Читать книгу Sigurd 3: Im Auftrag des Königs - Thomas Knip - Страница 7
ZWEI
ОглавлениеDer Leibarzt von Graf Gebhardt wurde eilig herbeigerufen, um die heftig blutende Wunde zu versorgen. Der Graf selbst hatte inzwischen alle Feierlichkeiten beendet und den bestürzt zuhörenden Anwesenden berichtet, was geschehen war.
Derweil wachte Sigurd an Hartmuts Bett, der wieder aus der Ohnmacht erwacht war. Ein schwerer Verband bedeckte seine rechte Schulter, während er als Schutz vor der Kälte in Decken gehüllt war. Dennoch konnte Sigurd das unterdrückte Zittern seines Körpers deutlich sehen.
Er berichtete Hartmut, wie es Gubo gelungen war, zu entkommen. »Dieser Schurke! So viel Mut hätte ich ihm nicht zugetraut!«, schloss er seinen Bericht.
Hartmut wandte ihm mühevoll den Kopf zu. »Wir müssen die Mädchen unbedingt befreien«, löste es sich von seinen Lippen. »Wäre ich nur nicht verwundet … Unglücklicherweise traf er meine rechte Schulter. So ist es mir unmöglich zu kämpfen!« Er ließ den Kopf mit einem Stöhnen sinken.
Sigurd erhob sich. »Mit dieser Wunde kannst du wahrhaftig nicht reiten und noch weniger kämpfen!«, stellte er unumwunden fest. »Dieser Gubo hat auch mich überlistet, das vergesse ich ihm nicht!«
Er beugte sich zu Hartmut herab. »Wenn du erlaubst, verfolge ich ihn – und du darfst mir glauben, dass ich Dagmar und ihre Zofe Bettina zurückbringe.«
Der junge Graf nickte nur schwach und fiel in einen leichten Schlaf.
Sigurd blickte den Leibarzt an. Dieser bat ihn, den Verwundeten alleine zu lassen, und so verließ der Junker den Raum. Er machte sich auf den Weg zu Graf Gebhardt, um auch ihm seinen Vorschlag zu unterbreiten, die Verfolgung aufzunehmen. Dieser erklärte sich einverstanden, dankte ihm für das Angebot und bot ihm an, ihn mit allem Nötigen zu versorgen.
Bodo und Cassim warteten bereits ungeduldig in seinem Zimmer auf Sigurds Rückkehr. Als er ihnen sein Vorhaben berichtete, war für sie beide selbstverständlich, dass sie ihn dabei begleiten würden.
Da es keinen Sinn hatte, mitten in der Nacht nach Spuren zu suchen, nutzten die Freunde die Stunden bis zum Morgengrauen, um sich ausgeruht ihrer Aufgabe zu stellen. Noch bevor die Sonne aufgegangen war, standen sie auf und verabschiedeten sich von Graf Gebhardt, der vor Sorge keinen Schlaf gefunden hatte. Sie ließen ihre Pferde satteln und bekamen von den Mägden aus der Burgküche ein reichhaltiges Proviantpaket für den Weg überreicht.
Trübe Wolkenschleier bedeckten den morgendlichen Himmel, als sie die Verfolgung aufnahmen …
*
Gubo hatte inzwischen die Zeit genutzt und seine Männer eingeholt. Sie hatten zwei weitere Pferde geraubt, auf denen die Mädchen ritten. Die ganze Nacht hindurch hatten sie ihren Reittieren keine Rast gegönnt, bis sie am frühen Morgen einen breiten Strom erreichten. Die Strahlen der aufgehenden Sonne durchbrachen die Wolkenschleier und tauchten die Umgebung in ein warmes Licht, das sich auf den Wellen brach.
Ihre beiden Gefangenen hatten das Vorankommen der Schurken deutlich verlangsamt, da sie es nicht gewohnt waren, sich über solch eine lange Zeit im Sattel zu halten. Immer wieder hatten sie eine Rast einlegen müssen. Jedes Mal hatte sich Gubo nervös nach möglichen Verfolgern umgesehen und dann erleichtert aufgelacht, als er feststellte, dass niemand ihnen nachsetzte.
