Читать книгу Einführung in die Phonetik und Phonologie des Deutschen - Thomas Becker - Страница 6
1. Einleitung
ОглавлениеDieses Buch soll in knapper und kompakter Form das wichtigste Grundwissen über die Lautstruktur deutscher Wörter vermitteln. Es setzt nur minimale Kenntnisse der Sprachwissenschaft voraus und kann daher nach einem Einführungskurs in die Sprachwissenschaft oder auch parallel dazu gelesen werden.
Adressaten und Anliegen dieses Buchs: Es ist in erster Linie für Studierende der Germanistik in Bachelor- oder Lehramtsstudiengängen geschrieben worden, die sich schnell, aber gründlich in die Phonologie des Deutschen einarbeiten wollen und sich nicht unbedingt zu Sprachwissenschaftlern oder Phonologen ausbilden lassen wollen. Aber auch für diese ist es geeignet, denn sogar die guten Lehrbücher der Sprachwissenschaft behandeln die Phonologie des Deutschen stiefmütterlich oder stellen sie unnötig kompliziert dar. Ein wichtiges Anliegen dieses Buchs ist, zu zeigen, dass die Lautstrukturen des Deutschen einfacher sind, als sie üblicherweise gesehen und dargestellt werden. Dazu soll auch eine Vielzahl von Graphiken dienen, die manche Strukturen leichter verständlich machen als ein Text. Ein weiteres Anliegen ist, die Leser für die Sichtweise dieses Buchs zu gewinnen und gegen mögliche Alternativen zu argumentieren. Es soll versucht werden, ein möglichst einfaches, aber kohärentes Bild der deutschen Lautgrammatik zu zeichnen, die bis ins Detail auch erklärt werden kann, und zwar durch die Phonetik. Formale „Erklärungen“, etwa durch die Eleganz der Darstellung oder durch besonders raffinierte formale Repräsentationen der Lautstrukturen, erklären in Wirklichkeit nichts; somit weicht die Darstellung dieses Buchs in einigen Punkten von denüblichen Darstellungen ab. Daher wird es wohl auch Dozenten der Sprachwissenschaft geben, die dieses Buch mit Gewinn lesen könnten.
Der Nutzen der Phonologie: Gründliche Kenntnisse der Phonologie braucht man z.B., wenn man die Schreibung der deutschen Sprache verstehen will und vielleicht dieses Verständnis an Schüler weitervermitteln will. Die Schrift hat in wesentlichen Zügen eine Grundlage in der Lautstruktur, die man kennen sollte, aber in manchen Details eben auch nicht; dann provoziert die Lautstruktur Schreibfehler. Umgekehrt haben wir so gut wie keine Intuitionenüber die Lautstruktur, die nicht von der Schrift beeinflusst werden. Da sich die Schrift doch immer wieder von der Lautstruktur entfernt, sind unsere Intuitionen oft falsch. So gibt es vielleicht immer noch Lehrer, die ihren Schülern weismachen wollen, dass man den Unterschied zwischen das und dass hören kann, und dass man seine Ohren aufmachen soll, um es richtig zu schreiben. Auch zwischen Rad und Rat oder zwischen Felle und Fälle besteht kein Unterschied in der Aussprache, jedenfalls nicht in der Standardsprache. Eine Grundschullehrerin sollte aber auch nicht nur das Schreiben unterrichten, sondern auch imstande sein, zu erkennen, ob ein Schüler einen Sprachfehler hat oder einfach nur eine andere Muttersprache spricht oder einen anderen Dialekt.
Die Phonologie ist aber nicht nur für das Grundschullehramt wichtig, sondern auch für die Sekundarstufen, denn die Metrik, die Lautsymbolik und die künstlerische Gestaltung der Sprache im Allgemeinen versteht man nur, wenn man ihre Lautstruktur kennt. Auch für Fremdsprachenlehrer und Lehrer des Deutschen als Fremdsprache ist es wichtig, die Lautstrukturen der Ausgangs- und der Zielsprache zu kennen. Wer die Wörter einer Fremdsprache in seine eigene Phonologie presst, kann diese bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln. Daher ist dieses Buch auch für Anglisten, Romanisten oder Philologen anderer Fächer geeignet.
