Читать книгу Das undenkbare Universum: Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt - Thomas Hohn - Страница 6
ОглавлениеErfurt, Frühjahr 1272
Das Leben ist ein beständiges Geheimnis. Wir leben es so dahin, atmen, lachen, weinen, tanzen und lieben, und wie selten sind wir uns bewusst, dass wir ein Wunder erleben. Von Zeit zu Zeit streift uns ein Gedanke, so fein wie ein Schmetterlingshauch, und trägt uns das Geheimnis dieses Wunders offen ans Tageslicht. Wenn ein solcher Gedanke erst einmal einen Menschen berührt, dieser in seinem Bewusstsein erdacht und erfühlt wird, dann ist er in der Lage, die ganze Welt zu verändern. Keiner weiß, woher diese Gedanken kommen und wohin sie gehen. Sie begegnen uns von Zeit zu Zeit, sind aber scheuen Geistern gleich und lassen sich nur schwerlich finden. Sie sind wie Schätze, die sich verbergen, umso mehr wir uns aufmachen, nach ihnen zu suchen.
Einst war ein junger Mann auf der Suche nach genau solch einem Gedanken. Sein Name war Eckhart. Als er damals, gerade zwölf Jahre alt, vor dem Klostertor in Erfurt stand, die starke Hand seines Vaters auf den Schultern, ahnte er von alledem noch nichts.
Es hatte gerade zu regnen begonnen. Dicke Tropfen fielen aus der Wolkendecke und tanzten auf der Straße. Der Wind pfiff durch die Gassen und zerrte an ihren Überhängen aus Wolle. Eckharts Vater klopfte noch einmal gegen die große Eichentür, die in der Mauer eingelassen war. Auf dem nassen Holz war das Bild eines Hundes zu erkennen, der eine Fackel im Maul trug – das Zeichen der Dominikaner. Eckharts Beine schlotterten und er wäre am liebsten geflohen, flinker als ein gejagtes Wiesel. Zurück über den Platz mit den beiden mächtigen Kirchen Sankt Severi und Sankt Marien, weiter am Petersberg entlang zum Lauentor, hinaus auf die Via Regia, die Königsstraße.
Von dort waren sie gekommen.
Noch am Morgen hatte alles anders ausgesehen. Sein Heimatort lag einen strammen Tagesmarsch entfernt von der wachsenden Stadt, die Eckhart so verheißungsvoll erschienen war, ein wahrhaftiges Zentrum der Bildung und des Wissens. Sie hatten den ganzen Weg über die bedeutsame Handelstrasse zurückgelegt, Eckhart hatte die wogenden Färberwaidfelder bewundert, die sich in einem leuchtenden Gelb von dem stahlblauen Regenhimmel abhoben. Wie ein Wellenmeer verneigten sich die Sträucher unter dem aufkommenden Wind, ein Wind, der den Duft nach Regen bereits mit sich trug. Sein Vater hatte ihm noch erklärt, dass diese unscheinbare Pflanze, welche die Gelehrten Isatis tinctoria nannten, ein wundervolles Indigoblau zaubern konnte und den Wohlstand der Stadt Erfurt mitbegründete. Und dann hatte er die eindrucksvolle Stadtmauer mit den wehrhaften Türmen gesehen, die Hütten, Häuser und Kirchen, die sich bereits vor den Stadtmauern ausbreiteten. Dass sein Vater meinte, Erfurt floriere derart, dass sie bald eine neue Stadtmauer ziehen müssten, hatte er kaum noch gehört. Er war zu nervös gewesen. Zum ersten Mal waren ihm Zweifel gekommen. Wollte er tatsächlich weg von zu Hause? Für immer? Sie waren an der eingerüsteten Severikirche vorbei gekommen, die gerade renoviert und ausgebessert wurde. Spätestens hier war ihm ernsthaft übel geworden.
Nun stand er hier. Vor der Klosterpforte. Nein. Doch lieber nicht. Er wollte nicht mehr hinter diese Tür. Nicht in dieses Kloster. Nicht weg von dem vertrauten Feuer und Heim. Es hatte sich am Anfang so gut angehört. Richtig Lesen und Schreiben lernen, Bücher studieren und ferne Welten erforschen. Und Antworten finden. Wie oft war er mit seinem beharrlichen Nachfragen an den Punkt gekommen, dass seine Familie die Augen verdrehte, resigniert aufgab. Es gäbe Dinge, die müsse er einfach glauben. So hieß es.
Glauben. Als ob das eine Antwort wäre. Er wollte Gewissheit.
Gewissheit auf die Frage nach dem Warum. Es musste doch eine Antwort geben, die erklärte, warum wir lebten. Was war der Sinn hinter allem? Er mochte jung sein, zugegeben. Doch diese Frage brannte in ihm, seitdem er denken konnte, und wurde unbeantwortet immer mehr zu einer glühenden Eisenkugel in seinem Inneren. Er konnte sie nicht ignorieren oder ausspucken. Er wollte die Antwort wissen. Er musste. Unbedingt. Es war wichtiger als der nächste Atemzug.
Hier vor dem Klostertor des Dominikanerordens in der großen Stadt Erfurt war er sich allerdings mit einem Mal sicher. Diese Antworten konnte er auch zu Hause finden. Wenn er ins Kloster ginge, wann würde er dann seine Familie wiedersehen, wann die Wärme der mütterlichen Umarmung fühlen, wann die vertrauten Gerüche von Heu und Pferden atmen?
Doch es war zu spät.
Innen bewegte sich bereits etwas. Ein Sichtfenster in dem Tor öffnete sich mit einem jämmerlichen Quietschen. Eckhart sah nicht viel mehr als eine übergroße Nase und zwei mürrische Augen. Das war kein Mönch, das war ein Raubvogel.
»Was ist Euer Begehr?«, schnarrte es.
»Ich bin Ritter von Hochheim«, erwiderte sein Vater befehlsgewohnt. »Lasst uns ein, wir werden erwartet.«
Sein Vater war ein stattlicher Mann, Vogt und Ritter. Er hatte sich seinen Titel hart erarbeitet und ein Gut zu verwalten. Warten, das wusste Eckhart nur zu gut, war er nicht gewohnt und die Tagesreise war schon anstrengend genug gewesen.
Murrend bewegte sich der Mönch. Kurz darauf öffnete sich die Tür.
»Aus Hochheim, sagt Ihr? Kommt herein«, grunzte Falkennase, wie Eckhart den mürrischen Mönch im Stillen taufte. »Prior Ulrich erwartet Euch bereits.«
Der Mönch führte sie über den Innenhof auf einen klobigen Komplex zu, der den Konvent bildete. Zur Linken erhob sich die Predigerkirche, hoch und majestätisch ragte sie in den grauen Himmel, rechts war eine Mauer, hinter der einer der Seitenarme der Gera, der Breitstrom, floss.
Sie betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang nahe der Kirche. Kurz darauf saßen sie bereits in der warmen Amtsstube des Priors.
Prior Ulrich stellte sich als ein ruhiger Mann heraus. Die Formalitäten waren schnell geklärt und der Prior widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem jungen Eckhart.
Es war nicht unüblich, dass Kinder an ein Kloster überstellt wurden, doch Eckhart wusste, dass bei ihm der Fall anders lag. Er hatte selbst darum gebeten, als Novize aufgenommen zu werden. Anwärter wurden aus gutem Grund frühestens mit fünfzehn Jahren angenommen und selbst das war früh. Nicht, dass sein Vater nicht versucht hätte, ihn bei einem befreundeten Rittergut in die Zucht zu geben. Eckhart schauderte immer noch bei den Erinnerungen daran. Die ritterliche Ausbildung hatte Eckhart nicht gelegen. Gar nicht.
Da er noch zwei ältere Brüder hatte, war er nicht in der familiären Pflicht. Doch er war erst zwölf, eine Lebensentscheidung von solcher Tragweite wie die, sein Leben hinter Klostermauern zu verbringen, das wog schwer.
Und hier stand er nun. Ihm war mulmig. Er spürte die Blicke des Priors auf sich ruhen, prüfend. Tiefgenau schauten die Augen in ihn hinein.
»Warum willst du zu uns kommen?« Der Stimme des Priors lag etwas Beruhigendes inne, ohne dass er hätte sagen können, worin sich dieses begründete. Der Prior wirkte wohlwollend, nicht so kratzbürstig wie die Falkennase. Doch war er auf eine faszinierende Weise wach, nichts schien seiner Aufmerksamkeit zu entgehen.
»Nun? Warum willst du zu uns kommen?«, wiederholte der Prior.
Was antwortete man auf so was? Seine Hände waren schweißnass.
»Ich … ich will wissen, wer Gott ist!«, stotterte Eckhart.
Sein Vater gab ihm einen Klaps.
»Er meint natürlich, er will Gott dienen«, korrigierte sein Vater.
Der Prior ignorierte die väterliche Aussage und Eckhart hatte das Gefühl, dass sich ein gewisses Amüsement auf dem Antlitz des Priors ausbreitete.
»Wer Gott ist …«, wiederholte der Prior leise. »Was für ein gewagtes Unterfangen.« Er machte eine kurze Pause, in der er seine Worte mit Bedacht zu wählen schien, bevor er fortfuhr. »Nun. Unser Verstand ist ein Geschenk des Göttlichen und wissen zu wollen, führt zu einem Abenteuer, das niemals endet. Du wirst eine Weile bei uns leben und arbeiten, als Laienbruder. Wenn du dann willst, wirst du als Novize, später mit der Priesterweihe als vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft aufgenommen. Wir werden uns gegenseitig prüfen, einverstanden?«
Eckhart nickte.
Zu seinem Vater gewandt fügte der Prior hinzu: »Vielen Dank, Ritter von Hochheim. Wir wissen das Vertrauen zu schätzen. Wir werden ihren Jungen gut aufnehmen. Dank auch für die reiche Spende, sie wird der Samen für eine beachtliche Ernte sein, da bin ich mir gewiss.«
Wieder draußen auf dem Flur war der Abschied von seinem Vater kurz.
»Ich werde in einem Gasthof einkehren«, sagte er zu Eckhart. »Morgen steht noch ein Termin mit Baruch von Eisenach an.«
Er wusste, dass sein Vater oft Geschäfte mit der hiesigen jüdischen Gemeinde machte. Hier in Erfurt lebten die Juden Tür an Tür mit den christlichen Bürgern, eine prächtige Synagoge zierte die Stadt und es gab sogar eine Mikwe, ein rituelles Bad, mit lebendigem, also fließendem Wasser. Sein Vater hatte großen Respekt vor dem Wissen der Juden und bewunderte ihre kaufmännische Kraft.
»Falls du es dir doch noch überlegst, weißt du, wo du mich findest.«
Ein letztes Mal umarmte Eckhart ihn, roch den herben Duft und ließ sich von seiner Wärme umhüllen.
Dann war da nur noch Kälte, Leere und Fremde. Ohne sich umzudrehen, schritt sein Vater über den Hof und verschwand jenseits der Pforte. Falkennase stand mit einem Mal hinter ihm und packte ihn an der Schulter.
»Los, steh nicht so rum. Ich zeig dir, wo dein Schlafplatz sein wird und danach hilfst du beim Tischdecken.«
Auf dem Weg über den Hof klärte Falkennase ihn darüber auf, wie sein Tag verlaufen würde. Mit Sonnenaufgang aufstehen. Gebet. Arbeit. Gebet. Arbeit. Essen. Arbeit. Gebet. Arbeit, schlafen gehen, nachts noch einmal zur Matutin aus dem Bett und beten, und morgens, vor dem ersten Sonnenstrahl, wieder Gebet. Zumindest kam es Eckhart beim ersten Hören so vor. Falkennase sprach von großen und kleinen Stunden, den Horen, von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet. Wer sollte sich das alles merken?
Er führte ihn durch einen anderen Eingang des Ostflügels in einen dunklen Flur, öffnete eine Tür nach rechts und schob ihn hinein. Eckhart stolperte hinein; was er dann sah, verschlug ihm die Sprache.
Bei allem was heilig war, damit hatte er nicht gerechnet.
Vor ihm lag ein großer Raum mit ordentlichen Strohlagern und gefalteten Wolldecken. Sein Blick glitt jedoch wie von selbst in die Höhe, eine Höhe, die nicht enden wollte. Eckharts Mund klappte auf. Weit über ihnen schwebte die Decke wie ein gebogener Himmel aus Holz, ein kunstvolles Tonnengewölbe überdachte den Raum, schenkte Weite und Leichtigkeit. Gerüste und Seile zeigten, dass an diesem majestätischen Dach noch gebaut wurde. Auch Falkennase schaute nach oben.
»Wegen dieses blöden Daches schlafen wir hier auf juckenden Sägespänen«, brummte er mürrisch und stieß Eckhart rüde in den Rücken. »Halt dein Maul nicht offen.«
Sein Mund klappte zu und Falkennase zeigte auf ein Strohlager in der hintersten Ecke des Dormitoriums. »Du schläfst dahinten, klar?«
Eckhart nickte, was sollte er auch sagen?
»Das Abendgebet hast du gerade verpasst, also gibt es gleich Essen.« Sprach es, drehte sich abrupt um und lief wieder aus dem Dormitorium hinaus.
»Los, los, willst du Wurzeln schlagen?«, rief Falkennase von draußen.
Er beeilte sich, ihm zu folgen.
»Während des Essens wird nicht gesprochen, keinen Mucks, haben wir uns verstanden? Ein Vorleser wird eine Stelle aus den Heiligen Schriften verlesen, du wirst schweigen und zuhören. Nach dem Essen machst du den Abwasch, kapiert?«
Das konnte ja heiter werden. Vielleicht war er doch nicht in einem Kloster, sondern an einem besonders bizarren Vorort der Hölle gelandet. Immerhin schien der Prior ein Lichtblick zu sein.
Eckhart folgte Falkennase durch einen langen Flur in den Speisesaal, das Refektorium. Als er eintrat, weiteten sich seine Augen erneut. Er hatte nicht ansatzweise geahnt, wie die Mönche hausten.
Er hatte einen Saal mit kalten Wänden erwartet, weiß getüncht und nass. Das Bild, das sich ihm jedoch bot, wäre Königen würdig gewesen. Das Refektorium hatte ein Kreuzrippengewölbe, das von vier Pfeilern ausstrahlte. Hochmodern, im neuen gotischen Stil gehalten gingen die bemalten Verstrebungen von den Pfeilern ab. An der einen Seite stand ein Lesepult, in der Mitte des Raumes standen Bänke vor einfachen Holztischen.
Doch Falkennase ließ ihm keine Zeit zum langen Staunen und schob ihn durch den Saal auf eine weitere Tür zu.
Die Klosterküche. Hier drinnen werkelte ein dickbäuchiger Mönch, ein Feuer in der Mitte des Raumes qualmte mächtig und eine Suppe kochte in einem großen Topf.