Zu dieser frühen Stunde spannte ein alter Fischer seine Netze am Ufer des Stroms auf. Unweit von ihm war ein kleiner Kahn vertäut.
Gubo ritt auf den Mann zu und stieg ab. »Heda, Alter!«, richtete er sich an ihn. »Setz uns an das andere Ufer über. Es soll dein Schaden nicht sein.«
Der Alte besah sich die Ankömmlinge und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Herr. Aber wenn Ihr nach drüben wollt, müsst Ihr noch einige Stunden warten. Es ist jetzt die Zeit der Strömung … das Boot würde sofort aufs Meer hinausgetrieben.«
Gubo winkte ab. »Wir haben keine Zeit! Lass uns ins Boot, wir sind in Eile!«
Bedauernd schüttelte der alte Fischer den Kopf. »Glaubt mir, Ihr seid verloren, wenn …«
»Gubo! Dort kommen Verfolger!«, rief plötzlich Benno, der Mann mit der Augenklappe.
Alle Blicke richteten sich zum Horizont. Inmitten einer aufgewirbelten Staubwolke waren mehrere Reiter zu sehen, die rasch näher kamen. Gubo fluchte. Er konnte von hier aus nicht abschätzen, wie viele Mann es waren, die Graf Gebhardt auf ihn angesetzt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als schnell zu handeln.
»Genug geredet!«, brachte er hervor. Er versetzte dem Fischer einen wuchtigen Kinnhaken, der den Mann zu Boden schickte. Die Mädchen schrien auf. Der Abenteurer überging es und wandte sich an seine Männer. »Vorwärts, bringt die beiden Frauen ins Boot!«
Seine Kumpane taten, wie ihnen geheißen, und binnen weniger Minuten konnten sie das Boot mit den Händen vom Ufer abstoßen und auf den Strom hinaustreiben. Einer von ihnen setzte das Segel, und der kleine Kahn gewann schnell an Fahrt.
Gubo warf einen Blick zurück zum Ufer und erkannte nun einen seiner Verfolger, dessen blondes Haar mit der dunklen Locke ihm nur allzu gut in Erinnerung geblieben war. Triumphierend lachte er auf und winkte ihm zu. »Du kommst zu spät. Lebe wohl!«
*
Ohnmächtig sah Sigurd dem Boot nach, das auf dem Fluss entkam. Es waren nur wenige Augenblicke gewesen, die sie von den Schurken getrennt hatten! Er riss sein Schwert drohend in die Höhe, ließ es jedoch sinken, als er einsehen musste, dass Gubo ihm entkommen war.
»Solch ein Pech!«, stieß er aus und steckte die Waffe weg. »Sie sind uns im letzten Augenblick entwischt!«
»Ärgere dich nicht«, meinte Cassim neben ihm. »Wir werden sie schon noch bekommen. Aber … ich will mich mal um den alten Mann kümmern!«
Der Junge sprang vom Pferd und eilte auf den Fischer zu, der benommen am Boden lag. Cassim stützte ihn und lehnte ihn gegen einen Pfosten, an dem die Netze aufgespannt waren. Er nahm seine Trinkflasche vom Gürtel und reichte sie dem Alten.
»Trinkt erst einmal«, bat er den Mann, der noch immer nicht vollends bei Besinnung war.
»Habt Dank …«, brachte der Fischer hervor und griff nach dem Lederbeutel. Er setzte ihn an und nahm ein, zwei hastige Züge. Dann stöhnte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Es geht mir schon besser … oh, diese Schurken!«
Sigurd und Bodo waren inzwischen abgestiegen und halfen dem Fischer auf die Beine. Er dankte mit schwacher Stimme und blickte über den Strom. Das Boot war in der Ferne nur noch als kleiner Punkt auszumachen.
