Читать книгу Einführung in die Phonetik und Phonologie des Deutschen - Thomas Becker - Страница 7

2. Phonetik und Phonologie

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Wozu Phonetik, wozu Phonologie? Wenn man vor dem Problem steht, einem französischen Kommilitonen Unterricht in Deutsch zu geben und dieser Schwierigkeiten mit dem deutschen ch hat, z.B. im Wort ich, da er etwa immer „isch“ oder etwas Ähnliches ausspricht, so ist es sicher hilfreich, wenn man ihm zeigen könnte, dass er den Laut nicht nur aussprechen kann, sondern es häufig auch tut. Er könnte ja zu den Franzosen gehören, die das Wort für ‚ja‘, oui, manchmal nicht wie „wi“ sondern wie „wich“ aussprechen – da ist unser ch: als Teil des Vokals i.

Was hat nun das ch mit dem i zu tun, und warum weiß man normalerweise nicht, dass hier in einem Vokal ein Konsonant vorkommen kann? Die erste Frage beantwortet die Phonetik, die zweite die Phonologie. Wenn man ein i ausspricht, hebt man die Zunge im Vergleich zum a sehr weit nach oben, so dass sie fast den Gaumen berührt (man kann das spüren, wenn man abwechselnd ein a und ein i ausspricht). Wenn man die Zunge nun noch etwas weiter hebt, wird der Abstand von Zunge und Gaumen so eng, dass die durchströmende Luft Turbulenzen bildet, die man als ein Rauschen hört: Wenn dann auch noch der Stimmton des Vokals wie beim Flüstern wegfällt, haben wir das ch. Im Französischen wird beim i die Zunge etwas weiter gehoben als im Deutschen, daher hat das französische i eine stärkere Neigung, das ch zu entwickeln als das deutsche.

Sprachlaut Phonem Funktion

Warum weiß man das normalerweise nicht? Diese Frage beantwortet die Phonologie. Das im i versteckte ch wird zwar ausgesprochen wie der deutsche Konsonant, ist aber im Französischen kein Konsonant. Ein Laut ist nur dann ein Sprachlaut (oder Phonem) einer bestimmten Sprache, wenn er in dieser Sprache eine bestimmte Funktion erfüllt, nämlich die Funktion, Wörter zu unterscheiden. Das ch unterscheidet im Deutschen z.B. die Wörter reich und reif; wenn wir diesen Laut im Deutschen nicht schreiben würden, könnten wir die Wörter Bleie und Bleiche nicht mehr unterscheiden. Im Französischen gibt es solche Wortpaare nicht, man braucht den Laut nicht zu schreiben, denn das ch tritt nur an ganz bestimmten, vorhersagbaren Stellen auf und unter bestimmten Bedingungen.

Das Deutsche hat ebenfalls einen solchen Konsonanten, den keiner kennt und den man nicht schreiben muss: Es ist der „Konsonant“, mit dem das Wort Apfel anlautet. Hier könnte man natürlich einwenden, dass das Wort Apfel doch mit einem Vokal anlautet – das ist auch richtig, denn der „Konsonant“ ist eben keiner, jedenfalls nicht im Deutschen. Dieser Laut wird gebildet wie ein p, nur an anderer Stelle: Ein p bildet man, indem man die Lippen verschließt, im Inneren des Mundes Luftdruck aufbaut und damit den Verschluss sprengt. Das Gleiche kann man auch mit den Stimmlippen im Kehlkopf, den Stimmbändern machen, dabei entsteht ein Konsonant, den man in der internationalen Lautschrift mit „ʔ“ bezeichnet; er heißt „glottaler Plosiv“.

Im klassischen Arabisch ist das ein ganz normaler Konsonant, der auch am Wortende vorkommt (in maaʔ, ‚Wasser‘) oder auch verdoppelt im Inneren des Worts (tasaʔʔala, ‚betteln‘). Im Deutschen tritt er nur am Anfang eines Wortstamms vor Vokal auf und bei manchen Sprechern auch im Wortinneren vor einer betonten Silbe, wenn diese auf Vokal anlautet, wie in Theʔáter (Theater). Wir schreiben diesen Laut nicht und haben damit trotzdem keine Probleme beim Lesen. Die wichtigste Funktion dieses Lauts ist die eines Grenzsignals: Die ordentlichen Deutschen legen Wert darauf, Wortgrenzen (und auch im Wortinneren: Wortstammgrenzen) mit Silbengrenzen zur Deckung zu bringen, während in fast allen anderen Sprachen darauf verzichtet wird: Wie bei dem frz. „enchaînement consonantique“ wird auch im Englischen „gebunden“: Man sagt nicht ʔan ʔapple, sondern a napple.

