dir entdeckt, auch wenn Du es Dir vorerst kaum zugetraut hattest. Man gewöhnt sich im Laufe der Zeit daran, bis besagte Fähigkeit zum wesentlichsten Teil der eigenen Person geworden ist. Du hast zugesehen, wie es passiert ist. Du hast zugelassen, dass die anderen Teile Deiner Identität davon verdrängt oder gar aufgesaugt wurden. Die Dir immer noch innewohnende Unwilligkeit gegen Deine heimliche Tätigkeit, der sich immer seltener regende Widerstand gegen Dein tödliches Spezialistentum, verschwand unter einem Pflichtbewusstsein, das Du schon länger nicht mehr hinterfragt hast. Um ein Diener des Kombinats zu sein, insbesondere in Zeiten wie diesen, muss man kühl und bedacht sein. Es gilt, zwischen den notwendigen Taten und dem Einsatz der verfügbaren Mittel zu balancieren, dem zu erhaltenden System, den Werten, für die es angeblich einsteht, und dem erzwungenen Frieden, den es angeblich bedeutet, zuzuarbeiten. Dass dieses System immer mehr Risse bekommen hat, dass der vermeintliche Friede in offenen Krieg umgeschlagen war, hatte Dich erst zu interessieren begonnen, als es unvermeidlich geworden war. Doch auch dann hat Dein Engagement, hat es auch Dein Gewissen etwas erleichtert, Deine Situation nicht verbessert. Dein Aufenthalt in dieser elenden Kleinstadt in der östlichsten Provinz des Reichs hat nicht unwesentlich mit Deinen lange Zeit unwidersprochen durchgeführten Arbeiten und Deinem einzigen, kurzen Widerspruch zu einem besonders ungünstigen Moment zu tun. Davon wird an anderer Stelle mehr zu lesen sein, jetzt musst Du Dich auf den Jahrmarkt, diese von Dir eigentlich seit Kindertagen zutiefst verachtete und als minder eingestufte Unterhaltungsform, einstellen. Doch hier wird die Stadtbevölkerung versammelt sein, hier wirst Du etwas lernen können, schneller und effektiver. Hier wirst Du ihnen außerdem eine Lektion erteilen können, ganz nebenbei, und Du wirst, wenn Du Glück hast und Dich geschickt anstellst, ein paar der Wölfe enttarnen, die unter diesen von Dir verabscheuten Schafen noch immer unbehelligt leben. Sie und Du, das wird Dir hier in der Enge des Postamts wieder deutlich, ihr seid nicht von der gleichen Art.

Die Buden und kleinen Hütten des Jahrmarkts sind auf einem weitläufigen Platz und einem angrenzenden, unbetonierten Feld, das am nahen Waldrand entlang verläuft, aufgebaut worden, ganz einer kleinen Stadt gleichend, die sich inmitten einer größeren entfaltet und ihre ungewöhnliche Belagerung gleich inmitten der Mauern der einzunehmenden Siedlung begonnen hat. Die papierenen Ankündigungen, die billigen Plakate mit ihrer Unausgewogenheit in Typografie und Bild haben nichts versprochen, was hier nicht geboten wird. Die durch das Kombinatsgebiet wandernden Schausteller haben flink ihr Reich aufgeschlagen, das nur eine Nacht währen soll und nichts zurücklassen wird außer Müll, schweren Köpfen und leeren Börsen. Die Stadtbewohner drängen sich an Dir vorbei, während Du zwischen den Buden scheinbar planlos herumläufst, getragen von einer oberflächlichen Begeisterung, die fast darüber hinwegtäuscht, dass sie nur hier sind, weil es eben nichts anderes zu tun gibt. Du beobachtest, wie sie kleine Münzen für billigen Tand und schlecht zubereitete Speisen ausgeben, wie sie aus der bunten Vielzahl exotischer alkoholischer Getränke wählen. Du spürst ihre Enttäuschung, die sie sich gegenseitig nicht eingestehen wollen, Du erhaschst einen Blick auf ihre Neugier, auf ihren unleugbar