»Ah, der Neue? Komm herein, herein. Ich bin Bruder Helwig. Mensch, du bist ja noch ganz klamm, bist du in den Regen gekommen?« Der wohlgenährte Koch schob sich durch den Raum. »Ich übernehme ihn hier«, sagte Bruder Helwig zu Falkennase. Dieser nickte knapp und eilte dann offensichtlich dankbar von dannen. Erst jetzt fiel Eckhart auf, dass sich Falkennase gar nicht vorgestellt hatte.
»Hier, Junge«, sagte Bruder Helwig, »stell dich an das Feuer und wärme dich erst einmal. Hast du auch einen Namen?«
»Eckhart«, antwortete er zaghaft.
»Na, willkommen in unserer Familie, junger Mann.«
Während Eckhart sich am Feuer wärmen durfte, deckte Bruder Helwig routiniert in Windeseile den Tisch.
»Und? Ist dir bereits etwas wärmer?«
Eckhart nickte scheu.
»Keine Sorge, du bist hier an einem guten Ort. Hier beißt dich niemand. Komm, lass uns reingehen.«
Der Mönch führte ihn in den Speisesaal zurück, den er bereits durchquert hatte. Mönche strömten in den Saal, die meisten in weiße Gewänder gekleidet. Bruder Helwig zeigte ihm einen Platz an der Tafel und zwinkerte ihm ermutigend zu.
Ein Mönch nach dem nächsten setzte sich, die meisten konzentriert, alle schweigend.
Das Essen verlief, wie Falkennase es erklärt hatte. Für Eckhart war dies die erste Gelegenheit, die Gemeinschaft zu mustern. Es waren über dreißig Mönche und Novizen, die hier lebten. Während er hungrig seine Suppe löffelte, schaute er sich verstohlen um. Er sah in alte und junge, gemütliche und auch verbitterte Gesichter. Ein Mönch, gebeugt von Alter und Zeit, lugte mit seinen großen, blassblauen Augen kaum über die Tischkante, während seine wenigen, verbliebenen Haare wild und grau wie die geisterhafte Andeutung von Ruinen in die Höhe ragten. Seine Augen trugen ein naives und neugieriges Staunen in sich, doch offenbar war er in Unkenntnis, was er mit Löffel und Suppe anfangen sollte.
Bruder Helwigs gesundes, rotes Sonnengesicht war dazu ein erheblicher Kontrast. Mit einer solchen Lust gab er sich dem Essen hin, dass es einem bang um die Schale werden konnte, die er gleich mit zu verschlingen drohte.
Der Prior saß vor Kopf, Löwe und Berg zugleich, majestätisch und still, groß und doch ohne Aufheben um seine Person. Er war Ruhe und Kraft in einem, das Zentrum des Universums, so schien es Eckhart. Wie machte er das? Diese ungewöhnliche Ruhe, kam sie daher, dass er die Antworten auf die Fragen dieser Welt wusste? Sah so ein Heiliger aus?
Aber er war so kraftvoll, irdisch. Ganz und gar nicht verklärt. Er wirkte auch nicht wie ein Lehrmeister, es fehlte ihm die Strenge und Härte. Und doch war er die unbestrittene Autorität in diesen Mauern und vermutlich weit darüber hinaus.
In Eckharts Blickrichtung schob sich der Kopf eines jungen Novizen. Er wusste später nicht zu benennen, was ihm als Erstes aufgefallen war. Die arroganten Augen, die schmal zusammengepressten Lippen oder die blasierte Art, wie er sich bewegte. Der Junge war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als er und trug so viel Verachtung zur Schau, dass Eckhart sich rasch duckte und wieder seinem Essen zuwandte.
Als nach dem Essen alle aufstanden, ihre Schüsseln Richtung Küche brachten, blieb genau dieser Junge bei ihm stehen. Abschätzig schaute er ihn an, musterte ihn von oben bis unten und neigte sich dann zu ihm. »Dein Gesicht gefällt mir nicht«, flüsterte er und ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Eckhart blieb verstört zurück.
Das fing ja gut an.
Für diesen Abend war er von weiteren Aufgaben befreit, er solle sich lediglich vor der Komplet im Kapitelsaal einfinden, der Prior wolle ihn dort offiziell begrüßen. Er sollte von einem Bruder Rudger abgeholt werden.
Da er nicht so recht wusste, was er mit seiner Zeit anfangen sollte und er auch weder Falkennase noch dem seltsamen Jungen begegnen wollte, half Eckhart an dem Ort, der ihm am sichersten erschien: in der Küche. Beim Geschirrwaschen erfuhr Eckhart, dass Bruder Rudger niemand anderes als die Falkennase war. Bruder Helwig erzählte und erzählte, von dem Wortschwall, der ihn warm umströmte, blieb nichts weiter haften als das für ihn gerade so wichtige Gefühl von Sicherheit.
Bis Falkennase in der Tür stand und ihn wortlos aufforderte, mit ihm zu kommen. Bruder Helwig seufzte leicht.
»Bis gleich, Eckhart! Wir sehen uns ja …«, hörte er noch, als er eilig Falkennase hinterherlief und ihm folgte, durch neue Gänge in den Bauch des Konvents. Es wirkte innen viel größer und unübersichtlicher, als es von außen den Anschein gemacht hatte.
Das Kloster war relativ jung. Erst vor sechzig Jahren waren die Dominikaner hier nach Erfurt gekommen und der Konvent wuchs beständig. Eckhart konnte sehen, wie an vielen Stellen noch weiter ausgebaut und renoviert wurde.
Endlich waren sie da, im Kapitelsaal. Der war mindestens genauso beeindruckend wie der Speisesaal. Er konnte sich an der filigranen und kunstvollen Architektur gar nicht sattsehen. Links und rechts waren Bänke und an der Kopfseite ein Lesepult. Dort stand bereits der Prior, und als Eckhart eintrat, nickte er ihm zu. Falkennase wies ihm einen Platz in der hinteren Reihe zu, während der Saal sich füllte.
Als Eckharts Blick noch über die Bögen glitt, die kraftvollen, roten Farben aufsaugte und die kunstvollen Formen ihn verzauberten, begann die Sitzung. Eckhart lauschte. Der Prior widmete sich zunächst einigen formalen Verwaltungsdingen, die das Kloster betrafen, fragte nach, wie die Ausbauarbeiten am Tonnengewölbe vorangingen und ob weitere Unterstützung nötig sei. Die Sitzung verging wie im Fluge und doch zappelte Eckhart aufgeregt.
Wann wäre er dran? Wann würde sein Name fallen? Als der Prior ihn aufrief, pulsierte sein Blut bis in die Ohren, alle Blicke folgten ihm, als er aufstand. Seine Knie waren butterweich, als er nach vorne ging und sich neben den Prior stellte. Hoffentlich sah niemand, dass sie zitterten.
»Ich darf euch Eckhart aus Hochheim vorstellen. Er ist heute angekommen, ihr habt ihn ja bereits beim Abendessen gesehen. Er wird unsere kleine Gemeinschaft bereichern und, wenn Gott will, wird er ins Noviziat eintreten.« Der Prior hielt kurz inne.
»Das gilt es für uns alle zu prüfen. Denn unsere Gemeinschaft bedarf intelligenter junger Menschen. Zudem sind wir hier wie auf einer Insel aufeinander angewiesen. Jeder ist für den Einzelnen, der Einzelne für jeden da.«
Väterlich legte er seine Hand auf Eckharts Schultern, das Zittern in den Beinen ließ etwas nach.
»Hier in unserer Gemeinschaft gibt es kein Höher oder Niedriger, ein jeder, der die Profess, das Ordensgelübde, abgelegt hat, hat eine Stimme, die gehört wird. Auch ein Prior ist von der Gemeinschaft gewählt, hat ihr zu dienen und sie zu vertreten. Wir sind eins und doch sind wir alle natürlich sehr verschieden. Wenn wir so wollen, sind wir eine Familie.« Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Sicher nicht die einfachste.«
Ein humorvolles Lachen breitete sich aus.
»Aber wir halten zusammen. Wir freuen uns sehr über dein Kommen. Mögest du hier dein Wissen vermehren und das Göttliche in dem Alltäglichen finden und unsere Gemeinschaft mit deinem Herz bereichern. Herzlich willkommen, junger Eckhart.«
Ein wohlwollendes Gemurmel wogte wie eine warme Welle durch den Saal. Vielleicht bin ich doch nicht in einem Vorhof der Hölle, dachte Eckhart.
Der Prior stellte ihm jeden Einzelnen mit Namen vor, aber es waren einfach zu viele und zum Schluss hatte er sich keinen merken können. Nur der Namen des blasierten Jungen war ihm hängen geblieben: Andreas. Andreas hatte nur knapp genickt, als der Prior ihn aufrief, mit zusammengekniffenen Lippen und Augen. Die anderen wirkten gar nicht so unfreundlich und der dicke Bruder Helwig zwinkerte ihm sogar fröhlich zu.
Er fiel todmüde von Reise, Ankunft und neuen Eindrücken auf sein Strohbett. Sein letzter Blick suchte das Gewölbe, das in der Dunkelheit über ihm schweben musste, bevor er in das Reich der Träume glitt. Würde er hier finden, was er suchte?
Die nächsten Tage waren gefüllt mit Arbeiten. Sein Vater hatte gesagt, er würde hier Latein lernen und Bücher lesen können. Davon war nichts zu spüren. Falkennase, für Eckhart passte der Name viel besser als Bruder oder Rudger, trug ihm auf zu fegen, zu putzen und Steine für den Bau des geplanten Westflügels zu sortieren. Dann wieder zu fegen, zu putzen und nicht zu vergessen, Steine zu sortieren. Natürlich hatte er auch zu Hause auf dem Gut seiner Eltern mitgeholfen; ab sieben Jahren war man schließlich kein kleines Kind mehr. Aber dennoch hatte er Zeit zum Herumlaufen, zum Erkunden der Gegend und zum Spielen gehabt.
Das war nun offenbar vorbei.
Die Arbeiten wurden nur von den Gottesdiensten und Gebetsstunden unterbrochen. Das waren Gelegenheiten, den Prior verstohlen zu beobachten.
Was für eine mysteriöse Gestalt dieser Mönch war. Ruhte in sich wie ein Fels, war wach wie eine Katze auf der Jagd und doch gelassener als irgendein Mensch, dem er je zuvor begegnet war. Die Glatze des Priors leuchtete matt in dem von Kerzenlicht durchströmten Kirchenraum und in seinen Augen lag immer ein Hauch eines Lächelns, das von innerem Frieden flüsterte.
Eckhart barg diese Momente wie Sternstunden in den Tiefen seines Herzens. Sobald er diese kostbaren Augenblicke der Ruhe verließ, ging es wieder an die Arbeit. Andreas begegnete er, Gott sei Dank, nur selten, obwohl das Kloster nicht so groß war, dass ein zufälliges Aufeinandertreffen nicht möglich gewesen wäre. Aber auch Andreas und die anderen Novizen wurden eingespannt, waren die meiste Zeit in der Schule und wurden immer wieder zu den beliebten Botengängen ausgeschickt.
Eckhart war ganz dankbar dafür, dass Falkennase ihn zu Arbeiten einteilte, bei denen er für sich war. So musste er keine beißenden Kommentare befürchten und konnte seinen Gedanken nachhängen.
Eines Abends beauftragte ihn Bruder Rudger, wieder einmal das Necessarium, die Latrinen, zu säubern.
Warum immer er? Nur weil er der Neue war?
Falkennase war zu allen jüngeren Laienbrüdern und Novizen gleichermaßen schrecklich. Vor allem seine Pedanterie, seine übertriebene Sehnsucht nach vollkommener Tugend, machte ihn schwer erträglich. Hinter jeder Tat vermutete er einen gewissenlosen Schlendrian, eine ruchlose Sünde, die Boshaftigkeit einer völlig verwahrlosten Jugend. Dennoch, Bruder Rudger hatte ihn auf dem Kieker. Er verdonnerte ihn immer zu den grässlichsten Aufgaben, kontrollierte jede seiner Arbeiten und er hätte schwören können, dass Falkennase ihm sogar manchmal auflauerte, um zu sehen, ob Eckhart nicht irgendetwas tat, das seinen Kosmos der Ordnung und Tugend verletzte.
Die Latrinen waren ein widerlicher Ort, obwohl drei Kästen, auf denen die Mönche ihre Notdurft verrichten konnten, eine gewisse Bequemlichkeit versprachen. Offenbar hatten etliche Brüder Schwierigkeiten bei den größeren Geschäften. Das Necessarium glich einem matschigen Schlachtfeld. Für die Schmeißfliegen war es wohl die Erfüllung ihrer Träume, ein Festmahl an einer königlichen Tafel. Eckhart war froh, dass Gott in seiner Großzügigkeit entschieden hatte, dass er als Mensch das Licht der Welt erblicken durfte. Als winziges Geschöpf in den Klosterlatrinen herumzuwühlen, wirkte nicht sehr erstrebenswert. Obwohl es ein wahrhaftiges Wunder war, dass diese kleinen Viecher in der Lage waren zu fliegen, und wenn er genau hinblickte, konnte er sehen, wie sich regenbogenfarbiges Licht auf den Flügeln entfaltete.
All das half aber nicht über den Gestank hinweg. Er versuchte, nicht durch die Nase einzuatmen, um sich dem Odeur zu entziehen, was nur mehr oder minder gelang. Er hatte bereits den gröbsten Dreck beseitigt, das Schmutzwasser im Eimer war eine unansehnlich braune Brühe und Eckhart freute sich bereits, seine Arme in klares Wasser zu tauchen, als Andreas um die Ecke bog.
Er war nicht allein.
Die wenige freie Zeit hing er mit den anderen Novizen herum und hatte sich als etwas Ähnliches wie ein Anführer etabliert. Das war auch nicht schwer. Die einen beeindruckte er damit, dass er aus wohlhabendem Hause zu kommen vorgab, die anderen ließen sich von seinem sehenswerten rechten Haken einschüchtern. Diesen hatte er häufig genug unter Beweis gestellt.
Andreas baute sich hämisch grinsend vor ihm auf, Eckhart kniete, gerade noch den letzten Dreck vom Boden schrubbend.
»Na, Kleiner? Sieht lecker aus.« Andreas’ Gesicht war eine Fratze der Hochmütigkeit und Arroganz.
»Was … willst du?«, fragte Eckhart. Sein Herz schlug bis zum Hals.
»Oh, wir wollten nur mal sehen, ob du deine Arbeit auch ordentlich machst oder … nicht ausgerutscht bist.«
Höhnisches Gelächter folgte.
Andreas stolzierte um den Eimer mit dem Dreckwasser herum und hielt sich die Nase zu.
Geht doch einfach, geht. Was wollt ihr von mir?, dachte Eckhart. Er kauerte sich zusammen. Wenn er sich nur so klein wie die Fliegen hätte machen können.
»Puh, du stinkst ja übler als die Brühe. Vielleicht sollten wir dich darin mal waschen.«
Wieder folgte hämisches Gelächter seiner Mitläufer. Sie kamen näher. Ganz langsam zogen sie den Halbkreis um ihn enger.
