Читать книгу Die Abendgesellschaft der Quartiersleute - Thomas Christen - Страница 8
ОглавлениеMoorburg, 2013
Wiebke & Jens
Wiebke Andresen war langsam um diesen eigenartigen Tisch herumgegangen, hatte Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand über das rotbraune Makoréholz streifen lassen, die vier schmalen Fugen der kunstvoll zusammengefügten Platten gefühlt und dabei die in der Mitte eingelassene Messingplatte nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Der Tisch zeigte deutliche Gebrauchsspuren, und auch wenn ihre Mutter nicht müde wurde zu betonen, dass sie selbst den Tisch niemals ohne Tischdecke benutzt habe, war offensichtlich, dass dies in den letzten Jahrzehnten nicht immer so konsequent gehandhabt worden war.
Auf einer der Platten lagen drei zusammengelegte Moltontücher und darauf die weiße, gefaltete Decke, die ihre Tante Lisbeth Anfang der Fünfziger Jahre eigens für dieses Möbelstück hatte anfertigen lassen. Die Mittelnaht des Tischtuchs, mit je nach Lichteinfall silbern oder grau schimmernden und schwach zu erkennenden Blüten, war an manchen Stellen ein wenig verschlissen, aber es hatte keine Zweifel gegeben, dass ihre Mutter auch dieses Mal darauf bestehen würde, es zu verwenden.
„Dort liegt der Läufer und auf dem Läufer steht die Blumendekoration“, hatte sie ihr nachdrücklich mitgeteilt. „Und außerdem haben wir es immer so gehalten. Diese sechs Quadratmeter sind unsere Artustafel, meine liebe Tochter. Es war nie anders.“
Wiebke lächelte, legte die Hand flach auf das Holz und betrachtete den Namenszug auf der glänzenden Messingtafel. Johannes Samuel Friedrich Boettiger.
Dieses Jahr sind wir dreizehn Personen, dachte sie. Aber ich rechne dich einfach dazu, Urgroßvater, denn ich werde alles vermeiden, was diesen Tag unter einem schlechten Omen stehen lassen könnte. Damit du als Vierzehnter, nur mit deinem Namen und wie immer schweigend unter diesen Decken und einem nahezu anstößig großen Strauß von Tulpen, unter uns anwesend sein wirst.
Einen Moment lang blickte sie hinüber zum Beistelltisch am Fenster und überlegte, ob sie die Blüten in der großen Vase noch einmal zählen sollte. Sie war sich absolut sicher, dass es ihr Vater in einem unbeobachteten Augenblick machen würde, um für den Fall, dass sich die Verkäuferin im Blumenladen verzählt hatte und es doch keine siebzig Stängel waren, in jovialem Tonfall anzumerken, dass es darauf ja überhaupt nicht ankäme, dass es nicht einmal auf ihn ankommen würde. Wichtig wäre einzig, dass die Familie wieder zusammengekommen war.
Aus dem Hintergrund des Zimmers ertönte leise Radiomusik, die verebbte und nahtlos in das Geklingel eines Werbespots überging. Wiebke Andresen ging zum Fenster, nahm den Zettel von der Fensterbank und überflog nachdenklich die handschriftlichen Anweisungen, die ihre Tochter ihr dort hinterlassen hatte. Fanny studierte an der Restaurantfachschule in Hohenfelde und hatte sie schon vor Wochen mit ihren jüngst erworbenen Kenntnissen über das korrekte Eindecken von Tischen geneckt.
„Wenn du willst, helfe ich dir dabei. Dann hat Oma keinen Grund, irgendetwas zu sagen, und wir können den perfekt gedeckten Tisch als mein ganz persönliches Geschenk für Opa Hape ausgeben“, hatte Fanny gemeint und das Wort perfekt überdeutlich betont. „Du hast doch nichts dagegen, Mami, oder?“
Gestern hatte sie sich kleinlaut für den heutigen Tag entschuldigt und war heute Morgen mit ihrer Freundin in die Stadt gefahren. Wiebke stand vor dem Wohnzimmerfenster, studierte die hingekritzelten Zeilen und ärgerte sich gleichermaßen über ihr schlechtes Gedächtnis wie über die sich offensichtlich niemals bessernde Flatterhaftigkeit ihrer Tochter. Warum machte sie das alles eigentlich? Holzarbeiten. Couverts. Menagen. Abkanten. Dieser ganze übertriebene Unsinn. Einmal mehr hatte sie sich auf eine alberne Idee ihrer Tochter eingelassen, die ihr im Augenblick eher wie eine perfide angedeutete Provokation vorkam. Eine schäbige, unlautere Verbeugung vor dem unsichtbaren Gespenst der Dünkelhaftigkeit. Sie seufzte leise und begann die Moltontücher auseinanderzufalten.