vorhandenen Wunsch nach etwas Echtem in all diesen Fälschungen und Repliken. Wie wenig sie das Tatsächliche aber erkennen könnten, wird Dir mit jedem gemachten Schritt und mit jeder registrierten Geste bewusster. Nicht nur, dass ihnen offensichtlich die Fähigkeiten zur Unterscheidung fehlen, wollen sie trotz ihres ihnen vielleicht selbst nicht ganz klaren Verlangens nach etwas Echtem doch vor allem Neues oder Vertrautes in noch unvertrauter Gestalt sehen. So wie sie sonst zu den öffentlichen Hinrichtungen und Schauspielen der Macht des Kombinats strömen, vor allem, so musst Du annehmen, um sich selbst in ihren Rollen und Funktionen, in ihrer sich selbst zugeschriebenen Wichtigkeit bestätigt zu wissen, treiben sie sich nun auf dem Jahrmarktsgelände herum. Aus dem Gewirr ihrer Stimmen filterst Du die wichtigsten Sätze und Wörter heraus, hörst auf die hoffentlich wesentlichen Dinge. Du blendest den dumpfen Rest aus, schiebst ihn im Geiste wie bei einer Turnübung beiseite, versetzt große akustische Blöcke an den Rand Deiner Gedankengänge, bis nur noch die zentralen Elemente übrig bleiben. Zwischen diesen rot visualisierten Linien musst Du navigieren, Du musst Dich bewegen und so agieren, dass man Dir Dein Geschick möglichst noch nicht ansieht. Du kannst darauf vertrauen, dass Deine Oberfläche durch und durch grau ist, so unlesbar und langweilig wie nur möglich. Die Bewohner lärmen zwischen den Ständen, prosten einander zu, wippen und tanzen zur Musik und wagen einen Blick in die exotischen Tanzvorstellungen. Eher hilflos versuchen sie sich an den mobilen Spielautomaten und Schießbuden. Das blecherne Knallen der billigen Scheibengewehre lässt Dich innehalten. Hier, an einer der größeren Buden, steht eine Handvoll Väter, umringt von ihren schlecht gekleideten Kindern, hantieren hilflos und recht plump mit den luftdruckbetriebenen Waffen, die in ihren groben Händen erst recht wie Spielzeug wirken. Du näherst Dich langsam und möglichst lautlos weiter an, als müsstest Du Dich anpirschen, um Deine Beute nicht zu verschrecken. Die Erwachsenen erwerben, begleitet vom Gekreische der Kinder, die ihren Eltern kaum bis an die Hüfte reichen, Runde um Runde Munition und verfehlen, begleitet von den hämischen Blicken und Bemerkungen des Budenbesitzers, wieder und wieder die beweglichen Ziele. Die wenigen Glückstreffer, die sie landen, reichen einfach nicht aus, um einen der ausgestellten Preise, selbst noch den kleinsten unter ihnen, zu gewinnen. Überraschend wohlgeordnet stehen die Kunststoffeisenbahnen und schlecht vernähten Stofftiere neben billigen Puppen in glitzernden Gewändern. Sie verharren unbeeindruckt von den zahllosen Kleinstgeschossen, die in die hölzerne Rückwand der Schießbude einschlagen. Nun stehst Du neben den Vätern, gibst Dich möglichst unbeteiligt, während die Kinder ringsum immer ungeduldiger werden oder sich bereits gelangweilt und enttäuscht abwenden. Die Männer mit ihren Gewehren agieren immer verzweifelter und ordern unter den tadelnden Blicken sich nähernder Frauen – unter ihnen vermutetst Du richtigerweise auch einige der dazugehörigen Mütter – weitere Getränke und neue Munition. Dies scheint Dir eine gute Möglichkeit, etwas zu demonstrieren, Deine Überlegenheit deutlich und unübersehbar auszustellen. Du möchtest die Stadtbewohner, denen Du trotz Deiner Einschränkungen immer noch weit überlegen bist, vor den Kopf stoßen. Ganz entgegen Deiner sonstigen Vorsicht willst Du für wenige