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Kapitel 1 - Stakkato -

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Auf und davon - Stellungswechsel (September 2005)

Kolja Braun war gezwungen, rasch zu handeln. Er musste nicht nur sich selbst, sondern vor allen die »Flamme« in Sicherheit bringen! Einen erneuten Überfall würde er wohl kaum so gimpflich überstehen.

Auch bei seiner soeben absolvierten Fahrt mit dem Auto vom Bodensee nach Berlin hatte er sie wiederholt gesehen.

Diese riesigen Richtungstafeln am Hermsdorfer Kreuz die den Weg nach Weimar wiesen.

Für Thüringen, im Besonderen für die Dichter-Stadt empfand er schon immerwährend eine fast sentimental anmutende Affinität. Die rührte noch aus seiner Kindheit her. Wohl auch aus seiner Zeit bei der GST.

Die fast rosig erscheinenden Erinnerungen beeinflussten nun seine ausstehende Entscheidung maßgeblich.

Wenn er denn schon wieder abtauchte, dann in eine Gegend, die ihm von vornherein zusagte!

Sofort nach seiner Rückkehr nach Meersburg setzte er sich an den Computer und filzte im Netz den Immobilienmarkt von Weimar. Dabei fand er auch die Exposé von drei schönen Wohnungen, die seinen Vorstellungen entsprachen.

Eine von ihnen war wegen ihrer Lage und der aufgeführten Ausstattungen recht teuer. Aber sie sagte ihm zu, weshalb er gleich mit dem anbietenden Makler telefonierte.

Dieser bestätigte erfreut einen Termin für eine Besichtigung am übernächsten Tag. Natürlich könnte Herr Braun, wenn er es denn so möchte, sofort einziehen. Selbstredend erst nach Zahlung von Kaution und Maklerprovision.

Braun war sich darüber im Klaren, dass sein Vorhaben ein teurer Schnellschuss wird. Doch an die materiellen Konsequenzen verschwendete er keinen Gedanken. Schließlich hatten sich die Millionen, auf denen er hockte, im Laufe der letzten Jahre stark vermehrt.

Noch am gleichen Abend fuhr er in einen Baumarkt. Dort kaufte er einige Umzugskartons und Klebeband.

Die Auswahl dessen was er in seine neue Bleibe mitnehmen würde fiel ihm schwer. Denn auf einen Möbelwagen musste er verzichten und sich daher nur auf die wichtigsten, persönlichen Dinge beschränken.

Alles andere, was er in der neuen Wohnung benötigte, die Möbel eingeschlossen, würde er in Weimar kaufen. Grundsätzlich gedachte er jedes Teil mitzunehmen, was eine Spur zu ihm hinterlassen könnte.

Er schickte dem Meersburger Makler, der ihm seine schöne Wohnung verkauft hatte, eine E-Mail. Darin erteilte er ihm die Vollmacht zur Vermietung der möblierten Immobilie. Zudem beauftragte er ihn mit der Verwahrung der Mieteinnahmen auf einem gesonderten Konto. Abzüglich der üblichen Provision.

Außerdem begründete er gegenüber dem Schwaben seinen kurzfristigen Entschluss. Er plane einen Aufenthalt in der Karibik von zumindest zwei Jahren. Der Termin seiner Rückkehr wäre ungewiss. Zur gegebenen Zeit würde er sich wieder bei ihm melden.

Nach Erhalt der E-Mail rief der Makler zurück. Auf seine Bitte hin nannte ihm Braun eine seiner Handynummern. Er verbat sich jedoch ihre Weitergabe an Dritte.

Großzügig bezahlte er seine Außenstände bei den kommunalen Versorgern. Daraufhin löste er das Konto auf von dem aus er bisher diesen Verpflichtungen nachkam.

Nachdem er alles, was er mitnehmen wollte, in seinem Wagen verstaut hatte, legte er sich noch einige Stunden schlafen.

Am frühen Morgen des nächsten Tages nahm Kolja Braun Abschied vom schönen Städtchen Meersburg. Ohne einen Blick zurück machte er sich auf den Weg in Richtung Thüringen.

Pfadfinder (Paris im Oktober 2005)

Françoise Biçon verließ zur Mittagszeit seine Firma, die nahe der METRO-Station San Ouen gelegen war.

Schon am frühen Morgen, als er die täglichen dreißig Minuten auf dem Hometrainer absolvierte, beschäftigte ihn dieses Problem. Mit dem er am Abend zuvor ins Bett ging.

In den letzten Monaten war der berufliche Druck, den er sich selbst auferlegt hatte, fast unerträglich geworden.

Zum einen war es die Planung von zwei neuen Projekten gewesen, die ihm im Kopf herumging.

Aber letztendlich wurde ihre Umsetzung in Belgien und Schweden sehr kompliziert. Ein halbes Dutzend Male war er selbst auf die Baustellen geflogen. Um dort die Installation der Software durch seine Leute zu überwachen.

Dass alles verlangte von ihm und den Mitarbeitern viel Kraft und Zeitpotenzial ab.

Nun war es endlich so weit gewesen. Beide Probeläufe konnten ohne Probleme durchgeführt werden. Die Auftraggeber der Projekte hatten vorgestern ihr OK gegeben. Heute Vormittag bestätigte die Bank die Zahlungseingänge für seine Schlussrechnungen.

Zurückgekehrt in seine Penthouse Wohnung setzte sich Biçon im Arbeitszimmer an den Schreibtisch. Er streckte die Arme aus und dehnte sich.

Dann öffnete er wieder die Augen. Für einen kurzen Moment weidete sich an dem imposanten Ausblick, der sich ihm von hier aus auf den Eiffelturm bot.

Gedankenverloren spielte er mit dem Kugelschreiber. Mit der flachen Hand rollte er ihn über das immer noch leere, erste Blatt eines Schreibblocks. Nachdenklich starrte er wieder zum Fenster hinaus. Dann ging er in seinen Gedanken zurück.

Seit den unsäglichen Vorkommnissen in dieser Wohnung war schon weit über ein Jahr vergangen.

Er und Yvonne hatten diese Zeit bewusst verstreichen lassen, ohne nochmals darüber zu sprechen.

Die ersten Wochen nach ihrer Rückkehr aus Bali fand Yvonne des Nachts kaum Schlaf. Am liebsten wäre sie sofort aus dieser Wohnung ausgezogen. Das bekannte sie ihm einmal unter Tränen. Weil ihrer Meinung nach diese Räume für alle Zeiten verflucht sind.

Wenig später legte sich das jedoch. Bald konnte sie, ohne einen Umweg um bestimmte Stellen auf dem Fußboden zu machen den Wohnraum wieder ungehemmt durchqueren. Und sich auch darin aufhalten.

Auf eine unzweideutige für Biçon anfangs nicht unangenehme Weise schien Yvonnes Psyche die schrecklichen Erinnerungen zu kompensieren.

Plötzlich tendierte sie, nach einer langen Phase von ungewohnter Keuschheit, zu gesteigerten sexuellen Begehren. Yvonne entblößte sich spontan in der gemeinsamen Wohnung, indem sie den Rock hochzog. Oder die knappen Jeans herabließ. Das tat sie auch, wenn sie Biçon unangemeldet in seinem Büro aufsuchte. Stets trug sie dabei keinen Slip. Daheim bestand sie sogar darauf, dass er ihr beim Masturbieren zuschaute.

Sie drängte ihn, wenn sich beide in der Öffentlichkeit bewegten mit ihr spontan Örtlichkeiten aufzusuchen, wo er sie ohne Vorbereitung besteigen sollte. Egal ob es eine Toilette in einem Café oder ein Fahrstuhl in einem Hochhaus war. Die Gefahr bei ihrem anstößigen Tun überrascht zu werden musste für sie überall gegeben sein.

Er schwitzte dabei zumeist vor Erregung und Angst. Gelegentlich konnte er seine ansonsten stets kampfbereite Lanze gar nicht in Kampfposition bringen.

Dann griff Yvonne zu, formte sich das Fleisch so, wie sie es brauchte. »Sieh an. Es geht doch, du Waschlappen!«, keuchte sie dabei. Ein fast irres Lächeln leuchtete auf ihrem schönen Gesicht. »Los! Stoß zu, mach’s mir!«

Zum Glück gab sich dieser Zustand mit der Zeit von allein. Wobei eine angestiegene Arbeitsbelastung in Yvonnes Flugunternehmen vermutlich auch eine nicht unerhebliche Rolle dabei spielte.

Des Öfteren kam sie erst spät am Abend heim. Aufgrund von vielen Aufträgen übernahm sie neben ihrer eigentlichen Arbeit auch selbst einige Flüge.

Unabhängig davon, dass der Aufschwung auch in Yvonnes Firma einen positiven Einfluss auf ihre Kontostände zeigte. Er regulierte ihren Libido wieder auf ein bürgerliches für Biçon erträgliches Maß.

Über Weihnachten flogen sie auf die Bahamas. Das Osterfest verbrachten sie schwitzend in Kenia.

So vergingen die Monate. Doch bei ihren abendlichen Gesprächen kamen sie immer öfter auf ein bestimmtes Thema zurück.

»Schatz, wenn wir in den Firmen wieder mehr Luft haben, dann müssen wir uns endlich um das Vorhaben kümmern!«, mahnte Biçon gelegentlich.

Dann lächelte sie. »Klingt gut. »Das Vorhaben«. Du meinst unseren verrückten Plan?«

Er ergriff ihre Hand. »Willst du es nicht mehr anpacken? So wie wir es gemeinsam geplant haben?«

Daraufhin lehnte sie sich an ihn. »Natürlich will ich es. Lass’ uns aber bald beginnen. Nicht, dass wir noch kneifen!«

Nun war es so weit. Heute wollten sie zur Sache kommen. Biçon begann damit, dass er bereits zur Mittagszeit daheim im Arbeitszimmer saß.

Immer wieder ließ er seinen Blick über die von der Sonne überflutete herbstliche Stadt schweifen. Er überlegte, welche Schritte sie zuerst gehen sollten.

Natürlich hatte er in den vergangenen Monaten auch mehrfach über das Ganze nachgedacht. Skizzenhaft entwarf er dabei ihr Vorgehen. Schrieb auch auf, was besonders beachtet werden musste. Grübelte über eventuelle Hindernisse nach.

Zum einen wollte er Kolja Bruhns ausfindig machen, um ihm die Unterlagen zur »Flamme« abzunehmen. Wie er danach mit dem früheren »Kampfgefährten« verfahren würde, dessen war er sich bisher noch nicht schlüssig.

Den Vorrang besaß für ihn jedoch eine andere Intention. Aber wenn er über sie nachdachte, beschlich ihn jedes Mal ein flaues Gefühl.

Daher verlor er bisher zu diesem Thema gegenüber Yvonne auch noch kein Wort. Vor allen, weil er sie derzeit damit nicht belasten wollte.

Denn sollte es ihm gelingen den Mörder seines Bruders ausfindig zu machen dann musste er ihn töten.

Auch, wenn er damit einen geplanten, vorsätzlichen Mord begehen würde! Und genau aus diesem Grunde hielt Biçon diesen Teil seines Vorhabens bisher vor Yvonne geheim. Irgendwann musste er es ihr allerdings sagen. Das konnte er aber erst dann tun, wenn er alle notwendigen Informationen dafür beisammen hatte.

Um sich etwas zu stimulieren, ging Biçon nach nebenan zum Barschrank und holte sich einen großzügig bemessenen Brandy. Alsdann setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Er prostete dem Eiffelturm zu und ließ einen großen Schluck des feinen Tropfens langsam in Richtung Magen rinnen.

So wie ihn eine wohlige Wärme durchströmte, begann sein Hirn auf einer anderen Ebene zu arbeiten. Denn genau das brauchte er, um geistig rege zu sein!

Mit dieser selbst gezimmerten Weisheit begründete er gern sein Verlangen nach einem guten Schluck!

Er stellte das Glas beiseite und schlug ein mit hellgrauer Folie eingebundenes, kleines Notizbuch auf. Dieses Büchlein besaß er schon, als er noch den Namen Bauerfeind trug und im Auftrag des MfS in der Ukraine tätig war. Dieses Buch hatte er bei seiner Flucht aus Österreich mit nach Paris gebracht. Gut behütet über alle Jahre hinweg.

Es begab sich zu jener Zeit, als er mit fünf Millionen DM in der Tasche allein in einem kleinen, schäbigen Hotelzimmer in Paris hockte.

Er erinnerte sich genau, wie er damals eine große Flasche billigen Bauernwein öffnete. Das rote Gesöff goss er in ein Zahnputzglas. Dann trank er und nahm dieses Notizbuch zur Hand.

Daraufhin zermarterte er sein Hirn auf der Suche nach Erinnerungen. Nach Dingen, die sich bis zu jenem Tag ereignet hatten, an dem er in Frankreich angekommen war. Alles, was in seinem Schädel gespeichert war, gab er dem Büchlein preis. Namen, Gesichter, auffällige Erlebnisse in der Ukraine, im Ministerium und im Bregenzer Wald

Diese Erinnerungen schrieb er in dieser Nacht fein säuberlich auf. Auch später kritzelte er alles in das Notizbuch, was ihm noch zu seiner Vergangenheit einfiel, was er als »Wichtig« einstufte.

Gedankenversunken blätterte Biçon wahllos durch sein Büchlein, bis er sich schließlich zur Ordnung rief.

»Disziplin bitte!«, herrschte er sich selbst an. »Nun dann schauen wir doch mal was wir über die alten Genossen so alles festgehalten haben«, knurrte er und trank noch einen Schluck.

Bereits nach kurzer Zeit fand er die ersten, brauchbaren Notizen. Er notierte die aufgeführten Fakten auf den Schreibblock.

Es verging noch gut eine halbe Stunde, bis er seinen PC hochfuhr, um sogleich ins Netz zu gehen.

Bevor er sich jedoch dort in Zeit und Raum verlor, stand er auf und holte sich spontan einen zweiten Brandy.

Dann ging er zu Werke. Er stieß im Netz auf mehrere Trassenportale und verschiedene Homepages, die sich mit der »Drushba Trasse« und mit der »Erdgastrasse« beschäftigten.

Er war bass erstaunt, wie viele ihm bekannte Namen und alte Verbindungen er dort finden konnte.

In einem der Portale stieß er zudem auf ein besonders großes Bildarchiv. In solche Archive luden die früheren Kumpels schon seit Jahren jene Fotos hoch, die sie irgendwann selbst mal an der Trasse gemacht hatten.

Mit einem falschen Namen meldete er sich auf dem Portal an, um danach sofort Zugriff auf alle Seiten zu bekommen.

Die Fotos wurden an der Drushba-Trasse und den drei Bauabschnitten der Erdgastrasse gemacht. Doch bei seiner Suche halfen ihm die Bildunterschriften ebenso wie die vielen Kommentare.

Schließlich entdeckte er mehrere Fotos von einer Faschingsfeier in Prokowski. Die fand laut den Bildlegenden im Jahre Sechsundachtzig statt.

Die Verbindung des Wortes »Fasching« mit der betreffenden Jahreszahl ließ Biçon sofort aufmerken. Doch so nett und teilweise erheiternd die Bilder auch waren.. Es befand sich keines darunter, das ihm weiterhelfen konnte. Wenn er sich richtig erinnerte war zu dem Zeitpunkt, als diese Fotos gemacht wurden, sein Bruder bereits schon seit Stunden tot!

Nunmehr recht frustriert klickte er sich in der Galerie noch ein paar Bilder weiter. Eigentlich wollte er die Seite wieder verlassen. Doch da entdeckte er noch ein Gruppenfoto, das durch einige Elemente an den Fasching erinnerte. Die kurze Bildunterschrift ließ sein Herz höher schlagen und plötzlich wurde ihm heiß. Eine innere Stimme sagte ihm, dass dieses Bild für ihn ganz wichtig wäre.