»Sie werden nie das andere Ufer erreichen«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Um diese Zeit ist die Strömung zu stark. Sie wird sie mit aufs Meer hinausnehmen, und das Boot wird an den Klippen der Dämoneninsel zerschellen!«
Sigurd horchte auf.
»Was sagst du da? Das Boot wird zerschellen? Das darf nicht geschehen!« Er wagte gar nicht erst nachzufragen, was der alte Fischer mit der ›Dämoneninsel‹ meinte. »Gibt es denn keinen Weg, um die beiden Mädchen zu retten?«
Der Fischer presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf. »Schon viele haben sich zur Zeit der Strömung auf das Meer gewagt«, setzte er an. »Keiner kehrte zurück.« Er sah auf und blickte Sigurd an. »Alles, was ich Euch anbieten kann, ist, Euch in einigen Stunden zur Insel der Dämonen zu segeln …«
*
Inzwischen wurde das von Gubo gesteuerte Boot von der Strömung erfasst. So sehr sich der Schurke auch gegen das Ruder lehnte, wollte es seinen Befehlen nicht mehr folgen, sondern wurde vom Sog der Wellen mit sich gezogen.
»Alle Teufel!«, fluchte der Abenteurer. »Der Alte hat wahr gesprochen. Das Boot gehorcht dem Steuer nicht mehr.«
Er forderte seine Männer auf, ihm zu helfen, doch selbst mit vereinten Kräften gelang es ihnen nicht, das Boot wieder zum Ufer hin zu steuern. Ohnmächtig mussten sie zusehen, wie es immer weiter aufs Meer hinaustrieb.
Gubo sah die angsterfüllten Blicke der beiden Frauen, die geknebelt auf Deck lagen. Er vermied es, ihren Blick zu erwidern, sondern sah sich von einer Unruhe erfüllt um. Schließlich entdeckte er die beiden Ruder, die unter die Planken geklemmt waren, und rief seine Männer herbei. Die Spießgesellen zogen sie hervor und tauchten sie ins Wasser.
»Rudert, Leute! Rudert!«, befahl er ihnen. »Es geht um unser Leben!«
Immer wieder sah er die Felsen der Brandung bei einem Wellengang aus dem Wasser ragen. Jeden Augenblick konnte das kleine Boot an einem von ihnen zerschellen. Und selbst wenn sie den gefahrvollen Klippen entkamen, so hatten sie doch kaum genug Proviant an Bord, um mehr als einen Tag auf hoher See zu überstehen.
Resigniert sackte Endres, einer seiner Begleiter, auf der Ruderbank förmlich in sich zusammen. Seine Brust hob und senkte sich von der Anstrengung der letzten Minuten. »Es hat keinen Zweck«, keuchte er. »Gegen diesen Strom sind wir machtlos …«
Gubo wollte ihn anfahren und ihm befehlen, sich weiter ins Zeug zu legen. Doch ein Blick über die Schulter machte auch ihm bewusst, dass sie den Unbilden der Wellen ausgeliefert waren. So blieb den Männern nichts anderes übrig, als tatenlos mitanzusehen, wie das Boot erbarmungslos auf eine abgelegene Insel zugetrieben wurde.
Der Abenteurer hatte Seefahrer in Tavernen ehrfurchtsvoll von ihr sprechen hören, wobei er ihre Erzählung stets als Seemannsgarn abgetan hatte. Doch unter Kapitänen galt die Insel als berüchtigt. Niemals sollte ein Mensch, der das Innere betreten hatte, von dort zurückgekehrt sein. Der Sage nach trieben auf der Insel böse Geister ihr Unwesen.
Böse Geister …
Humorlos lachte Gubo auf. Viel mehr fürchtete er die Bedrohung durch die steil aufragenden Felsen der Küste, die es unmöglich zu machen schienen, ungefährdet an Land zu gehen. Das Wasser brauste auf, und das Rauschen der Wellen übertönte die Worte der Menschen an Bord. Gischt spitzte über sie hinweg und durchnässte ihre Kleidung.