Hier könnte man einwenden: Warum soll ich das wissen, ich kann doch Deutsch! Man muss das wissen, um ordentlich Englisch lernen zu können. Die Verwendung des glottalen Plosivs ist normalerweise unbewusst und daher schwer kontrollierbar, daher muss man ihn durchschaut haben, um ihn im Englischen zu vermeiden. Wenn man in England auf einem Markt einen Apfel kaufen will und ihn mit ʔan ʔapple bestellt, wird die Marktfrau erschrecken, weil sie glaubt, man sei sehr verärgert. Oder sie sagt sich, das ist bestimmt ein Deutscher, und die Deutschen sind ja immer schlecht gelaunt. Das will doch keiner.

Das ch im Deutschen und Französischen auf der einen Seite und der glottale Plosiv im Deutschen und Arabischen auf der anderen sind jeweils phonetisch mehr oder weniger gleich, weil sie gleich gebildet werden. Phonologisch gesehen sind sie in den Sprachen verschieden, weil sie entweder eine wortunterscheidende Funktion haben oder nicht.

Phonetik vs. Phonologie Die Phonologie beschreibt die abstrakten Lautstrukturen sprachlicher Äußerungen, die Sprachlaute in ihrer Funktion im Sprachsystem zur Unterscheidung von Wörtern („bedeutungsunterscheidende Funktion“), ihr Vorkommen in den einzelnen Sprachen und die Kombinierbarkeit der Laute, kurz, die „Lautgrammatik“. Die Phonetik dagegen beschreibt die materielle Seite der Laute sprachlicher Äußerungen, die Abläufe der Sprachproduktion und -wahrnehmung durch die Sprecher, einschließlich der kognitiven oder neuronalen Aspekte, mit naturwissenschaftlichen Methoden, etwa mit Experimenten oder Messungen, ohne unmittelbare Berücksichtigung des Sprachsystems. Die beiden Disziplinen sind natürlich nicht scharf getrennt, sondernüberlappen sich.

Die Einheiten der Lautgrammatik (Sprachlaute, Silben etc.) haben selbst keine Bedeutung, sondern nur bedeutungsunterscheidende Funktion. Das Wort Ei hat eine Bedeutung, nicht jedoch die Silbe ei, die in Eimer vorkommt, und auch nicht der Diphthong ei, der in der ersten Silbe meis des Worts Meister vorkommt. Der Diphthong ei unterscheidet aber die Wörter schreiben und schrauben.

In der Phonetik unterscheidet man drei Teildisziplinen:

 Die artikulatorische Phonetik untersucht die Produktion durch den Sprecher,

 die akustische Phonetik die physikalischen Eigenschaften des Schalls,

 die auditive Phonetik die Wahrnehmung durch den Hörer.

Die ersten beiden Teildisziplinen werden in diesem Buch ansatzweise erläutert, die dritte nicht. Sie ist aber auch wichtig, weil wir die akustischen Signale nicht so wahrnehmen, wie sie sind; die menschliche Wahrnehmung ist keine getreue Abbildung der Realität; wir hören z.B. nur Töne zwischen ca. 16 und 20.000 Hz. Unsere Wahrnehmung für Lautstärkenunterschiede ist im leisen Bereich viel genauer als im lauten (was in der logarithmischen Dezibel-Skala für Lautstärke zum Ausdruck gebracht wird), etc.

Es gibt sogar so etwas wie akustische Täuschungen; ein sprachbezogenes Beispiel dafür hängt mit der unterschiedlichen „intrinsischen Tonhöhe“ der Vokale zusammen: Im Durchschnitt hat das i einen höheren Ton als das e. Dieser Unterschied wird durch die Wahrnehmung ausgeglichen. Wenn man nun ein i und ein e mit physikalisch gleicher Tonhöhe hört, wirkt das e höher als das i, ein wahrgenommener Unterschied, der physikalisch nicht vorhanden ist.