„Fanny weiß wahrscheinlich nicht einmal, was Dünkel sind“, murmelte sie vor sich hin, und dass dies so war, ärgerte sie umso mehr, denn es machte ihre eben gedachten Gedanken zu den ihren und nicht zu denen ihrer Tochter. Ihre Hände strichen den Baumwollstoff glatt.
Als ein Arm sich um ihre Hüfte legte und sie Lippen auf ihrem Nacken spürte, schreckte sie mit einem kurzen Aufschrei hoch und drehte sich um.
„Mein Gott, hast du mich erschreckt, Jens. Du weißt, dass ich das nicht ausstehen kann!“
Ihr Mann grinste sie an, hob entschuldigend die Hände und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Dann lockerte er seine Krawatte und meinte lächelnd:
„Ich dachte, ich sehe einmal nach, ob ich dir meine beiden, haushaltstechnisch betrachtet, linken Hände als Hilfe anbieten kann. Wo ist unsere Tochter? Lässt sie mal wieder andere ihre Ideen verwirklichen?“
Wiebke Andresen ließ die beiden letzten Fragen ihres Mannes unbeantwortet und rollte nur mit den Augen.
„Wenn du mir helfen willst, könntest du mir den Gefallen tun und das Radio ausschalten. Es wird immer unerträglicher. Seit Tagen scheint die Welt an nichts anderes zu denken, als in freudiger Erregung alles stehen und liegen zu lassen, um den heiligen Auslassungen eines neuen Papstes zu lauschen. Jeder Satz dieses alten Mannes wird auf das Euphorischste auf Hinweise seines großen Vorgesetzten abgeklopft. Dieser Verein ist unerbittlich.“
Jens Andresen kam zum Tisch zurück und warf einen süffisanten Blick auf die gegenüberliegende Tischseite, dorthin, wo morgen sein Schwiegervater sitzen würde.
„Das war noch nie anders, Schatz. Wenn der Häuptling redet, schweigt der Stamm und lauscht andächtig seinen Worten. Und das mit der Unerbittlichkeit sähe das Festkomitee dieses Seniorenvereins sicherlich etwas anders. Bittet und euch wird gegeben. Ist das nicht einer ihrer Slogans?“
Jens Andresen ging um den Tisch, nahm seine Frau in die Arme und legte ihr herausfordernd die Hände auf den Po.
„Und glücklicherweise sind wir den Versuchungen eigener Regeln …“, er streichelte ihren Po und begann, sie immer wieder zärtlich auf die Wange zu küssen, „längst erlegen, büßen und bereuen nur wenig …“
„Jens, du bist unmöglich!“
Wiebke wand sich aus seiner Umarmung und warf ihm einen gespielt bösen Blick zu.
„Nicht jetzt! Mutter kommt gleich und bringt die erste Kiste mit Porzellan.“
Sie beugte sich über den Tisch und zog das gefaltete Tischtuch zu sich heran. Ohne ihn anzuschauen sagte sie: „Du musst es ja nicht vergessen. Vielleicht erinnerst du dich ja später noch einmal daran.“
„Mit Vergnügen, Frau Andresen!“, lächelte er, strich ihr über den Rücken und musterte ihre Rückseite. „Und was die Reden deines Vaters anbelangt, ich fand sie bisher immer ganz amüsant.“
Wiebke Andresen stand vor dem Fenster und überflog kopfschüttelnd den Zettel.
„So ein Quatsch! Realitätsfremder Nonsens! ‚Zum Auflegen der Tischdecke hält man den Mittelbruch der gefalteten Decke zwischen Daumen und Zeigefingern und die obere Kante zwischen den Zeige- und Mittelfingern. Das Tischtuch wird über die gegenüberliegende Tischkante geschwungen und dann der zwischen den Daumen und Zeigefingern gehaltene Mittelbruch losgelassen. Am Ende wird mit den Zeige- und Mittelfingern die Tischdecke über den Tisch gezogen.‘ Die haben sie doch nicht mehr alle! Als ob das mit einem solchen Riesenteil möglich wäre. Komm her, du Lustmolch. Du wolltest mir helfen. Wir machen das jetzt gemeinsam auf die alte und sehr bewährte Tour.“
Sie reichte ihm eine Kante des Tischtuchs und dann zogen sie es auseinander und breiteten es auf dem Tisch aus.