»Elferratssitzung, Prokowski Sechsundachtzig« stand dort geschrieben.

Biçon schaltete die Vergrößerung der Bildanzeige hoch. Aufmerksam musterte er die Gesichter der abgebildeten Personengruppe.

Dann brach jäh ein lautes Schluchzen aus seiner Brust. Seine Hände zitterten heftig, als er auf das schwarz-weiße Bild starrte.

Übers ganze Gesicht lachend schaute ihm ein fröhlicher, junger Mann entgegen.

Sein kleiner Bruder Mirko!

Nach dem ersten Aufbranden der Freude und des Schmerzes überzog ihn ein kalter Schauer, als tauchte er in Eiswasser ein. »Mein Gott«, murmelte er. »Mirko lacht hier so unbeschwert und ein paar Stunden später soll er schon tot gewesen sein!« Biçon stützte den Kopf in beide Hände, aus nassen Augen starrte er auf den Monitor. In das ihm immer noch so sehr vertraute Gesicht seines Bruders.

Dann musterte er aufmerksam das gesamte Bild und sah sofort, dass es noch eine weitere Botschaft für ihn enthielt. Hinter seinem Bruder war deutlich ein breit grinsender, dicker Mann zu sehen, der um einiges älter als Mirko zu sein schien. Mit einer besitzergreifenden Geste hatte er seine Hand um die Schulter des Jungen gelegt und ihm seinen Kopf zugeneigt.

In Biçons Kopf herrschte Aufruhr, er schnappte krampfhaft nach Luft. Energisch suchte er sich zu beruhigen, um seine Gedanken sortieren zu können.

Da schoss in ihm plötzlich die Erinnerung an ein Zusammentreffen mit Michael Bruhns hoch.

Damals auf dem Bahnhof Lichtenberg in Berlin war es gewesen. In dem Café äußerte Bruhns der sich einen Tag später »Braun« nennen musste ihm gegenüber einen Verdacht. Er gab ihm sogar den Namen dieses Mannes, der dort auf seiner Baustelle für die »Deutsch-Sowjetische« bezahlt wurde.

War es dieser Typ, der ihm jetzt auf dem Monitor entgegen grinste? Hastig blätterte Biçon durch sein Büchlein. Er war sich sicher, dass er damals in der Nacht vor der Fahrt nach Liechtenstein diesen Namen notiert hatte.

Richtig! Da stand er. »Knäbelein«.

Was hatte ihm Bruhns noch erzählt? Er sagte, dass ihm gegenüber der Sicherheitschef der Baustelle den Verdacht äußerte, es habe sich nicht um einen Selbstmord gehandelt!

Biçon hielt inne, trank einen Schluck vom Brandy.

Natürlich! Diesen früheren Sicherheitschef musste er als Ersten finden. Denn nur der würde ihm die erforderliche Aufklärung geben können!

Sofort begann Biçon im Netz zu recherchieren. Er suchte nach einem Namen. Der mit der Erdgastrasse, dem Standort Prokowski und dem damaligen Generallieferanten in Verbindung gebracht werden konnten. Es gab auch einige Treffer. Mehrere kannte er selbst, doch bei keinem klingelte es bei ihm.

War er in eine Sackgasse geraten?

Aufmerksam blätterte er nochmals sein Büchlein durch. Denn plötzlich war er sicher, dass er damals diesen Namen am gleichen Abend notiert hatte! Nach kurzer Suche stieß er drauf. »Justus Faber«. Jetzt hörte er in seinem Inneren auch wieder die Stimme von Bruhns, wie er in dem Café von Justus Faber gesprochen hatte.

Nunmehr richtig in Fahrt gekommen holte sich Biçon noch einen Brandy. Dann ackerte er weiter durch das Netz.

Und tatsächlich. Er fand Faber.

Der schien noch am Leben zu sein. Schließlich präsentierte er seine Firma auf seiner Homepage. Demnach betrieb er seit Jahren in Bernau bei Berlin ein kleines Einmannunternehmen. Für Sicherheitsanlagen und auch einen Schlüsseldienst bot er an.

Biçon atmete auf und lehnte sich im Sessel zurück. Na, wenn das kein Erfolg war! Jetzt gab es einen konkreten Ansatzpunkt und die Jagd konnte beginnen!

Draußen war es inzwischen dunkel geworden und er hoffte, dass Yvonne bald heimkommen würde.

Zufrieden mit den Ergebnissen seiner Bemühungen stellte er sich wieder ans Fenster. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte hinaus auf die abendliche, lichterfunkelnde Stadt.

Nun gut dachte er. Ich habe endlich eine erste Spur, die mich zu diesem Fettsack führen könnte. Diesen Teil meines Planes werde ich im Detail jedoch allein ausarbeiten und auch ausführen. Yvonne darf davon nichts erfahren! Zumindest nicht, bis ich es hinter mich gebracht habe. Doch der zweite Teil unseres Vorhabens scheint mir noch komplizierter zu werden.

Wie kann ich nur den Kolja Braun finden? Was hilft mir dabei? Und wo steckt der Typ jetzt überhaupt?

Vor seinem Tode hatte Fuhran darüber nichts verlauten lassen. Dessen ungeachtet war zu erwarten, dass Braun abgetaucht war. Wohl gleich, nachdem sein Chef nicht mehr zurückgekommen war.

Über diese Fragen sinnierend massierte sich Biçon mit der Hand seinen verspannten Nacken.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

Da gab es doch diese Berliner Firma, die den Bodyguard für Fuhran gestellt hatte. Yvonne fand sie im Netz und dabei tauchte doch der Genosse Weiler auf. Quasi wie der Teufel aus der Kiste! Mann! Die drei Altkader in Berlin müssten doch wissen, wohin sich der Bruhns verkrochen hat!

Hier jedoch drängte sich Biçon eine weitere Überlegung auf.

Oder sollten die drei Altgenossen die »Flamme« inzwischen selber an sich gebracht haben? Weil sie es nicht zulassen wollten, dass Bruhns eine so mächtige Waffe allein besaß? Ja! Genau das war es, was er vorrangig abklären musste!

Augenblicklich fühlte sich Biçon ein wenig beruhigt. Denn plötzlich gab es zwei verheißungsvolle Spuren, denen er folgen konnte.

Überlegt und in Ruhe sollte ich es angehen, sagte er sich. Weil jetzt, wo ich schon so weit in meinen Aktivitäten gekommen bin, jede Hektik völlig fehl am Platze wäre.

Gelassen ging er zum Barschrank und goss sich noch einen »Kleinen« ins Glas.

Da kam Yvonne endlich heim.

Ihre Begrüßung fiel flüchtig aus. Doch nach einem raschen, kalten Abendessen saßen sie sich im großen Wohnraum gegenüber.

Yvonne hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Biçon fläzte in einem der tiefen Sessel. Zuvor hatte er einen feinen Roten geöffnet. Er gönnte ihm heute jedoch nicht viel Zeit zum atmen. Bald schenkte er ihn in zwei Gläser.

Sie stießen an und tranken.

Dann erstattete er seiner Lebensgefährtin Bericht. Recht ausführlich listete er dabei auf, was er seit dem Mittag alles unternommen hatte. Wegen einer Spur zu Bruhns und auch zu Faber.

Wobei er seine Worte genau bedachte. Schließlich hatte er sich auch mit der Suche nach dem vermeintlichen Mörder seines Bruders befasst. Auf diesen Teil seiner Recherche ging er jedoch gar nicht ein. Dafür ging er in Bezug auf die Spur die ihn zu Bruhns bringen sollte mehr ins Detail.

Yvonne zeigte sich sehr interessiert. Sie überlegte einen Moment. Dann stimmte sie seinem Vorhaben zu, in Kürze nach Berlin zu fahren.

Ihren Vorschlag ihn mit einer ihrer Maschinen dorthin zu flieg? lehnte Biçon jedoch strikt ab.

»Schade auch, du Egoist!«, maulte Yvonne und zog einen Flunsch. »Wo ich doch so gern in Tempelhof starte und lande. Mann! Mitten in der Stadt liegt der alte Flughafen! Weißt du eigentlich, welchen Kick das einem gibt«

Doch Biçon gab nicht nach, blieb bei seinem Entschluss. »Bitte werde nicht sauer, Schatz! Aber es ist doch viel unauffälliger, wenn ich mit dem Zug fahre.«

Kurz darauf trank Yvonne ihr Glas aus. Sie lächelte und mit der Bemerkung, dass sie gern unter die Dusche gehen würde, verschwand sie in Richtung Badezimmer.

Sie ließ jedoch dort die Tür offen.

So das Biçon über den Flur hinweg das Geräusch des plätschernden Wassers hören konnte.

Einer plötzlichen Eingebung folgend schlich er hinüber ins Badezimmer. Durch die Perlglasscheiben der geräumigen Duschkabine vermochte er Yvonnes Silhouette erkennen.

Rasch warf er seine Kleidung ab und schob die Glastür beiseite.

Er erblickte ihren nackten Leib, der in feinen Dampf gehüllt war. Von den festen Brüsten rann das Wasser hinab zum schmalen Lockenstreifen zwischen ihren Schenkeln. Eine heiße Welle der Erregung schoss in ihm empor.

Ihr erstaunter Blick, weil er nackt vor ihr stand, bohrte sich kurz in die blitzenden Augen ihres Partners. Dann glitt er langsam an dessen Körper hinab, um schließlich zu verharren.

Sie spitzte ihre Lippen und ein feines, sinnliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich sehe! Er will sich ganz doll von mir verabschieden!«, gurrte sie. Dann zog sie ihren Partner mit sanftem Griff unter die Dusche.

Am nächsten Morgen bereitete Biçon in seiner Firma alles für seine mehrtägige Abwesenheit vor.

Tags darauf wollte er, mit nur einer Reisetasche als Gepäck, in einen ICE steigen, der Richtung Osten fuhr.

Sechshundertdreizehn (Berlin im Herbst 2005)

Drei Monaten lang hatte er die schöne Kroatin bereits beobachtet. Dabei wurmte es ihn schon ein bisschen, dass er sich wieder mit einer der Ehefrauen befassen musste.

Doch solange er Bauerfeind nicht habhaft werden konnte, blieb ihm ja keine andere Alternative! Da schob er eben eine der geliebten Gattinnen der früheren Stasi-Offiziere auf der Liste der geplanten Tötungen nach vorn! Ebenso wie er damals Burkhard Klamm in der Reihenfolge voransetzte. Zehn Jahre war das nun schon her, dass er ihn in Warnemünde erwischt hatte. In der Hoffnung, Bauerfeind aufstöbern zu können, gönnte er sich anschließend eine fünfjährige Pause. Dann strafte er den Genossen Weiler, indem er ihm die Frau nahm. Er benutzte dazu einen schweren SUV.

Doch seitdem waren auch schon wieder fünf Jahre vergangen! In denen Bauerfeind verschwunden blieb.

Eingangs plante er die Kroatin in dem Penthouse aufzusuchen, das sie gemeinsam mit ihrem Mann am Potsdamer Platz bewohnt. Sie hätte einen spektakulären Unfall im Haushalt erlebt und für ein anschließendes Aufsehen wäre gesorgt gewesen. Dabei würde er auch eine Wiederholung bei der Art der Ausführung seiner Mission vermeiden.

Doch bei einer genauen Analyse der Örtlichkeiten bauten sich für ihn unüberwindbare Hindernisse auf. Das gesamte Haus wurde videoüberwacht. Rund um die Uhr sicherte ein Doorman- Service den Eingangsbereich. Tiefgarage und Aufzüge waren zusätzlich geschützt. Das Gebäude stellte eine Feste zum Wohlergehen der Mieter und Eigentümer der Wohnungen dar. Hier unerkannt hinein und wieder heraus zu kommen würde unmöglich sein.

Eines Vormittags parkte er vor ihrem Haus unweit der Ausfahrt aus der Tiefgarage.

Da kam sie auf die Straße hochgefahren. Sie chauffierte an diesem Tag ihr Cabriolet mit offenem Verdeck.

Er fotografierte den Wagen, als sie am Schild anhielt. Um ihm dann zu folgen.

Von da an wusste er um ihr allwöchentliches Faible.

Sie fuhr gar nicht weit. Doch an diesen Tag eben nicht zum »KaDeWe«. Um sich dort mit ihrer Freundin zu treffen.

Sie steuerte ein Hotel in der Uhlandstraße an.

Er folgte ihr hinein. Um sie dort verborgen hinter einer Säule in der Lobb zu beobachten.

Während sie unweit der Fahrstühle einige Minuten auf und ab ging, schaute sie mehrfach hinüber zur gläsernen Drehtür. Sie trug ein weitgeschnittenes Sommerkleid, behielt auch in der Lobby die Sonnenbrille auf.

Minuten später kam ein junger Mann in die Halle. Zielstrebig schob er sich durch eine Gruppe Asiaten und ging direkt auf sie zu. Er lief jedoch an ihr vorbei und drückte an einem der Lifts auf den Knopf. Die Tür öffnete sich. Bevor sie sich wieder schloss, schlüpfte sie ebenfalls in die Kabine.

Auf dem Anzeigetableau sah er, dass der Aufzug in der sechsten Etage hielt.

Nun gut dachte er. Dann warte ich eben.

Obwohl ihn die Zeit drängte, er musste unbedingt noch einen Auftrag abarbeiten harrte er in der Halle aus.

Gut eine Stunde später trat der junge, gepflegt aussehende Mann wieder aus dem Lift. Ein feines, arrogant wirkendes Lächeln auf den Lippen verließ er schnurstraks die Lobby.

Ebenso wie seine Zielperson die etwa zehn Minuten später herunterkam. Auch sie strebte sogleich zu ihrem Wagen und fuhr weg.

Nun wusste er, dass die gut aussehende Kroatin einen Liebhaber hatte. Nach der nächsten Observation genau eine Woche darauf war er sich dessen sicher.

Sie pflegte ihn jeden siebenden Tag zu treffen. Stets im selben Hotel und zur gleichen Zeit. Und der Lift hielt in der sechsten Etage.

Nun galt es umso mehr seine Arbeitsaufgaben mit den Belangen seiner Mission zu vereinbaren. So wie es ihm fünf Jahre zuvor bereits gelungen war.

Drei Wochen später hatte er alles beisammen. Der Zugang zum Hotel stand ihm durch die Liefereinfahrt offen. Den Zahlencode für den Wirtschaftsaufzug hatte er sich zweimal abgeschaut, bevor er ihn benutzte. Eine Videoüberwachung gab es auf den Etagen nur vor den Fahrstühlen.

Am Tage seines Probelaufs erwartete er das Pärchen.

Bekleidet mit dem blauen Kittel einer Aufzugsfirma hielt er sich den Lift in Sichtweite in der sechsten Etage verborgen.

Indem er ihnen auflauerte, tauchte erneut eine Frage in seinem Kopf auf. Wie macht es der junge Mann, dass er jedes Mal dasselbe Zimmer für sein Schäferstündchen bekommt?

Doch da ertönte ein feiner Gong, die Türen öffneten sich und beide kamen aus dem Lift heraus. Zielgerichtet strebten sie der Nummer Sechshundertdreizehn entgegen. Ihr Galan strich mit einer Karte über den Schlosskasten und sie verschwanden durch die aufspringende Tür.

Er hielt sich gut fünfzig Minuten im Treppenhaus auf. Dann nahm er seine Position wieder ein.

Der junge Mann kam fast auf die Stunde genau aus dem Zimmer. Er wendete sich zur Tür hin und zog sie ins Schloss.

Seine Zielperson trat exakt zehn Minuten später auf den Flur heraus. Sie schaute die Zimmerflucht entlang und ein Lächeln überflog ihr Gesicht. Daraufhin ging sie nach vorn zum Lift und drückte auf den Knopf.