Nun war das Boot vollends ihrer Kontrolle entglitten. Es taumelte und torkelte führungslos über die Wellenkämme und trieb mit jedem Wellenschlag näher auf das steinige Ufer zu.
»Wir laufen auf!«, rief Gubo und sah in die furchterfüllten Gesichter seiner Männer. Dann fiel sein Blick auf die beiden Mädchen, die sich in ihren Fesseln wanden. Kurz entschlossen ging er auf sie zu und schnitt die Seile durch. Gefesselt fänden sie den sicheren Tod, und dann wäre jede Hoffnung auf ein Lösegeld endgültig zunichte …
»Haltet euch fest!«, forderte er Dagmar und Bettina auf. »Vielleicht können wir uns an Land retten!«
Er sah nach vorne über den Bug hinweg. Das Boot steuerte auf einen Felsen zu, der nur flach aus dem Wasser ragte. Gubo schürzte die Lippen. Mehr als die Hoffnung blieb ihm nicht …
Nur einen Augenblick später lief das Boot auf dem Felsen auf. Der Rumpf wurde in die Höhe gehoben, und der Mast zerbarst wie ein morscher Ast. Stimmen schrien auf und riefen um Hilfe.
Gubo tauchte ins Wasser ein und schlug hart gegen den Felsen. Er biss die Zähne zusammen und sah vor sich einen blonden Haarschopf. Ohne zu zögern, griff er nach dem Körper und zog ihn auf das rettende Ufer zu.
Dagmar sackte neben ihm auf dem kalten Fels zu Boden und rang um Atem. Gubo sah sich um und erkannte seine Schergen, von denen einer Bettina, der Zofe, ans Ufer half. Er lachte auf. Wieder einmal war das Glück ihm hold. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass sie alle unbeschadet mit dem Leben davonkommen würden!
»Dem Teufel sei Dank«, murmelte Bruno, während er seinen Griff um Bettinas Arm löste und nach Luft schnappte. »Wir haben es geschafft …«
Noch bevor Gubo etwas erwidern konnte, fauchte Dagmar ihn an. »Schämt Ihr Euch nicht? Wehrlose Frauen ins Verderben zu stürzen?« Trotz ihres aufgelösten Haars und der Erschöpfung der vergangenen Stunden hatte sie sich nach wie vor die Haltung einer Gräfin bewahrt und funkelte den Gauner aus zornerfüllten Augen an.
Unwillkürlich fühlte Gubo sich schuldig, doch dann straffte er seinen Körper und fand zu seiner gewohnten Selbstsicherheit zurück. »Es lag nicht in meiner Absicht, Euch Ungemach zu bereiten, Gräfin Dagmar«, erwiderte er und schwor sich, sich nicht den Schneid abkaufen zu lassen und zuckte dann mit den Schultern. »Aber nun ist es nicht mehr zu ändern.«
Dagmar sah ihn nach wie vor wuterfüllt an. »Und was gedenkt Ihr, jetzt zu tun?«
Gubo sah sie mehrere Augenblicke lang forschend an, bevor er antwortete. »Beruhigt Euch, Gräfin. Bestimmt finden wir Menschen, die uns helfen können.«
Dagmar antwortete ihm nichts darauf, sondern ging auf Bettina zu, die schluchzend auf dem Fels saß. Sie nahm sie in die Arme und sprach ihr tröstende Worte zu. Gubo unterdrückte das erneut aufbrandende Schuldgefühl und sah sich um. Er hatte die Hoffnung, dass noch etwas von der Ladung an Bord des Boots an den Strand gespült worden war, doch das Meer hatte alles mit sich in die Tiefe gerissen.
Er stemmte die Hände in die Hüften und sah zu seinen Männern, die ihn erwartungsvoll anblickten. Ohne ein Wort zu sagen, riss er den Arm hoch und deutete ins Innere der Insel.
