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Frühe Formen der Pässe und Praktiken der Identifikation Das Mittelalter und die Frühe Neuzeit
ОглавлениеIm Mittelalter waren Reisen meist beschwerlich, dauerten lange und bargen zahlreiche Gefahren für den Reisenden. Auch waren die Straßen teilweise in schlechtem Zustand. Etwa seit dem 9. Jahrhundert wurden die ehemals römischen Straßen nicht mehr unter staatlicher Aufsicht gepflegt, nur gelegentlich wurden sie ausgebessert oder neue angelegt. Erst ab dem 12. Jahrhundert begannen die Fürsten und Könige wieder verstärkt mit dem Unterhalt der Straßen. Dennoch reisten viele Menschen im Mittelalter: Könige durchquerten ihr Reich, Kaufleute und Boten reisten zwischen den Städten, Handwerker und Künstler zogen auf der Suche nach Arbeit durch die Lande. Auch Pilger, Bettler und Räuber bevölkerten die mittelalterlichen Straßen. Mit zunehmender Zahl der Reisenden entstanden Gasthäuser und Hospitäler, zunächst an besonders verkehrsreichen Pässen und Flussübergängen. Neue Brücken und Fähren ergänzten ab dem 12. Jahrhundert zunehmend die Straßen und erleichterten das Reisen in Mitteleuropa.6
Die erste Verordnung zur Reisekontrolle im mittelalterlichen Europa war der Befehl des langobardischen Königs Ratchis von 746, der es jedem Reisenden verbot, das Königreich ohne die schriftliche Genehmigung des Königs zu verlassen. Inwieweit diese Verordnung praktisch umgesetzt werden konnte, ist jedoch fraglich, wenn überhaupt fanden entsprechende Kontrollen wahrscheinlich nur entlang wichtiger Straßen statt.
Eine besondere Reiseerleichterung für königliche Boten stellten ab dem 9. Jahrhundert die sogenannten „tractoria“ dar. Diese Dokumente verpflichteten alle Amtsleute des fränkischen Reiches, dem Boten eine Unterkunft zu stellen und ihm eine sichere Passage zu ermöglichen.
Als weiteren Schutz für die Reisenden entstand im Hochmittelalter das Geleit. Das Geleit war ein spezieller Rechtsfriede, der seinen Inhaber unter den Schutz eines Territorialfürsten stellte. Das Geleit konnte schriftlich (durch einen mitzuführenden Geleitbrief) oder lebendig (durch einen einzelnen Geleitknecht oder ganze Geleitmannschaften) wahrgenommen werden. Manche Reisende, wie Fürsten, aber auch Gesandte und Pilger hatten ein Recht auf freies Geleit. Kaufleute mussten jedoch für ihr Geleit bezahlen und waren zudem meist gezwungen, im Rahmen des Geleits die Zollstellen der Fürsten zu passieren.7
Im Zusammenhang mit der Geschichte der Pässe und Ausweise ist der Geleitbrief von besonderem Interesse. Denn der Geleitbrief war bereits eine Bescheinigung über die Person und enthielt den Verweis auf eine zwar abwesende, jedoch in Text und Siegel präsente Autorität, die den Träger des Dokuments mit besonderem Schutz ausgestattet hatte. Wie heutige Ausweise hatte der Geleitbrief auch eine beschränkte Gültigkeit. Diese konnte von mehreren Tagen bis zu einigen Jahren reichen. Die Gebühren für den Geleitbrief waren entweder bei der Ausstellung oder aber jährlich zu entrichten. Ein wichtiger Unterschied zu späteren Identifizierungsdokumenten ist jedoch festzustellen: Der Geleitbrief wurde durch die aufgeprägten Siegel und Zeichen echt und damit wirksam. Diese waren weitaus wichtiger als der Text des Dokuments, seine Träger wurden meist nicht einmal mit Namen genannt.