Er zog den Schirm des Basecaps in die Stirn, verließ sein Versteck und stellte sich wortlos neben sie.

Sie reagierte nicht auf ihn. Auch nicht, als sie beide in der abwärtsfahrenden Kabine nebeneinanderstanden.

Er konnte sie riechen. Auch ihr Parfum, das ein bisschen zu stark aufgetragen war, drang in seine Nase.

Du hast dich nach dem Nummer mit ihm nicht mal gewaschen, empörte er sich. So viel Zeit sollte doch wohl sein.

Rasch warf er ihr einen Blick zu. Er erblickte die roten Flecken an ihrem Hals und eine sichtliche Unordnung in ihrer ansonsten gepflegten Frisur.

Da hielt der Lift, er ließ sie zuerst aussteigen. Sofort bog er nach links ab und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift »Nur für Personal«.

Die nächsten Tage verbrachte er mit einer inneren Unruhe.

Neben seiner eigentlichen Arbeit, die ihn derzeit nicht sehr forderte, fühlte er die Nähe seines Ziels. Der Plan war erstellt, die Zeiten festgelegt.

Die zweite Phase konnte beginnen.

Der angestrebte Termin war nun da. Doch alles drohte zu scheitern, noch bevor es begann.

Sein Chef widerrief den Auftrag den er von ihm am Vortag erhalten hatte. Damit aber wäre seine Fahrt in die Stadt hinfällig gewesen!

»Wenn du selbst den Termin wahrnehmen willst«, sagte er zu seinem Boss, »könnte ich dann vielleicht zum Zahnarzt fahren? Mich quält seit gestern so ein blöder Backenzahn!«

Der Chef gab ihm sein OK und er kam noch pünktlich aus der Firma weg.

Wieder hatte er sich mit dem Berufskittel eines Servicetechnikers getarnt, das Basecap tief in die Stirn gezogen. An den Händen trug er heute Gummihandschuhe. So stand er zehn Minuten vor der Zeit im kleinen Wirtschaftsraum der sechsten Etage des Hotels bereit.

Nur eine Zimmerfrau befand sich mitsamt ihrem Wagen am anderen Ende des Ganges.

Die Kroatin und ihr Galan trafen pünktlich ein und verschwanden im gewohnten Zimmer.

Er harrte noch ein Weilchen in dem nach Reinigungsmitteln stinkenden Kämmerchen aus. Dann schaute er auf den Gang hinaus. Niemand war zu sehen. In seiner Kitteltasche ergriff er den Hammer mit dem kurzen Stiel. Dem kam bei seinem Vorhaben eine besondere Rolle zu.

Plötzlich ertönte der leise Gong vom Lift her. Während er in das Kämmerchen zurück huschte, sah er zwei junge Frauen herankommen.

Wortlos gingen sie an der Tür vorbei, hinter der er stand.

Durch deren Spalt sah er, dass sie etwa in der Mitte des Ganges in einem der Hotelzimmer verschwanden.

Von seiner Neugier getrieben schlich er über den Flur. Hin zu Zimmer Sechshundertdreizehn.

Nach einem raschen Blick über die Schulter beugte er sein Ohr zum Türblatt hin.

Er kam jedoch nicht zum Lauschen, wie er es beabsichtigt hatte. Knirschend senkte sich die Klinke. Er sprang zwei Schritte zurück.

Aus der sich öffnenden Tür trat der junge Mann heraus den Rücken ihm zugewandt. »Ich hoffe nur, dass du es nicht bereust!«, rief der unerwartet Aufgetauchte ins Zimmer hinein.

Da traf ihn auch schon sein Hammer am Hinterkopf. Lautlos fiel der Mann zurück in den kleinen Flur vor der Nasszelle.

Obwohl alles viel früher passierte als von ihm veranschlagt, hatte er tadellos reagiert. Er sprang über den am Boden Liegenden hinweg und zerrte ihn ins Zimmer hinein.

Noch während er die Tür zum Gang zudrückte und den Hammer einsteckte schaute er sich im Raum um.

Das fast bodentiefe Fenster, das nach hinten auf den Hof hinausging, stand einen Spaltbreit offen. Lange, weiße Gardinen bewegten sich in einem sanften Luftzug.

Auf der vorderen Kante des ausladenden Doppelbettes saß seine Zielperson. Er starrte kurz auf ihre üppigen, nackten Brüste. Zudem sie trug noch einen roten Slip, Strapse und schwarze Strümpfe. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie zu ihm auf.

»Sie sind Ivanka Baumann?«, fragte er sie mit rauer Stimme.

Sie nickte heftig, ihre Hände krampften sich um ihr Kleid.

Da bekam er mit, dass das Bett noch gemacht und völlig unberührt war. »Ihr seid noch gar nicht zur Sache gekommen?«, fragte er überrascht und deutete auf den am Boden liegenden Mann.

Sie schüttelte den Kopf. »Nee! Der Arsch hat plötzlich was vom – Schlussmachen gefaselt. Ich wäre ihm zu alt!«, antwortete sie mit einem hart klingenden Akzent.

»Ja! Das Leben hält so einige ungute Überraschungen bereit. Auch für einen Gatten!«, entgegnete er.

Mit einem festen Griff in ihren Nacken wie bei einer Raubkatze zerrte er sie empor. Die andere Hand presste er auf ihren Mund, unterdrückte so ihren Schrei. Mit seinem ganzen, massigen Körper drängte er sie die paar Schritte zum Fenster hin. Dort angekommen schaute er nochmals in ihre vor Schreck starr geweiteten Augen.

»Du büßt es, statt deines Mannes! Wie die anderen Frauen auch!«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Dann stieß er sie durch das halb geöffnete Fenster hinaus.

Er stieg über den jungen Mann hinweg, der immer noch bewusstlos zu sein schien. Ein vorsichtiger Blick auf den Flur zeigte ihm, dass sich dort niemand aufhielt.

Mit beherrschten Schritten lief er zum Wirtschaftsaufzug und fuhr mit ihm hinab in die Lieferzone. Kittel und Cape trug er zusammengerollt unterm Arm.

Nach wenigen Minuten erreichte er seinen Wagen, den er in der Seitenstraße geparkt hatte. Indem er auf die Uhlandstraße einbog, kam ihm mit Blaulicht ein Rettungswagen entgegen.

Zwei Tage lang war der Vorfall in den Zeitungen. Bis zu der Meldung, dass man den Sohn des Hoteleigners unter Mordverdacht verhaftet habe. Man fand ihn angeblich in dem Zimmer im sechsten Stock aus dem die Frau gefallen wäre.

Da wusste er Bescheid, warum sich die beiden stets in der Sechshundertdreizehn treffen konnten.

Auf Spurensuche

Der neue »Berliner Hauptbahnhof« befand sich noch im Bau. Biçon verließ daher den Zug bereits am Bahnhof Zoo.

Zwar wusste er, nicht wie lange er in der Stadt bleiben würde, doch mobil wollte er unbedingt sein.

Nachdem er sich an einem Kiosk einen Stadtplan gekauft hatte, trat er aus der Bahnhofshalle heraus. Er schaute sich kurz um und strebte, die Passantenströme durchquerend, einer der Autovermietungen entgegen. Die befanden sich in Sichtweite vom Bahnhof.

Er musste davon ausgehen, dass er sich auf seine Ortskenntnisse aus DDR-Zeiten nicht mehr verlassen konnte. Folglich würde er den Stadtplan wohl brauchen.

Zudem hatten sich damals seine Kenntnisse auch nur auf das frühere Ostberlin beschränkt.

Auf dem Parkplatz der Autovermietung saß er noch einige Augenblicke still im Wagen. Bevor er startete, wollte er sich mit ihm vertraut machen.

Sein Blick fiel dabei aus dem herabgelassenen Fenster. Er schaute auf den dichten Fahrzeugverkehr vorn auf der Straße, Flüchtig betrachtete er die bunte Menge der vorbeiziehenden Fußgänger.

Da verspürte er plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Ungläubig schüttelte er den Kopf und schloss für einen Moment die Augen.

Soeben war ihm bewusst geworden, dass es fast fünfzehn Jahre her war. Dass er gemeinsam mit Führmann an einem kalten Morgen im Januar die damalige Hauptstadt der DDR verlassen hatte.

Jetzt erst war er hierher zurückgekehrt. Um einiges älter und als ein anderer Mensch. Er schüttelte betroffen den Kopf.

So vieles war in diesem aufregenden Abschnitt seines Lebens geschehen. Der so rasch vergangen zu sein schien, wie ein Wimpernschlag.

Biçon atmete mehrfach tief durch und konzentrierte sich nochmals auf den Stadtplan.

Dann startete er beherzt den Wagen.

Zum ersten Mal war er im früheren Westberlin unterwegs.

Daher sah er sich seine Unsicherheiten nach, warf immer wieder einen raschen Blick auf den Stadtplan. Den hatte er neben sich auf den Beifahrersitz gelegt. Dennoch irrten seine Augen stetig umher, suchte bekannt wirkende Anhaltspunkte.

Indem er endlich den früheren Ostteil der Stadt erreichte, glaubte er sich zuerst auf der verlässlichen Seite. Doch dem war nicht so. Zu vieles hatte man hier inzwischen verändert oder gar völlig neu gebaut.

Schließlich war er froh, dass es zumindest die alten Straßenführungen noch immer gab. Diese mit seinen Erinnerungen übereinstimmten.

Staunend tangierte er den Alexanderplatz, fuhr dann in Richtung Lichtenberg. Auf der Karl-Marx-Allee entlang die noch den alten Namen trug.

Bereits daheim hatte er im Internet ein preisgünstiges Hotel gefunden. Das befand sich nur einige Hundert Meter hinter dem früheren Ministerium.

Plötzlich nach der Brückendurchfahrt am S-Bahnhof »Frankfurter Allee« wallte in ihm eine innere Unruhe auf. In Fahrtrichtung erblickte er die Gebäudefront des ehemaligen Ministeriums.

An der Kreuzung davor angekommen bog er nach links in die Ruschestraße ein. Die auch immer noch so hieß.

Mit wachsendem Erstaunen fuhr er langsam an dem großen Gebäudekomplex entlang. Hier befand sich einst die größte Machtzentrale einer untergegangenen Republik. Die er gemeinsam mit Bruhn Anfang Januar Neunzig zum letzten Mal betreten hatte. Jetzt sah er, dass inzwischen die »Deutsche Bahn« ebenso, wie andere Unternehmen hier ihren Sitz gefunden hatte.

Unvermittelt und sehr intensiv kam ihm die Erkenntnis, wie vergänglich alles im Leben sein kann.

Einst geschaffen für die Ewigkeit, allumfassend und beherrschend. Doch dann vorbei, weg, verschwunden!

Doch nicht vergessen!

Beim Überqueren der nächsten Kreuzung warf er rechter Hand einen raschen Blick in die Normannenstraße. Er fuhr weiter und fand wenige hunderte Meter entfernt das von ihm ausgesuchte Hotel.

In eine freie Lücke parkte er den Wagen und checkte sofort ein.

Lange hielt er sich nicht in seinem Zimmer auf. Von da aus rief er Yvonne auf dem Handy an, um ihr seine Ankunft zu vermelden.

Danach fuhr er nordwärts aus Berlin hinaus ins Städtchen Bernau.

In der Nähe eines Einkaufcenters stellte er den Wagen auf einem Parkplatz ab. Er sondierte die Lage.

Bei einem gemächlichen Bummel führte er zugleich eine Erkundungstour durch. Wobei er den kleinen Laden von Faber fast auf Anhieb entdeckte. Er tippte die Telefonnummer, die auf einem Schild an dessen Ladentür stand, ins Handy ein.

Wenig später schon rief er von seinem Wagen aus den früheren Sicherheitschef an.

»Sicherheitsservice Faber, guten Tag! Womit kann ich Ihnen helfen?« Der Gesuchte meldete sich anscheinend persönlich.

»Guten Tag! Mein Name ist Biçon. Spreche ich mit Monsieur Faber?«

»Jawohl, Faber selbst am Rohr, wo klemmt das Schloss?«

»Monsieur! Ich bin Journalist und arbeite für das französische Fernsehen. Wir bereiten eine Dokumentation vor. Die sich, neben den grandiosen Bauleistungen, auch mit bestimmten Vorfällen an der früheren Erdgastrasse der DDR befasst.«

Einen langen Augenblick herrschte Schweigen. Faber schien zu überlegen, bevor er antwortete.

»Gut. Aber was habe ich damit zu tun?«, entgegnete er.

»Monsieur Faber! Sie sind uns als kompetenter Fachmann für dieses Thema empfohlen worden. Daher wäre ich kurzfristig an einem Gespräch mit Ihnen interessiert!« Biçon hörte Fabers überraschtes Lachen.

»Einverstanden. Wann wollen Sie bei mir vorbei kommen? Heute noch?«

»Nun ja. Ich bin heute zufällig hier in die Stadt Bernau. Ich könnte Sie noch aufsuchen.«

»Gut, von mir aus. Aber um sechs mache ich Feierabend«, entgegnete Faber und legte auf.

Aus seiner Handgelenktasche suchte Biçon einen gefälschten Presseausweis hervor. Den hatte er daheim am Computer auf einer Originalvorlage ohne Aufwand hergestellt.

Er schloss den Wagen ab, ging schräg über den Parkplatz, wo er bei seinem Rundgang ein kleines Café entdeckt hatte.

Dort trank er in aller Ruhe einen Milchkaffee und wartete ab. Interessiert durchstöberte er dabei zwei deutsche Tageszeitungen. In beiden Blättern sprang ihm das gleiche Thema ins Auge. »Fenstersturz aus Hotelzimmer. Unfall oder Mord?« Er blätterte weiter.

Kurz vor achtzehn Uhr zahlte er.

Es war bereits dunkel geworden. Faber wollte wohl zum Geschäftsschluss soeben den Laden abschließen als Biçon entschlossen eintrat.

Faber warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, blickte dann dem Kunden erstaunt entgegen.

»Entschuldigen Sie, Monsieur, dass ich so spät noch komme. Wir haben telefoniert«, sagte Biçon in einem bewusst weichen Französisch.

Der Ladeneigentümer erkannte sofort, dass der Anrufer vom Nachmittag vor ihm stand.

Biçon und Faber waren sich vorher noch nie begegnet.

Aber auf dem Weg hierher hatte sich Biçon mehrfach eine Frage gestellt. Wie sah der Mann wohl aus der seinen toten Bruder gesehen und alle Untersuchungen zu seinem Tode durchgeführt hatte?

Jetzt stand ein großer, hagerer, leicht gebeugter und schon sichtlich ergrauter Mann vor ihm. Er trug einen blau glänzenden Berufsmantel, an dessen Brusttasche ein Schild mit seinem Namen steckte. Der dünne Mantel hing auf seinen Schultern wie über einem Kleiderbügel.

Biçon stellte sich mit dem gefälschten Presseausweis und unter seinem französischen Namen vor. »Da ich bereits in der Nähe war, habe ich mir erlaubt, Monsieur Faber, Sie gleich heute noch zu überfallen. Ça marche?«, begründete er sein überraschendes Erscheinen. Bei diesen Worten lachte er etwas geziert, um den französischen Charmeur ein bisschen heraushängen zu lassen. Dabei sah er sich aufmerksam im Laden um.

Faber schien Biçons simpler Auftritt zu beeindrucken. »Geht schon in Ordnung. Wir setzten uns dort hinüber an den kleinen Tisch«, entgegnete er. Wobei er mit der Hand zu einer Ecke des Ladens deutete.

Aus der Nähe sah Biçon sofort, wie stark Faber von Alkohol und Nikotin bereits gezeichnet war. Er setzte sich an den Tisch, zog ein Diktiergerät aus seinem Jackett und schaute den Deutschen fragend an.