*
Die Schiffbrüchigen machten sich auf den Weg. Nachdem sie die Felsklippen erklommen hatten, wurden sie ohne Übergang von einem dicht bewachsenen Urwald umgeben. Knorrige Bäume, deren Wurzeln weit aus dem Erdreich ragten, erhoben sich Dutzende von Metern in die Höhe. Buschwerk, das so dicht wuchs, dass es ein Durchkommen fast unmöglich machte, bedeckte den Boden. Nur ein schmaler Pfad, der fast so wirkte, als sei er von Menschenhand angelegt worden, führte durch das dicht stehende Blattwerk.
Und trotz der üppigen Natur fehlte eines … kein Vogel war zu hören, kein Tier, das aufgeschreckt durchs Unterholz davonpreschte. Es war eine gespenstisch anmutende Ruhe, die die Gruppe umgab.
Mit einem Mal öffnete sich das Unterholz und gab den Blick auf eine kleine Lichtung frei. Doch der Anblick ließ die Menschen erschaudern. Statuen, die die Menschen um mehr als einen Kopf überragten, blickten von beiden Seiten der Lichtung aus dämonisch wirkenden Augen auf sie herab. Sie waren grob gearbeitet und wirkten wie Ungeheuer aus einer tiefen Hölle.
Bettina drückte sich Schutz suchend an Dagmar.
»Ich fürchte mich, Herrin«, gab sie mit leiser Stimme zu und wagte nicht, zu den Statuen aufzusehen. »Uns steht bestimmt Schreckliches bevor.«
Dagmar suchte nach tröstenden Worten. Doch auch sie fühlte, wie sich die Furcht mit Eiseskälte um ihr Herz legte. »Das Gefühl habe ich auch«, konnte sie nur erwidern. »Schau nur diese grausigen Figuren überall!«
Sie wagte kaum, nach vorne zu deuten, in das Dickicht, in dem nun noch weitere dieser unheimlichen Statuen auszumachen waren.
Gubo wollte etwas darauf antworten, als dicht vor ihm ein Pfeil in einen umgestürzten Baumstamm einschlug und federnd stecken blieb. Der Abenteurer zuckte zurück, dann sah er das Stück Papier, das auf den Pfeilschaft aufgesteckt worden war.
»Was ist das?«, stieß er aus. »Ein Pfeil mit einer Botschaft?«
Vorsichtig sah er in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war, ohne jedoch jemanden – oder irgendetwas – im Dickicht auszumachen. Dennoch sah er sich nach allen Seiten um, bevor er sich nach vorne beugte und das Blatt vom Pfeil zupfte.
»Lies vor!«, forderte Benno ihn auf, der sich nervös über die Lippen fuhr.
Gubo tat sich schwer damit, die Schrift zu entziffern. »Fremdlinge …«, setzte er an, »… wenn euch euer Leben lieb ist, verlasst diese Insel. Die …«, er stockte, »… die Dämonen töten jeden, der den Frieden ihres Reiches stört.«
Der Abenteurer besah sich die Zeilen, bevor er auflachte und das Papier zusammenknüllte. Mit einer schwungvollen Bewegung warf er es von sich und griff nach seinem Schwert.
»Ach was! Dummes Geschwätz!«, brauste er auf. »Davon lasse ich mich nicht einschüchtern!«
Er sah sich zu den Übrigen in seiner Gruppe um. »Kommt, wir gehen weiter!«, forderte er sie auf und wies mit dem Schwert in die Richtung, aus der er den Pfeil vermutete.
Leises Murren war unter seinen Männern zu hören. Keiner von ihnen wagte jedoch, gegen ihn aufzubegehren, und so schlossen sie sich ihm an, die beiden jungen Frauen in ihrer Mitte.
*
Zwei Augenpaare verfolgten im Dickicht, wie sich die Menschen von der Lichtung entfernten. Nahezu geräuschlos erhoben sich die Gestalten und sahen der Gruppe nach. Einer der beiden Männer schloss die Hand fester um seinen Bogen.