„Wann kommen Malte und Laura?“, fragte er und strich die Decke an seinem Ende des Tisches glatt.
„Irgendwann morgen Vormittag. Malte hat heute Abend noch eine Veranstaltung an der Uni und Laura wollte wohl noch einmal nach Kiel in die Stadt. Sie scheint sich echt Gedanken zu machen, was sie meinem Vater mitbringt. Sie wollen morgen zusammen kommen.“
„Nunqam otiosus. Das arme Mädchen sollte sich doch mittlerweile in der Schlangengrube auskennen. Sie ist ja nicht das erste Mal hier“, frotzelte Jens Andresen seine Frau.
„Mädchen? Jens, die Frau ist immerhin drei Jahre älter als mein Sohn.“
Jens Andresen stützte sich auf dem Tisch auf und musterte Wiebke mit einem kurzen Blick.
„Unser Sohn, Liebes“, sagte er leise. „Ich dachte, dieses Thema wäre nun wirklich lange, lange, lange durch.“
Langsam kam sie um den Tisch herum, stellte sich vor ihn und gab ihm einen Kuss.
„Entschuldige. Manchmal …“
Die Wohnzimmertür ging auf und beide schauten wie ertappte Kinder in die Richtung des Geräusches.
„Ah, Mutter, warte, ich helfe dir.“
Hedwig Boettiger hatte eine Kiste vor der Tür abgestellt und war im Begriff, sie wieder hochzuheben.
Jens Andresen drückte die Hand seiner Frau und meinte: „Ich mach das schon.“
Dann ging er zu seiner Schwiegermutter und nahm ihr die Kiste ab.
„Hallo, ihr beiden. Ich dachte mir, ich bringe schon einmal einen Teil des Services. Danke, Jens. Du bist gar nicht im Büro? Sind die Leute von Petzoldt schon wieder weg?“
Jens Andresen nickte und stellte die Kiste neben dem Tisch ab.
„Der Schaden war nicht groß. Ich denke, ab kommenden Dienstag oder Mittwoch läuft die Anlage wieder einwandfrei. Wir können also in aller gebotenen Ausgelassenheit feiern.“
Er schenkte seiner Schwiegermutter ein Lächeln und setzte sich auf einen der Stühle.
„Da meine Tochter durch Abwesenheit glänzt, schlage ich vor, dass wir das Geschirr nach alter Tradition und Sitte einfach nett und ordentlich auf dem Tisch verteilen.“
Wiebke machte ihm ein verstohlenes Zeichen. Ihre Mutter wusste nichts von Fannys Idee, den Tisch nach den professionellen Regeln des Eindeckens zu gestalten. Wenn er das Thema jetzt weiter ausbreitete, würde er die Überraschung zunichte machen, und vielleicht schaffte sie es ja doch noch, den zentimetergenauen Anweisungen des Zettels zu folgen. Dafür durfte ihre Mutter allerdings nicht die ganze Zeit auf dem Stuhl sitzen bleiben, auf den sie sich gesetzt hatte.
Wiebke rieb sich die Hände und sagte in gespieltem Kommandoton:
„Darf ich die Herrschaften bitten, dazu einen Augenblick lang aufzustehen, denn …“, sie machte eine kurze Pause und warf ihrem Mann einen verschwörerischen Blick zu, „die Stühle werden abgedreht!“
Jens Andresen nahm seine Schwiegermutter am Arm und führte sie zur Tür.
„Komm, Hedwig. Das ist etwas für Profis. Und deine Tochter ist in vielen Belangen ein solcher!“
Er schickte Wiebke einen Kuss durch die Luft und hakte Hedwig unter.
„Es wird eine kleine Überraschung geben, Kinder“, meinte Hedwig, als sie die Tür erreichten. „Hans-Peter hat sich etwas sehr Nettes ausgedacht. Wartet es nur ab. Ihr werdet euch wundern.“
Hedwig Boettiger schien hin- und hergerissen zu sein. Offensichtlich hatte ihr Mann ihr das für derartige Überraschungen übliche Schweigegelübde abgenommen. Genauso offensichtlich aber war es, dass sie sich kaum zurückhalten konnte, ihr kleines Geheimnis zu lüften. Es wäre nicht das erste Mal, dachte Wiebke und hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
„Wann kommen denn Malte und seine Freundin? Malte darf nicht fehlen. Er hat doch nicht etwa abgesagt?“
Wiebke schüttelte den Kopf und antwortete in etwas gereiztem Ton:
„Mutter – niemand hat abgesagt! Die beiden kommen morgen aus Kiel und werden rechtzeitig da sein. Mach dir bitte keine Sorgen.“
Als die Tür ins Schloss gefallen war, atmete Wiebke einmal vernehmlich ein und aus und blickte nachdenklich aus dem Fenster hinunter in den Garten.