Der nickte zustimmend. »Das können Sie von mir aus verwenden. Einen Augenblick Geduld bitte dann werden wir miteinander schwatzen.«

Daraufhin verschwand er mit einem verschwörerischen Augenzwinkern in einen Nebenraum. Kurz darauf kam er mit eine Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück.

Ächzend ließ er sich gegenüber von Biçon auf einen Stuhl fallen. Wortlos goss er den Wein in das zeitlose Pressglas. Sie stießen an und tranken.

Dann begann der TV-Mann das Gespräch. »Monsieur Faber! Bei »TV-Eins« machen wir eine Dokumentation über den Bau von Erdgastrasse. Durch Bauorganisation der DDR, n'est-cepas?. Ich recherchiere dafür über das Thema »Unfälle und Todesfälle« an der Trasse im Allgemeinen. Aber insbesondere im Ural.

»Da sind Sie bei mir wirklich an der richtigen Adresse!«, warf Faber überrascht ein. Wobei seine Augen plötzlich aufleuchteten. Auch schwang so etwas, wie Stolz in seiner rauchigen Stimme mit. »Ich war damals, das ist schließlich kein Geheimnis Sicherheitschef auf einer Baustelle im Ural. Der Standort hieß Prokowski.«

Biçon spürte bereits nach den wenigen Minuten eines. Fabers Arbeitstag konnte wohl kaum von starker Kundenfrequenz geprägt gewesen sein. Denn er hatte wahrscheinlich schon vor seinem Eintreffen seinen Schrank mit den Alkoholitäten nicht nur einmal aufgesucht.

Nein. Betrunken war Faber keinesfalls aber sehr gesprächig!

Unbeeindruckt brannte er sich eine Zigarette an, plauderte locker über die verschiedensten Unfälle. »Das, was sich damals da draußen in den eisigen oder von glühender Sonne überfluteten Weiten Sibiriens ereignete«, sagte er bedeutungsvoll »das bot uns oft einen schrecklichen Anblick. Doch es waren Vorfälle, die ich gemäß meines Amtes bearbeiten musste!«

Biçon ließ den früheren Sicherheitschef fabulieren, er machte sich keine Notizen, denn das Band lief ja mit.

Dann erwähnte Faber endlich von allein, so ganz nebenbei, das eigentliche Thema. Eben das, wegen dem Biçon hier aufgetaucht war. »Natürlich gab es auch Selbsttötungen, da draußen. Obwohl man von offizieller Seite auf alle Fälle versuchte solche Vorkommnisse zu vertuschen! Es passte nicht in unsere heile, sozialistische Arbeitswelt, dass sich junge Menschen fernab der Heimat selbst umbrachten. Egal was die Ursache dafür war.«

Biçon zeigte sich nunmehr sehr interessiert.

Faber lenkte jedoch sofort ein, als er um Details gebeten wurde. »Nun ja. Es war wohl im Grunde genommen nur eine einzige Selbsttötung, mit der ich mich befassen musste. Diese fand, man stelle sich das vor ausgerechnet vor einer Faschingsfeier statt!«

Biçon setzte sich prompt aufrecht hin und hob die Brauen. »Ach was! Suicide sur le carneval? Selbstmord zu Fasching? Wie passt das denn zusammen?«

Den Kopf auf die Hand gestützt starrte Faber, nachdem er wieder einen Schluck vom Roten genommen hatte, mit feuchten, traurigen Augen vor sich hin. »Seltsam! Aber ich weiß es noch genau«, murmelte er nachdenklich und sog an seinem Glimmstängel. Daraufhin räusperte er sich und hob wieder die Stimme. »Es war an einem Sonnabendmorgen vorm Fasching im Jahre Sechsundachtzig. Da haben wir den Jungen gefunden. Angeblich hatte er sich mit seinem Schal erhängt!« Faber trank nunmehr hastig sein Glas in einem Zug leer und schüttelte den Kopf.

Biçon hingegen hakte sofort nach. »Angeblich? Wieso angeblich? Wie meinen sie das? War es denn kein Selbstmord?«

Faber wedelte den Rauch seiner Zigarette von sich weg. Er stieß die Kippe in den Ascher und hustete. »Selbstmord? Das war die offizielle Todesursache mein Herr! Damals als das passierte herrschte auf den Baustellen große Hektik. Wegen riesiger Probleme, die wir hatten. Keiner fand wohl daher die nötige Zeit, die Motivation oder das Interesse, um diese Sache richtig abzuklären. Also gab’s von mir einen offiziellen Bericht mit allen notwendigen Unterschriften drauf. Kiste zu und ab mit dem Jungen in die Heimat!«

Biçon spürte, wie sich ihm bei Fabers letzten Worten die Nackenhaare aufstellten.

Doch der Deutsche war mit seinem Latein noch nicht am Ende. », Monsieur Biçon! Ich sag Ihnen was. Wir hatten alle einen Verdacht, aber wir konnten es nicht beweisen! Von wegen »Lampe halten« und so!« Er schürzte kurz die Lippen und rieb sich über das stoppelige Kinn. »Er war ein hübscher Junge, der Tote. Ich kannte ihn. Ein bisschen weich vielleicht, obwohl er beim LT gerackert hat. Aber es gab da auf der Baustelle so einen Superfunktionär, von der »Deutsch-Sowjetischen«! Und der war schwul. Obschon das keiner offen aussprach. Weils ja auch im Allgemeinen kein Problem gewesen wäre. Das war allein sein Ding. Aber der Kerl vögelte wohl mit Vorliebe fesche Jungs. Dennoch, wie schon gesagt. Keinerlei Beweise alles nur Vermutungen!« Faber nickte vielsagend, kniff dabei heftig Lippen und Augen zusammen.

Biçon jedoch versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo er die Fakten bekommen musste. »Ich denke, solche Kerle haben sich wohl nach der Wende gleich in die Karibik abgesetzt, fait départ, oder?«, fragte er in einem bewusst gleichgültigen Tonfall.

Faber platzte sofort heraus. »Verpisst? Nee, nee, wenn’s nur so wäre! Solche Typen fallen doch immer wieder auf die Füße. Die machen dabei noch auf dicke Mappe! Nee, nee! Der Sack hat’s sogar ganz weit nach oben geschafft! Als die hier in der Stadt vorn paar Jahren das Einkaufscenter gebaut haben, da hab’ ich ihn ein paar Mal gesehen. Ich war auch dort auf der Baustelle, weil die bei mir neue Schlösser für ihre Baucontainer bestellt hatten. Da wurden einige von den Dingern aufgeknackt, die Container leer geräumt. Also. Da hab ich ihn gesehen den Herrn Investor im fetten Daimler. Ich hab’ ihn auch sofort wiedererkannt!«

Biçon wusste, dass jetzt der Augenblick gekommen war, wo Faber alles rauslassen musste. »Das ist ja hochinteressant, dass solche Leute in der Bundesrepublik wieder einen geschäftlichen oder sogar gesellschaftlichen Aufstieg vollziehen können. Vom Kommunisten zum Kapitalisten! Das hätte ich nicht gedacht! Ich nehme aber an, dass sie den Kerl dann nie mehr gesehen haben?«

Faber stieß ein trockenes Lachen aus, das in einen heftigen Hustenanfall überging. »Denkste, Monsieur!«, japste er nach einer Weile, als er sich wieder beruhigt hatte. Mit dem Finger zog er das linke, untere Augenlid herab und schaute Biçon dabei eindringlich an. »Sie meinen wohl eher vom Bubenschänder zum Saubermann? Aber ich brauchte den Kerl nicht mehr zu sehen. Denn ich wurde natürlich neugierig, habe im Netz recherchiert. Wozu ist man denn von »die Sicherheit«? Da habe ich diesen Fiesling auch gleich gefunden. Ja! Der betrieb damals schon seit Jahren eine feine Investmentgesellschaft in Westberlin.« Noch bevor Biçon ihm eine weitere Frage stellen konnte, sabbelte Faber mit einem breiten Grinsen fort. »Ich habe bei der Recherche noch einen zusätzlichen Treffer gelandet. Habe dabei sogar den früheren Beauftragten der Stasi für meinen Bauabschnitt wiedergefunden. Ich meine für den Ural. Mit dem habe ich damals all die Jahre viel zu tun gehabt. Wir kannten uns recht gut. Aber jetzt ist der Kerl stinkreich, hat eine große Sicherheitsfirma in Berlin. Ja auch der ist wieder auf die Füße gefallen. Nicht wie wir die aufm Arsch gelandet sind!«

»Wie meinen sie das?«, hakte sich Biçon ein.

»Nun ja. Es ist schon einige Zeit her. Bevor ich mich mit dieser Klitsche hier selbstständig machte. Da hab’ ich mal bei ihm angefragt. Wegen eines Jobs. Weil ich damals gerade arbeitslos war. Wir sind uns in Berlin, auf der Friedrichstraße, ganz zufällig übern Weg gelatscht. Wir haben bisschen gequatscht. Da sagte er zu mir, dass er jetzt eine kleine Sicherheitsfirma hätte. Ich hab’ ihn natürlich gleich wegen Arbeit angehauen. Aber er hat nur gesagt, dass er keine alten Seilschaften will, wie es derzeit überall herum erzählt wird!« Faber lachte böse auf und klopfte sich mit dem Zeigefinger heftig gegen die Stirn. »Der wollte mich für blöd verkaufen! Denn kurz danach wusste ich ganz genau, warum. Ein Kumpel erzählte mir nämlich, dass der alte Sack seine Firma gemeinsam mit zwei anderen ehemaligen Stasitypen betreibt! Von wegen – keine Seilschaften!« Faber goss Biçon, der eigentlich abwehrte doch noch ein Glas Wein ein.

»Monsieur Faber! Die deutschen Gesetze! Isch bin mit dem Auto hier!« Der Sicherheitsmann winkte unwillig ab, woraufhin Biçon einen weiteren Vorstoß unternahm. »So viel Informationen. Sehr interessant! Alle Achtung, dass Sie sich nach so langer Zeit noch an diese ganzen Namen und all die Details so gut erinnern können!«

Faber sprang unvermittelt auf und öffnete einen grauen Stahlschrank, der in der Ecke des Ladens stand.

Mit einem Aktenordner in der Hand kam er an den Tisch zurück und grinste breit, wobei seine schadhaften Zähne zu sehen waren.

Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und hielt Biçon triumphierend die Vorderseite des Ordners entgegen.

»Was aus wem geworden ist«, stand da in fetten, roten Buchstaben geschrieben.

Biçon fühlte sofort, dass er jetzt ganz nah dran war.

Faber schlug den Ordner auf. Als Erstes präsentiert er ihm das Impressum von Knäbleins Firmenseite. Die Privatadresse von Knäbelein hatte er wohl handschriftlich dazugesetzt.

Auf einem zweiten Blatt war das Editorial von einer anderen Firmenseite ausgedruckt.

»FUSIONA«. So lautete der Name dieser Firma.

Gegenüber Faber zeigte Biçon zwar kein Wiedererkennen, aber innerlich frohlockte er. Und ein bestimmter Name auf dem Blatt bestätigte ihm, dass er wirklich dran war.

Horst Weiler!

Auch wenn Yvonne daheim eben diese Seite bereits ausgedruckt hatte. Hier entdeckte er noch etwas für ihn ganz Entscheidendes.

Faber hatte auch die Privatadressen der drei Geschäftsführer herausbekommen und sie auf dem Blatt notiert.

Langsam wollte Bicon das Gespräch mit dem früheren Sicherheitschef zu Ende bringen. Daher hielt er es für angebracht, sich an dieser Stelle zu empören. »Es ist doch sehr befremdlich, dass es augenscheinlich viel mehr von den früheren Funktionären geschafft haben wieder nach oben zu kommen. Mehr als ich dachte!«, rief er aus. »Doch warum sollten sie eigentlich keine zweite Chance bekommen?«, setzte er nach einer Kunstpause scheinheilig hinzu.

Faber riss wegen Biçons scheinbarer Meinung überrascht die Augen auf. Daraufhin echauffierte er sich etwas unflätig über »diese Aasgeier«, denen keine zweite Chance zustünde«.

Erregt sprang er auf. Vor sich hin mosernd und für Biçon völlig überraschend nahm er die betreffenden Blätter aus dem Ordner. Er schob sie durch einen Kopierer und legte die Duplikate vor dem Franzosen auf den Tisch.

Der bedankte sich, war von dieser großzügigen Geste überrascht. Daraufhin führte er das Gespräch der Form halber noch ein Weilchen allgemein gehalten weiter.

Schließlich verabschiedeten sich die beiden Herren.

Bei ihrem Händedruck schaute Faber einen Augenblick lang tief in Biçons Augen. »Ein Schlitzohr, der Herr Rechercheur!«, sagte er leise, bevor er die Tür aufschloss.

Als er in seinem Laden wieder allein war, goss er sich den Rest des Weines ein. »Journalist? Nette Idee! TV? Haha! Doch was soll’s? Alles nimmt irgendwann seinen Lauf. Es erwischt sie allesamt!« Faber löschte das Licht im Verkaufsraum und schlurfte in das nebenan gelegene Zimmer. Denn dort wohnte er.

Ein Vermeintlicher Fortschritt (Berlin Ende 2005)

Es war bereits Anfang Dezember. Doch das nasskalte Schmuddelwetter ließ kaum vorweihnachtliche Gefühle zu. Obwohl bei beginnender Dunkelheit in den Straßen überall die bunten Festdekorationen blinkten und die Supermärkte schon seit Wochen die Kunden mit Weihnachtsartikeln bombardierten.

Zu dieser Zeit stand Kappner und auch Steincke kaum der Sinn nach einem gemeinsamen Kneipenbesuch. Obwohl beide sicherlich etwas Abwechslung mit Quatschen und einigen Bierchen gebraucht hätten. Zumal sie in den vergangenen Wochen in ihren jeweiligen Firmen straff eingespannt wurden und ihre Freizeitfonds zumeist gegen Null tendierten.

Bei Steincke waren es die vielen Kunden, die das Weihnachtsfest gern in einer anderen Wohnung oder im neu erworbenen Haus feiern wollten.

Bei Kappner indes forderte eine Vielzahl auch opulenter Weihnachtsfeiern verschiedener Firmen einen hohen Zeitaufwand. Dabei war es gleich, ob sie in seinem Betriebsrestaurant oder als Catering stattfanden. Zumindest lief das alles neben dem normalen Tagesgeschäft ab.

An einem jener Tage fügte es sich, dass beide überraschend zusammentrafen.

Es war gegen zehn Uhr.

Das Frühstücksgeschäft in Kappners Betriebsrestaurant war vorbei. Gemeinsam mit zwei Ausgabekräften überprüfte er soeben den Stand der Vorbereitungen fürs Mittagsgeschäft.

In voller Kochmontur ging er die Ausgabereihe ab. Nacheinander hob er die Edelstahldeckel der gefüllten Warmhaltebehälter hoch. Er warf prüfende Blicke auf die einzelnen Komponenten, roch und kostete mit Löffelchen und Teller.

Da hieb plötzlich jemand mit der Hand auf den gläsernen Hustenschutz, der die Ausgabe vom Gastraum abschirmte.

Kappner hob erschreckt den Kopf und schaute in Steinckes Gesicht. »Ich denk‘ mein Schwein pfeift!«, rief er aus. »Mann, Steincke! Mich so zu erschrecken. Ich bin sensibel! Schon vergessen?«

Beide lachten und Kappner schlug in die Hand ein die ihm der Freund über die Ausgabe entgegenstreckte.