Ohne weitere Vorwarnung holte Andreas mit seinem rechten Fuß aus und trat mit voller Wucht gegen den Eimer. Dieser flog wie ein klobiges Geschoss auf Eckhart zu. Eckhart sprang erschrocken auf, taumelte, versuchte auszuweichen. Vergeblich. Der Eimer traf ihn am Knie, ein feuriger Schmerz durchzuckte sein Bein. Nur mühsam konnte er das Gleichgewicht halten, während das Dreckwasser an seiner Arbeitskutte herunterrann und sich über den Holzboden ergoss.
Er rieb sich das Knie. Verdammt.
»Warum …?« Es war das Einzige, was Eckhart über die Lippen bekam.
Vor ihm standen die Jungen, hinter ihm waren nur die drei Latrinenkisten und ein schmaler Holzstieg jeweils dazwischen.
»Wir brauchen keinen Grund. Wieder auf die Knie oder wir stecken dich kopfüber in die Grube«, warf ihm ein speckiger Junge entgegen, der neben Andreas stand. Seine Wangen wirkten viel zu groß für das kleine Gesicht und irgendwie erinnerte er Eckhart an ein gut gemästetes rosa Schwein. Wolpert.
Wolpert hing sein Fähnchen nach dem Wind, das hatte Eckhart in diesen wenigen Wochen bereits begriffen. Je nachdem, welche Meinung gerade die herrschende war, konnte man sich sicher sein, dass Wolpert diese vertrat.
»Mit dir rede ich überhaupt nicht«, antwortete Eckhart mit aller Kühle, die ihm möglich war und ohne zu wissen, woher er den Mut dafür nahm. Er blickte an Wolpert vorbei zu Andreas. Tatsächlich wich Wolpert Schweinebacke irritiert zurück. Andreas wuchs um eine Handbreit.
Erstaunlich, dachte Eckhart, so funktioniert das also bei ihm. Gib ihm ein wenig Aufmerksamkeit und er fühlt sich wie der Größte. Allerdings half ihm diese Erkenntnis in diesem Moment nicht viel. Andreas hatte nicht vor, von ihm abzulassen. Seine Augen verengten sich, er trat nach vorne.
»Du und deinesgleichen, ihr seid alles Aufschneider, Betrüger und Diebe«, stieß ihm Andreas entgegen.
»Wie … was?«
»Dein Vater, Rat von Hochheim, hat sich durch Schleimerei beliebt gemacht. Ihr seid nichts als Bauern und eure Lügen haben euch erst in den Rang gebracht. Dein Vater und deine ganze Familie sitzen auf einem hohen Ross, auf einem Stuhl, der euch nicht zusteht.«
»Aber …«
War Andreas völlig übergeschnappt? Sein Vater hatte schon zu Gericht gesessen, da war Andreas noch nicht einmal geboren. Zu sagen wagte er es nicht. Er hatte bereits genug eingesteckt. Gut nur, dass der Schmerz im Knie nachließ.
»Ich sage, dein Herr Vater ist ein Lügner und Betrüger. Sonst wäre er niemals Vogt geworden.«
»Das … was redest du da?«
»Ich kenne euer Geheimnis. Überrascht? Ich weiß noch viel mehr. Hüte dich vor mir, du weißt nicht, wer ich bin.«
»Was denn für ein Geheimnis? Du bist … irre«, begehrte Eckhart auf. Im gleichen Moment hätte er sich für seine voreiligen Worte ohrfeigen können.
»Ich und irre? Na warte, du wirst sehen, was du davon hast. Wir erlauben dir einen ganz privaten Latrinensturz.«
Ein Latrinensturz? Die ganze Stadt und ihre Umgebung kannten den Erfurter Latrinensturz, auch wenn es schon fast hundert Jahre her war. König Heinrichs Mannen hatten sich in einem Festsaal des Bischofs befunden, als das morsche Holz des Bodens nachgegeben hatte. Sie waren ein Stockwerk tiefer gefallen und der Boden des unterhalb liegenden Raumes war unter der Wucht der fallenden Tische und Menschen ebenfalls zerborsten. Darunter jedoch hatte sich eine alte Latrinengrube befunden. Viele der werten Männer waren jämmerlich darin umgekommen.
»Los, packt ihn. Da kann er dann seine eigenen Worte schmecken.«
Die Jungs rückten näher auf. Eckharts Gedanken rasten.
In die Gülle wollte er in keinem Fall. König Heinrich hatte sich damals mit einem gewagten Sprung in eine Fensternische gerettet. Ein Fenster gab es hier nicht. Aber in dem Moment, als die Jungs zum Angriff ansetzten, drehte sich Eckhart um die eigene Achse und sprang mit einem Satz zur Seite. Seine Hände schürften über den Boden. Er kam auf allen vieren auf. Den Schmerz spürte er kaum, hechtete weiter.
Bloß weg hier.
Die Novizen setzten ihm nach. Andreas bekam seine Kutte zu fassen, aber Eckhart schlug einen Haken, wie er es bei Hasen gesehen hatte, die auf der Flucht vor dem Fuchs waren. Andreas konnte den Griff nicht halten und setzte hinterher. Eckhart lief den Ostflügel entlang und riss einfach die nächste Tür auf, stürmte in den Gang, ein Flur ging zur Rechten ab. Er lief blind weiter. Eine weitere Tür war am Ende des Ganges.
»Bitte, Herrgott, lass sie auf sein.« Er wetzte den Flur entlang und sprang auf das Holz zu, riss an dem Riegel und zerrte an dem Türring.
Sie gab nicht nach.
Mist.
Eckharts Herz blieb stehen. Andreas und die anderen stürmten bereits in den Flur.
Er rüttelte heftiger an der Tür. Zog mit aller Kraft daran. Sie bewegte sich.
Mit einem Stöhnen gab sie nach und ließ sich schwerfällig aufschieben. Er klemmte sich durch den entstandenen Spalt und schlüpfte in das dahinterliegende Dunkel. Hier war er noch nie gewesen. Nicht nachdenken. Weg hier, einfach nur weg.
Seine Verfolger hatten die Pforte auch erreicht. Gemeinsam würde es ihnen sicher gelingen, diese ganz zu öffnen. Eckhart lief.
»Wir kriegen dich, du entkommst uns nicht«, schrie Andreas hinter ihm her. Der Boden war hier aus Lehm und nicht aus Stein. Die Wände waren teilweise mit Spinnenweben überzogen und winzige Löcher in den Wänden, die wohl Fenster sein sollten, ließen nur träge sickerndes Licht in den Gang hinein. Er rannte wie um sein Leben. Vor sich sah er im trüben Licht eine Wand.
Eine Sackgasse?
Er war fast schon am Ende angekommen, als er sah, wie sich ein Gang am Ende des schmalen Flures nach rechts öffnete. Er witschte hinein. Stufen. Er hechtete diese hoch. Noch eine Tür. Er riss daran. Diese ließ sich unerwartet leicht öffnen und schlug durch die Wucht, mit der er an ihr gezogen hatte, gegen die Wand.
»Stopp, nicht da durch!«, hörte er hinter sich Andreas schreien.
War da mit einem Mal Angst in seiner Stimme? Die Tür hinter ihm schlug durch den Schwung wieder zu.
Der Raum war in Finsternis getaucht, aber Eckhart rannte weiter, stieß heftig gegen eine Bank und fiel der Länge nach hin. Seine Haut brannte, sein Puls raste durch seine Adern. Wie gelähmt blieb er liegen, unfähig sich zu bewegen. Waren ihm Andreas und seine Bande gefolgt? Er hörte keine Schritte mehr. Nur seinen gehetzten Atem und seinen Herzschlag, der ihm in den Ohren trommelte. Er tastete nach seinem Bein. Es würde wohl einen blauen Fleck geben. Zuerst der Eimer, jetzt die Bank.
Dunkelheit umgab ihn, er atmete muffige Luft, Staub von Jahrhunderten lag hier, bisher ungestört. Irgendwo huschte eine Maus ängstlich davon.
Wo war er eigentlich?
Er schaute sich vorsichtig um, immer noch am Boden liegend. Im trüben Dunkel konnte er Schränke erahnen, an der einen Wand ein Regal ausmachen, an dem eine Leiter stand. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse. An der Seite standen ohne sichtbare Ordnung einige Stehpulte, niedrige Tische und Bänke. Er selbst lag direkt vor einem Eichentisch, auf dem eine kleine Kerze flackerte.
Was er nicht sah, war der Schatten hinter dem Tisch, der sich so überrascht wie auch leise aufrichtete und nach vorne beugte, wie eine Schlange, die interessiert eine unerwartete Beute betrachtete. Eckhart sah sich immer noch das seltsame Regal an, als mit einem Mal das Kerzenlicht auf dem Tisch erlosch.
Eckhart erstarrte. Er war nicht allein?
Eckhart drehte langsam seinen Kopf, seine Augen angstgeweitet. Etwas kroch näher über den Tisch, knochige Hände glitten an die Kante und zogen den Schatten lautlos nach vorne. Jetzt hörte er röchelnde Atemzüge.
Gab es hier in den alten Gemäuern einen Dämon?
Sein Blick fiel auf die knochenbleichen Finger, mit einem spitzen Schrei wich er zurück. Da, wo Gesicht und Körper sein sollten, war nur Schwärze zu sehen, lediglich die Arme leuchteten in einem unwirklichen Weiß. Ohne die unheimliche Gestalt aus den Augen zu lassen, rettete sich Eckhart auf allen vieren kriechend zu einem Tisch hinter ihm und zog sich langsam daran hoch.
Ein röchelndes Lachen ließ Eckhart einen Schauer über den Rücken laufen.
»Hast du Mut?«, zischte es ihm entgegen.
Er versuchte, noch weiter zurückzuweichen, aber der Tisch hinderte seine weitere Flucht.
»Gnmpf.« Seine Kehle war staubtrocken. Vom Regen in die Traufe gekommen. Großartig.
»Wie meinen?«
»Gnja?«, presste er unsicher hervor. Prinzipiell würde er zwar nicht leugnen wollen, dass es Dämonenwesen geben könnte und er hatte auch Berichte gehört, die solche Erscheinungen bestätigten. Aber bei genauer Betrachtung waren ihm diese immer recht zweifelhaft erschienen. Immerhin, solange das Was-auch-immer mit ihm sprach, geschah nichts Schlimmeres. Oder doch?
Zumindest war er der Latrinengrube entkommen, obwohl er sich gerade nicht so sicher war, was er vorziehen würde. Bei den Latrinen hätte er zumindest gewusst, wo er gelandet wäre. Seltsam, dass Andreas ihm nicht gefolgt war. Ob er wusste, welches Wesen hier hauste?
Die knochige Hand wies auf eines der Regale.
»Dann hole mir eine Kerze von da oben und den dicken Folianten daneben.« Eckharts Blick ging verständnislos in die Höhe. Wer wäre verrückt genug, Kerzen neben Büchern zu lagern? In dem obersten Regal? Und wieso bedurfte es dazu Mut?
Unsicher blickte er auf die unheimliche Gestalt. Ein neuerlicher Schauer lief ihm über den Rücken. Hatte er überhaupt noch eine Wahl?
Er hätte vielleicht türmen können, aber vermutlich standen draußen Andreas und seine Gesellen. Auf der anderen Seite keimten jenseits seines Schreckens Fragen auf: Wer war dieses Wesen? Warum saß es in diesem Halbdunkel? Was waren das für Bücher hier?
Noch etwas anderes erwachte in ihm und war dabei, die Oberhand zu gewinnen, sowohl über seine Vernunft als auch über seine Angst. Neugier.
Er nahm die Leiter und stellte sie an das Regal. Während er nach oben kletterte, schaute er sich immer wieder beunruhigt um. Aber das Wesen blieb einfach nur sitzen und folgte interessiert seinen Bewegungen.
Als Eckhart oben angekommen war, bemerkte er erst, wie hoch er sich hier über dem Boden bewegte und wie wackelig die Leiter war.
Nicht nach unten schauen, einfach nicht nach unten schauen.
Etwa einen Kopf über ihm fand er ordentlich gestapelt die hellen Kerzen, die sich schemenhaft von der Dunkelheit abhoben. Er griff nach einer und tastete dann weiter. Ein Foliant? Hier oben lagen Staub und Dreck, Krümel, die sich wie Mäusedung anfühlten.
Kein Foliant.
»Hier ist kein Foliant.«
»Doch, doch«, erklang es jetzt müde von unten. »Dort liegt er schon seit Jahren.«
Er hangelte sich immer weiter und weiter.
Nichts.
Die Leiter wackelte bedenklich. Wenn er sich noch ein Stück streckte, würde er sich nicht mehr halten können. Vielleicht sollte er nach unten klettern und die Leiter einfach etwas zur Seite rücken? Noch ein letzter Versuch. Er machte sich so lang er konnte, die Sprossen unter ihm wackelten bedenklich, die Leiter kippte leicht nach rechts. Eckhart klammerte sich ans Regalbrett.
»Zurück, zurück«, flüsterte er zu sich selbst. Das Holz knackte leicht, eine verzweifelte Bewegung mit der Hüfte. Die Leiter stand wieder aufrecht. Er atmete tief aus. Vielleicht lag der Foliant woanders? Er griff noch einmal tiefer ins Fach und arbeitete sich Stück für Stück zurück zu den Kerzen. Er wollte gerade schon aufgeben, als seine Finger ein glattes Leder berührten. Er packte beherzt in die Tiefe.
Tatsächlich.
Da war etwas. Behutsam zog er es nach vorne, bis er es mit einer Hand fassen konnte. Ein Foliant. Dick in Leder eingebunden.
Vorsichtig kletterte er wieder nach unten, in der einen Hand die Kerze und den Folianten halb unter den Arm geklemmt. Wieder auf sicherem Boden angekommen, drehte er sich zu dem Wesen in der Dunkelheit um.
»Bring es her«, rasselte die Stimme und die knochigen Finger winkten ihn zu sich. Vorsichtig ging er näher an den Tisch heran. Langsam. Schritt für Schritt. Behutsam legte er das Buch und die Kerze auf dem Tisch ab.
»Du musst mich nicht fürchten, mein Junge. Das Einzige, vor dem du Furcht haben solltest, sind deine Gedanken.«
Mit einer stoischen Ruhe nahm er die Kerze, setzte sie in den Kerzenhalter und zog eine Schale mit einem Feuerstein, einem Schlageisen, Zunder und etwas Werg zu sich heran. Aber seine Hände waren zu zittrig und die Funken schlugen nicht richtig an.
»Darf … darf ich?«, fragte Eckhart vorsichtig.
Sein Gegenüber hielt inne.
»Ach, hast du doch eine Stimme.« Er reichte ihm die Schale.
Mit einer geschickten Bewegung schlugen die Funken und der Zunder begann zu glimmen. Eckhart nahm das Werg und blies es vorsichtig an, bis eine kleine Flamme züngelte und er das Feuer an den Docht der Kerze ansetzte.