Manche Reisende trugen auch königliche Empfehlungsschreiben, welche ihnen freie Passage und den Schutz vor den Kontrollen der Grenzwachen gewährleisten sollten. Die Träger solcher wertvollen Dokumente waren meist adelige Reisende, die als Gesandte oder Spione (oder häufig auch beides gleichzeitig) im Auftrag ihres Herrschers durch Europa reisten. Boten und Pilger waren meist durch ihre Kleidung oder spezielle Abzeichen als solche zu identifizieren. Soldaten waren hingegen meist in geschlossen Gruppen unterwegs. Reiste ein Soldat alleine, etwa wenn er nach Kriegsende entlassen worden war, so war es nötig, ihn zu identifizieren, um ihn von Deserteuren zu unterscheiden. Daher hatte der französische König Ludwig XI 1462 alle entlassenen Soldaten verpflichtet, einen von ihren Offizieren ausgestellten Ausweis mitzuführen. Diese Entwicklung stellt einen grundlegenden Wandel dar: Waren zuvor Empfehlungsschreiben und Geleitbriefe teure Privilegien gewesen, so wurde nun erstmals ein Ausweis für eine ganze Gruppe von Menschen zur Pflicht. Diese Entwicklung setzte sich weiter fort, so dass bis Anfang des 16. Jahrhunderts immer weitere Gruppen verpflichtet waren, Dokumente zu ihrer Identifizierung zu tragen. So wurde von Kaufleuten und privaten Reisenden verlangt, ein Dokument ihrer Stadt mitzuführen, das ihren Namen nannte und dem Reisenden Rechtschaffenheit attestierte. Auch Pilger waren oft verpflichtet, einen Ausweis mitzuführen. Dieser wurden ihnen von ihrem lokalen Pfarrer oder Bischof ausgestellt.8
Welche Ausmaße dies annehmen konnte, zeigt beispielsweise der Bericht des Reisenden Anselme Adorno aus dem Jahr 1470, der drei separate Geleitbriefe benötigte, nur um von Köln nach Aachen zu reisen.9
Trotz des solcherart bereits aufgeblähten Ausweiswesens kann von einer vollständigen Erfassung aller Personen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit keine Rede sein. Denn die vormodernen Ausweise bescheinigten dem Träger stets, eine berechtigte Ausnahme zu sein. Diese Dokumente legitimierten, so Valentin Groebner, das „Nicht-am-Platz-sein“ einer Person. Eine permanente Zugehörigkeit schrieben sie jedoch, anders als moderne Ausweisdokumente, nicht fest.
Eine besonders intensive Form der Reisekontrolle entstand nach der Entdeckung Amerikas. Bereits 1503 verbot der spanische König die Ausreise von Juden, Konvertiten und Häretikern sowie deren Nachkommen in die Neue Welt. Unter Philipp II. von Spanien wurden diese Maßnahmen nochmals verschärft. Nun musste jeder, der nach Amerika auswandern wollte, einer eigens geschaffenen Behörde umfassende Nachweise über seine Herkunft und seinen Lebenswandel vorlegen. Diese Verwaltung produzierte allerdings solche Papierberge, dass sie nur noch sehr eingeschränkt funktionierte und häufig auf Fälschungen hereinfiel. Philipp II. wurde aufgrund seiner vielen bürokratischen Verordnungen auch „Papierkönig“ genannt.10
Besonders in Zeiten der Pest erlebte ein weiteres Dokument einen großen Aufschwung: der Gesundheitspass. Diese Form des Passes kam zunächst in Norditalien auf. Er bescheinigte seinem Träger, frei von Pestverdacht oder anderen ansteckenden Krankheiten zu sein. Nur mit einem solchen Dokument war es dann möglich, eine Stadt zu betreten.
Die Ausstellung all dieser Dokumente kostete den Reisenden Geld. Somit stellten die zahlreichen Pässe und Ausweisdokumente – neben dem Zoll – auch eine beträchtliche Einnahmequelle für die Obrigkeit dar.
Wie konnte im Mittelalter die Echtheit eines Dokuments bestätigt werden, wie konnte einem Dokument eine Person fest zugeordnet werden? Ohne die technischen Hilfsmittel der Moderne, wie Fotos und Fingerabdrücke, verblieb ein breiter Spalt zwisehen der Person und dem Ausweis, den die Person als Bestätigung bei sich trug. Die frühen Pässe, die wenn überhaupt nur den Namen des Besitzers nannten, blieben austauschbar und übertragbar.
Eine der einfachsten Methoden zur Überprüfung der Echtheit eines Dokuments war das Register. Diese wichtigste Neuerung der mittelalterlichen Identifizierungsgeschichte war so simpel wie revolutionär. Hiermit wurden erstmals die ausgegeben Dokumente verdoppelt, eine Kopie des Dokuments verblieb bei der ausstellenden Behörde. Eines der ältesten bekannten Register stammt aus der Kanzlei Kaiser Friedrich II. und entstand in den Jahren 1239/40 als einfaches Papierheft mit 116 Seiten. Das Register kann als der Beginn eines systematischen bürokratischen Gedächtnisses über einzelne Individuen und ihre staatlich verbürgte Identität angesehen werden.
Nicht nur die Kanzlei des Kaisers nutze die Register zur Erleichterung der Verwaltung. Ab etwa 1250 erstellten Städte Listen von gesuchten und geächteten Verbrechern und tauschten diese auch untereinander aus. Auch die Inquisition baute einen gewaltigen Verwaltungsapparat auf, in ihre Listen wurden alle vermeintlichen und tatsächlichen Ketzer und Häretiker aufgenommen.