»Hast du für ’n Moment Zeit?«, fragte Steincke. »Ich habe nämlich gerade hier in der Nähe ’ne Immobilie besichtigt. Und da dachte ich, dass ich mal rasch bei dir vorbeikomme.«

Kappner nickte zustimmend. Er gab seinen Leuten noch einige Anweisungen, kam dann hinaus in den Gastraum. »Willst du ’n Kaffee?«, fragte er. Nachdem Steincke seinem Angebot zugestimmt hatte, ging er zum Kaffeeautomaten in der Selbstbedienungsreihe. »Setz‘ dich doch schon mal rüber ans Fenster!«, rief er über die Schulter hinweg. Dabei zapfte er die zwei Pötte. »Immer noch schwarz?«, fragte er. Ohne die Antwort abzuwarten, trug er das Tablett zu einem der Tische.

»Mann, oh Mann«, stöhnte Steincke, der sich auf einen der Stühle fallen gelassen hatte. »Ich hab’ schon befürchtet, dass wir dieses Jahr gar nicht mehr zusammenkommen. Sag Theo! Bekommst du auch schon Entzugserscheinungen?«

Kappner stellte die dampfenden Kaffeepötte auf die blanke Tischplatte und setzte sich ebenfalls. »Mach’ nicht solche Panik, Helmuth! Ich denke, es sind noch keine fünf Wochen her, dass wir beide zuletzt in der Kneipe waren«, sagte er nach kurzem Überlegen.

Steincke stutzte, schüttelte den Kopf und trank vorsichtig vom Kaffee. »Kann ich hier rauchen?«, fragte er, wobei er bereits Zigaretten und Feuerzeug hervorholte.

Kappner grinste und deutete auf den Aschbecher, der vor Steincke auf dem Tisch stand. Ja«, sagte er, »noch darfst du das. Aber ab dem ersten Januar ist Schluss damit! Na ja, bisher war bei uns über die Mittagszeit schon immer alles rauchfrei. Aber für die Frühstückszeit fällt das dann auch weg. Alles im Rahmen der Weltgesundheit!«

Steincke brannte sich eine Zigarette an und zerrte seinen Schlipsknoten auf. Stöhnend öffnete er zudem den unteren Knopf an seiner Weste.

Kappner warf ihm einen fragenden Blick zu, wobei er auf dessen Bauchansatz deutete.

Steincke verstand den Wink und verdrehte genervt die Augen. »Ja, ja! Ich weiß was du denkst. Dennoch! Ich hab’ nichts getrunken. Die letzte Zeit meine ich. Aber ich hab’ wohl doch etwas zugenommen. Denn, wenn ich in der Stadt unterwegs bin, komme ich an keiner Currywurstbude vorbei. Mann! Das ist wie ein bedingter Reflex!« Sein Lachen hörte sich ziemlich krampfig an, als er ans Revers seines Sakkos griff. »Diesen Anzug hier, den habe ich erst vor einem halben Jahr im KaDeWe gekauft!«, jammerte er und blies den Rauch zur Decke hoch.

Kappner sparte sich einen Kommentar. Er wechselte das Thema. »Weil du gerade mal da bist. Also, was ich wissen wollte, Helmuth!«, fragte er, nachdem er von seinem Kaffee getrunken hatte. »Hast du das Einkaufzentrum vom Knäbelein denn eigentlich schon verkauft?«

Steincke nickte zögerlich, schnippte die Asche von der Zigarette und griff nach seinem Kaffeepott. Er trank einen Schluck und wischte sich langsam über die Lippen. »Sicher. Ich konnte das Ding verkaufen. Knäbelein und der Käufer haben den Kaufvertrag beim Notar beurkundet. Alles ist OK! Der Knäbelein hat schon meine Rechnung für die fällige Maklerprovision bekommen. Geht also seinen Gang.«

Kappner zeigte sich von Steinckes letzten Worten etwas überrascht. »Entschuldige, bitte. Wieso hast du dem Knäbelein eine Rechnung geschickt? Zahlt nicht sonst der Käufer an dich als den Vermittler?«

Steincke sog an seiner Zigarette, lehnte sich zurück und nickte. »Berechtigte Frage, Theo. Im Grunde genommen ist es ja so, dass mir der Kunde meine Provision zahlt. Aber Knäbelein, als Verkäufer hatte mir von sich aus eine, wie wir es nennen Innenprovision angeboten. Das haben wir dann schließlich auch schriftlich vereinbart. Eigentlich müsste die Kohle in den nächsten Tagen auf dem Firmenkonto ankommen. So denke ich jedenfalls!«

Kappner zeigte sich über den Erfolg des Freundes erfreut. »Helmuth! Da ist ja das Weihnachtsfest gesichert, auch für deine Mitarbeiter! Wieso guckst du dann, so belämmert in die Gegend?«

Steincke drückte energisch den Rest seiner Zigarette im Aschbecher aus. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen starrte er einen langen Augenblick auf den Freund. Dann bequemte er sich zu einer Antwort. »Da stimme ich dir zu, Theo. Alles paletti. So sollte man glauben. Aber meine Kunden zahlen in der Regel spätestens nach zwei Wochen meine Provision. Der Knäbelein aber, der alte Sack, der lässt mich schon fast einen Monat hängen!« Steincke stieß ein gepresst klingendes Lachen aus. »Es ist ja nicht so, dass ich deswegen gleich Pleite gehe! Aber mir geht’s dabei auch ums Prinzip, weil das etwas mit sauberen Geschäftsgebaren zu tun hat.«

Kappner trank seinen Kaffee aus. »Denkst du etwa, dass der Knäbelein ein linkes Ding drehen will?«

Steincke überlegte einen Augenblick. Er schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch. »Das hoffe ich nicht! Aber ich rücke ihm, sollte er bis spätestens nächste Woche immer noch nicht gezahlt haben persönlich auf die Bude!«

Kappner nickte ihm zustimmend zu.

Steincke wechselte unvermittelt das Thema. »Sag mal Theo! Wie gehen denn bei euch die Geschäfte? Macht ihr immer noch Catering, jetzt für die ganzen Weihnachtsfeiern in anderen Firmen? Oder am Abend hier im Restaurant?«, fragte er. Dabei deutete er mit einer ausgreifenden Geste in den weihnachtlich dekorierten Gastraum.

Kappner stutzte. Warum hatte der Freund das Thema gewechselt? Fühlte er sich betroffen wegen Knäbeleins seltsamer Zahlungsmoral? Glaubte er sich gelinkt von dem Mann, vor dem er ihn gewarnt hatte? Doch er ging nicht mehr darauf ein. Stattdessen winkte resignierend ab, und stellte das Kaffeegeschirr aufs Tablett. »Man kann nicht nur vom Weihnachtsgeschäft ausgehen. Da läuft es noch ganz gut. Mit Weihnachtsfeiern und so. Aber das Jahr hat noch elf andere Monate. Da geht’s in unseren Restaurants in etwa so wie in unserer Kneipe. Dort hat der Werner der Kneipier auch nicht mehr so viele Gäste wie früher.«

Steincke hob fragend die Brauen. »Du meinst mit »früher« die Zeit vor dem Euro?«

»Ja, genau so geht’s uns mit den beiden Betrieben auch.« Kappner deutet über die Tischreihen hinweg. »Es ist eine Tatsache, dass sich unsere Umsätze in den vergangenen Jahren fast halbiert haben. Aber nicht weil wir in der Qualität nachgelassen hätten. Nein! Das ist sicherlich nicht der Fall.

Steincke beugte sich zu ihm hin. » Eure Kundschaft spart am Essen?«

Kappner nickte und deutete hinüber zur Ausgabereihe. »Nicht nur dabei. Früher packten sich die Mittagsgäste noch ein Getränk und ein Dessert aufs Tablett. Das ist heute bei vielen eben nicht mehr drin. Und statt sie die fein belegten Frühstücksbrötchen hier bei uns kaufen bringt man jetzt wieder Stullen von daheim mit!«

Steincke schob mit dem Finger die Kippe im Ascher herum. »Kann es mir denken. Es liegt am Preis?«

Kappner nickte. »Ja! Unsere Einkaufspreise sind kontinuierlich gestiegen. Wir müssen immer neu kalkulieren, aber leider nicht nach unten. Doch die Einkommen unserer Gäste haben in den vergangenen Jahren nicht zugenommen. Also sparen sie an den Mahlzeiten außer Haus. Wir können froh sein, dass sie dennoch bei uns bleiben. Und nicht stattdessen vorn an der Ecke ’ne Currywurst essen gehen.«

Einen Moment herrschte ein nachdenkliches Schweigen zwischen den Freunden.

Dann hieb Kappner mit der Hand auf Steinckes Schulter. »Nun ja! Die Zeiten sind vorbei, wo wir so viele »Rüben« verdient haben, wie damals an der Trasse. Von dir »fast-Millionär« mal abgesehen. Aber was soll‘s? Jammern gibt ’s nicht bei uns. Lass uns lieber bald mal wieder zusammen etwas trinken gehen!«

Steincke nickte zustimmend. Dabei schaute er überrascht zur Tür, wo soeben die ersten Mittagsgäste hereinkamen. Dann fiel sein Blick auf die großformatige rote Uhr, die oberhalb der Kasse an der Wand hing. Ein Werbegeschenk eines führenden Herstellers von brauner Limonade, wie ihm Kappner mal erklärt hatte. »Ich muss auch wieder los. Er erhob sich und griff nach seinem Mantel. »Also, wir klingeln uns an. Ja?«

Sie reichten sich die Hand und Steincke verließ mit ausgreifenden Schritten das Betriebsrestaurant.

Eine Zwischenbilanz

Die vergangenen Jahre waren, wenn man es von der geschäftlichen Seite aus betrachtete für die »FUSIONA« sehr erfolgreich gewesen.

Ihr Dienstleistungsnetz, insbesondere auf den Gebieten des Objektschutzes und der Sicherheitsdienste lag nunmehr über ganz Deutschland ausgebreitet.

Die Kooperation mit Kuragins Firma bestand weiterhin. Sie war sogar noch ausgebaut worden.

Denn aufgrund der steigenden Nachfrage wurde der Absatz von Rauschmitteln kontinuierlich erhöht. Damit generierte sich weiterhin die größte Einnahmequelle ihrer gemeinsamen Unternehmungen.

Personelle Veränderungen gab es innerhalb der Firmenleitung nicht. Wenn man davon absah, dass Zernick die Firma seit langer Zeit im Grunde genommen allein führte.

Dieter Baumann war eigentlich nur noch auf dem Papier als Geschäftsführer tätig. Der Krebs hatte ihn schon fast aufgefressen.

Besonders hoffnungslos wurde sein Zustand vor gut drei Monaten. Nachdem seine kostenintensive Gattin in einem skandalträchtigen Vorfall zu Tode gekommen war. Dass sie dabei von ihrem jungen Liebhaber aus dem Fenster geworfen wurde, machte ihm besonders zu schaffen. Seit dem widmete er sich in einem sehr teuren Pflegeheim seiner Krankheit.

Natürlich war Baumann immer noch der alte Kämpfer. Wie lange er seinem tödlichen Feind allerdings noch widerstehen konnte, war höchst ungewiss. Seine ursprünglichen Aufgaben in der gemeinsamen Firma teilten sich seitdem Zernick und Weiler.

Der Not gehorchend mussten die beiden die zusätzliche Belastung auf sich allein nehmen. Denn der stattlichste Anteil am betrieblichen Gesamtumsatz stammte von den Erlösen aus dem Rauschmittelgeschäft. Schon daher konnten sie keinen unbelasteten Dritten in diesen Bereich der Geschäftsführung mit einbeziehen. Wie sich das aber in der Zukunft gestalten sollte, wenn zum Beispiel einer von ihnen beiden auch noch ausfallen würde stand in den Sternen.

Zernick ging inzwischen straff auf sein vom Gesetzgeber festgelegtes Renteneintrittsalter zu. Daher schob er dieses unselige Thema stets weit von sich. Denn wer sollte ihn in der Firma ersetzen?

Darüber hinaus beunruhigte ihn seit einiger Zeit ein anderes Problem.

Waren es nur Zufälle, dass die Ehefrauen seiner Partner innerhalb von nur fünf Jahren zu Tode kamen?

Denn eine vorsätzliche Tötung durch ein Kraftfahrzeug und ein erzwungener Fenstersturz lagen wohl im bedenklichen Bereich der Betrachtung. Auch, wenn beide Vorkommnisse offensichtlich in keinem Zusammenhang standen.

Indem er Weiler und auch Baumann dazu vorsichtig befragte, bekam er eine zweifache Abfuhr. Zu diesen unsäglichen Themen wollten sie sich nicht äußern.

Horst Weiler hatte inzwischen sein unbestreitbares Übergewicht gut stabilisiert. Eine weitere Gewichtszunahme konnte er auf Anraten seines Arztes nur durch eine drastische Veränderung seiner Essgewohnheiten verhindern. Was ihm anfangs sehr schwer fiel. Im Laufe der Zeit fand er sich jedoch mit seinem bitteren Los ab.

Wenn sich seine Tischpartner ein schönes Berliner Eisbein einschoben, begnügte sich Weiler mit einer zarten Hähnchenbrust. Natürlich ohne jede knusprige Panade!

Schon bald nach dem Ableben seiner Frau gestand er sich sein »immer-noch-Mann-sein« erneut ein. »Ich bin letzten Endes nicht ins Kloster gegangen, sagte er irgendwann mal zu Zernick. »Aber nur, wenn mir danach ist, bestelle ich mir für einen Abend telefonisch eine der besten Edelnutten. Die auch hier in der Hauptstadt im Homeservice zu haben sind!«

In der Firma hingegen berieten Zernick und Weiler alles gemeinsam. Vorrangig, was zur Entscheidung und zur Planung anstand.

Die Überhänge aus den »zusätzlichen Einnahmen« investierten sie nach wie vor in teure Immobilien.

Jedes Jahr vermittelte Steincke bis zu drei Rendite- Objekte an Kuragins Firma. Diese Geschäfte liefen ausschließlich über die »NOWYPERM«.

Zernick und Weiler bestanden nach wie vor darauf, dass sie bei allen diesen Transaktionen im Hintergrund blieben. Steinckes Partner war einzig und allein Kuragin.

Doch der Russe selbst war nicht nur älter geworden. Sondern mittels einhundertzehn Kilo Lebendgewicht auch optisch eindrucksvoller. Seine weiteren äußerlichen Veränderungen jedoch waren unerheblich. Sie beschränkten sich auf den Verzicht seines rustikalen Schnauzbartes. Dafür trug er nunmehr eine edle, schmale Brille. Seinen raspelkurzen Haarschnitt behielt er bei. Das Äußere war nach wie vor gepflegt, seine Kleidung wirkte teuer. Inzwischen sprach er ein fast akzentfreies Deutsch.

Seine Frau Alissa fand schon vor einigen Jahren in Zernicks Frau Lydia eine innige Freundin. Die Damen verbrachten viel Zeit miteinander.

Lydia war diese Abwechslung natürlich recht. Versuchte sie doch schon lange den Verlust der jüngeren Tochter zu verarbeiten.

Nachdem das Mädel Mitte der Neunziger hart ins Drogenmilieu abdriftete, war bald alle Hilfe vergebens. Sie verschwand von zuhause, rief nur gelegentlich an. Zwar klang das jedes Mal wie ein Hilferuf. Doch zu einer Rückkehr ins elterliche Heim ließ sie sich nie bewegen.

Zwei Jahre später fand man sie in einem Abrisshaus. Tot durch Überdosis.

Auch Zernick trug schwer an dieser Last. Zumal er sich zum einen Vorwürfe machte als Vater versagt zu haben. Zum anderen kamen ihm erste Zweifel, die sich auf seinen langjährigen Handel mit dem tödlichen Stoff richteten.

Dessen ungeachtet drängte er den Riesenprofit stets vor Augen, dieses unangenehme Thema immer beiseite. Wobei ihm der Widersinn seines Handelns vollauf bewusst war.

Am frühen Vormittag erhielt Zernick einen Anruf auf einem seiner Handys. Dessen Rufnummer war nur wenigen bekannt. Kuragin teilte ihm mit, dass er sich unbedingt und sofort mit ihm treffen müsste.