Die Phonologie ist aber auch für eine Vielzahl anderer Wissenschaften wichtig, die nichts mit dem Schulunterricht zu tun haben, z.B. für die Phonetik und Computerlinguistik, also Disziplinen, die den Ingenieuren zuarbeiten. Einem Fahrkartenautomaten oder einem Computer kann man das Sprechen beibringen, aber auch das Erkennen von Sprache, so dass er sie in geschriebenen Text umsetzt oder Befehle befolgen kann. Theoretisch kann man einem Computer auch beibringen, an der Spracheingabe zu erkennen, ob sein Benutzer genervt ist oder nicht, woraufhin er gegebenenfalls auf einen leichteren Bedienungsmodus umschalten kann. Dazu muss man wissen, welche Eigenschaften des akustischen Sprachsignals wie zu interpretieren sind.
Was in diesem Buch nicht zu finden ist: In diesem Buch geht es um das abstrakte Lautsystem der deutschen Standardsprache. Die Dialekte des Deutschen werden so gut wie nicht berücksichtigt (vgl. dazu Niebaum/Macha 2006), ebensowenig die Regionalsprachen (Schmidt/Herrgen 2011) bzw. die regionale Variation der deutschen Standardaussprache (König 1989). Ebenfalls nicht berücksichtigt wird das Deutsch, das außerhalb Deutschlands gesprochen wird (Ammon 1996), etwa in Österreich (Muhr 2008, http://www.aussprache.at/) oder der Schweiz (Hove 2002).
Die deutsche Standardaussprache wird durch Aussprachewörterbücher kodifiziert. Ein solches sollte jeder besitzen und häufig benutzen, und sei es nur, um die Fremdwörter und fremden Eigennamen richtig auszusprechen und zu betonen. Heißt Chamisso „Schamísso“, „Schamissó“, oder „Kamísso“? Den Namen Chopin spricht man französisch aus, kann man ihn auch polnisch aussprechen, schließlich ist er ja in Polen geboren? Solche Fragen beantwortet ein Aussprachewörterbuch, z.B. Krech et al. 2009 oder (bezahlbar) Duden 6.
Es gibt auch ein phonologisches Wörterbuch (Muthmann 1996), in dem die Wörter in einer Lautschrift angeordnet sind, so dass alle Wörter, die mit „seh“ anlauten, nebeneinanderstehen, auch wenn sie ganz unterschiedlich geschrieben werden. Manchmal braucht man das, wenn auch nicht gerade oft, man sollte aber wissen, dass es auch so etwas gibt. Es gibt nahezu für jeden erdenklichen Zweck ein Wörterbuch, worüber Hausmann et al. 1989–1991 Auskunft gibt.
In dem vorliegenden Buch wird die Phonologie weitgehend unabhängig von der Morphologie behandelt (d.h. der Flexion und Wortbildung). Ganz ohne Morphologie geht es nicht: Das Wort Holzapfel wird so ausgesprochen, dass es kein unzusammengesetztes Wort sein kann. Aber es genügt, die Grenze zwischen den Teilen Holz und Apfel, die „Junktur“, zu berücksichtigen. Was die Phonologie nicht leisten muss, ist die Beziehung von Apfel und Äpfel zu beschreiben, denn das gehört zur Morphologie. Es wurde immer wieder versucht, die Arbeit der Morphologie zu erleichtern, indem man die phonologischen Strukturen so raffiniert konstruiert, dass die Morphologie nur noch Stämme und Affixe nebeneinanderstellt und die lautliche Angleichung (etwa der Umlaut von Äpfel) dann von selbst geschieht. Nahegelegt wurde dieser Beschreibungsansatz von einem Klassiker der Phonologie, einem ohne Zweifel genialen Werk, nämlich Chomsky/Halle 1968. Allerdings hat dieses Werk in der Wissenschaft den Blick auf die eigentliche Phonologie für Jahrzehnte verstellt, so dass man es auch durchaus für schädlich ansehen kann. In dem vorliegenden Buch wird die „Morphophonologie“ der Morphologieüberantwortet und nicht behandelt. Eine deutlich andere Auffassung von Phonologie wird in Wiese 1996 vertreten.