»Die Fremden befolgen Euren Befehl nicht, Humba«, stellte er verwundert fest.
Der Mann neben ihm stieß zur Antwort einen unwilligen Laut aus. Er strich sich den Echsenpanzer zurecht, den er wie einen Umhang trug. »Ich sehe es, Kerum«, knurrte er. »Dann werden sie sterben.«
Er sah seinen Begleiter an. »Lass uns gehen«, wies er ihn an.
*
Stunden vergingen, in denen die Gruppe unter Gubos Führung über die Insel irrte. Zu ihrem Glück fanden sie eine kleine Quelle, an der sie zumindest ihren Durst stillen konnten. Der Abenteurer war selbst kurz davor, die Hoffnung aufzugeben, noch auf die Bewohner dieser verfluchten Insel zu stoßen, als vor ihm etwas zwischen den Bäumen aufragte.
»Seht, eine menschliche Siedlung!«, rief er seinen Gefährten zu und deutete auf die Steinbauten. Die grob behauenen Steine wirkten alt und waren teils vom Urwald überwuchert.
Dagmar schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … es ist alles wie ausgestorben …«
Gubo überhörte ihre Worte und ging auf einen frei liegenden Durchlass im Mauerwerk zu. »Lasst uns hineingehen«, meinte er und deutete in die Öffnung. Ohne auf eine Antwort zu warten, durchschritt er den Torbogen.
»Ich fürchte mich!«, konnte sich Bettina nicht zurückhalten. »Gubo wird uns bestimmt alle ins Unglück stürzen!«
Die Gräfin wollte ihr gerade antworten, als Benno sie zu sich herwinkte. »Was zögert ihr? Kommt her!«, herrschte er die beiden Frauen an, die der Aufforderung nur langsam folgten.
Die Dunkelheit des schmalen Durchgangs wich schnell einem unheimlichen Licht, das flackernd über die Wände zuckte. Säulen, die mit Ornamenten und Reliefs reich verziert waren, stützten das Dachwerk, das sich über ihnen im Dämmerlicht verlor.
»Wir sind im Heiligtum der Inselbewohner«, mutmaßte Gubo und sah sich um. »Aber kein Lebewesen ist zu entdecken …«
Sie passierten einen weiteren Durchgang und betraten eine gewaltige Halle, die von großen Ölbecken erhellt wurde, in denen Flammen hoch zur Decke züngelten. Doch es war nicht die archaische Architektur, die die Menschen in ihren Bann nahm – es war die gewaltige Statue, die am anderen Ende der Halle über allem thronte. Sie mochte gut zehn Meter an Höhe betragen, und ihre prankenhaften Arme schienen die Decke zu stützen. Eine Fratze, die an einen Drachen aus der Fabelwelt erinnerte, starrte aus glutroten Augen auf sie herab.
»Rubine«, flüsterte Gubo ungläubig. »Seht nur!«, rief er, und seine Stimme hallte in dem Saal wider. »Die Statue scheint aus reinem Gold zu sein und ist über und über mit Juwelen besetzt!«
Sein Blick fiel auf die Edelsteine, die den Hals der Statue wie eine Kette umschlossen.
»Ein unheimliches Götzenbild«, erwiderte Dagmar, die es bei deren Anblick schauderte. »Lasst uns umkehren!«, flehte sie den Abenteurer an.
›Umkehren? Dazu ist es jetzt zu spät!‹, antwortete ihr eine hohle Stimme aus der Tiefe des Raums.
Noch ehe die Gruppe reagieren konnte, war sie von zahllosen halbnackten Menschen umringt, die zwischen den Säulen hervorsprangen und ihre steinernen Speere drohend auf sie richteten. Ein Mann stieg auf ein Podest und blickte sie zornig an. Er war neben seinem Lendenschurz in eine Echsenhaut gekleidet, die ihn wie eine Rüstung umgab und auch seinen Kopf bedeckte.