Ein zweites Beispiel für die Relevanz der auditiven Phonetik: Wenn man das Wort bibbern ins Mikrophon seines Laptops spricht und dann das i herausschneidet und für das i in Kiste einsetzt (es gibt Schneideprogramme, die einem das ermöglichen), und sich dann das neue Wort anhört, hört man nicht Kiste sondern Küste. Das b links und rechts von dem i hat die Klangqualität stark verändert. Diese Veränderung korrigieren wir bereits in der Wahrnehmung und machen sie gewissermaßen rückgängig, weil wir intuitiv wissen, dass die Vokale durch ihre Umgebung beeinflusst werden. Wenn das i nun in einer anderen Umgebung auftritt, wird die Veränderung nicht rückgängig gemacht. Diese Erscheinung gehört zu den Konstanzphänomenen, die für die Wahrnehmung sehr wichtig sind. Wenn wir einen Bleistift aus 50 cm Entfernung sehen, ist das Netzhautbild von ihm größer, als wenn er einen Meter entfernt ist, trotzdem nehmen wir ihn als gleich groß wahr (Größenkonstanz); ein weißes Blatt Papier nehmen wir auch unter rötlichem Licht als weiß wahr, obwohl das Netzhautbild rötlich ist. Das Blatt würde uns rötlich erscheinen, wenn wir es wie bei dem Laut i durch einen entsprechenden Trick in weiß beleuchteter Umgebung erscheinen lassen. Diese Wahrnehmungskonstanz ermöglicht es dem Menschen, veränderliche Eindrücke mit ein und demselben Objekt zu identifizieren und es so invariant wahrzunehmen. Ein Sprachlaut ist, wie wir noch sehen werden, ein höchst abwechslungsreiches Ding, das wir auf wundersame Weise als ein Objekt begreifen.

Kontinuierlich diskret Koartikulation

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Phonetik und Phonologie liegt darin, dass die Einheiten der Phonetik kontinuierlich sind, die der Phonologie diskret. Keine zwei konkreten Äußerungen z.B. des Worts Apfel sind artikulatorisch oder akustisch identisch, phonologisch gibt es aber nur ein einziges Wort Apfel. Auch die Sprachlaute gehen (durch Koartikulation) in einanderüber, so dass man nicht genau bestimmen kann, wo ein Sprachlaut aufhört und ein anderer beginnt; das gilt vor allem für die Artikulation: Wenn die Zunge von einem a zu einem t übergehen soll, muss sie sich natürlich bereits während der Artikulation von a auf die Position von t zubewegen. Auch die Wörter werden nicht getrennt artikuliert, etwa gar mit einer Pause dazwischen, die dem Leerzeichen zwischen den Wörtern entsprechen könnte, trotzdem nehmen wir sie als separate Einheiten wahr.

Kategoriale Wahrnehmung

Die verschiedenen Realisierungen des Sprachlauts k unterscheiden sich beträchtlich, z.B. in Abhängigkeit vom folgenden Vokal in Kiste und Kuh, phonologisch ist es aber nur ein abstrakter Sprachlaut. Etwas deutlicher ist dieser Unterschied im Englischen: kit vs. cool. Das Arabische unterscheidet zwei Sprachlaute, die phonetisch kaum unterschiedlicher sind als die k in kit und cool: Die Wörter kalb ‚Hund‘ und qalb ‚Herz‘ unterscheiden sich nur durch die k-Laute am Wortanfang, wobei q etwa so artikuliert wird wie das k in cool. Ein Araber nimmt diesen Unterschied auch deutlicher wahr, weil er in seiner Sprache relevant ist. Wenn man eine Sprache lernt, so lernt man nicht nur, die relevanten Unterschiede wahrzunehmen, sondern auch, die nicht-relevanten Unterschiede nicht wahrzunehmen, weswegen es mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird, eine Fremdsprache zu erlernen, zumindest, was die Aussprache betrifft, wenn man relevante Unterschiede der neuen Sprache inzwischen verlernt hat wahrzunehmen. In der Wahrnehmung kategorisieren wir die Dinge („kategoriale Wahrnehmung“), d.h., die kontinuierlichen phonetischen Realisierungen werden als diskrete Wörter oder Sprachlaute wahrgenommen; daher liegt die auditive Phonetik eigentlich im Überlappungsbereich von Phonetik und Phonologie.