In Erwartung des Russen stand Zernick an einem Fenster in seinem Büro. Unvermittelt spürte er eine innere Unruhe.

Warum nur wirkte Kuragin am Telefon so aufgeregt?

Zernick stützte sich auf die breite Fensterbank aus edlem Marmor und starrte hinab auf die Friedrichstraße.

Der Tag war der Jahreszeit entsprechend nasskalt, grau und windig. Woran auch die bunten Weihnachtsdekorationen, die sich über die Straßenschlucht schwangen nichts änderten.

Tausende Fußgänger drängten sich auf den Gehsteigen. Schier endlose Fahrzeugschlangen schoben sich in beiden Richtungen langsam durch die enge Magistrale.

Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich.

Knapp eine Stunde nach seinem Anruf betrat Kuragin das Büro. »Entschuldigen Sie bitte, Ralf, dass ich so überraschend über Sie hereinfalle!«, eröffnete der Russe das Gespräch, nachdem ihm Zernick einen Sessel angeboten hatte. Seinen modischen, mit einem feinen Pelzkragen geschmückten Ledermantel, warf er achtlos über einen Stuhl. Rasch, fast hektisch schaute er sich im Raum um, bevor er sich setzte. »Ich war aufgrund von jetzt eingetretenen Situation der festen Überzeugung, dass ich Ihnen meine neuesten Erkenntnisse sofort mitteilen muss.« Kuragin sprach mit gesenkter Stimme und zerrte eine Zigarettenschachtel aus seinem Jackett. »Denn ich bin mir jetzt ganz sicher darin zu wissen, wer die letzten Jahre unsere Geschäfte sabotiert hat!«

Zernick riss überrascht seine buschigen Augenbrauen hoch, beugte sich seinem Gegenüber über den Schreibtisch entgegen. »Wer zum Teufel ist es? Und wie haben Sie das endlich heraus bekommen?« stieß er erregt hervor.

Der Russe grinste übers breite Gesicht, brannte sich jedoch erst einmal eine Zigarette an. Das tat er, obwohl er wusste, wie sehr es Zernick störte, wenn man in seinem Büro rauchte. »Nun gut, der Reihe nach«, fuhr er schleppend fort und blies den Rauch zur Seite. »Vor drei Jahren nach dem ersten Vorfall habe ich meine Leute beauftragt, den Verursacher zu finden. Sie erinnern sich noch an unsere Vereinbarung? Sie können mir vertrauen mein lieber Ralf, dass es war schwierig! Wir dachten schon, dass wir an diese Kerle wohl nie herankommen. Sie entsinnen sich an Helmuth Steinckes Unfall? Der sich, wie Sie wissen, als ein Anschlag auf ihn entpuppte? Wobei im Grunde genommen alles auf uns gezielt hat! Das war ja auch immer meine Vermutung. Damals hat die Polizei ein Phantomfoto an die Presse gegeben. Das zeigte den Burschen, der Steincke ins Auto gefahren war.«

Zernick nickte zustimmend. Er registrierte aber gleichzeitig mit Erleichterung, dass Kuragin seine Zigarette soeben wieder ausdrückte.

»Wir haben unsere Kanäle zu den Tschetschenen genutzt. Was wir dabei herausbekamen, war aufschlussreich. Der gesuchte Typ, den man wenig später tot auf einer Müllhalde fand, war kein Russe oder Tschetschene. Sondern ein Serbe!« Nunmehr zeigte sich Zernick wiederum sehr überrascht. Unruhig rutschte er auf seinem Sessel herum, deutete dann auf Kuragin. »Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt, Alexej? Ich meine, wenn sie das schon so lange wissen?« stieß er entrüstet hervor, hieb mit der flachen Hand erregt auf den Tisch.

Der Russe zuckte jedoch nur lässig mit den Schultern. »Was hätte Ihnen das genutzt, da wir doch immer den Kopf der Bande haben wollten. Oder? Nur ein kleiner Fisch war das. Nicht mehr«, entgegnete er ungerührt und grinste verächtlich.

Zernick war versucht ihm sogleich eine scharfe Antwort zu geben. Doch etwas in Kuragins Worten hatte ihn aufhorchen lassen.

Das ist ja interessant, ging es ihm unvermittelt durch den Kopf, Unser russischer Partner bezeichnet die Gegenseite als »Bande«! Dabei sind wir doch ebenso gestrickt. Wir sind im Sinne des Gesetzes auch eine Bande von Kriminellen. Oder etwa nicht?

Er wischte seine flüchtige, selbstkritische Überlegung jedoch rasch beiseite. Mit hochgezogenen Brauen schaute er auf Kuragin und hüstelte.

Der nahm Zernicks beredten Blick als Aufforderung und spann daraufhin seinen Faden weiter. »Es hat dann doch eine ganze Weile gedauert. Ich meine, bis wir uns einen von den Serben schnappen konnten und ihn schließlich zum Reden brachten. Natürlich wussten wir schon so ungefähr, welche der serbischen Gruppen die hier in Berlin arbeiten uns an den Hals wollen. Wir mussten aber erst mal einen von den Typen fangen. Einen, der auch plaudern würde. Nun ja es ist uns gelungen! Wir wissen jetzt genau, dass diese Serbenbande für einen Deutschen arbeitet.«

Für Zernick sollten die Überraschungen wohl kein Ende nehmen. Ein Deutscher soll der Kopf jener Ganoven sein, die unsere Geschäfte sabotieren? Die Kuragins Leute getötet hatten? Zernick stockte fast der Atem. Denn irgendetwas bedeutete ihm, dass dies wohl nicht die letzte Überraschung für heute war.

Der Russe nickte vielsagend und setzte nochmals sein süffisantes Lächeln auf. »Dem besagten Deutschen. – Sagt man so? Ja? Also gut. Dem gehörte bis vor kurzem auch ein Bordell in Reinickendorf. Dort hatte er, soweit wir jetzt wissen, seine rechte Hand als Geschäftsführer eingesetzt. Einen Serben! Der soll aber von heute auf morgen verschwunden sein! Und der Deutsche hat den Puff kurze Zeit später wieder verkauft. Warum er das gemacht hat, konnte unser Gefangener nicht sagen.« Kuragin griff nach seiner Zigarettenpackung.

Der Blick seines deutschen Partners hielt ihn jedoch vom Rauchen ab.

Der Russe verdrehte stattdessen nur kurz die Augen und sprach weiter. »Seitdem hängen die Serben zumeist nur herum. Irgendwie passiert bei der Bande im Augenblick nicht sehr viel. Sie verdienen anscheinend auch kaum Geld. Das jedenfalls gab der Typ an, den wir auf dem Stuhl hatten. Doch auch diese Informationen scheinen zu stimmen. Denn gegen uns wurde wie Sie sicher bemerkt haben seit eben dieser Zeit nichts mehr unternommen!«

Zernick starrte schweigend einen Moment vor sich auf den Tisch. Daraufhin nickte er dem Russen wohlwollend zu. »Sehr gute Informationen sind das. Gute Arbeit, Alexej! Aber wer ist denn nun dieser ominöse Deutsche?«

Kuragin ließ die Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche verschwinden. »Also gut. Da bin ich mal gespannt mein lieber Ralf wie Ihr Personengedächtnis funktioniert. Denn der deutsche Chef der Serben ist anscheinend ein alter Kollege von Ihnen. Aus ihrer Zeit bei der Stasi, meine ich!«

Zernick schnappte nach Luft. »Einer von uns?«, stieß er hervor. Seine Verblüffung war offensichtlich. »Wie heißt er? Was hatte er für einen Dienstgrad?«

Zumindest den Namen des Betreffenden servierte ihm Kuragin sofort. Natürlich mit der Einschränkung, dass er nicht für einen Klarnamen bürgen könnte. »Er soll angeblich früher ein hohes Tier bei ihrem Ministerium in Berlin gewesen sein. Den Dienstgrad weiß ich leider nicht. Aber er heißt Römer!«

Zernick presste sich in den Sessel, seine Hände umklammerten die Armlehnen, er atmete heftig.

Wortlos starrte er ins Leere, sein Hirn jedoch arbeitete auf Hochtouren. Römer! Römer? Irgendetwas sagte ihm dieser Name. Gab es damals im Ministerium nicht diesen Oberst Römer? Der sollte mit irgendeiner Sondereinheit befasst gewesen sein. Und er war kahlköpfig gewesen! Zernick entspannte sich wieder, schaute fest auf Kuragin. »Habt ihr diesen Römer schon mal gesehen? Hat der vielleicht eine Glatze?«

Der Russe lachte laut auf. Mit einer bedeutsamen Geste legte er ein Foto vor Zernick auf den Tisch. »Das hier hat einer von meiner Truppe gemacht. Erst vorgestern. Als wir uns sicher waren, dass er der Boss von den Serben ist. Wir müssen nur noch heraus bekommen, wo er wohnt und wo er sein Büro hat. Es scheint jedenfalls so, dass er mit seinen Leuten nur übers Handy verkehrt. So, wie wir es auch machen. Aber irgendwo muss er ja seinen Firmensitz haben.«

Zernick starrte auf das Foto. Es zeigte einen kahlköpfigen Mann um die Fünfzig, groß, breit und füllig. Er stand neben einem dunklen BMW. Ja! Das konnte der frühere Oberst Römer sein. Der Mann, den er damals im Ministerium flüchtig kennengelernt hatte. Zernick bedankte sich bei Kuragin. »Wie ich schon sagte, Alexej, gute Arbeit! Ich glaube aber, dass wir uns parallel zu Ihren Aktivitäten gleichfalls mit Römer beschäftigen sollten.«

Der Russe schaute einen Augenblick recht überrascht. Dann stimmte er dem Ansinnen mit einem Nicken zu.

Sie besprachen bei einer Tasse Kaffee in Ruhe noch einige alltägliche, geschäftliche Vorgänge. Kuragin durfte sogar rauchen. Nachdem er sich verabschiedet und das Büro verlassen hatte, rief Zernick über die Sprechanlage Horst Weiler an. Er bat ihn zu sich.

Gemeinsame Reflexion

Nur wenige Minuten später betrat der dicke Weiler kurzatmig wie immer das Büro. Er ließ sich in einen der Besuchersessel vor dem Schreibtisch fallen. Hastig tupfte er sich den Schweiß von der Stirn und blinzelte seinen Geschäftspartner erwartungsvoll an. »Was gibt’s denn so Wichtiges, dass du mich zu dir zitieren musst?«

Zernicks Linke spielte mit dem Foto, das Kuragin ihm mitgebracht hatte. Nachdenklich starrte er einen langen Augenblick auf seinen Partner. Dann kam er rasch zur Sache. »Mein lieber Horst! Ich hatte soeben einen Besucher ganz außer der Reihe. Alexej!« Er bemerkte Weilers erwachendes Interesse, was ihm seinerseits ein Lächeln abrang. Denn ein Besuch des Russen außerhalb der festgelegten, geschäftlichen Termine war in der Tat außergewöhnlich. »Du erinnerst dich sicherlich daran, dass wir vor einigen Jahren Kuragin darum gebeten haben einen lästigen Mitbewerber ausfindig zu machen. Ich rede von den Typen, die damals ein paar von seinen Leuten umlegten und dann unseren Stoff klauten.«

Weiler nickte zustimmend. »Ich bin ja noch nicht debil, Ralf! Natürlich weiß ich das noch. Hat Kuragin diese Saubande endlich ausfindig gemacht? Wissen wir jetzt wer der Kopf »von’s Janze« ist?«

Sein Partner grinste und schob das Foto über den Tisch zu ihm hin.

Weiler nahm es auf und schaute es sich mit gerunzelter Stirn eine geraume Zeit an.

Zernick übte sich inzwischen in Geduld. Er beobachtete jedoch interessiert die Regungen im Gesicht seines Partners.

»Richtig! Ja, das könnte er wirklich sein!«, brach Weiler schließlich sein Schweigen. »Das ist oder besser gesagt das war Oberst Römer! Doch! Ich bin mir ganz sicher. Oberst Römer! Mit dem Arschloch bin ich im Ministerium mal gewaltig zusammengekracht. Obwohl er in Wahrheit auf mich losgegangen ist!«

Zernick zeigte sich von Weilers plötzlichen und emotionalen Bekundungen überrascht. Hatte er ihm gegenüber den Namen »Römer« doch gar nicht erwähnt. »Du kennst den Typ wirklich?« Zernick stieß ein Kichern aus. »Was gab’s denn damals so Wichtiges, dass sich die oberste Heeresführung mit dir angelegt hat?«

Bevor sich Weiler äußern konnte, klopfte es an der Tür. Die Sekretärin brachte ein Tablett mit Thermoskanne und Kaffeegeschirr herein. Auf Zernicks Wink hin stellte sie alles auf einer freien Ecke des Schreibtisches ab. Daraufhin verließ sie, mit dem von Kuragin gebrauchten Geschirr, sofort wieder den Raum.

Zernick goss Kaffee ein und schob wortlos eine der Tassen auf einer Untertasse zu Weiler hin über den Tisch.

Noch indem sie vorsichtig die ersten Schlucke des heißen, schwarzen Gebräus getrunken hatten, bequemte sich Weiler zu der von Zernick erwarteten Antwort. »Ich muss dafür leider etwas ausholen, Ralf! Einige ganz bestimmte Ereignisse von damals hingen wohl im Nachhinein betrachtet irgendwie mit Römer zusammen. Und auch mit dem, womit er befasst war. Wobei mir die Zusammenhänge auch heute noch nicht klar sind. Also, wenn ich mich recht entsinne, passierte es im Frühsommer Sechsundachtzig in Bara. In meinem Abschnitt in der Ukraine. Damals gab es auf der Baustelle einen merkwürdigen Unfall.« Da Zernick ihn an dieser Stelle seiner Erinnerungen unterbrechen wollte, hob Weiler besänftigend die Hand. »Bleib mal ganz ruhig, Ralf! Glaub’ mir bitte. Es ist notwendig, dass ich so weit ins Detail gehe. So viel Zeit solltest du wohl haben. OK?«

Zernick zuckte als Zustimmung nur mit den Schultern.