»Ich bin Vathu«, schmetterte seine Stimme durch die Halle. »Und ihr, ihr habt unsere Warnung nicht beachtet, Fremdlinge!« Drohend wies er auf die Gruppe. »Jetzt müsst ihr euren Leichtsinn büßen!«
»Zum Teufel, wir sind umzingelt!«, begehrte Endres auf. Zähnefletschend stieß er einen Speer zur Seite, doch sofort richteten sich zwei weitere auf ihn.
»Überwältigt die Eindringlinge und bindet sie!«, befahl Vathu den Inselbewohnern.
Bevor sich Gubo von seiner Überraschung erholen konnte, wurde er von den Wilden gefesselt. Er sah, wie sie auch nach den Mädchen griffen, bis er bemerkte, wie es Benno gelang, zum Ausgang zu flüchten.
Ohne es unterdrücken zu können, lachte er auf, doch ein Hieb mit dem stumpfen Ende eines Speers ließ ihn schmerzerfüllt in die Knie gehen.
*
Benno hetzte durch die dunklen Gänge und konnte nur hoffen, sich den Weg richtig eingeprägt zu haben. Hinter sich hörte er das wütende Geheul der Wilden, und trotz der Erschöpfung, die in seinen Knochen steckte, beschleunigte er seine Schritte.
Endlich tauchte vor ihm die lichterfüllte Öffnung auf, die ins Freie führte. So schnell er konnte, rannte er auf das nahe Dickicht zu.
Hinter ihm holten seine Verfolger schneller auf, als er gehofft hatte. Ein Schatten jagte zischend an seinem Kopf vorbei und blieb in einem Baumstamm stecken. Mit großen Augen sah Benno den Speer an und blickte sich verzweifelt um.
*
Wütend schrien die Verfolger auf, als der Speer sein Ziel verfehlte. Die Männer wollten dem Flüchtenden nachsetzen, als Kerum sie zurückhielt.
»Wozu ihn verfolgen? Der Tod ist in meinem Pfeil.«
Obwohl der Fliehende schon fast das Unterholz erreicht hatte, spannte der Eingeborene in aller Ruhe den Bogen und legte an. Sirrend löste sich der Pfeil von der Sehne und traf sein Ziel. Mit einem Aufschrei warf Benno die Arme in die Luft und brach noch in der Bewegung zusammen.
»Er ist getroffen«, stellte Kerum zufrieden fest. »Kommt, lasst uns zurückkehren«, wies er die übrigen Männer an.
*
Im Inneren des Heiligtums ahnten die Gefangenen nichts von Bennos Schicksal. Sie wurden gefesselt und von Dutzenden von Wilden bewacht vor Vathu geführt.
»Ihr habt die Gesetze der Dämonen gebrochen!«, donnerte dessen Stimme durch die Halle, und die übrigen Inselbewohner stimmten in ein wütendes Geheul ein. Vathu brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Ihr werdet morgen unserer Gottheit geopfert!«, fuhr er fort. »In den Kerker mit ihnen!«, richtete er sich an alle Anwesenden, die in Jubel ausbrachen. Mehrere von ihnen nahmen die Gruppe in ihre Mitte und führten sie aus der Halle davon.
»Nur durch Eure Schuld sind wir jetzt in dieser verzweifelten Lage«, stieß Dagmar aus, der es schwerfiel, noch ihre Beherrschung zu bewahren. Sie konnte hören, wie Bettina neben ihr unentwegt schluchzte, und musste selbst mit den Tränen kämpfen.
»Ich weiß, Gräfin Dagmar«, antwortete der Abenteurer und senkte den Blick. »Ich habe unrecht gehandelt. Aber ich ahnte nicht, dass es so kommen würde!« Er stemmte sich gegen seine Fesseln, bis sich eine Speerspitze in seine Seite bohrte. Unterdrückt schrie er auf. »Wüsste ich nur einen Ausweg …«