Ein weiterer Bereich, der durchaus zur Phonologie gehört, wird ebenfalls nicht behandelt: die Satzphonologie (vgl. Kap. 2). Das ist die Phonologie größerer Einheiten, wie die von Sätzen oder Teilsätzen, etwa der Verlauf der Tonhöhe im Satz, die „Satzmelodie“. Die Satzphonologie muss in engem Zusammenhang mit der Syntax (d.h. der „Grammatik“ im landläufigen Sinne) behandelt werden und kann auch nicht ohne Berücksichtigung der regionalen Variation gesehen werden, denn gerade die Satzmelodie ist ein sicheres Merkmal, an dem die Herkunft eines Sprechers erkennbar ist, weil sie am schwersten durch die Sprecher zu kontrollieren ist (dazu Gilles 2005 und Ulbrich 2005).
Ein weiterer interessanter Bereich, der in diesem Buch nicht behandelt wird, ist der Erwerb der Lautstrukturen durch Kinder oder Lerner des Deutschen als Fremdsprache (dazu Klann-Delius 2008, Bruner 2002, Butzkamm/Butzkamm 2008, Dieling/Hirschfeld 2000 für den Fremdsprachenunterricht) oder die Probleme dabei, mit denen sich Logopäden befassen (Schnitzler 2008, Storch 2002), oder das Erlernen der Schreibung (Kirschhock 2004). Zur Psycholinguistik im Allgemeinen vgl. Rickheit et al. 2003; ein Lehrbuch ist Rickheit et al. 2002. Die Soziolinguistik untersucht, wie sich einzelne gesellschaftliche Gruppen wie Jugendliche durch ihre Aussprache voneinander abgrenzen (Pompino-Marschall 2004, Hamann/Zygis 2004, Kügler et al. 2009, ein Lehrbuch ist Barbour/Stevenson 1998).
Die Phonologie anderer Sprachen hat prima facie in einem germanistischen Lehrbuch nichts zu suchen. Trotzdem werden an verschiedenen Stellen andere Sprachen zum Vergleich herangezogen, wo sie für die Erläuterung von Erscheinungen der deutschen Phonologie nutzbar gemacht werden können. Streng genommen kann aber das Deutsche nur im Zusammenhang mit den anderen Sprachen der Welt wirklich verstanden werden, nicht nur, was die Phonologie betrifft. Ein Lehrbuch der allgemeinen Phonologie muss daher komplexer und anspruchsvoller sein. Empfehlenswert ist hier Hall 2011, ein Lehrbuch, das darüber hinaus auch in neuere phonologische Theorien einführt. Über die Lautsysteme in den Sprachen der Welt kann man sich informieren bei Ladefoged/Ferrari Disner 2012, Ladefoged/Maddieson 1995; ferner durch den „World Atlas of Language Structures“, der im Internet zugänglich ist: http://wals.info.
Ein sehr bedeutender Bereich der Phonologie, der für das Verständnis des Lautsystems der deutschen Gegenwartssprache und für das Verständnis der Schrift wichtig ist, ist die historische Phonologie und die Schriftgeschichte, die aber meistens von der Phonologie der Gegenwartssprache abgetrennt in Büchern und Seminaren behandelt wird. Dieser Bereich wird in dem vorliegenden Buch nur dort punktuell abgehandelt, wo er unbedingt herangezogen werden muss. Veränderungen in der Sprache geben verlässlichere Hinweise auf das menschliche Sprachvermögen als die gegenwartssprachlichen Strukturen selbst, da Lautwandel meist eine Anpassung schwieriger Strukturen an für die menschliche Kognition einfachere ist, während die gegenwartssprachlichen Strukturen auch durch andere Faktoren, z.B. morphologischen Wandel, unnatürlich geworden sein können. Lautwandel passtüberlieferte Strukturen dem menschlichen Gehirn an. Eine sehr materialreiche Darstellung ist Paul 2007, eine knappe Einführung ist Bergmann et al. 2011, immer noch gut ist Penzl 1975. Sehr empfehlenswert ist Stricker et al. 2012, ein Arbeitsbuch, das gegenwartssprachliche Strukturen historisch erklärt.
Dieses Buch behandelt auch nicht die Geschichte der Phonologieforschung. Zur älteren Forschung informieren sehr gut Fischer-Jørgensen 1975 und Anderson 1985. Wichtige Klassiker, die man irgendwann gelesen haben sollte, sind Sievers 1901, de Saussure 1916, Jakobson 1941, Jakobson/Waugh 1986, Chomsky/Halle 1968 und vor allem Trubetzkoy 1939.