Die Überraschungen, die sich ihre Familie ausdachte, hatten in der Vergangenheit nicht selten in subtil verpackten Vorhaltungen und unverhohlen gezeigter Enttäuschung geendet. Die Gründe dafür lagen in etwas, das einem Fremden zu erklären Jahre gedauert hätte und das zu erfassen meistens so unmöglich erschien, wie es hoffnungslos war, einen Fisch im Wasser mit bloßer Hand zu fangen. Sie lagen in ihr und in Jens, in ihren Kindern, in ihrer Schwester Lilly und deren Kindern, ihrem Schwager, ihrem Onkel, ihrer Tante und nicht zuletzt in Ronny, Ronny Zirndorf, ihrem ersten Freund, den man ohne zu zögern als den größten anzunehmenden Unfall bezeichnen konnte und an dem ihr Vater, aus unerfindlichen Gründen, doch auf irgendeine Art und Weise etwas geschätzt hatte. Ronny Zirndorf – der Rotzwielichtige und Vater ihres Sohnes …
Sie lagen in jedem von ihnen und in keinem begraben. In Allem und in Nichts. Ein Reigen, dessen Schrittregeln sich über die Jahre so sublim entwickelt hatten, dass sie keiner mehr verstand, obwohl jeder ständig auf irgendeine Art und Weise – mit einem Wort, einer Geste – beteuerte, jede Sekunde mittanzen zu können und vor allem zu wollen. Und die gelegentliche Suche nach beständigen Antworten war beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte, weil die einzige Frage, über die Einigkeit bestand, die war, wen man besser gar nicht erst gefragt hätte. Aber am meisten schmerzte und ärgerte sie manchmal, dass es zwei Personen gab, die der festen Überzeugung waren, niemals auch nur den kleinsten Grund für derartige Verwerfungen oder Fragen zu geben: ihre Eltern.
Hape hatte sich also wieder eine Überraschung ausgedacht. Und dieses Mal schien es vor allem um Malte zu gehen. Warum sonst hätte ihre Mutter noch einmal so eindringlich nach seinem Erscheinen fragen sollen? Sie hoffte inständig, wenn es denn so wäre, dass ihr Vater sich etwas ausgedacht hatte, was wirklich ausschließlich mit der Person ihres Sohnes zu tun hatte. Ein altes Fachbuch vom Flohmarkt zum Beispiel, über das eigenhändige Reparieren von BMW-Motorrädern, weil nur Malte Interesse an Motorrädern hatte. Die von einem Geschäftspartner geschenkte Flasche Whisky, weil ihr Vater Hochprozentiges nicht mehr vertrug und außer Malte in der Familie niemand Whisky mochte, oder irgendetwas, dem kein zu großer wirtschaftlicher oder ideeller Beschaffungswert innewohnte, denn sie hasste Lillys in solchen Situationen gequälten Blick und ihr Schweigen, dessen Echos erst Wochen oder Monate später durch die Familie rauschten und die die üblichen, für andere völlig unsichtbaren Verwüstungen hinterließen, mit Wunden, die die Folgezeit meist nur mit hauchdünnen Häutchen heilte. Mit Grauen suchte Wiebke in Gedanken nach irgendwelchen Erbstücken, die ihre Mutter in den letzten Wochen vielleicht einmal erwähnt hatte und war erleichtert, als ihr nicht eines einfiel.
Hinter dem Deich und dem Containerterminal mit seinen Kränen am Kai ragten in der Ferne die beiden Türme der Köhlbrandbrücke wie aufrecht stehende Zirkel in den Himmel. Über den Deichweg jenseits des Gartenzauns spazierte eine Frau mit ihrem Hund. Ihr Vater hatte vor zwei Jahren die drei Fichten dort unten fällen lassen, sodass man jetzt einen nahezu unverstellten Blick auf das Terminal hatte. Weiter dahinter lag der Sandauhafen. Was ihr Vater daran schön fand, war ihr ein Rätsel. Es konnte doch nicht nur daran liegen, dass wenige Minuten von hier entfernt sein Vater und Großvater auf dem Friedhof neben St. Maria Magdalena begraben lagen? Unwillkürlich streifte ihr Blick die Mitte des Tisches.