Momente etwas von Deiner wahren Natur und Bestimmung erkennen lassen. Du möchtest den Anwesenden Angst einflößen, sie weniger beeindrucken als vielmehr einschüchtern, Du möchtest eine wirksame Geschichte über Dich stiften. Du weißt, wie das funktioniert, auch dafür wurdest Du hervorragend ausgebildet und vorbereitet. Du nickst dem Besitzer zu und legst ein großes Goldstück auf die abgegriffene Holzauflage. Damit hättest Du die Preise auch einfach kaufen können, aber Du wählst einen anderen Weg. Das Gewehr ist für Deinen Geschmack viel zu leicht und Du verschießt die beiden ersten Kugeln, dann aber triffst Du alle weiteren sich bietenden Ziele. Du denkst nicht, während Du das tust, Du agierst einfach. Aus den Preisen wählst Du einige gleich aussehende Stoffbären und verteilst sie an die Kinder. Die umherstehenden Leute nicken Dir zu, aber keiner sagt ein Wort des Dankes. Du hast es Dir nicht anders erwartet, und dem Budenbesitzer ist die Szene offensichtlich vollkommen egal. Er ist mehr als nur gut bezahlt worden und wohl auch froh, einige der angestaubten Trophäen endlich losgeworden zu sein.

Dann gehst Du einfach weiter, passierst andere Attraktionen und schnappst weitere Gesprächsfetzen auf. Du gehst nun in einem größeren Bogen den Jahrmarkt ab, und abseits der Menge, im äußersten Bereich, findest Du zu Deiner großen Überraschung neben all den gefälschten Attraktionen einen echten Bären ausgestellt. Das Tier liegt ruhig in dem schmutzigen Käfig, dessen Boden mit Stroh ausgelegt ist. Du kannst immer noch deutlich die Anschlüsse und technischen Applikationen sehen, die an ihm angebracht wurden. Dieser Bär ist wirklich eine Besonderheit, eine Rarität. Du weißt, was das für ein Tier ist. Kurz bevor die Eisenmänner im Krieg gegen das Kombinat endgültig die Oberhand gewannen, hatte man versucht, aus den umfangreichen Menagerien wilder Tiere Teile der regulären Truppe zu machen. Mit Abscheu denkst Du daran, wie die Technikerkaste die Zoos in Labore verwandelt hat. Aus den Massenunterhaltungen und Schaukämpfen, bei denen Bären wie dieser häufig zu sehen waren, wurde der Ernst eines immer sinnloser werdenden, nicht enden wollenden Konflikts. Du hast den Einsatz dieser Tiere miterlebt, warst, so wie alle anderen auch, erst skeptisch und dann doch sehr erstaunt über ihre Durchschlagskraft und Leistungsfähigkeit. Diese entfremdeten, programmierten Wesen schienen in ihrer erschreckenden Kombination aus Natürlichkeit und Künstlichkeit in der Lage zu sein, das Blatt zugunsten des Kombinats zu wenden. Doch dann begannen die Ausfälle, das Fehlverhalten und die unvorhergesehene Raserei. Du hast aus unmittelbarer Nähe erlebt, wie Bären oder Löwen plötzlich die eigenen Soldaten und Tierführerinnen anfielen, mitten im Kampf erstarrten oder ohne auf den ersten Blick ersichtlichen Grund leblos zu Boden sanken. Nach einer kurzen Phase der unberechtigten Hoffnung kostete dieses erbärmliche Experiment, dem Du niemals zugestimmt hättest, mehr Verluste eigener Einheiten, als zu erwarten gewesen waren. Ganze Armeeteile verschwanden in den sich ausdehnenden Schlachtfeldern, Gerüchte und Schauergeschichten ersetzten Fakten und Aufstellungen. Als die Fertigung tierischer Soldaten schließlich auf direkte Weisung der Tyranninnen eingestellt und die Kliniken abgebaut wurden, war es schon längst zu spät. In einer offiziellen Verlautbarung, die eigentlich von Stärke hätte zeugen sollen und doch nur die Hilflosigkeit