Weiler indes rührte in der Kaffeetasse, fuhr mit seinem Rückblick fort. »Ein Kollege, der bei einem Unfall auf dem Baufeld um ein Haar fast ums Leben kam, war einer unserer IMs. Der als Bauprojektant beim BMK gearbeitet hatte. Daher wurde dieses Vorkommnis plötzlich auch zu meiner Angelegenheit. Ich habe den IM zu dem Unfall im Krankenhaus befragt. Anfangs war er noch nicht völlig bei sich. Zudem hatte man ihn bandagiert wie eine altägyptische Mumie.« Weiler lächelte flüchtig und trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Dessen ungeachtet erzählte er mir eine ziemlich wirre Geschichte. Die mich aber sofort stutzig machte. Er faselte von einem manipulierten Fundament, das er zufällig entdeckt hätte. Von Sabotage sprach er und dass man ihn absichtlich mit einem Kran in diese Baugrube geschmissen habe.« Da Zernick seinen Partner an dieser Stelle doch sehr ungläubig anschaute, stieß Weiler ein trockenes Lachen aus. »Ja. Genauso blöd’ wie du daher schaust habe ich wohl damals auch geguckt. Darum jetzt alles noch mal im Detail. Also, der Mann behauptete mir gegenüber, dass er einen Bauleiter vom BMK und einen seiner Mitarbeiter bei Manipulationen an einem Verdichterfundament beobachtet habe. Nachdem die beiden ihn entdeckt hatten, stellten sie ihn zur Rede und bedrohten ihn. Am nächsten Morgen hätten sie ihn dann samt seinem Auto mit einem Kran in eine Baugrube geschmissen. Das ist mir alles im Gedächtnis geblieben und eines weiß ich auch noch. Der schien richtig Angst zu haben! Über die dienstliche Telefonleitung habe ich gleich Berlin informiert. Sofort bekam ich die Order den Mann umgehend von der Baustelle zu entfernen. Gemeint war der betroffene IM. Ich hab’ das Notwendige veranlasst, um ihn schleunigst in die Heimat ausfliegen zu lassen. Offiziell ließen wir auf dem Standort verlauten er wäre mit seinem Wagen zu nahe an eine Baugrube gefahren. Durch einen Hangabbruch leider hineingestürzt.«

Hier fiel ihm Zernick ins Wort. »Tolle Geschichte, Horst! Aber was hat das alles bitte schön mit Oberst Römer zu tun?«

Weiler trank mit sichtlichem Genuss seinen Kaffee aus, bevor er antwortete. »Das kommt jetzt. Ich sollte aber erst noch eines erwähnen. Dass ich mit dem ganzen Vorgang noch intensiver beschäftigt war, als es dir vielleicht erscheint. Ich habe, wie ich schon sagte die Rückführung des verunfallten Projektanten organisiert. Aber gemeinsam mit dem Verursacher des sogenannten Unfalls!«

Zernick stellte die Tasse hart auf dem Tisch ab und starrte seinen Partner verblüfft an. »Jetzt siehst du mich aber überrascht! Da komm’ ich nicht mehr ganz mit.«

Weiler nickte zustimmend. »Ja, das kann ich nachempfinden. Denn die Sache war schon ziemlich verrückt. Also. Der Projektant war quasi zur falschen Zeit am falschen Ort. Dabei beobachtete er den Führer einer konspirativ arbeitenden Gruppe des Ministeriums. Die war gerade bei der Durchführung ihrer geheimen Mission. Und er wollte das an die große Glocke hängen. Das musste der betreffende Genosse natürlich unbedingt verhindern! Der hieß, soweit ich mich noch erinnere – Bauerfeind. Dafür organisierten sie diesen »Unfall« den die Zielperson aber überlebte. Weil ich zwei Tage später sowieso nach Berlin fliegen musste, habe ich die weitere Information zu dem Vorgang übernommen. Im Ministerium bin ich bei einem Oberst Führmann vorstellig geworden. Den hatte mir der Bauerfeind als seinen Vorgesetzten benannt. Dem habe ich alles übermittelt und der hat gesagt, dass sie das Notwendige veranlassen würden. Damit schien für mich die Sache erledigt zu sein.«

Zernick schüttelte verwundert den Kopf. Verkniffen starrte er seinen Partner an. »Hast du eigentlich mal mitbekommen, was diese »Gruppe« auf deiner Baustelle konkret gemacht hat?«

»Nee, natürlich nicht! Das war »topsecret«. Hatte mich daher gar nicht zu interessieren!«

»In Ordnung! Kenn’ ich ja auch noch, wie man damit umgehen musste. Na gut, das war eine interessante Geschichte. Aber was hat das nun mit unserem Oberst Römer zu tun?«

Weiler griff zur Thermoskanne und goss sich in seine Tasse frischen Kaffee nach. Dann nickte er gelassen, um schließlich Zernicks Frage zu beantworten. »Nun recht viel! Weil nämlich einige Zeit später etwas Seltsames passierte, entstand plötzlich der Bezug zu Römer. Das war, als ich ein paar Monate drauf zu unserem nächsten Rapport im Ministerium angetreten bin. Du hattest dich, wenn ich mich noch richtig erinnere, fast einen halben Tag wegen dichten Nebels in Ustinov verspätet. Der Beginn der Beratung wurde verschoben, bis du eingetroffen warst.«

Zernick verdrehte genervt die Augen. »Horst!«

Weiler winkte ab. »Ich latsche also durchs Ministerium. Und da quatschte mich auf dem Flur so ein großer, breiter Glatzkopf an. Der baute sich vor mir auf und fragte mich ganz zackig, ob ich Major Weiler wäre. Als ich das unumwunden zugebe, nennt er mir seinen Dienstgrad und seinen Namen. Dann hat er mich in ein leeres Zimmer zitiert, um mich dort rund wie ’n Buslenker zu machen! Mann, ich wusste zuerst gar nicht, was der Kerl eigentlich von mir wollte. Doch er hat ganz schnell die Hosen runtergelassen. Wegen meiner Vernehmung von einem »angeblichen Unfallopfer« in Bara könnte er mir eine saftige Disziplinarmaßnahme reinwürgen, schrie er. Und wer mich eigentlich dazu autorisiert hätte, die Informationen von Hauptmann Bauerfeind an Oberst Führmann zu übermitteln? Der Vorgang dort draußen stände unter höchster Geheimhaltungsstufe, tobte er los. Ich sollte es zukünftig nicht noch einmal wagen an diese Sache auch nur zu denken!

Erst in dem Augenblick habe ich mich an die ganze Chose mit dem abgestürzten IM wieder erinnert! Denn der aufgeblasene Typ mein lieber Ralf war die Glatze. Der Oberst Römer!« Weiler atmete tief durch und klopfte mit dem Finger auf das Foto, das vor ihm auf dem Tisch lag.

Zernick indes starrte mit leerem Blick auf seinen Partner.

Der wartete geduldig ab bis Zernick, nachdem er sich geräuspert hatte, endlich die Sprache wiederfand.

»Mensch Horst, das ist ein Ding wie ’n Ei!«, stöhnte er und schlug mit seiner Faust heftig in die hohle Hand. »Jetzt sind mir eben ein paar Sachverhalte klar geworden, mit denen ich in all den Jahren nichts anfangen konnte. Ich glaube, dass es nun langsam ein Bild ergibt. Also hör zu! Es muss so um die Faschingszeit herum gewesen sein. Sechsundachtzig in Prokowski. Damals fing mich abends im Speisesaal ein Meister vom Transport ab. Ganz aufgeregt bat er mich um ein Gespräch. Wenig später ist er auch wirklich in meinem Büro aufgeschlagen, wohin ich ihn gebeten hatte. Leider hab‘ ich dann wohl einen Fehler gemacht. Denn ich nahm ihn nicht für voll, weil der schon angesoffen war. Ich hab ihn mir sogar eine Zeit lang angehört, obwohl alles recht wirr klang. Was er so rüberbrachte, meine ich. Um die ganze Sache abzukürzen, habe ich ihm dann angeboten, dass wir am nächsten Tag noch mal miteinander reden. Wenn er wieder nüchtern ist! Dann hab’ ich ihn ins Bett geschickt. Am Tag drauf musste ich aber dringend nach Karamorka fahren. Erst zwei Tage später bin ich zurückgekommen. Soweit ich mich erinnere, sollte ich darum so eilig nach Prokowski zurückkommen, weil sich dort ein junger Kerl vom LT erhängt hatte. Ich hoffte auch, dass mir der Transportmensch wieder über den Weg läuft. Dann würde er mir sicherlich alles, was er im Suff gequatscht hatte, noch mal im nüchternen Zustand erzählen. Doch an eben diesem Wochenende verschwand der Mann spurlos. Erst im Frühjahr fand man seine Leiche unten im Stausee.« Zernick hielt einen Moment inne und schüttelte den Kopf. »Aber zu dieser Zeit hatte ich genug um die Ohren. Weil er zudem angeblich beim Eisangeln ertrunken war, wie uns die Miliz mitteilte, habe ich mich auch nicht mit dem Vorgang befasst. Und, weil auch keiner eine Untersuchung angestrebt hat, geriet bald alles in Vergessenheit.«

Weiler, der sich Zernicks Erzählung bis hierhin mit Interesse angehört hatte, schaute nunmehr sehr überrascht drein. »Mann, das ist ja noch so ’ne Räuberpistole! Was aber in Dreiteufelsnamen hat der Kerl dir denn eigentlich erzählt?«

Zernick legte die gefalteten Hände vor sich auf den Schreibtisch. Er fixierte den Partner mit einem scharfen Blick, seine Antwort kam etwas stockend. »Es war eigentlich nicht viel, – was er bei mir ausgeplaudert hat«, sagte er und schluckte heftig. »Er wäre Mitglied in einer bestimmten – Gruppe, die irgendwas in einem der Verdichterfundamente eingebaut habe. Man hätte ihnen erzählt, dass dieses Teil, – das sie da eingemauert haben – eine vor den Sowjets geheim zu haltende, neuartige Messanlage wäre. Bei einer Sauferei musste er aber von seinem Gruppenführer hören, dass es was ganz anderes ist! Seine Kenntnis darüber würde nun sein Gewissen gewaltig belasten. Zumal er ja dem MfS gegenüber bestimmte Verpflichtungen eingegangen wäre! Und ich sollte ihm da unbedingt raushelfen. Das so ungefähr – hat er gesagt! Zumindest habe ich das so verstanden und auch noch in Erinnerung.«

Weiler setzte zu einer weiteren Frage an.

Zernick hob jedoch abwehrend die Hand, um sogleich fortzufahren. »Nein, nein, den Namen des Genossen, der die Aktion führte, hatte er mir nicht genannt. Auch keine weiteren Einzelheiten. Ich musste aber davon ausgehen, dass der Gruppenleiter – ein OibE gewesen ist.«

Eine geraume Zeit herrschte Stille im Raum.

Zernick massierte angelegentlich sein Kinn.

Weiler hingegen starrte in seine leere Kaffeetasse. Bis er sich schließlich leise räusperte. »Gerade eben ist mir etwas klar geworden, Ralf. Nämlich warum du vorhin, als ich den Begriff »Verdichterfundament« im Zusammenhang mit den Worten »Unfall und Oberst Römer« erwähnt habe, so seltsam geguckt hast!«

Heftig mit dem Kopf nickend bezeugte Zernick seine Zustimmung. »Stimmt, Horst! Da hat’s bei mir geklingelt. Ich bekam nämlich damals im Ministerium etwas von einem Gerücht mit. Es gäbe auch an der Erdgastrasse geheime Aktivitäten, hieß es. Die das Vorhaben zusätzlich sichern sollen. Es verlauteten zwar nur einige, recht verschwommene Hinweise. Aber du weißt ja, wie es damals war. Solche Dinge gingen uns in keinerlei Hinsicht etwas an. Denn sie gehörten schließlich nicht in unseren Aufgabenbereich. Zudem stammte Derartiges zumeist aus dem Bereich der Scheißhausparolen. Doch dieser Oberst Römer der könnte damit irgendwas zu schaffen gehabt haben! Mir gegenüber hat er’s ja irgendwie indirekt bestätigt. Bei unserem Zusammentreffen. Oder wie siehst du das?«

Weiler hob die Hand solcherart, wie sich ein Schüler melden würde. »Verdammt! Es war nicht nur dieser Oberst Römer. Denk’ doch mal nach, Ralf! Dein verschwundener Transportmensch und mein verunglückter Bauprojektant, die hatten was Gemeinsames. Sie berichteten uns von einer geheimen Manipulation an Verdichterfundamenten. Die von bestimmten Gruppierungen des MfS vorgenommen worden. Und beiden ist in diesem Zusammenhang etwas widerfahren! Es liegt doch wohl eines ziemlich nahe. Zumindest in der Ukraine und im Ural wurde irgendwas »Verdecktes« veranstaltet. Vielleicht gab’s das auch möglicherweise im Moskauer Abschnitt?«

Zernick zuckte ratlos die Achseln. Dann jedoch grinste er breit und hüstelte. »Ich kann dir dabei nur zustimmen, Horst! Wobei vieles möglich wäre. Denn die Umstände, die zum Tode meines »Transportmenschen« geführt haben wurden nie geklärt. Offiziell hatte der wohl irgendwelche Weibergeschichten. Zudem ist er wie ich vorhin schon sagte beim Eisangeln ertrunken. Doch das lassen wir mal dahingestellt sein. Denn ich glaube, es gibt noch mehr Querverbindungen in dem ganzen Scheiß!«

Weiler merkte überrascht auf. »Was konkret meinst du damit?«

»Nun ja. Vorhin hast du einen Oberst Führmann erwähnt. Dem du persönlich die Informationen wegen des Unfalls in der Ukraine überbracht hast. Ist das richtig?«

Weiler nickte zustimmend. »Ja! Aber wie kommst du jetzt auf den?«

»Nun ja, weil mir der Fatzke mal im Ministerium vor die Flinte gelaufen ist«, entgegnete Zernick und stieß ein heiseres Lachen aus. »Wir drei mussten zum Rapport antreten. Und danach auf dem Weg zur Kantine traf ich einen Bauleiter aus Prokowski. Einem meine Standorte im Ural. Den Mann kannte ich zwar, die Situation erschien mir jedoch recht ungewöhnlich. Ich weiß noch, dass der richtiggehend erschrocken war, als wir uns so plötzlich gegenüberstanden. Der Bursche hieß – Bruhns, – ja Bruhns hieß der. Er wollte wohl soeben in ein bestimmtes Büro hineingehen. Ich war natürlich sehr überrascht, bei uns im Ministerium auf einen Bauleiter aus meinem Abschnitt zu treffen. Zudem ich von dem bis dahin nicht einmal wusste, dass er überhaupt zur Firma gehört. Aber in der Regel waren uns ja gar nicht alle unsere Leute auf dem Bauabschnitt bekannt. Oder?« Zernick wartete Weilers Bestätigung auf seine Frage nicht ab. »Ich hab’ ihn damals gleich gefragt, was er denn hier täte. Da hat er nur herumgedruckst, etwas von einem Rapport gemurmelt. In dem Augenblick kam so ein großer Schwarzhaariger in Zivil dazu. Der klopfte dem Bruhns ganz jovial auf die Schulter. Mich aber starrte er beim Weitergehen ganz scharf und misstrauisch an. »Ich komme sofort, Genosse Oberst!«, rief da plötzlich der Bruhns und nahm sogar Haltung an. Dann guckte er mich nochmal kurz an, zuckte mit den Schultern und latschte dem Kerl in das Büro hinterher.« Zernick lachte, trank rasch seinen Kaffee aus. »Ich hab’ mich auch gleich im Nebenzimmer erkundigt, weil ich neugierig geworden war. Seitdem weiß ich, wer der Kerl damals war, der mich so scharf fixierte. Es war ein gewisser Oberst Führmann!« Zernick ergriff die Thermoskanne und goss sich vorsichtig noch einen Kaffee ein.

Weiler winkte auf seinen fragenden Blick hin jedoch ab. Er erhob sich stöhnend und ging mit steifen Knien zum Fenster. »Natürlich sollten wir in unseren Bauabschnitten über alles Bescheid wissen. Das hieß doch aber nicht, dass wir jeden kennen durften, der zur Firma gehörte. Ich wollte auch gar nicht nachvollziehen, Ralf, wie viele Leute für das Ministerium noch an der Trasse im Einsatz waren. Mal abgesehen von den kleinen IMs und uns drei Nasen,«, sagte Weiler mit einem bedauernden Unterton, wobei er nachdenklich aus dem Fenster starrte.