Satzphonologie Intonation

Das vorliegende Buch beschäftigt sich in erster Linie mit der Phonologie der deutschen Standardaussprache, einige Grundbegriffe der artikulatorischen und akustischen Phonetik sind dazu nötig. Auch von der Phonologie wird nur das Kerngebiet dargestellt, die Wortphonologie, d.h. die Lautstruktur von Wörtern. Ebenso wichtig ist die Satzphonologie, die jedoch nur im Zusammenhang mit der Syntax dargestellt werden kann. Sie behandelt u.a. die Intonation, den Tonhöhenverlauf von Sätzen: Fritz kommt mit fallendem Tonhöhenverlauf ist ein Aussagesatz, mit steigendem Ton eine Frage: Fritz kommt?


Abbildung 1: Fallender und steigender Tonhöhenverlauf

Satzakzent

Der Satzakzent markiert unterschiedliche syntaktische Strukturen, die sich auf die Bedeutung auswirken können; so bedeutet Fritz liest auch Krímis etwas anderes als Fritz liest áuch Krimis.

Fritz liest auch Krímis: Fritz liest auch etwas anderes.

Fritz liest áuch Krimis: Auch jemand anderes liest Krimis.

Sandhi

Die Sandhi-Lehre untersucht die Variation von Wörtern in Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung im Satz. Z.B. hat der unbestimmte Artikel im Englischen die Form an, wenn ein Vokal folgt (an apple), die Form a, wenn ein Konsonant folgt (a pear); die frz. Liaison ist ebenfalls ein Sandhi-System. Das Wort Sandhi kommt aus dem Sanskrit, das ein sehr komplexes Sandhi-System aufweist. Das Wort selbst zeigt ein Sandhi-Phänomen dieser Sprache: Es besteht aus sam ‚zusammen‘ und dhi ‚setzen‘, wobei sich sam an den folgenden Sprachlaut angleicht, assimiliert, und zu san wird.

Im Arabischen hat fast jedes Wort im Satzzusammenhang eine andere Form als in Isolation.


Das Wort kataba erscheint in Isolation oder vor einer Pause ohne den letzten Vokal. Der Artikel al verliert seinen Vokal, wenn das vorangehende Wort auf Vokal auslautet. Das Flexionssuffix -atu erscheint in Isolation oder vor einer Pause als -ah. Die Präposition hat Kurzvokal (li), wenn zwei Konsonanten folgen. Das l des Artikels gleicht sich unter bestimmten Bedingungen an den folgenden Konsonanten an. Das Wort ṣadīq würde ṣadīqi lauten, wenn der Satz noch weiterginge.

Realisations- phonologie

Die deutsche Standardaussprache, der Gegenstand dieses Buchs, gehört zu den sehr seltenen Sprachen ohne Sandhi-System: Das hängt mit der bereits erwähnten Neigung der Deutschen, Wort- und Silbengrenzen zur Deckung zu bringen, zusammen. Nicht so die Dialekte, ja schon die informelle Standardsprache verhält sich ganz anders: Kaum jemand sagt wirklich so etwas wie das Schiff, viel eher dasch Schiff, wobei das s an das folgende sch angeglichen, assimiliert, ist. Hier geht die Sandhi-Lehre in die Realisationsphonologieüber, die u.a. die lautlichen Veränderungen bei schnellem oder informellem Sprechen untersucht: Wir haben nichts mehr wird selten so realisiert; aus haben wirdüber habn zunächst habm schließlich ham. Das ist keine rein lautliche Angelegenheit, denn bei dem seltenen Verb laben geschieht das nicht.

Wie bereits gesagt, wird die Satzphonologie in diesem Buch nicht behandelt. Im Folgenden geht es um die Wortphonologie; dazu wird zunächst das Lautinventar des Deutschen behandelt, dann die Lautgrammatik oder Phonotaktik.

Einführung in die Phonetik und Phonologie des Deutschen

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