Warmes Licht breitete sich aus und erhellte ein blasses Gesicht unter der schwarzen Kapuze im Gegenüber. Die Lippen und Wangen waren eingefallen, wie das bei alten Leuten war, die keine Zähne mehr hatten. Unter den blassen Augen lagen schwere Tränensäcke. Wie ein Dämon sah er nicht aus. Unheimlich blieb er dennoch.
Eckhart drückte das brennende Werg in der Schale aus und legte alles zurück.
»Hm«, brummte der Alte. »Besuch bekomme ich ja nicht sehr oft.«
Eckhart wusste nicht so recht, was er sagen sollte, und wechselte verlegen von einem Bein auf das andere.
»Dank dir für das Licht«, sagte der Alte und schlug das dicke Buch auf.
Eckhart wollte gerade schon durchatmen, als der Alte ihn mit funkelnden Augen fixierte. Es war, als ob zwei blassblaue Sonnen sich in seine Seele brennen würden.
»Wenn du echten Mut hast, stellst du dich den größten Denkern aller Zeiten. Hast du Mut?«
Immer noch wusste Eckhart nicht, was er mit diesem Mann machen sollte. So nickte er nur.
»Gut. Das ist sehr gut«, sagte der Alte leise und starrte immer noch Eckhart in seine Seelentiefen. Ihm wurde wieder mulmiger zumute.
»Weißt du, wer das geschrieben hat?«
Er riskierte einen Blick auf das reich verzierte Werk und runzelte die Stirn. Eine solche Schrift hatte er noch nie gesehen. In seinem elterlichen Hause hatte er das lateinische Alphabet gelernt, auch griechische Buchstaben hatte er schon einmal gesehen. Aber diese Schrift war zierlicher und bestand aus wundervollen Schnörkeln und Strichen. Er schüttelte den Kopf.
»Das ist von Ibn Ruschd. Sein voller Name ist mir entfallen, aber wir Lateiner nennen ihn Averroës. Ein arabischer Philosoph, der vor über hundert Jahren lebte und ein ausgezeichneter Kenner des Aristoteles war.«
»Das ist Arabisch? Ihr könnt Arabisch lesen?«
Der Alte wiegte leicht den Kopf.
»Bevor ich in dieses Kloster nach Erfurt kam, habe ich viele Jahre im Heiligen Land verbracht.«
»Was? Ihr wart in Jerusalem?«, fragte Eckhart aufgeregt nach. »Habt Ihr die Tempelritter im Heiligen Land gesehen?«
Sein Vater hatte gelegentlich Kontakt mit der Komturei im fernen Magdeburg, mehr Verbindung bestand aber mit der Niederlassung im nahen Topfstedt. Soweit Eckhart verstanden hatte, ging es dabei um Geldvermögen und weniger um Abenteuer in der Ferne. Dennoch wehte mit den seltenen Besuchen der Templer immer auch ein Hauch von Reiselust und Fernweh in seine beschauliche Heimat.
Der Alte nickte. »Jerusalem, eine wahrhaft heilige Stadt. Der Boden, auf dem unser Herr wandelte. Ein Mensch wie du und ich. Auch Templer, Kreuzfahrer, Abenteurer waren da, ich habe viele gesehen. Auch viel Leid, viel Tod, mein Junge.« Er schwieg einen Moment, hing seinen Gedanken nach. »Dabei könnten wir so viel voneinander lernen. Der Staufer Friedrich hat das verstanden. Zumindest teilweise. Diese dummen Kriege.« Er schüttelte den Kopf. »Ich lernte viel von denen, die wir Heiden nennen. Averroës lebte in Córdoba. Weißt du, wo das liegt?«
Eckhart schüttelte den Kopf.
Der Alte seufzte. »Da muss man ja von ganz vorne anfangen.« Er musterte Eckhart immer noch, aber sein Blick war weicher geworden, obwohl sein Schädel weiterhin wie ein Totenkopf aussah, der mit einer bleichen Haut überspannt und mit bläulichen Lippen verziert war. Dennoch, Eckharts Neugierde hatte längst den Sieg davongetragen.
»Was … was wusste dieser Ibn Ruschd?«
»Was er wusste? Junge, er wusste, wie man denken muss, um die Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln.«
Eckhart starrte den Alten an. »Wie meint Ihr das?«
»So wie ich es sage. Die meisten, die sich heute Gelehrte schimpfen, geben irgendeinen Sermon von sich, klopfen das fest, was andere gesagt haben, ohne selber über Klarheit zu verfügen. Denken … selber denken, das können sie nicht. Ohne die arabischen und jüdischen Gelehrten wüssten wir hier nichts. Gar nichts. Wir sind wie eine aufgeregte Horde Pfaffen, die in einem dunklen Labyrinth eingesperrt sind und darüber diskutieren, wie man denn nun Licht machen könne.«
Eckhart wurde mutiger. »Ihr wisst, wie man das Geheimnis des Lebens findet? Wisst Ihr, wer oder was Gott ist?«
Der Alte verschluckte sich, hustete. Als er wieder Luft bekam, erwiderte er: »Das Leben? Gott?«
Er brummelte etwas Unverständliches, schwieg einen kurzen Moment und setzte erneut an. »Wahrlich, die Weisheiten des Lebens sind von den arabischen Denkern enträtselt worden. Ibn Ruschd hat wie kaum einer zuvor und danach verstanden, was diese Welt bewegt und wenn du so willst, wer … Gott ist. Erkenntnis ist das Schlüsselwort, merke es dir gut. Erkenntnis ist nicht nur ein Gedanke, der einem anderen folgt und eine Lösung bereithält. Es ist eine Brücke zu Gott. Wenn du wirklich wissen willst, worum es in diesem Leben eigentlich geht, dann vergiss die lateinischen Gelehrten.«
»Wo lebte Ibn Ruschd, ist Córdoba weit von hier? Hat er das geschrieben?«
Eckhart zeigte auf das Werk, rückte ein gutes Stück näher, um die seltsamen Schriftzeichen und die kunstvollen Malereien besser sehen zu können. Der Alte wich mit einem Mal zurück, als ob er Anzeichen der Pest an ihm erkannt hätte.
»Bei der heiligen Maria«, stieß der Alte aus, »mein Riechkolben ist ja nicht mehr der beste, aber du stinkst ja schlimmer als Tod und Teufel.«
Eckhart lief knallrot an. Er hatte ganz vergessen, dass er direkt von den Latrinen kam.
»Verzeiht, ich … ich kam gerade vom Reinigen der … ich …«, stotterte Eckhart.
Der Alte winkte ab.
»Komm morgen wieder.«
»Ich … ich weiß nicht, ob … ob Falkenna… Bruder Rudger das erlauben wird«, stotterte Eckhart weiter.
»Willst du mehr über Gott und die Welt wissen?«
Eckhart nickte heftig.
»Dann wird der Herr einen Weg finden, dass du morgen zu mir kommen kannst. Ich werde dir zeigen, wo Córdoba liegt. Und nun geh.«
Er wies auf eine Tür im rückwärtigen Bereich des Raumes. Eckhart verneigte sich unwillkürlich und rannte dann zur Tür. Als er sich noch einmal umdrehte, war der Alte bereits in seinen Schriften vertieft.
Eckhart musste schleunigst die Latrinen sauber machen, bevor die Komplet begann. Schnell öffnete er die Tür und rannte los.
Zu spät bemerkte er es.
Eckhart war mitten in das Amtszimmer des Priors gestürmt.
Doch das Zimmer, es war nicht leer. Direkt vor ihm standen Prior Ulrich, Bruder Rudger und ein Fremder im Dominikanerhabit. Die drei starrten Eckhart an, als ob er der Leibhaftige sei.
Bruder Rudgers Blick schweifte mit einer gewissen Fassungslosigkeit zur Tür, aus der Eckhart gerade gekommen war, und wieder zu ihm zurück. Eckhart hatte das Gefühl, er hätte genauso gut geradewegs aus der Wand kommen können.
»Nun«, fragte Prior Ulrich gedehnt, »wie dürfen wir dir dienen?«
Eckharts Gedanken rasten, die Blicke der drei Herren ruhten auf ihm und Prior Ulrichs Augenbrauen wanderten gefährlich nach oben.
Nicht gut. Gar nicht gut.
Eckhart hatte das Gefühl, eine Schlinge würde sich um seinen Hals legen und sich mit jedem verstreichenden Atemzug mehr und mehr zuziehen.
»Ich … ein älterer Bruder bat mich um das Anzünden einer Kerze … damit er besser lesen könne …«
Bruder Rudgers Gesicht wurde zu Eis und seine Stimme gefror den letzten Rest Mutes, den Eckhart noch in sich spürte.
»Wie bitte?«
Vor seinem geistigen Auge sah Eckhart bereits, wie der Orden ihn mit Schimpf und Schande vor die Klostermauern setzte. Das war es dann also mit der Erforschung der Welt, den Begegnungen mit den größten Denkern der Zeit. Betreten schaute Eckhart auf seine Füße, sein Gestank füllte mittlerweile die kleine Amtszelle völlig aus.
»Er wollte mir Córdoba zeigen«, murmelte er.
»Da drinnen?« Bruder Rudger zeigte ungläubig auf die Tür.
Die anderen beiden lachten leise.
»Nun, hinter dieser Tür wird sich wohl kaum das Königreich Kastilien verbergen«, bemerkte der Fremde. Eckhart hob vorsichtig seine Augen. Vor ihm stand ein groß gewachsener, hagerer Mann, der den Zenit seines Lebens bereits weit überschritten hatte. Dennoch war seine Haltung aufrecht und strahlte eine natürliche Autorität aus.
»Nein, nein, wir sprachen über Ibn Ruschd und …«
»Über wen?« Rudgers Stimme überschlug sich.
Hatte Eckhart etwas Falsches gesagt? Er dachte fieberhaft nach. Ibn Ruschd war natürlich ein Heide, aber er hatte doch offenbar Aristoteles ausgelegt und hatte nicht gerade der große Ordensbruder Thomas von Aquin darüber Vielgerühmtes geschrieben?
Verdammt, warum wusste er so wenig davon. Ein falscher Name, ein falsches Wort konnte ihn Kopf und Kragen kosten. Immerhin hatte die gesamte christliche Welt gegen die Araber Krieg geführt. Eckharts Hände waren schweißnass. Hinter der Tür war ein Buch, eines mit arabischen Schriftzeichen. Der Mönch, der es in seinen Händen hielt …, er wusste noch nicht einmal seinen Namen.
Nichts sagen, nicht darüber, schoss ihm durch den Kopf. Das war sicher besser. Viel besser. Nicht noch Öl ins Feuer gießen.
Der hagere Fremde beugte sich leicht nach vorne, als ob er dadurch den Jungen besser in Augenschein nehmen könne.
»Du … du interessierst dich für den Araber?«
Es war nicht auszumachen, ob seine Frage rein neugieriger Natur war oder er es für häretisch hielt, den Namen des Gelehrten aus Córdoba auch nur in den Mund zunehmen. Die Dominikaner stellten brillante Inquisitoren. Kein Wunder. Jede Antwort konnte jetzt weitaus größere Konsequenzen haben, als nur eine Schelte oder den Verweis aus dem Konvent.
Die drei Männer schauten ihn fragend an.
»Ich … suche nur …« Welches Wort war jetzt nicht verfänglich? Wahrheit? Wissen? »… Erkenntnis.«
»Zu welchem Zweck?«, bohrte der hagere Fremde weiter.
Eckhart wand sich wie ein Aal in den Händen eines Fischers. Was hatte das alles damit zu tun, dass er hier uneingeladen hereingeplatzt war? Er rang um die richtige Antwort, seine Stimme versagte, war fast nur noch ein Krächzen: »Um … Gott zu finden.«
Bruder Rudger hustete, als ob er sich an einer Gräte verschluckt hätte.
Wäre Eckhart doch nur bei den Latrinen geblieben. Natürlich, er war ins Kloster gegangen, weil er mehr über die Welt wissen wollte, er wollte wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Er war hungrig nach Antworten. Stattdessen hing er jetzt in einem Verhör.
Verzweifelt schaute er sich um, die rettende Tür zum Hof war so weit weg wie die Sterne am Himmel.
»Du willst über die Erkenntnis Gott finden, habe ich dich da richtig verstanden? Du willst ihm nicht nur nahe kommen, sondern ihn finden, gegenüber stehen, vielleicht sogar mit ihm eins werden? Über die Erkenntnis?«
Eckhart runzelte die Stirn. Das hatte er doch gar nicht gesagt, der fremde Dominikaner verdrehte ihm die Worte im Mund.
»Nein … ja«, stotterte Eckhart.
Was war das gerade gewesen? Was hatte der Dominikaner gesagt?
Er hielt inne.
In seinem Inneren sprang etwas an, wie das Werk einer Mühle, Räder griffen ineinander, begannen sich in Bewegung zu setzen. Er vergaß den Raum um sich, die fragenden Augen, selbst seine Angst. In ihm arbeitete es, er fiel in eine andere Welt, blendete aus, wo er war, was um ihn geschah. Er kannte das, sein Vater hatte es jedes Mal gehasst, wenn er so in die Gedankenwelt verschwand und mit irgendwelchen wilden Ideen wieder auftauchte.
Wenn er den Gedanken des fremden Mönches weiterspann, dann könnte es vielleicht sogar eine gewisse Logik haben. Lose Bilder formten sich zu Ideen, Gedanken stiegen in ihm auf wie Luftblasen vom Boden eines Sees, drohten ihm über seine Zunge zu rollen. Doch bevor Eckhart über die Konsequenzen nachdenken konnte, entflohen ihm die Worte.
»Ist unsere Fähigkeit zu erkennen nicht von Gott geschenkt? Könnte es nicht somit sein, dass Erkenntnis göttlich ist und ich darüber in das Göttliche …«
»Ich glaube«, unterbrach Prior Ulrich sanft, »das langt uns.«
Der Fremde tat immer noch so gleichgültig, als ob sie sich über die Holzfarbe der Klosterpforte unterhalten würden, nur sein Blick glich eher dem eines Löwen auf der Jagd, als er sich an Eckhart wandte. »Das ist in der Tat eine sehr interessante Brücke, die du da begehen möchtest. Wie heißt du, Junge?«
»Eckhart, ich heiße Eckhart.«
»Hmmm. Ihr habt da ja einen spannenden Nachwuchs, Prior.« Es war nicht auszumachen, ob das ein Kompliment oder sein Todesurteil war. Bruder Rudger sah inzwischen aus, als ob er an der nicht vorhandenen Gräte stehend erstickt wäre. Der Prior nickte nur leicht.
»Ich glaube, Eckhart, du kannst jetzt gehen.«
Eckhart war schon fast durch die Tür.
»Eckhart?« Der Prior. Eckhart verharrte. Noch nicht entkommen. »Noch eines, bitte nutze vor der Komplet die Vorzüge des Flusses hinter unserem Haus.«
Als er draußen stand, holte er tief Luft. So ein Mist! Was hatte er denn da drin nur von sich gegeben? Warum war er einfach blind durch eine Tür gelaufen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbarg? Es war zum Verzweifeln. Und das alles nur, weil Andreas ihm nachgestellt hatte. Ohne ihn wäre er nicht geflohen, wäre er nicht dem Prior in die Arme gelaufen. Jetzt hing er wirklich in der Klemme.