Dieser Ortsteil lag im Sterben. Es gab Leute, die hatten allen Ernstes vorgeschlagen, ihn unter meterhoch aufgetürmtem, kontaminiertem Hafenschlick zu begraben. Hier baute man monströse Kraftwerke, aber keine sentimentale Zukunft für Senioren im Grünen. Vor hundert Jahren vielleicht. Heute bestimmt nicht mehr. Diese Häuser standen auf Hafenerweiterungsgebiet mit einer fraglichen Galgenfrist von vielleicht zwanzig Jahren. Es stand zu befürchten, dass das ganze Thema „Haus und Moorburg“ morgen Abend kaum zu umschiffen war und einmal mehr angesprochen werden würde.
Wiebke drehte sich vom Fenster weg und maßregelte sich innerlich. Vielleicht übertrieb sie. Wahrscheinlich übertrieb sie.
Sie überlegte, wann sie zuletzt Onkel Bernhard und Tante Lisbeth gesehen hatte. Der Bruder ihres Vaters wurde in zwei Jahren 80 und seine Schwester im selben Jahr 75. Wenn die beiden dann noch lebten, würde man sich spätestens dann wieder um diesen Tisch einfinden, für ihren Vater käme gar nichts anderes in Frage. Bernhards Gesundheitszustand wurde jedoch immer besorgniserregender. Jeder in der Familie wusste, dass die drei Geschwister weit mehr verband als eine innige familiäre Beziehung. Sie selber fühlte sich immer ein wenig schuldig, wenn sie sich eingestehen musste, dass sie diese alten Geschichten nicht mehr hören konnte. Sie waren zu oft erzählt worden. Und für die Kinder lagen sie in einer anderen Welt. Gesagt hatte sie nie etwas, denn das eigentlich Schlimme an den im Wortlaut fast immer gleichen Schilderungen war, dass sie der Wahrheit entsprachen. Irgendwo im Schlafzimmer ihrer Eltern hing ein Foto ihrer Großmutter, das jemand aufgenommen hatte, wenige Wochen bevor sie und ihre Schwiegereltern starben. Oma Alma, die sie und die anderen nie kennengelernt hatten, und an die sich nur Onkel Bernhard noch ein wenig erinnern konnte.
Wiebke blickte wieder zur Mitte des Tisches, dorthin, wo die Tischdecke die Messingplatte bedeckte. Am liebsten hätte sie jetzt das Tuch noch einmal vom Tisch genommen, um diesen fein ziselierten Schriftzug zu betrachten. Mochten ihre Familientreffen, dieser ganze zweifelhaft ritualisierte Tanz, sein wie sie waren, eines hatte ihr Vater in all den Jahren geschafft: Dieser Messingplatte etwas einzuhauchen, das nach Ehrfurcht zu rufen schien. Selbst die vier Enkelkinder fanden das Stück Metall äußerst beeindruckend. Malte hatte einmal im Spaß gesagt, dass ihm dieser Namenszug wie eine Art Elbenschrift vorkäme, die anfing zu glühen, wenn die ganze Familie um den Tisch herum säße. Man übertrieb halt gerne in der Familie. Jeder. Sie selber nicht ausgenommen.
Wiebke zwang sich, ihre verdrehten Grübeleien zu beenden. Die Kiste neben dem Tisch und die, die noch folgen würden, waren die Realität.
Vor allem aber musste sie aufpassen, dass sie sich nicht doch noch heimlich dem Gedanken hingab, sich darüber zu freuen, dass ihr Vater wieder einmal einem ihrer Kinder etwas zukommen lassen wollte. Sie setzte sich neben die Kiste mit Porzellan und wünschte sich, dass ihr Mann zur Tür hereinkäme. „Die Einen reden und die Anderen hören zu“, würde er sagen. „Einer der Leitsprüche deines alten Herrn.“ Und dann würde er mit den Schultern zucken. Manchmal war sie sich sicher, dass sie beide die Gedanken des anderen lesen konnten. „Und es macht mir überhaupt nichts aus, mein Schatz, solange gewährleistet ist, dass ich mich aufs Zuhören beschränken kann.“
Du Schweinehund!, dachte sie. Nur du. Alleine. Jetzt hier.
Seine Hände auf ihrem Po hatten ihr gefallen.