des Oberkommandos unterstrich, wurden die verbliebenen modifizierten Tiere, die man zuvor dem Gesetz unterstellt hatte, geächtet. Mit dem Gesetz und dem Verbrechen beginnt die Menschlichkeit, hier haben die Gesellschaft und ihre Spiele ihren Ursprung. Mit den Gesetzen, die man nun wirksam werden ließ, sollte eine Grenze zu den Tieren gezogen werden, aber eben nicht zu den Bestien, derer man sich bedient hatte. In der Folge wurden manche der Tiere, die noch in den Einheiten zu finden waren, von den eigenen Leuten erschlagen oder in sinnlosen Gefechten geopfert. Man wollte sie, um dem Gesetz zu entsprechen, möglichst schnell loswerden. Manche verschwanden gewiss in den Wirren zu Beginn der letzten, immer noch andauernden Kriegsphase, und Du hattest bis zu diesem Augenblick einfach angenommen, dass sie schließlich alle umgekommen waren. Der Blick des Bären, der Deine Anwesenheit bemerkt hat, ist von beeindruckender Ruhe. Eines seiner Augen schimmert milchig, und sein pelziger Körper ist von deutlich sichtbaren Narben überzogen. Der unweit des Käfigs auf dem Boden vor sich hin dämmernde Besitzer, mit seinem am Gürtel befestigten, aufdringlich großen Schlüsselbund, hat das Tier offensichtlich sehr schlecht behandelt. Du empfindest Mitleid mit diesem Tier, diesem einzigen authentischen Ausstellungsstück unter all den billigen Vergnügungen. Wie um dieses für Dich so ungewohnte Gefühl noch zu unterstreichen, berührst Du beinahe unbewusst die Anschlüsse und Ersatzteile an Deinem eigenen Körper, die metallenen Schnittstellen an Deinen Unterarmen und Deinem Brustkorb. Einem Impuls folgend trittst Du näher an den Käfig heran, und ohne weiter auf den Besitzer zu achten, öffnest Du die Käfigtüre. In diesem wilden, geschundenen Körper lauert noch eine letzte Tat. Der Bär hebt ruckartig seinen Kopf, doch Du wartest noch kurz ab, bevor Du nach einem Moment stillen Einverständnisses zwischen euch schnell den Weg zur Polizeistation einschlägst. Du blickst Dich nur einmal nach dem Tier um, das sich wie ein Leichnam, der sich weigert, tot zu bleiben, erhebt. Noch bevor Du wieder an der Station eintriffst, kannst Du die Schreie hören. Ruhig und bedacht entriegelst Du mit Deiner Schlüsselkarte den Waffenschrank und entnimmst ihm eine große Handkanone und mehrere Projektile. Du stellst ohne Hast den Gurt auf Deine Körpermaße ein. Es ist schon länger her, dass Du eine dieser großkalibrigen Waffen verwendet hast, doch Deine Hände wandern wie von selbst über die mattgraue stählerne Oberfläche des wenig eleganten Mechanismus, über die Riegel und Einstellungsregler für Feuerfrequenz und Reichweite. Du lädst die Waffe und trittst nach draußen, gehst ohne besondere Eile zurück zum Jahrmarkt und passierst ihn in Richtung des Waldes. Es ist bedrohlich still geworden, die Schausteller bauen flink und verbissen ihre Buden ab, ein paar menschliche Körper liegen wie zufällig herum, die Bewohner sind zwischenzeitlich zu ihren Häusern zurückgekehrt. Du wolltest nun ohnehin kein Publikum mehr. Du wirst den Bären, ganz wie Du es Dir erwartet hast, ruhig auf einer Lichtung, die Dir schon vertraut ist, sitzend vorfinden, seinen ehemaligen Besitzer zerfetzt neben sich auf dem Boden. Der unvermeidliche Rest wird sich wie Routine anfühlen, traurig und kaum den Akteneintrag wert, den Du später dazu schreiben und auf eine der Ansichtskarten übertragen wirst.

In dunklen Gegenden

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