Eckhart stand immer noch an der Tür und schaute über den leeren Innenhof. Es hatte natürlich auch sein Gutes gehabt, so überlegte er, sonst wäre er wohl kaum dem geheimnisvollen Mönch begegnet. Ob er noch einmal Gelegenheit bekommen würde, ihn wiederzusehen?
Das war jetzt gleich, er musste erst einmal seine Arbeiten beenden. Er eilte zu den Latrinen, Andreas und seine Konsorten waren spurlos verschwunden und er machte sich zügig daran, alles zu putzen.
Während er das Holz schrubbte, verfluchte er sich immer wieder, dass er gegenüber dem Prior nicht einfach den Mund gehalten hatte. Ausgerechnet einen arabischen Philosophen zu nennen, war er von Sinnen gewesen?
Die Zeit war schon vorgerückt, als er endlich fertig war. Er blickte an sich herunter. Seine Arbeitskutte starrte vor Dreck, so konnte er nicht zur Komplet. Jetzt konnte nur noch einer helfen. Er lief los.
Er rannte Helwig fast um, der gerade aus der Küche kam.
»Ich brauche deine Hilfe!«, stieß Eckhart atemlos hervor.
»Puh, Junge, du stinkst ja schlimmer als eine Jauchegrube.«
»Ja, ich war bei den Latrinen und Andreas und … ach, das ist jetzt auch egal, aber ich kann so nicht zur Komplet. Hast du noch ein Gewand für mich?«
Helwig schaute an ihm herunter. »Hmm, natürlich. Komm herein in die gute Stube und warte mal kurz.«
Er ließ ihn kurz allein, aber es dauerte keine Minute und er war mit einer Ersatzkutte zurück. »Hier ist das gute Stück. Am besten du springst zuerst in den Fluss, bevor du sie anziehst. Ist ja echt übel so.«
Eckhart seufzte. »Ja, das meinte der Prior auch schon.«
»Der Prior?«
Er schüttete Bruder Helwig sein Herz aus und dieser sog am Ende pfeifend die Luft ein. »Da bist du ja vom Regen in die Traufe gefallen.«
Nach einem kurzen Schweigen fragte Eckhart: »Weißt du, wer der Mönch in der Kammer mit den Schriften ist? Ich habe ihn noch nie gesehen, bei keinem Gebet, bei keiner Messe.«
»Das wird wohl der alte Horatio sein. Er hat seine Zelle vorne, direkt neben dem Raum, der dir wie eine Bibliothek vorkam. Eigentlich ist es nur ein Abstellraum, einige Folianten und Schriftrollen liegen dort. Der Teil gehört zu dem alten Gebäude, das stand hier schon, bevor der Orden das Haus kaufte und zu einem Kloster ausbaute. Es ist geplant, dass dieser Raum irgendwann einmal eine Art Skriptorium wird, als Erweiterung zu der Amtsstube des Priors sozusagen. Horatio und Ulrich kennen sich wohl aus alten Zeiten, frag mich nicht. Dass er nicht an der Liturgie teilnimmt, ehrlich, ist schon seltsam. Ich dachte, Bruder Horatio wäre krank und würde quasi nur noch im Bett liegen.«
Eckhart trat von einem Fuß auf den anderen. »Meinst du, es passiert jetzt etwas, weil ich da so bei dem Prior reingeplatzt bin und gesagt habe, dass ich mich für einen arabischen Philosophen interessiere?«
»Also, mach mal halblang. Du hast nicht gesagt, dass du dich für ihn interessierst, sehr schlau, einfach etwas anderes zu antworten, als du gefragt worden bist … was sagtest du, sei dein Vater? Vogt? Weiß, wie man mit Worten umgeht, was? Na, muss man wohl, wenn man Streitereien schlichten will. Ha, auch egal, gut gemacht. Abgesehen davon lesen selbst die gelehrtesten Meister in Paris den Araber, kann nicht so verkehrt sein. Mit der Philosophie kenne ich mich nicht so aus, dem ganzen Erkenntniskram und so. Für mich ist Gott das Salz im Essen, der Duft eines gelungenen Mahls, und wenn du noch weiter in meiner Küche stehst, wird dein Duft hier noch alles verpesten und nichts Göttliches übrig lassen. Also, mach, dass du rauskommst, verspätest dich sonst noch bei der Komplet.«
Als Eckhart um die Ecke witschte, fasste sich Helwig mit beiden Händen an den Kopf. »Wenn der so weitermacht, so schlau daher denkt, dann wird aus dem noch etwas ganz Großes.« Er drehte sich in seiner Küche um und murmelte: »Oder sie kerkern ihn ein und lassen ihn verrotten.«
Die Stimme des Priors erfüllte den Raum, als er die Komplet begann: »Deus, in adiutorium meum intende.« Oh Gott, komme mir zur Hilfe.
Oh ja, Eckhart betete inständig die Antwort: »Domine, ad adiuvandum me festina.« Herr, eile mir zur Hilfe.
Ohne göttliche Hilfe kam er da nicht mehr heraus. Innerlich zählte er alle seine Verfehlungen auf: Er hatte seinen Arbeitsplatz verlassen, er war in die privaten Gemächer von Bruder Horatio eingedrungen, er hatte eine Unterredung des Priors unterbrochen, er hatte Interesse an den Gedanken eines Heiden erkennen lassen. Eckhart seufzte. Dabei hätte er ja nur zu gerne gewusst, was denn dieser Averroës nun überhaupt gesagt hatte.
Er merkte gar nicht, wie die Komplet sich dem Ende zuneigte und erst als der Prior mit dem Nachtsegen eine gute Nacht unter Gottes Schutz wünschte, tauchte Eckhart aus seinen Gedanken auf. Wie sollte das eine gute Nacht werden?
»Eckhart?«
Er zuckte zusammen. Alle anderen gingen bereits in Richtung des Dormitoriums, dem Schlafsaal. Der Blick Prior Ulrichs ruhte auf ihm, unergründlich.
Wenn nur der Boden sich öffnen, dachte Eckhart, und mich einfach verschlucken könnte.
»Du bist da heute Abend auf sehr dünnem Eis gewandelt. Gedanken können gefährlich sein, noch viel gefährlicher ist es, sie unbedacht auszusprechen. Die größten Gelehrten zerbrechen sich die Köpfe, wie tief das menschliche Bewusstsein reicht und wo es endet, wo eine Sphäre beginnt, die der Mensch noch nicht einmal mehr berühren kann.« Prior Ulrich faltete seine Hände. »Du hattest Glück, dass du heute Heinrich von Halle gegenüberstandst. Er ist der Beichtvater der Mystikerin Mechthild von Magdeburg, er selbst hat sechs Bücher von ihr zusammengestellt. Mit ihm kannst du solche Dinge bereden, wie weit der Mensch nach den Sternen greifen kann. Doch zukünftig klopfst du an, wenn eine Tür verschlossen ist, zukünftig schweigst du, wenn Fremde anwesend sind und lässt mich oder einen älteren Bruder antworten. Ist das klar?«
»Heißt das … heißt das, Ihr lasst Gnade vor Recht walten?«
Irritiert schaute Prior Ulrich ihn an.
»Du bist jung, du wirst noch viel lernen. Wie solltest du lernen, wenn du keine Fehler machen darfst?«
Eckhart fielen ganze Mühlsteine vom Herzen. Der Prior schien es nicht weiter zu bemerken, hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und ordnete seine Sachen.
»Ach, Eckhart?«
Der Prior drehte sich noch einmal um.
»Bruder Horatio bittet dich, morgen nach der Terz zu ihm zu kommen. Ich habe Bruder Rudger bereits mitgeteilt, dass du bis zum Mittag freigestellt bist.«
Eckhart klappte seine Kinnlade runter, er schloss seinen Mund, öffnete ihn wieder. Er musste wie ein Fisch auf dem Trockenen aussehen. Er hatte sich gewiss verhört: Morgen früh gab es keine Steine, die zu schleppen waren, keine Latrinen zu säubern, er durfte etwas lernen? Gut, nicht in der Schule, aber immerhin bei Bruder Horatio?
Prior Ulrich hatte sich wieder seinen Sachen gewidmet, blickte noch einmal auf.
»Gibt es ein Problem damit?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, brachte Eckhart stammelnd vor, »sehr gerne, morgen nach der Terz!«
Am nächsten Tag stand Eckhart am späten Vormittag direkt nach der Terz wieder vor Bruder Horatio. Etwas Sonnenlicht sickerte in den Raum, der am Tag noch schlimmer aussah, als Eckhart es am Abend zuvor angenommen hatte. Pulte waren umgefallen, Stühle lagen achtlos herum und der Boden war mit Dreck überzogen. Bruder Horatio saß zusammengesunken an einem Tisch und es war nicht zu bemerken, ob er nun Eckharts Kommen wahrgenommen hatte oder nicht.
Eckhart wartete nicht auf eine Aufforderung, solange Bruder Horatio so abwesend wirkte, konnte er sich hier genauso gut nützlich machen. Immerhin hatten sie den ganzen Morgen Zeit und irgendwann würde der alte Mann schon aus seiner Trance aufwachen. Eckhart richtete die Stühle auf und stellte die Tische wieder hin. Einen zerlumpten Beutel, der auf dem Boden lag, legte er in ein Regalfach und ließ währenddessen seinen Blick durch den Raum schweifen. An der Fensterwand hing ein schlichtes Kreuz, die winzigen Fensteröffnungen waren mit gegerbten Tierhäuten verhängt, das teure Glas wurde nur in der Kirche und vereinzelt in den neuen Räumen des Klosters verwendet. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Regal, das sich über die ganze Wand bis zu einer Tür ganz hinten rechts erstreckte. Hinter dieser befand sich vermutlich das Schlafgemach von Bruder Horatio.
Seltsam, dass er nicht wie alle anderen auch im Dormitorium schläft, dachte Eckhart.
Viele der unteren Regalfächer waren leer, die mittleren Reihen waren mit Pergamentrollen und Schreibutensilien gefüllt. In den obersten Reihen lagen oder standen Folianten. In der Mitte lehnte die ihm bekannte Leiter und führte zu dem Fach mit den Kerzen.
An der linken Wandseite standen zwei schwere Eichentruhen, die rechte Wand des Raumes war leer. Lediglich die Tür zur Amtsstube des Priors durchbrach das Gemäuer, das dringend einer Renovierung bedurft hätte.
Bruder Horatio saß immer noch an seinem Tisch, kurz vor der Tür zu der Amtsstube, und döste. Als Eckhart einen Tisch über den Lehmboden zog, um ihn in die Mitte der Raumes zu bewegen, knarzten die Holzbeine widerwillig auf. Der Alte zuckte zusammen.
»Was machst du da?«, fuhr er ihn an.
»Ich … ich räume ein wenig auf. Ihr wart noch vertieft und ich dachte …«
»Was willst du hier?«, fragte er unwirsch.
»Ihr … Ihr wolltet mir …« Eckhart wurde immer leiser.
Er hatte sich so sehr auf diesen Augenblick gefreut. Nachdem er wusste, dass der alte Bruder Horatio ihm etwas über die große Welt erzählen durfte, hatte er kaum Schlaf finden können. Die Zeit vom Aufstehen bei Sonnenaufgang bis jetzt war so zäh vergangen. Und jetzt? Jetzt sollte sich Bruder Horatio nicht mehr an ihn erinnern?
»… Ihr wolltet mir etwas über Córdoba erzählen«, vervollständigte er seinen Satz.
»Was?« Horatios Blick durchstieß ihn regelrecht, mit einem Mal war der alte Mann hellwach. »Wieso Córdoba?«
»Weil … weil Averroës dort gewirkt hat. Da war die arabische Schrift in dem Folianten und …«
»Woher weißt du von diesem Werk?«
Eckhart runzelte die Stirn. »Ihr habt es mir gezeigt.«
Die Augen von Bruder Horatio weiteten sich. »Ich habe es dir …?«
Er fasste sich an den Kopf und stöhnte leicht auf, als ob er mit einem Mal Schmerzen habe.
»Ist Euch nicht gut? Soll ich Prior Ulrich holen?«, fragte Eckhart besorgt nach.
»Nein, nein.« Er barg sein Gesicht in den knochigen Fingern und schüttelte sein Haupt. »Ich bin so ein Narr, was kann ich meinen Mund nicht halten.« Er seufzte. »Also gut, wenn du nun schon einmal hier bist. Aber um Himmels willen, hör auf mich zu ihrzen. Dieses ›Ihr‹ und ›Euch‹, dieses Getue geht mir auf die Nerven, verstanden?«
Eckhart nickte stumm.
Horatio brummte: »Na gut, wie heißt du?«
»Eckhart. Eckhart von Hochheim.«
»Hmm«, der Alte nickte leicht, als ob er mit der Antwort irgendwie zufrieden sei. »Eckhart also. Ich bin Bruder Horatio, aber das ist dir sicher bekannt, musst ja mit jemandem gesprochen haben, damit du hier sein darfst.«
»Ja, Prior Ulrich sagte …«
»Jaja, richtig, richtig.« Bruder Horatios Gedächtnis schien wieder zu kommen. »Ich sprach gestern mit ihm über einen Jungen, der hier hereingeplatzt ist und stank, als ob er ein Überlebender des Erfurter Latrinensturzes gewesen sei. Das Erstaunliche an dem Jungen war jedoch, dass er willens war, sich den größten Gelehrten unserer Zeit zu stellen. Daran hat sich nichts geändert, fürchte ich.«
Eckharts Gesicht glühte vor Freude auf. »Nein, Bruder Horatio.«
»Hmm, nun, Córdoba also. Was willst du wissen?«
»Alles«, schoss es aus Eckhart heraus. Er schaute auf den alten Mönch vor sich, ließ seinen Blick über das Regal mit den Pergamentrollen und Folianten streifen, als ob er dort eine Antwort greifen könnte. »Einfach …«, er breitete suchend seine Hände aus, stammelte, »… alles.«
Bruder Horatios Gesicht hatte an Härte verloren, seine hellblauen Augen waren milder geworden und Eckhart hätte schwören können, dass er in sich hineinlachte, auch wenn sich seine Lippen nicht bewegten.
»Nun, alles also. Gut, gut.« Bruder Horatio überlegte kurz. »Erinnere ich mich recht, dass du nicht wusstest, wo Córdoba liegt?«
Eckhart nickte, er konnte es kaum fassen, er stand mitten in einem Wirklichkeit gewordenen Traum.
Horatio deutete auf das Regal: »Da oben, die große Rolle, hole die mal her. Ah … und die beiden Tische dort, die schiebe zusammen.«
Eckhart tat, wie ihm geheißen, und als er die Rolle, die sicher eine Länge von zwei Ellen hatte, auf den Tisch legte, erhob sich Bruder Horatio ächzend. Auf einen kleinen Stock gestützt, schlurfte er zu ihm herüber, das rechte Bein zog der Alte leicht nach.