Register konnten jedoch nur sehr eingeschränkt zur Überprüfung von Dokumenten benutzt werden. In der Praxis wurde die Echtheit eines Dokuments durch die Zeichen (Siegel, Stempel und Unterschriften) der ausstellenden Behörde oder des ausstellenden Souveräns festgelegt. Personenbeschreibungen fehlten auf den frühen Pässen ganz, schon der Name war nicht immer verzeichnet. Mit der zunehmenden Ausgabe von Pässen verloren diese aber bald ihren Status als vom Fürsten oder König selbst beglaubigte Dokumente. Eine ausstellende Kanzlei konnte nicht denselben formellen Charakter für sich beanspruchen. Ohne diese formelle Bestätigung der Echtheit durch den Souverän selbst wurde eine genaue Identifikation des Trägers wichtiger, neben dem Namen der Person dienten daher auch Abzeichen und Wappen sowie die Kleidung als Identifikationsmerkmale. Ab dem 15. Jahrhundert wurden zunehmend auch die „besonderen Zeichen“ einer Person wichtig, wie sie auch noch in Pässen des 19. und 20. Jahrhunderts Verwendung fanden. Zu diesen besonderen Zeichen gehörten Narben und Muttermale (meist im Gesicht oder auf den Händen), Pockennarben oder die Hautfarbe.
Fälschungen waren allgegenwärtig im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der erhaltenen Urkunden des Mittelalters gefälscht oder verfälscht wurde.11 Auch Pässe und Ausweisdokumente waren daher anfällig für Fälschungen. Zahlreich sind die frühneuzeitlichen Geschichten von kunstvoll nachgeahmten Siegeln und Stempeln oder Personen, die sich unter Verstellung als jemand anderes ausgaben. Die Bandbreite reicht hier von verkleideten Bettlern, die sich als Leprakranke oder Amputierte ausgaben, bis hin zu professionellen Spionen. Als beispielhaft für die leichte Täuschung der Behörden mag hier die Geschichte des Baseler Arztsohnes Thomas Platter gelten, der von 1595 bis 1600 weite Teile Europas bereiste. Der reformierte Platter reiste beispielsweise in das katholische Spanien, indem er sich als französischer Kaufmann ausgab. Bei anderen Gelegenheiten nannte er den Kontrolleuren falsche Namen, oder er flunkerte über seine Religion und Herkunft.12
Auch in späteren Jahren gelang es den Staaten meist nicht, einen Reisenden wie Thomas Platter, der sicher keinen Einzelfall darstellte, zu identifizieren. In den Jahren 1623 und 1669 bestimmten die französischen Könige, dass niemand Frankreich ohne eine Erlaubnis in Form eines gültigen Passes verlassen dürfe. Eine bürokratische Verwaltung war zwar damit beauftragt, die Pässe der Reisenden immer wieder mit internen Registern abzugleichen. Das Ziel, eine umfassende Kontrolle des Reiseverkehrs, konnte jedoch nicht realisiert werden. Denn in der Praxis gab es kaum präzise Systeme zum Abgleich von Pass und Register, eine effektive Grenzkontrolle war nicht immer möglich. Diese beiden Beispiele, wie auch die oben genannte Entwicklung in Spanien unter König Philipp II., ist beispielhaft für das Ausweiswesen in der frühen Neuzeit: Ausweisung und Kontrolle wurden zwar überall proklamiert, aber kaum lückenlos durchgesetzt.
Einen besonders rigorosen Umgang mit potentiellen Fälschungen schrieb die Reichspolizeiordnung von 1551 vor. Diese forderte sämtliche Beamte des Reiches auf, alle Papiere, mit denen sich Sinti und Roma ausweisen wollten, vollständig zu beschlagnahmen und zu vernichten. Die Zigeuner, so begründete die Reichspolizeiordnung das Vorgehen, könnten gar keine echten Dokumente besitzen.
Gänzlich ausgehebelt wurden die staatlichen Kontrollen letztlich durch die adeligen „Touristen“ der frühen Neuzeit. Die sogenannten Kavalierstouren führten die jungen Adeligen durch halb Europa bis nach Italien und Spanien, teilweise sogar bis in die Levante. Die „Grand Tour“, wie dieses Ereignis auch genannt wurde, entwickelte sich zur Zeit der Renaissance zu einer regelrechten Institution für den Hochadel und das gehobene Bürgertum. Diese Reisenden ließen sich kaum durch Zollschranken und Passbestimmungen aufhalten. Geld hatten sie reichlich und es öffnete ihnen alle nötigen Wege und Türen. Der „Ausweis“ wurde für die jungen Adeligen mehr zu einer Metapher für ein Trinkgeld als für ein Dokument.13
Eine neue Entwicklung im europäischen Pass- und Ausweiswesen brachte erst die Französische Revolution 1789. Das Ende des Adels- und Ständesystems führte zu vielen Veränderungen der Bürgerrechte und förderte die Entstehung allgemeiner Identifikationsdokumente. Die Französische Revolution machte alle Bürger zu freien und gleichen Teilhabern des Staates. Freies Reisen war jedem erlaubt. Dennoch sah der Staat die Notwendigkeit, seine Bürger zu überwachen. Die Entstehung neuer Dokumente und Systeme zur Kontrolle war die Folge.