Was in diesem Buch dann doch zu finden ist: Dieses Buch konzentriert sich, wie bereits gesagt, auf das Lautsystem der deutschen Gegenwartssprache. Im 2. Kapitel werden die Begriffe Phonetik und Phonologie voneinander abgegrenzt und erläutert sowie ihre einzelnen Teildisziplinen kurz skizziert. Im 3. Kapitel wird das Lautinventar des Deutschen dargestellt, dabei werden auch die Probleme der Systematisierung des Lautsystems angesprochen. Das Vokalsystem kann nur in einer vorläufigen Version präsentiert werden, da für die präzisierte Fassung in Kapitel 7 erst die Silbenstruktur erläutert werden muss. Im 4. Kapitel wird die Akustik der Vokale und Konsonanten erläutert. Ohne die akustische Phonetik kann man nicht verstehen, worin die Unterschiede zwischen den einzelnen Vokalen bestehen, da man ja alle beliebig laut und mit beliebiger Tonhöhe aussprechen kann. Ein anderes Rätsel ist, wie man die Laute p, t und k unterscheiden kann, obwohl sie tatsächlich „stumm“ sind, d.h., obwohl man wirklich nichts hört, wenn sie gebildet werden. In Kapitel 5 wird die Silbenstruktur erläutert, und die Lautgrammatik, d.h. die Kombinierbarkeit der Laute zu Wörtern. Die Lautgrammatik des Deutschen lässt sich auf wenige Prinzipien reduzieren. Kapitel 6 behandelt den Akzent. Der Akzent im Deutschen ist offenbar nicht beliebig, trotzdem sucht man seit Jahrzehnten – wie ich meine vergeblich – nach Akzentregeln. Trotzdem kann man zum deutschen Wortakzent Aussagen machen. Das 7. Kapitel behandelt den Unterschied von Lang- und Kurzvokal im Deutschen, der in den meisten Darstellungen der deutschen Phonologie sehr ungeschickt behandelt wird. Er wird in der Silbenstruktur gesehen. Erst in diesem Kapitel wird das Vokalsystem des Deutschen dargestellt, das in Kap. 3 noch vorläufig bleibt. Das 8. Kapitel behandelt die Verschriftlichung des deutschen Lautsystems, das durch unterschiedliche Prinzipien gesteuert wird, von denen einige das grundlegende phonologische Prinzip der Schreibung durchbrechen.
Jedes Kapitel wird mit Übungen abgerundet, die dazu anleiten sollen, den Text nicht passiv aufzunehmen, sondern mit ihm zu arbeiten. Nur bei einer aktiven Auseinandersetzung mit einem solchen Text kann man den Inhalt optimal auffassen. Beim Lesen sollte man immer wieder den Bleistift in die Hand nehmen und etwas schreiben. Das Gelesene in irgendeiner Form schriftlich zu fixieren, ist eine erstaunlich schwierige Aufgabe, aber nur wenn einem das gelingt, kann man sich sicher sein, es verstanden zu haben. Begriffe, die man nicht versteht, sollte man erst im Index nachschlagen und sehen, ob sie nicht an anderer Stelle erläutert worden sind. Nicht alle linguistischen Begriffe werden in diesem Buch erklärt. Es wird aber auf ein Glossar verzichtet, weil bei der Einarbeitung in die Sprachwissenschaft das Arbeiten mit der Terminologie eine der wichtigsten Aufgaben ist. Dazu ist ein terminologisches Wörterbuch unerlässlich (empfehlenswert ist Glück 2010).
Am Ende eines jeden Kapitels finden sich Empfehlungen für die vertiefende Lektüre. Die dort genannte Literatur führt durch eigene Verweise weiter, so dass man jedes Thema beliebig vertiefen kann.
Dank
Für wertvolle Hinweise, die zur Verbesserung der ersten Version dieses Buchs viel beigetragen haben, danke ich Stefanie Stricker, für dies und die Hilfe bei der Manuskriptgestaltung Martina Osterrieder, Vincenz Schwab, Jan Henning Schulze sowie Frau Jasmine Stern für die Betreuung durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft – und zwar sehr herzlich!
Besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater Theo Vennemann, der die Weichen für die Entwicklung der hier dargestellten Auffassungen gestellt hat, natürlich ohne für die dabei entstandenen Irrtümer verantwortlich zu sein.