»Geht es?«, fragte Eckhart.
»Jaja, meine alten Knochen wollen nicht mehr ganz so, wie sie sollen, aber es geht schon, geht schon.«
Als er neben Eckhart angekommen war, legte er den Stock auf den Tisch und breitete mit seinen hageren Armen die Rolle vor ihnen aus. Eckhart hielt die Luft an. Vor ihnen lag eine Zeichnung mit bunt gemalten Flüssen und angedeuteten Bergspitzen, das Bild war übersät mit filigranen Schriftzügen, in der Mitte und am oberen Rand waren riesige Seen eingezeichnet, in denen sich Ungeheuer tummelten: Es war ein Kunstwerk.
»Was ist das?«, flüsterte Eckhart ehrfürchtig.
Horatio blickte ihn an und mit einer einladenden Geste antwortete er: »Das, mein Junge, das ist die Welt. Hier ist Erfurt, da stehen wir zwei gerade. Dort ist Köln mit dem berühmten Studium generale, du wirst sehen, eines Tages wird dort eine Universität stehen. Wenn Erfurt weiter so floriert, wird es auch hier nicht mehr lange dauern. Bisher gibt es aber nur wenige Universitäten auf der ganzen uns bekannten Welt. Bologna, Padua, Oxford und hier, die Universität in Paris sind einige der wichtigsten. Unser großer Ordensbruder Thomas von Aquin lehrte zum Beispiel hier in Paris. Er ist der Einzige, der jemals zweimal zu einer Professur an diese Universität berufen wurde und diese Herausforderung annahm. Hier in Paris sitzt das Wissen der Welt.«
Er fuhr mit seinem Finger weiter nach links über die Karte. »Hier, ganz hier unten, auf der iberischen Halbinsel, da befindet sich Córdoba. Große Gelehrte waren dort, wie der arabische Averroës, aber auch der Jude Maimonides und Seneca der Jüngere wurden dort geboren. Unser Ordensgründer, der heilige Dominicus, ist Schutzpatron der Stadt. Ich hörte erst kürzlich das Gerücht, dass sogar Avicenna dort gewesen sei, er wurde sogar als Fürst von Córdoba bezeichnet. Das halte ich für Unsinn, der berühmte Arzt und Philosoph Ibn Sina, den wir als Avicenna kennen, war niemals in Spanien. Aber es macht deutlich: Córdoba ist ein Juwel. Du müsstest die Bauwerke sehen, die Mezquita ist ein wahrer Augenöffner.«
»Die Mezquita?«
»Eine gewaltige Moschee von überirdischer Schönheit. Seit die christliche Welt Córdoba vor mehr als fünfunddreißig Jahren zurückeroberte, wird sie als Kathedrale genutzt. Ihre Erbauer waren wahrhaftige Meister der Architektur.«
»Du sprichst mit einer solchen Hochachtung von den Muslimen, ihren Bauten und Philosophien, aber wie können sie etwas über die Wahrheit oder über Gott aussagen? Es sind doch Heiden.«
Bruder Horatio packte Eckhart an der Schulter, seine knochigen Finger bohrten sich in seine Haut und seine wässrigen Augen wurden ernst. Da war nichts Schläfriges oder Abwesendes mehr.
»Mein Junge, das, was ich dir jetzt sage, verlässt niemals diesen Raum, hörst du?«
Eckhart nickte überrumpelt. Hatte er etwas Falsches gesagt?
»Einige dieser Menschen, die du als Heiden bezeichnen würdest, sind meine besten Freunde. Sie haben ein Wissen, das dem unsrigen weit überlegen ist, eine Kultur, vor der wir uns nur verneigen können. Ohne sie wüssten wir nichts über Medizin oder Astronomie und wir hätten die meisten Schriften des Aristoteles nicht. Auch sie kennen Gott, kennen Wege in das Herz des Unbegreiflichen. Sie benennen es vielleicht anders, nutzen andere Begriffe, aber in meinen Augen gibt es nur einen Weg, nicht einer des vagen Glaubens noch der eines blinden Folgens von Regeln. Der eine Weg ist Logik.« Er tippte sich auf das Herz und wiederholte liebevoll: »Logik.«
»Sitzt die Logik im Herzen?«
»Nutze immer deinen Verstand und dein Herz. Sie sind wie die Flügel eines Vogels, nur mit einem fliegt es sich einfach schlecht.«
»Wenn dem so ist, wie du sagst … dass es diesen Weg gibt, warum erforschen wir dann nicht alle gemeinsam die Schriften, warum bekämpfen wir uns dann?«
»Warum wir uns bekämpfen? Die Welt ist voller Narren, sie sind sich ihrer Endlichkeit nicht bewusst. Sie jagen Dingen nach, die ihnen Glück verheißen und fliehen dem, was ihnen Glück bescheren würde. Und vergiss nicht: Das Fremde macht Angst. Was soll ich dazu sagen, Junge? Aber die Schriften, die Schriften werden natürlich studiert. Dazu müsstest du nach Paris an die Universität. Dort kommen die Gelehrten zusammen, dort werden die neuen Welten aufgestoßen.«
»Paris«, murmelte Eckhart. Es klang wie eine Verheißung in seinen Ohren.
Horatio fuhr fort: »Avicenna, Averroës und Maimonides werden selbstverständlich gelesen, gerade ihre Aussagen zu Aristoteles sehr ernst genommen und offen diskutiert.«
»Aber wie ist das möglich?«
»Wenn ein Mensch etwas als wahr erkannt hat, wie zum Beispiel, dass zwei und zwei vier ist, dann kann eine andere Wahrheit nicht etwas anderes aussagen und behaupten, dass zwei und zwei acht sei. Eine Wahrheit kann der anderen nicht widersprechen, das stellte übrigens Averroës fest und kein Gelehrter würde etwas anderes behaupten wollen.«
Eckhart nickte nachdenklich. Eine Maus huschte über den Boden und verharrte in einer Ecke.
»Der Haken mit den Philosophen, allen voran aber auch und gerade Aristoteles, ist ein anderer«, setzte Bruder Horatio fort. »Unsere Welt ist ganz einfach: Die Erde ruht in der Mitte des Universums und wird umgeben von himmlischen Sphären. Die Ordnung der Sphären wird durch unkörperliche Wesen gehalten, das ganze Wunder ist von Gott erschaffen worden, wird von ihm gelenkt und geführt.«
Die Maus begann, sich genüsslich zu putzen. Horatio zeigte auf den possierlichen Nager.
»Er hat dieses Wesen auf eine einzigartige und absolut wundervolle Weise erschaffen, genauso wie dich und mich.«
»Wie sollte es sonst sein?«
»Nun, es gibt da Quellen bei Averroës, aber auch bei Aristoteles, die sagen, die Welt wäre ewig. Eine Schöpfung in der Zeit, wie wir sie kennen, mit einem Anfang und Ende, ist da nicht vorgesehen. Zudem, so verfechten einige, gäbe es feste Naturgesetze, die Wunder unmöglich machten. Da kann es niemanden geben, der über Wasser geht, keinen, der aus einem Wasserfass Wein schöpft. Die Tücken liegen im Detail, mit einem Mal wird eine hochgepriesene Schrift, ein verehrter Philosoph, zu einem aktiven Vulkan, der jederzeit hochgehen kann. Würdest du dein Haus auf einen solchen Vulkan setzen?«
Eckhart schüttelte den Kopf.
»Dann«, erwiderte er, »müssen sie sich täuschen. Es kann nur eine Wahrheit geben, eine andere kann ihr nicht widersprechen. Das sagte selbst Averroës.«
Die Maus hielt wieder inne, starrte Eckhart kurz an und sauste dann quer durch den Raum, verschwand in einem Loch an der Unterseite des Regals.
»Ha!« Der Alte richtete begeistert seinen Finger auf Eckhart. »Jetzt bist du auch schon an dem Punkt. Du argumentierst mit einem Autoritätsbeweis, so wie unser berühmter Ordensbruder Thomas von Aquin, und wen ziehst du als Autorität heran? Wen?« Bruder Horatio schlug sich vor Lachen auf die Oberschenkel und beantwortete sich die rhetorische Frage selbst. »Den Heiden.«
Eckhart war entwaffnet, verwirrt und in seinem Kopf sausten die Gedanken wie in einem Bienenschwarm. In diesem Durcheinander schälte sich eine andere Frage aus seinem inneren Kosmos, etwas, was ihn schon die ganze Nacht beschäftigt hatte. Vielleicht wusste Bruder Horatio Rat.
»Wieso bohrte Heinrich von Halle so nach, als ich Averroës erwähnte und was meinte er damit, als er sagte, dass Erkenntnis eine interessante Brücke zu Gott wäre?«
»Was?« Bruder Horatio blinzelte mit den Augen, als ob er sich nicht sicher sei, dass seine Ohren ihm das zugetragen hatten, was er zu verstehen meinte. »Du hast mit dem Beichtvater der Mechthild über Erkenntnis gesprochen?«
Eckhart erzählte ihm, was geschehen war, als er gestern Abend in Prior Ulrichs Zimmer geplatzt war.
»Du willst zu schnell zu viel wissen, meine Junge. Heinrich von Halle glaubt, dass es möglich ist, Gott zu begegnen, auf Augenhöhe, verstehst du? Er geht davon aus, dass Mechthild von Magdeburg das sogar erreicht hat.«
Eckhart wich einen Schritt zurück. »Wie meinst du das? Gott zu begegnen, so wie wir beide uns gerade gegenüberstehen?«
Aus dem Augenwinkel nahm Eckhart wieder die Maus wahr, die erneut durch den Raum hüpfte.
»Gott springt ihm«, hakte Eckhart weiter nach, »genauso durch den Raum wie das Tier da?«
Bruder Horatio zog sich seine Kapuze vom Haupt und raufte sich seine wenigen Haare. »Argh, ich sagte ja, es ist zu viel auf einmal, ja, genauso, aber natürlich nicht so.«
Eckhart verstand kein Wort. »Was ist das mit der Erkenntnis dann?«
Bruder Horatio stöhnte auf, als ob Eckhart ihm Folterinstrumente für ein peinliches Verhör gezeigt hätte. In einer Ecke rumpelte es leise, irgendetwas fiel um und der kleine Nager suchte erschrocken sein Heil in der Flucht.
»Wer hat dir die ganzen Fragen in die Wiege gelegt, Junge? Also gut, ein Letztes, ich will es versuchen. Es gibt eine Diskussion über das Erkennen, genauer gesagt über den Intellekt. Sie ist kompliziert, vielschichtig und sich in diesen Diskurs hineinzubegeben, ist so gefährlich, als ob du eine Wanderung durch einen Sumpf unternehmen würdest.« Horatio knetete seine Stirn. »Averroës, bleiben wir mal bei ihm, geht davon aus, dass es da so etwas wie eine Sphäre des Intellekts gibt, in der alle Weisheit und alle Erkenntnisse vorhanden sind. Aber diese Sphäre lebt gewissermaßen, sie ist aktiv, erschafft und auf der anderen Seite nimmt sie auf, hört zu.«
Horatio schlurfte einige Schritte weg vom Tisch, rang nach Worten. Dann wandte er sich um, beide Arme wie Flügel weit ausgebreitet.
»Er ist … wie ein Engel, ein Erzengel, wenn du so willst. Alles, was die Menschheit je verwirklichen kann, ist in diesem Wesen, ewig, unzerstörbar. Stell dir einmal vor, was für ein Schatz das ist … und die Menschheit verwirklicht die Möglichkeiten, die sich hier verbergen.«
Horatio unterbrach sich. »Nein, nein, vergiss das mit dem Engel, es ist nichts, was von dir getrennt ist, so wie Córdoba von Erfurt getrennt ist … Es ist vielmehr eine Sphäre, die den Reichtum der Menschheit bewahrt, es gibt da eine Durchlässigkeit, eine Brücke, wenn du so willst. Umso vollkommener du wirst, umso leichter kannst du diese Verbindung herstellen und in diese Sphäre vorstoßen …« Horatio ließ die Arme sinken. »Das ist dann eine Gnade.«
Eckharts Kopf sirrte.
»Gnade, das heißt …«, setzte Eckhart an.
»Nein, Schluss jetzt, das war eh schon viel zu viel. Wenn du einen Becher in den Hof stellst, dich dann drei Schritte weit entfernst und mit einem vollen Wassereimer versuchst, den Becher zu treffen, was wird passieren?«
Eckhart war verwirrt über die plötzliche Kehrtwendung.
»Es … das Wasser geht daneben, nur ein kleiner Teil wird in dem Becher landen.«
»So ist es. Wenn ich das ganze Wissen über dich vergieße, bleibt zum Schluss nichts hängen. Lass es uns langsam beginnen. Kannst du schon Latein?«
Er hatte zwar Unterricht zu Hause gehabt, aber seine Lateinkenntnisse waren auf dem Niveau des Dorflehrers und so schüttelte er den Kopf.
»Hmm«, brummte Horatio und rieb sich sein Kinn, »das hatte ich befürchtet. Nun gut, ich werde mit Ulrich sprechen, damit er dich in die Schule aufnimmt. Zu mir kommst du immer an jedem Mittwoch und Samstag, zu dieser Zeit.«
»Warum nur zweimal …?«, begehrte Eckhart auf.
Bruder Horatio schnitt jeden Widerstand mit einer Handbewegung ab. »Zweimal oder keinmal.«
Eckhart verstummte augenblicklich. Es war, als ob aus Bruder Horatio mit einem Mal alle Kraft gewichen sei. Seine Gesichtszüge fielen wieder ein, die Haut wurde blass, sein Kopf wirkte ohne die schützende Kapuze mehr denn je wie ein Totenschädel. Bruder Horatio griff sich seinen Stock vom Tisch und schlurfte zur Tür, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Eckhart hörte nur sein Murmeln: »Ich bin ein alter Mann, ein Narr, der zu viel gesehen hat. Räum alles auf und dann verschwinde.«
Die Maus huschte vor seine Füße und schlüpfte in die private Zelle. Bruder Horatio folgte ihr und die Tür fiel hinter ihnen mit einem leisen Klack ins Schloss.
Eckhart war allein.
Was war denn das gewesen? Zuerst die rüde Begrüßung, dann ein Feuerwerk an Wissen und Begeisterung und jetzt dieser Abgang. Er wurde nicht schlau aus diesem Bruder Horatio. Draußen erklang die Glocke und rief zur Mittagshore, der Sext. Bevor Eckhart die kostbare Karte einrollte, ließ er noch einmal seinen Blick über sie schweifen. Zärtlich fuhr seine Hand über das Pergament und blieb bei einer Stadt hängen – Paris.