Zernick drehte überrascht den Kopf zu ihm hin. »Darum ging’s mir gar nicht, Horst!«, entgegnete er und sortierte in einem unerwarteten Beschäftigungsdrang das restliche Kaffeegeschirr auf das Tablett. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich damals bei diesem blöden Zusammentreffen mit dem Bruhns auch erstmals diesen Oberst Führmann gesehen habe. Das war aber nur das eine. Zum anderen bestätigte mir aber gerade diese unerwartete Konfrontation mit dem Bruhns im Ministerium meine Vermutung. Nämlich, dass eben dieser Transportmeister, der dann ersoffen ist, dass der mir keinen Quatsch erzählt hatte! Obwohl er ziemlich im Tee war.« Zernick knetete sein Kinn. »Klingt vielleicht blöd, was ich jetzt behaupte. Nämlich, dass ich damals schon hätte wissen müssen, dass Bruhns der Leiter dieser ominösen Gruppe gewesen ist. Die dort angeblich an den Fundamenten herummachte, meine ich. Denn spätestens, seitdem wir uns auf dem Flur in die Arme liefen, war es klar. Der Bruhns gehörte zu irgendeiner geheimen Abteilung des Ministeriums. Was sonst hätte er dort bei Führmann zu schaffen gehabt?«

Weiler wiegte den Kopf hin und her. Dann verkniff er das Gesicht zu einem skeptischen Ausdruck. »Klingt ja alles ganz gut, Ralf! Es könnte auch irgendwie zusammenpassen. Andererseits sind das aber im Grunde genommen nur Hirngespinste. Reine Spekulationen für die wir keinerlei Beweise haben!«

Auf Weilers Worte hin sprang Zernick aus seinem Sessel auf. Er marschierte zum Fenster, wo er sich neben seinem Partner gegen die Fensterbank lehnte. Hastig verschränkte er die Arme vor der Brust. Mit einem scharfen Blick, aus seinen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen, fixierte er Weiler von der Seite her. »So. Du denkst also, das wären alles nur haltlose Spekulationen?«, fragte er im strengen Tonfall. Er hob die buschigen Augenbrauen und kniff wütend die Lippen zusammen.

Weiler zog ein bisschen den Kopf ein und schwieg.

Worauf hin Zernick nunmehr etwas entspannter mit rauer Stimme fortfuhr. »Dann solltest du jetzt mal gut zuhören, mein lieber Horst! Denn meine Geschichte von vorhin ist noch nicht zu Ende!« Er stopfte seine Hände in die Hosentaschen und senkte den Kopf etwas nach vorn. Dann begann er, vor der langen Fensterfront langsam aber mit betont festen Schritten auf und ab zu gehen. »Entschuldige den – Zeitsprung, aber ich will dich an einen bestimmten Vorgang erinnern, der sich vor gut eineinhalb Jahren zugetragen hat. Wir hatten damals einen jungen Mitarbeiter verloren! Er war ganz offiziell als Personenschutz für einen Kunden eingesetzt, kam jedoch von seinem Einsatz nicht zurück! Erinnerst du dich?«

Weiler nickte beflissentlich, denn auch ihm gab jener Vorfall immer noch ein Rätsel auf. »Das war doch der junge Bursche, der mit einem unserer Kunden nach Paris fliegen sollte. Und, den man später im Atlantik gefunden hat?«, pflichtete er Zernick bei.

Der verhielt für einen Moment den Schritt und nickte zur Bestätigung.

Woraufhin sich Weiler bemüßigt fühlte, noch weitere Fakten preiszugeben. »War da nicht irgendwas mit einer Bargeldzahlung? Der Mutter des Toten haben wir eine sehr gute Entschädigung und auch das Begräbnis gezahlt. Ja, ja, das weiß ich noch!«

Zernick schüttelte daraufhin heftig den Kopf. Er lachte laut auf und seine Entgegnung klang recht bissig. »Horst Weiler, du verdammter Kopekenkacker! Mann! Ich will hier nicht von unseren Kosten reden, sondern von den Problemen, die uns diese Angelegenheit einbrachte!« Er nahm die Hand aus der Tasche und deutete auf seinen Partner. »Da standen doch plötzlich die Herren vom BKA in meinem Büro und zeigten mir ein fürchterliches Leichenfoto. Ich erkannte darauf unseren Mitarbeiter. Du weißt ja hoffentlich noch, wie ich denen damals bestätigt habe, dass der Kunde im Voraus in bar bezahlt hat. Und auch, dass er erst einige Tage später mit dem Personenschützer nach Paris geflogen ist.«

Weiler hob beschwichtigend die Arme und verdrehte genervt die Augen. »Ralf! Lass’ es gut sein. Das weiß ich doch noch. Wieso glaubst du, ich hätte mein Gehirn beim Pförtner abgegeben? Aber was hat das denn alles mit den Typen von damals zu tun?«

Zernick kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. Er ließ sich in den Drehsessel fallen und starrte einige Augenblicke vor sich hin. »Verzeihung! Ich wollte nur noch mal ein paar Hintergründe beleuchten, mein lieber Horst. Doch du solltest wissen, dass ich den Bullen nicht alles gesagt habe. Auch dir nicht, mein Lieber! Der Kunde, der damals hier in meinem Büro erschien, war nämlich kein Unbekannter. Der Mann, der einen unserer Personenschützer mieten wollte und der mir gleich ein Kuvert mit Bargeld auf den Tisch legte, der – der war der frühere Oberst Führmann!«

»Oh Scheiße!«, rief Weiler dazwischen und klatschte in die Hände. »Wie das denn? Ist der etwa mit Absicht bei uns aufgetaucht?«

Zernick stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Nee, nee! Es war wohl eher eine Art Fügung. Denn ich glaube, dass er zufällig auf unsere Firma gestoßen ist. Führmann hatte sich damals mit dem schönen französischen Namen »Fuhran« bei mir vorstellte. Er benötigte angeblich für irgendeine Sache, die er in Paris vorhatte, einen Personenschützer. Er habe unser Unternehmen in den »Gelben Seiten« gefunden. So jedenfalls sagte er es mir damals.« Zernick trank aus einer Tasse und verzog das Gesicht. »Schitt! Schon kalt!« Er schüttelte den Kopf. »Da stürmte dieser Typ also völlig unangemeldet hier herein und wir beide haben uns sofort wiedererkannt! Natürlich gab das keiner von uns zu! Wir spielten einfach »Unbekannt bis heute«. Ich bestätigte ihm den Auftrag mündlich. Er legte das Geld hier auf den Tisch, dann gab er mir einen Zettel mit seiner Telefonnummer drauf und verschwand. Als er weg war, da habe ich die Rufnummer sofort gecheckt. Denn nicht mal eine Visitenkarte hatte er hier gelassen. Darum suchte ich seine Firma im Internet, wo ich sie auch gleich gefunden habe. Sie nannte sich »Blue Invest«. Angeblich beschäftigten sie sich witzigerweise geschäftlich mit Erdgasfirmen in Russland. Nebenbei gesagt konnte man dort im Impressum auch Führmanns neuen, falschen Namen lesen.«

Weiler hatte die Fensterbank verlassen, sich wieder an den Tisch gesetzt. Ungerührt trank er seinen kalten Kaffee aus. Er wartete auf weitere Ansagen von Zernick.

»Ja! Rainer Führmann war zu René’ Fuhran geworden. Nun ja, als dann unser junger Mitarbeiter nicht zurückkam und auch der Herr Fuhran seine restlichen Schulden nicht zahlte habe ich natürlich weiter recherchiert. Ich bin zu der Firmenadresse gefahren, wo aber inzwischen eine andere Firma eingemietet war. Und ich suchte im Internet, bei der IHK, dem Amtsgericht und der Wirtschaftsauskunft nach ihnen. Doch die »Blue Invest« blieb verschwunden. Aber ich konnte ihr einziges Subunternehmen finden. Das nannte sich WELA GmbH.«

Horst Weiler schaute jetzt doch etwas irritiert auf seinen Partner. Wohl aufgrund der Fülle an Informationen, die ihm soeben entsprudelten.

»Jawohl, mein lieber Horst! Ich habe noch etwas«, sagte Zernick, indem er sich den letzten Schluck Kaffee aus der Kanne eingoss. »Bei dieser Recherche habe ich eine weitere, sehr interessante Information erhalten. Der Geschäftsführer dieses Subunternehmens, eben dieser »WELA GmbH«, war laut Impressum ein gewisser - Kolja Braun. Eigentlich ganz witzig, diese Namenswandlung! Hatte man damals etwa die Befürchtung, dass sich der Genosse Bruhns einen etwas schwierigeren Neunamen nicht merken kann?«

An dieser Stelle wurde Zernick von Weiler unterbrochen. »Was ist daran denn so witzig?«

Zernick drehte sich seinem Partner zu und breitete in einer etwas theatralischen Geste die Arme aus. »Horst, mein verehrter Freund und Genosse! Ich habe dir doch soeben alle Fakten erklärt. Mein Zusammentreffen mit Michael Bruhns. Damals Bauleiter im Ural und vermutlich der Leiter dieser ominösen Gruppe. Wegen ihm bin ich auch diesem Oberst Führmann im Ministerium begegnet. Mann! Der Bruhns trug auf der Baustelle den Spitznamen »Kolja«! Verstehst du’s jetzt?«

Inzwischen hatte es Weiler endlich begriffen. »Ist ja gut!«, rief er aus. »Ich hab’s geschnallt! Aus Michael also Kolja Bruhns wurde Kolja Braun. Und aus Rainer Führmann wurde René Fuhran.«

Zernick nickte erfreut. »Blitzmerker! Probleme machen mir jedoch noch die Antworten auf einige der noch offenen Fragen. Erstens: Zu welchem Zweck haben Fuhran und Braun schon vor dem Zeitpunkt der sogenannten Wende ihre Firmen im damaligen Westberlin gegründet? Denn die Gründungsdaten von Ende Neunundachtzig stehen nämlich im Handelsregister. Zweitens: Was haben sie mit und in den beiden Unternehmen fast vierzehn Jahre lang gemacht? Wovon konnten sie überhaupt existieren? Denn der Firmensitz am Kudamm war sicherlich auch kein Schnäppchen!« Zernick sprang aus seinem Sessel, nahm seine Wanderung entlang der Fensterfront wieder auf.

Weiler schaute ihm vorerst wortlos vom Tisch aus dabei zu.

»Drittens!«, dozierte Zernick. »Es interessiert mich brennend, warum Führmann unbedingt nach Paris fliegen musste und von dort nicht mehr zurückgekommen ist. Wieso ist unser Mitarbeiter damals auch verschwunden? Letztendlich frage ich mich auch, weshalb sich anschließend diese »Blue Invest« so schnell in Luft aufgelöst hat.« Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, ließ sich wieder in den Sessel fallen.

Weiler hob die Hand wie ein Pennäler und deutete dann mit dem Zeigefinger auf seinen Partner. »Habe ich das richtig verstanden, Ralf? Aufgelöst wurde nur diese Firma am Kudamm? Aber was passierte denn mit dieser, – wie heißt sie denn noch mal, – dieser »WELA GmbH«?«, fragte er aufgeregt. Er sprang sogar zu Zernicks Verblüffung aus seinem Sessel auf.

Denn aus der Erfahrung heraus wusste sein Partner eines mit Bestimmtheit. Wenn Weiler erst einmal saß, dann saß er!

Jetzt jedoch nahm er Zernicks Platz am Fenster ein. Er stützte sich mit den Händen auf dem Fensterbrett auf. Von da aus warf er einen langen Blick hinaus in den düsteren Nachmittag. »Wirklich, ein Scheiß-Wetter da draußen. Gott oh Gott! In ein paar Tagen ist Weihnachten!«, bemerkte er über die Schulter hinweg. Was zu Zernicks Überraschung völlig unpassend zu ihrem Gesprächsthema war. Langsam drehte er sich zu seinem Partner herum.

Der schüttelte, wegen Weilers sprunghafter Reaktion, nachsichtig den Kopf. Um ihm schließlich die erwartete Auskunft zu geben. »Dass, mein lieber Horst ist, eben das Unverständliche. Die Firma von Bruhns existiert immer noch. Zumindest bestand sie noch im letzten Herbst. So jedenfalls ist es mein Kenntnisstand.«

Weilers Gesicht hellte sich nach dieser Aussage auf.

Da er wieder zu einem Einwurf ansetzte, wehrte Zernick diese sogleich mit einer harschen Handbewegung ab. »Mach’ dir keine Hoffnungen! Ich weiß zwar, dass diese Firma ihren Sitz in Wilmersdorf hat. Aber das ist im Prinzip nur ein simpler Briefkasten. Ich war dort, habe mit dem Hausverwalter gesprochen und der hat’s mir bestätigt. Mehr hat der Blödmann aber auch nicht gucken lassen. Außer, dass sie ihre Miete immer pünktlich zahlen. Für mehr Informationen hätte er wohl einen großen Schein verlangt. Aber für solchen Scheiß bin ich nicht zu haben.«

Weiler hob mit einer enttäuschten Geste die Hände. »Schade. Aber wer konnte denn auch wissen, dass wir so plötzlich mit den ollen Kamellen konfrontiert werden?« Er kratzte sich am Kopf und blickte ein Weilchen grübelnd vor sich hin. »Ralf!«, sagte er plötzlich. »Ich glaube, wir sollten mal unsere bisherigen Kenntnisse und die noch offenen Fragen miteinander abgleichen«,

Auch Zernick, der ihn gewähren ließ, schien in diese Richtung überlegt zu haben. »In Ordnung! Ich höre dir zu«, entgegnete er.

»Was hat Führmann und Bruhns veranlasst«, fabulierte Weiler, »sich eine neue Identität zu geben? Zwei Firmen im damaligen Westberlin zu gründen und diese nach der Wende über so viele Jahre hinweg zu betreiben? Wer hat die dafür notwendigen, sicherlich nicht unerheblichen finanziellen Mittel bereitgestellt? Was wurde schon zu DDR-Zeiten auf mindestens zwei Bauabschnitten der Erdgastrasse in einige Verdichterfundamente eingebaut? War das etwa so geheim und wichtig, dass man dafür den Tod von wenigstens zwei Menschen in Kauf genommen hat?«

Zernick bekundete seine Zustimmung. »Wenn man eins und eins zusammenzählt, könnte sich sogar eine Antwort ergeben. Ich möchte das Mal alles von meiner Sicht aus interpretieren, wenn du gestattest. Ja?«

Weiler nickte. »Nur frei weg! Ich höre zu.«

Zernick begann nach einem Augenblick der Sammlung, seine Überlegungen zu artikulieren. »Aus Gründen, die ich noch nicht kenne, hat man bereits bei der Errichtung der Verdichterstationen in einigen Fundamenten etwas eingebaut. Das legen jedenfalls die unabhängigen Aussagen von zwei der ehemaligen Beteiligten nahe. Dieses Vorhaben unterlag wohl höchster Geheimhaltung. Jeder Unbefugte, der davon Kenntnis erhielt, geriet anscheinend in Gefahr. Mir fällt bei der Frage, was die damals eingebaut haben nur eines ein.« Er hielt für einen Moment inne und starrte auf Weiler. »Sprengsätze! Das klingt vielleicht etwas spekulativ, doch alles andere ergibt keinen Sinn. Zumal es jede Menge Hinweise darauf gibt, dass dieses Vorhaben auch heute noch aktuell ist. Denn wozu hätte man sonst die beiden Firmen benötigt? Nun ich meine, dass damit vielleicht sogar der Zweck des Ganzen definiert werden könnte. Haben die damals, um den großen Bruder gegebenenfalls unter Druck setzen zu können, einen nachhaltigen Knall für den Bedarfsfall vorbereitet?«

Lange herrschte nachdenkliches Schweigen im Raum.

Schließlich unterbreitete Weiler einen Vorschlag. »Wir werden erst einmal abwarten, bis Kuragin in Bezug auf Oberst Römer neue Erkenntnisse bringt. Dann wäre es gut, wenn er eventuell auch den Bruhns aufstöbern würde. Oder wie er jetzt wohl heißt, Kolja Braun. Du, mein lieber Ralf, müsstest Kuragin daher zu dessen Person baldigst im notwendigen Rahmen, wie man heute so schön neudeutsch sagt »briefen«! Wenn er ihn dann gefunden hat, sollte er ihn gleich in die Mangel nehmen. Das Ziel ist möglichst viel über ihn selbst über Führmann und besonders über deren ominösen Firmen in Erfahrung zu bringen. Gehst du dabei mit mir mit?«

Zernick stimmte den Vorschlägen seines Partners in allen Punkten zu.

Anschließend verließ Weiler steifbeinig aber raschen Schrittes das Büro, da er dringendst auf die Toilette musste.



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