Während des gesamten Mittagessens schwebte Eckhart zwischen Euphorie und Nachdenklichkeit. Bruder Horatio hatte die Tür zu einer völlig neuen Welt aufgestoßen, einer Welt, von der Eckhart geahnt hatte, dass sie existierte und er wollte nichts sehnlicher, als sich in ihr zu bewegen, frei zu denken und seinen Geist fliegen zu lassen. Er war noch in seine Gedanken vertieft, als die Tafel aufgehoben wurde und er seinen Teller in die Küche brachte. Er spürte, wie etwas von hinten zwischen seine Füße geriet, verlor das Gleichgewicht und fiel samt Schüssel der Länge nach hin. Die meisten hatten das Refektorium bereits verlassen, nur Andreas und ein paar Novizen waren noch hinter Eckhart.
Andreas beugte sich zu ihm herunter. »Oh, bist du hingefallen? Wie konnte das denn kommen?«
Eckhart hätte vor Überraschung und Wut heulen können. Jetzt keine Schwäche zeigen, dachte er sich. Er biss die Zähne zusammen und zog sich auf die Knie.
Andreas kam ganz nah, bis an sein Ohr: »Du bekommst hier keinen Fuß vor den anderen, du nicht.«
»Gibt es hier ein Problem?« Helwigs Stimme polterte durch den Raum.
»Nein, nein«, stotterte Andreas. »Eckhart ist nur hingefallen und ich wollte ihm nur aufhelfen.«
»Ich glaube, er kommt ohne deine Hilfe besser auf die Beine. Raus hier, alle.«
Die Jungen verließen eilig den Speisesaal und Eckhart rappelte sich wieder auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Helwig besorgt nach.
Eckhart nickte nur knapp und beeilte sich, seine Schüssel an ihm vorbei in die Küche zu bringen.
Für den Nachmittag war er zu Arbeiten am Ausbau des Westflügels eingeteilt, da würde er wohl Andreas und seinen Konsorten entgehen. Hoffte er zumindest.
Aber wie sollte das weitergehen? Er konnte ihnen nicht ewig ausweichen, dafür war das Klostergelände einfach zu klein.
Als er den Hof zum Westflügel überquerte, schaute er sich zuerst vorsichtig um, aber da war niemand. Kein Andreas, kein Wolpert mit seinem rosaroten Schweinsgesicht, niemand.
Als er bei der Baustelle ankam, war auch Bruder Rudger nicht zu sehen. Seit dem Ereignis bei Prior Ulrich mied Falkennase ihn, als ob Eckhart die Pest tragen würde. Nun, ihm sollte es recht sein.
Eckhart begann, die Steine wie gewohnt zu sortieren, in Körbe zu legen und zu den Maurern zu bringen. Offenbar waren die alle noch in der Mittagspause und so arbeitete Eckhart vor sich hin, verlor sich wieder in den Welten von Averroës, in das geheimnisvolle Córdoba und die Ideen, die Bruder Horatio angerissen hatte.
Eckhart kniete sich gerade nieder, um einen Stein zu prüfen, als sich ein Schatten von hinten näherte und sich über ihn legte. Er hielt inne, starrte auf den Schatten und schloss resigniert die Augen. Nicht schon wieder.
Der Schlag mit dem Knüppel traf ihn dennoch unvorbereitet. Hart. Er fiel zur Seite, schrie auf. Vor ihm standen Andreas, der einen Stock schwang und ihn hämisch angrinste, Wolpert und der hagere Heinrich, ein Strich in der Landschaft. Heinrichs Kinn lief unter seinen schmalen Lippen spitz zu, seine hohen Wangenknochen ließen ihn noch dünner erscheinen. Er sah aus, als würde er dauerhaft eine bösartige Krankheit in sich tragen, die ihn ausmergelte. Aus Erfahrung wusste Eckhart, dass sein schwächliches Äußeres täuschte und seine Arme wie Schraubzwingen zudrücken konnten.
Eckhart hielt sich die Seite, wo ihn der Schlag getroffen hatte.
»Na, du schätzt doch eine besondere Behandlung, oder?« Andreas ließ den Knüppel demonstrativ in seine rechte Hand fallen. »Bekommst sogar morgens jetzt frei, um für einen alten Bruder zu sorgen, hörte ich.«
Wieder sauste das Holz drohend in Andreas’ Hand. Eckhart krabbelte rückwärts, auf allen vieren, den Steinhaufen hoch, blickte sich hektisch um. Der Steinhügel war etwa mannshoch und lehnte an der Klostermauer, der Hof hinter Andreas und seinen Freunden war leer.
»Oh«, Andreas deutete hinter sich, »sie sind gerade alle in der Kirche, besprechen irgendwas. Hilfe wirst du jetzt keine bekommen, kein dummer Helwig, der dir zur Seite springt. Sieht aus, als ob du Pech hättest, Eckhart, Sohn eines Lügners.«
Das gab einen Stich, wütend sprang Eckhart nach vorne. Darauf hatte Andreas nur gewartet. Geschickt, als würde er ein Schwert führen, versetzte er ihm einen harten Schlag ihn die Seite. Eckhart stolperte zurück, rang nach Luft. Andreas machte einen weiteren Schritt, schwang das Holz erneut, ließ es niedersausen, immer wieder, links, rechts, links. Eckhart war völlig überrascht, die Schläge brannten wie Feuer, er bekam kaum noch Luft. Er riss die Arme hoch, versuchte sich zu schützen, ohne Erfolg. Fliehen, nur weg von den Schlägen, dem Holz. Er hastete den Steinhaufen hinauf, stolperte, fiel unsanft. Schon war Andreas über ihm.
»Du weißt nicht, wer ich bin, oder?« Andreas’ Augen hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt, Wahnsinn loderte in ihnen. »Ich werde dir sagen, wer ich bin. Ich bin Andreas von Frankenstein. Sagt dir dieser Name etwas?«
Eckhart schüttelte heftig den Kopf. Andreas wirkte enttäuscht, fast beleidigt.
»Du kennst nicht das ehrwürdige Geschlecht der Frankensteins?« Andreas’ Enttäuschung wuchs. »Wir haben Burgen und Ländereien besessen, nein? Burg Waldenfels, da läutet nichts?«
Eckhart versuchte wie wild, in seinen Erinnerungen etwas Brauchbares zu finden.
»Dein Vater hat meine Familie ruiniert«, spuckte ihm Andreas entgegen. »Ich hätte Ritter werden sollen, war bereits in der Zucht, lernte zu kämpfen und zu jagen. Dann kam dein hochverehrter Herr Vater, stellte unsere Familie vor Gericht. Seine Schlangenzunge verdrehte alles, wie ein teuflisches Gift breiteten sich seine Worte aus. Es hätte niemanden gewundert, wenn Schwefeldunst aus dem Boden getreten wäre. Von einem Tag auf den nächsten änderte sich alles.« Andreas ballte seine Faust. »Unser Land wurde gepfändet, unsere Burgen uns genommen. Ich flog bei dem Ritter raus, der mich unter die Fittiche genommen hatte. Ich würde seinen Namen besudeln, hatte er gesagt. Das besiegelte mein Schicksal. Mein Vater schickte mich als Mönch hierher. Ich. Ein Mönch.«
Andreas schrie Eckhart die letzten Worte ins Gesicht.
Eckharts Vater hatte einmal etwas von einem Ort namens Waldenfels erwähnt. Er war dort als Vogt eingesetzt gewesen, aber das war ewig her. Und damit verband sich noch etwas. Frankenstein. Doch, da war etwas gewesen. Er fand einen Gesprächsfetzen eines hohen Herrn mit seinem Vater.
»Frankenstein? Du meinst doch nicht die Raubritter, die beim Kloster zu Waldenfels hoch verschuldet waren?«
Einen Moment war Stille.
Eckhart dämmerte erst jetzt, was er da gesagt hatte. Andreas’ Lippen versuchten Worte zu formen, aber diese erstickten bereits in seiner Kehle. Er erhob sich mit quälender Langsamkeit, endlich löste sich ein Schrei, der aus seinen Eingeweiden zu kommen schien. Eckhart wartete nicht ab, bis Andreas den Holzprügel auf ihn niedersausen ließ. Er sprang den Steinhaufen hoch, das Gestein rutschte weg wie loses Geröll, der Hieb von Andreas traf ihn am Bein.
Jetzt oder nie, dachte sich Eckhart. Er hechtete auf die Spitze des Steinberges und sprang Richtung Klostermauer. Er wusste nicht, wie er einen solchen Sprung hatte wagen können, aber er landete tatsächlich oben auf der Mauer. Andreas hechtete wütend hinterher, Eckhart sah nur noch das Holz erneut auf ihn niedersausen, wich aus und spürte, wie er auf die andere Seite der Klostermauer rutschte. Er stürzte.
Dann riss die Zeit.
Alles um ihn herum wurde unwirklich ruhig. Eckhart sah die Mauer, fühlte den freien Fall, schwebte im Nichts. Es war eine vollkommene Stille, greifbar, auf seltsame Weise wunderschön. Er sah die Außenwand, wie er an ihr entlang nach unten fiel.
Das Nächste, was er mitbekam, war der Aufprall auf der Straße. Schmerzhaft. Er war zurück in der Wirklichkeit.
Er stöhnte auf, rollte sich auf den Bauch und starrte auf ein paar Schaftstiefel. Als sein Blick nach oben wanderte, erblickte er neben einem feinen Herrn, zu dem die Lederschuhe gehörten, das Habit eines Dominikanermönches.
Prior Ulrich.
Eckhart spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Der Prior schaute ihn mit einer gewissen Fassungslosigkeit an, ließ seinen Blick zur oberen Kante der Klostermauer schweifen, um ihn dann wieder auf Eckhart zu richten. Eckhart wollte nicht warten, bis der Prior Fragen stellte.
»Ich … war … übermütig, verzeiht, Prior Ulrich.« Etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein. Einen anderen Novizen zu beschuldigen, dass dieser ihn über die Klostermauer gejagt habe, dann noch vor einem Fremden. Das war gewiss unklug.
Er warf einen hastigen Blick auf den Mann neben Prior Ulrich. Dieser trug feinste Gewänder, sah darin aber wie ein verkleideter Dieb aus. Seine Pranken und sein breiter Brustkorb ließen erahnen, dass er es gewohnt war, schwere Waffen zu führen. Sein wettergegerbtes Gesicht war von Pockennarben zerfurchtet. Seine ganze Haltung zeigte tiefe Abscheu, als ob Eckhart eine Ratte wäre, die man ihm vor die Füße geworfen hätte.
Hinter seinem Rücken tauchte ein weiteres Gesicht auf, neugierige Mädchenaugen musterten ihn, den vom Himmel Gefallenen. Sie musste in seinem Alter sein, ihr rundes Gesicht betonte ihre großen Augen, das blonde Haar war kunstvoll zu vier Zöpfen geflochten, die durch ein Netz am Hinterkopf gehalten wurden. Eine freche Haarsträhne hatte sich gelöst und baumelte vor ihrer Nase.
Sein Mund wurde schlagartig staubtrocken. Sie war schön.
»Nun«, sagte Prior Ulrich gedehnt und ließ seinen Blick wieder über die Klostermauer schweifen. »Übermütig?«
»Ja, Prior Ulrich«, antwortete Eckhart kleinlaut. Der Prior sah ihn an, als ob Eckhart behauptet hätte, er hätte mit einem Engel Flugübungen unternommen. Doch der Prior fasste sich schnell wieder.
»Du gehst zunächst ins Infirmarium, den Krankensaal«, befahl er. »Dort soll dich Bruder Ottokar in Augenschein nehmen. Heute Abend meldest du dich unaufgefordert bei mir, nach der Vesper.«
Eckhart nickte, warf noch einmal einen kurzen Blick auf das Mädchen, die ihn schelmisch anlächelte, und eilte dann zur Klosterpforte. Erst jetzt merkte er, wie ihn sein rechtes Bein und seine Rippen schmerzten, ob von den Schlägen mit dem Prügel oder von dem Aufschlag auf der Straße konnte er nicht sagen. Sein Bein zierte eh schon ein schillernder blauer Fleck, dank der unsanften Begegnung mit dem Latrineneimer. Der Fall hatte es jetzt nicht besser gemacht. Dennoch wollte er sich keine Blöße geben, ging mit aufrechter Haltung und schwungvollem Schritt. Er musste sich eingestehen, dass er dies nicht für das Bild tat, dass er bei Prior Ulrich oder dem unsympathischen Fremden hinterlassen könnte.
Bruder Ottokar war so breit wie groß, sein Kopf glich einer Birne und eine ständige Schweißschicht bedeckte seine rote Stirn. Er redete nicht viel, dafür summte er häufig leise vor sich hin, manchmal sogar in den Gebets- und Stillestunden, was die Novizen meist mit einem belustigten Kichern quittierten. Zudem sah Bruder Ottokar unglaublich schlecht; Eckhart hatte gesehen, wie er versucht hatte, ein Pergament zu lesen und es dazu direkt vor seine Nase gehalten hatte.
Auch jetzt summte Bruder Ottokar leise vor sich hin und deutete Eckhart, sich seiner Kutte zu entledigen.
So blind, wie der ist, wird er überhaupt nichts sehen, dachte sich Eckhart. Letztlich war ihm das auch lieber. Wie sollte er die blauen Flecken und Striemen erklären, die Andreas’ Prügel hinterlassen hatte? Vielleicht damit, dass er sich zuerst aus dem Fenster gestürzt hätte, um zu sehen, ob der Fall von einer Klostermauer zu überstehen wäre? Mist. Jetzt saß er wieder in der Klemme, zum zweiten Mal seit gestern Abend stand ein Gespräch mit dem Prior an. Nicht gut.
Bruder Ottokar summte eben leise vor sich hin. Als er Eckhart anpackte, um ihn zu drehen, zog Eckhart vor Schmerz die Luft ein. Bruder Ottokar hielt in seinem Singsang inne und holte einen geschliffenen Bergkristall aus einer Kiste. Er kam damit zurück, hielt sich den Stein direkt vor die Nase und berührte dabei fast Eckharts Rippen. Bruder Ottokar pfiff durch die Zähne, richtete sich auf und blickte Eckhart direkt an. Dabei vergaß er, den geschliffenen Bergkristall von seinem Auge zu nehmen, das mit einem Mal dreimal so groß aussah und ihn anblinkte wie das Sehorgan eines Meeresungeheuers.
»Hm.« Das war das Einzige, was er sagte. Dann ging er zu einem Regalbrett an der hinteren Wand, auf dem zahlreiche Töpfe standen. Sie waren allesamt beschriftet, auf den meisten waren Kräuter- oder Pilznamen vermerkt. Er griff zielsicher ein kleines Gefäß heraus, das nur mit einem großen X gekennzeichnet war. Es enthielt eine übel riechende Salbe, die er behutsam auf die gepeinigten Stellen auftrug.
Eckhart atmete durch, als er spürte, wie der Schmerz nachließ.
»Dank dir«, murmelte Eckhart. Bruder Ottokar wackelte nur mit dem Kopf und winkte ab, zeigte aber an, dass Eckhart sich auf die Liegestätte zu betten habe. Seine Körperhaltung duldete keinen Widerspruch und so tat Eckhart, wie geheißen. Tatsächlich schlief er fast augenblicklich ein.
Draußen war es bereits dunkel, die Zelle wurde nur durch eine schwache Kerze erhellt, als Bruder Ottokar ihn sanft weckte. Es dauerte einen Moment, bis Eckhart begriff, wo er war.
Der Prior. Der Gedanke zuckte wie ein Blitz in schwarzer Nacht durch seinen schlaftrunkenen Nebel. Er hatte den Termin mit dem Prior vergessen. Er schnellte hoch, bereute die unachtsame Bewegung aber augenblicklich. Der Schmerz breitete sich wellenartig aus.
»Welche Zeit ist es?«, fragte Eckhart mit gepresster Stimme und hielt sich die Seiten. »Ich muss nach der Vesper zum Prior. Der schmeißt mich noch hinaus. Zuerst platze ich gestern Abend in sein Zimmer, dann falle ich ihm heute von der Klostermauer vor die Füße und jetzt versetze ich ihn auch noch.«
Er musste aufstehen, ganz gleich wie. Eckhart wollte sich mit aller Kraft erheben, aber Bruder Ottokar drückte ihn sanft nach unten und reichte ihm eine dampfende Suppe.
»Ich kann jetzt keine Suppe essen.« Wie kam Bruder Ottokar auf die absurde Idee, er könne jetzt etwas essen? »Ich bin schon spät, warum hast du mich nicht geweckt?«
Bruder Ottokar deutete mit einer Handbewegung an, dass alles gut sei. Er solle essen. Erwachsene können manchmal so ungemein stoisch sein. Eckhart starrte auf die Schüssel. Was jetzt? An Ottokar kam er nicht vorbei, schon gar nicht so lädiert, wie er war. Es half nichts, er musste sich beugen. Er seufzte resigniert und nahm das Essen entgegen.
Die Suppe strömte warm durch seine Kehle, füllte den Bauch, der deutlich leerer war, als er sich eingestanden hatte. Sie flößte ihm Kraft ein. Bruder Ottokar trug noch einmal die Salbe auf, sanfte Kühle verbreitete sich auf der Haut, der Schmerz wich wie der Nebel vor der Sonne.
Erst dann nickte der gutmütige Ottokar und deutete ihm an, dass er ihm folgen möge.
Sie verließen das Infirmarium. Eckhart begriff erst jetzt: Es war Mitternacht.
Zeit für die Komplet.
Eckhart hatte das Gefühl eines Déjà-vus. Wieder betete er das »Herr, eile mir zur Hilfe« so inbrünstig, wieder konnten nur göttliche Kräfte ihn aus dieser Lage befreien. Auf der anderen Seite würden wohl kaum Engel erscheinen, um ihn aus dieser misslichen Lage zu retten. Immer wieder überlegte er, was er hätte anders machen können. Nun, er hätte sich den Satz mit den Raubrittern verkneifen können, klar. Aber hätte das wirklich etwas verändert? Wohl kaum. Vielleicht erbarmte sich Gott noch einmal, nur dieses eine Mal noch.
Andreas saß so teilnahmslos wie jeden Abend auf seinem Platz, Sorge war ihm nicht anzumerken. Er behandelte Eckhart wie Luft, so als ob sie nie irgendwelche Berührungspunkte gehabt hätten.
Als der Prior endlich den Abendsegen sprach, rutschte Eckharts Herz noch tiefer. Er war nur auf Probe hier, das wusste er nur zu gut. ›Wir werden uns gegenseitig prüfen‹, hatte der Prior damals gesagt.
Eckhart seufzte.
Alle gingen hinaus. Nur er und der Prior blieben sitzen.
Stille breitete sich aus und lastete schwer auf seinen Schultern.
Was soll ich nur machen?, dachte Eckhart verzweifelt. Da hatte er einen Türöffner wie Bruder Horatio gefunden, jemand, der ihm die Welt aufschließen wollte und Andreas warf ihn über die Mauern des Klosters. Ausgerechnet vor die Füße des Priors. Warum hatte da nicht Bruder Rudger gestanden, ja, warum war da überhaupt jemand gewesen? Es war zum Verzweifeln.
»Nun?«
Die Stimme des Priors schnitt wie ein heißes Schwert durch Eckharts Gedankenzirkus. Eckhart schwieg.
»Hast du mir nichts zu sagen?«
Man hätte ihm genauso gut drei Mühlsteine auf die Brust legen können. Was sollte er nur vorbringen? Die Wahrheit?
»Ich bitte um Vergebung«, wisperte Eckhart. Er konnte nicht sehen, wie die rechte Augenbraue des Priors genervt in die Höhe wanderte.
»Was soll ich dir vergeben?«
»Ich … ich sprang von der Klostermauer, auf der ich nichts zu suchen hatte. Ich sollte mich nach der Vesper zu einem Gespräch einfinden und habe geschlafen.«
Bruder Ulrich hatte nicht vor, um den heißen Brei herumzureden: »Du hältst etwas zurück. Bruder Ottokar sagte, du hast Verletzungen, die sich nicht mit dem Sturz erklären lassen. Er sagt, Eckhart, du wurdest geschlagen, nicht mit einer Rute, mit einem Prügel.«
Der Prior ließ die Worte unheilschwanger im Raum stehen. Eckhart traute sich nicht, noch etwas zu sagen. Wenn er Andreas verpfeifen würde, würde das Leben für ihn nur noch schlimmer werden. Fast alle Novizen waren unter Andreas’ Fuchtel, keiner würde gegen ihn aufbegehren und sich an Eckharts Seite stellen. Er war ein Nichts, eine Fliege im Fell eines Löwen.
Als der Prior die Stimme wieder erhob, zuckte Eckhart regelrecht zusammen.
»Ich habe die Brüder alle befragt. Sie sagten einheitlich, du würdest dich vorbildlich einfügen. Selbst Bruder Rudger fiel nichts ein, was er dir vorwerfen könnte. Somit bleibt nur noch, dass es einer der Novizen gewesen ist. Um das klarzustellen, ich dulde keine Prügeleien in meinen Mauern, unter gar keinen Umständen.«
Eckhart nickte, biss die Zähne zusammen.
Der Prior seufzte auf und begrub sein Gesicht in seinen Händen. Als er wieder aufblickte, überlegte er einen Moment, stand dann auf, ging zu Eckhart und beugte sich zu ihm. Eckhart vibrierte am ganzen Körper.
»Du würdest auch dann nichts verraten, wenn ich dir sagen würde, du müsstest das Kloster morgen verlassen, nicht wahr?«
Eckhart war wie gelähmt, unfähig zu antworten. Er spürte mehr, als dass er es sah: Der Prior nickte langsam.
»Bruder Horatio sagte, du würdest einen wachen Geist zeigen und wärest sehr gelehrig. Ich solle dich gefälligst in die Schule aufnehmen, er hätte keine Lust, dir den Aristoteles komplett zu übersetzen. Was mache ich jetzt also mit dir?«
Der Prior erhob sich, ging Richtung Tür. Als er sie öffnete, drehte er sich zu Eckhart um: »Vertrau dich der Beichte an, Eckhart. Du findest dich morgen mit allen Novizen im Hof ein und sei getrost, ich setze niemanden vor die Tür, der mir vom Himmel fällt. Geh nun schlafen, dir eine gesegnete Nacht.«
Die Tür fiel leise zu, Eckhart saß wie zu einer Salzsäule erstarrt an seinem Platz und es dauerte lange, bis sich erste Tränen der Erleichterung ihren Weg über seine Wangen suchten.
Am nächsten Morgen, drei Stunden nach Sonnenaufgang, standen alle Novizen und Anwärter im Hof. Das Aufstehen war eine Qual gewesen, sein ganzer Körper schmerzte dreimal so schlimm wie am Vortag. Aber umso mehr er sich bewegte, umso besser ging es.
Es war einer der wenigen sonnigen Morgen des verregneten Sommers, sie waren zu zwölft und standen in Reih und Glied auf dem Innenhof. Der Prior ragte wie eine Säule vor ihnen auf, wie ein General, aufrecht, ernst. Er ging zu dem Ersten in der Reihe und schaute ihm wortlos in die Augen, dann ging er zum Nächsten, verweilte auf die gleiche Weise. Als er bei Andreas ankam, sah Eckhart aus dem Augenwinkel, wie dieser ganz unruhig wurde und als Wolpert an der Reihe war, wäre dieser am liebsten im Boden versunken. Nur der hagere Heinrich wirkte stoisch wie immer.
Als der Prior an allen vorbeigegangen war, drehte er ihnen den Rücken zu, ganz so, als ob er überlegen würde, was er mit ihnen machen müsse. Er wandte sich ihnen wieder zu.
»Eckhart hat sich gestern mit jemandem geprügelt und ist danach über die Klostermauer gefallen.«
Er machte eine Pause, um das Gesagte besser wirken zu lassen. Unruhige Blicke wanderten zu Andreas. Alle wussten nur zu gut, wer hier Prügeleien anzettelte.
»Eckhart war trotz Androhungen nicht bereit, mir den Namen seines Gegners zu nennen.« Eckhart meinte zu hören, wie Wolpert und Andreas erleichtert ausatmeten.
»Ich dulde ein solches Verhalten unter gar keinen Umständen. Ihr werdet, sofern nicht irgendjemand von euch das Wort ergreifen will, euch einer Buße unterwerfen. Gemeinsam. Ab jetzt werdet ihr fasten, die nächsten drei Tage entfällt die Schule und ihr werdet in dieser Zeit alle Steine sortieren, die Kirche putzen, die Latrinen ausheben und säubern …«
Ein entsetztes Aufstöhnen unterbrach ihn.
»Ich bin noch nicht am Ende. Den Hof fegen, sämtliche Flure säubern, das Dormitorium von den Sägespänen und den alten Trakt vom Dreck befreien. Der vierte Tag ist Sonntag, diesen werdet ihr in Schweigen verbringen, abgesehen von den gemeinsamen Gebetsstunden und der heiligen Messe werdet ihr euch allein halten und dem Gebet widmen. Erst in der Morgenstunde des fünften Tages ist die Buße für euch aufgehoben.«
Wolpert starrte den Prior an. »Das alles sollen … wir … ohne Essen …«
»So wird der Begriff ›Fasten‹ in der Regel aufgefasst. Sollte im Übrigen so etwas je wieder geschehen, werde ich nicht so gnädig mit euch sein.«
Sein Blick ließ jedes weitere Wort verstummen. Für Eckhart lag die Härte der Strafe nicht in den auferlegten Aufgaben; hart arbeiten mussten sie eh und die Stille am Sonntag würde er genießen, das wusste er. Der Wermutstropfen war, dass für ihn die Samstagsstunden mit Bruder Horatio ausfallen würden, das war für ihn eher ein Fass voll Wermut als ein Tropfen.
Er ballte wütend seine Fäuste und biss die Zähne zusammen. Das alles nur, weil Andreas nicht davon lassen konnte, ihn zu malträtieren. Er wäre jetzt am liebsten über ihn hergefallen, hätte es ihm heimgezahlt.
›So viel Dummheit‹, kochte es in ihm hoch. Aber es nützte nichts, auch er würde sich die nächsten vier Tage der Bußübung zu unterwerfen haben.
In den nächsten Tagen veränderte sich etwas. Eckhart bemerkte es nicht gleich. Aber die Novizen und Anwärter rückten mehr und mehr von Andreas ab. Keiner hatte Lust auf diese langweiligen, teils schweren, teils widerlichen Arbeiten und allen war klar, wem sie diese zu verdanken hatten.
Während der ganzen Zeit wich Andreas ihm aus. Eckhart war das nur recht, er hatte keine Lust auf eine weitere Begegnung mit ihm, ganz gleich welcher Art.
Am Morgen des fünften Tages war die Bußübung beendet und direkt nach Sonnenaufgang, die Klostergemeinschaft strömte gerade nach der Prim aus dem Kapitelsaal, stellte sich ihm Bruder Rudger in den Weg. Eckhart kam es so vor, als ob sich die Falten in Rudgers Gesicht noch tiefer eingegraben hätten, seine Haut sah gelblicher aus als sonst und seine Falkennase zitterte leicht. Seine Lippen bewegten sich kaum, so als ob er fürchtete, die Worte, die er sprach, könnten seine Zunge wie ein glühendes Eisen verbrennen.
»Du gehst von heute an zum Lateinunterricht, jeweils von der dritten bis zur sechsten Tagesstunde nach Sonnenaufgang und dann am Nachmittag noch einmal drei Stunden von der Non bis zur Vesper.«
Eckhart starrte ihn zuerst sprachlos an, dann nickte er begeistert. Bruder Rudger teilte seine Gefühle ganz offensichtlich nicht, sie erhöhten sogar noch seine innere Pein. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er diese Sonderbehandlung nicht billigte.
»Nur damit das klar ist: Eine Verfehlung, nur ein einziges Mal zu spät kommen oder eine ungebührliche Bemerkung und du putzt den Rest deines Lebens Latrinen.«
Als Eckhart sich in dem Raum einfand, in dem der Lateinunterricht stattfinden würde, fühlte er sich wie in einem Traum. Als er seine eigene Wachstafel überreicht bekam, konnte er es kaum fassen. Es war, als ob er Parzival sei, dem der ersehnte Heilige Gral in die Hände gefallen wäre. Tränen schossen ihm vor Glück ein, füllten seine Augen. Eilig wischte er sie weg, er wollte keinen erneuten Anlass zu Hänseleien bieten. Er linste zu Andreas, aber der war in seinen Gedanken versunken.
Sie saßen auf dem Lehmboden, der Lehrer Bruder Sanctinus stand hinter einem hohen Pult, auf dem ein Buch lag. Bruder Sanctinus selbst war eine dürre Gestalt mit eingefallenen Schultern und überlangen Fingern. Sein Kopf war immer etwas nach vorne gebeugt, auf Eckhart wirkte er wie ein Geier auf Menschenbeinen und seine buschigen Augenbrauen betonten diesen Eindruck noch. Schnell merkte Eckhart auch, dass Bruder Sanctinus keinerlei Unruhe duldete und nur zu gerne von der Rute Gebrauch machte. Aber Eckhart nahm alles in Kauf, wenn er nur lernen durfte. Er nahm alles Gehörte auf, wie ein trockener Schwamm das Nass aufsaugte. Als die Glocke zum Mittagsgebet rief, stürmten alle raus, Eckhart fühlte sich, als ob er schweben würde, übervoll und glücklich.
In der Tür stand mit einem Mal wieder Andreas vor ihm, überrascht wich Eckhart zurück.
Andreas musterte ihn abschätzig von oben nach unten: »Hast du es also mit deiner Schleimerei geschafft, bist ja ein ganz Kluger, was?«
Andreas kam ganz dicht an Eckhart heran, so nah, dass er seinen säuerlichen Atem riechen konnte. »Ich behalt dich im Auge. Wir sind noch nicht fertig miteinander und irgendwann erwische ich dich, wenn niemand zusieht, das schwöre ich dir.«