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Siebentes Kapitel
ОглавлениеTherese Weichbrodt war bucklig, sie war so bucklig, daß sie nicht viel höher war als ein Tisch. Sie war 41 Jahre alt, aber da sie niemals Gewicht auf äußere Wohlgefälligkeit gelegt hatte, so ging sie gekleidet wie eine Dame von 60 bis 70 Jahren. Auf ihren grauen, gepolsterten Ohrlocken saß eine Haube mit grünen Bändern, die über die schmalen Kinderschultern hinabfielen, und nie war an ihrem kümmerlichen schwarzen Kleidchen etwas wie Putz gesehen worden … ausgenommen die große, ovale Brosche, auf der in Porzellanmalerei das Bild ihrer Mutter prangte.
Das kleine Fräulein Weichbrodt besaß kluge und scharfe braune Augen, eine leichtgebogene Nase und schmale Lippen, die sie aufs entschiedenste zusammenpressen konnte … Überhaupt lag in ihrer geringen Figur und allen ihren Bewegungen ein Nachdruck, der zwar possierlich, aber durchaus respektgebietend wirkte. Dazu trug in hohem Grade auch ihre Sprache bei. Sie sprach mit lebhafter und stoßweiser Bewegung des Unterkiefers und einem schnellen, eindringlichen Kopfschütteln, exakt und dialektfrei, klar, bestimmt und mit sorgfältiger Betonung jedes Konsonanten. Den Klang der Vokale aber übertrieb sie sogar in einer Weise, daß sie z. B. nicht »Butterkruke«, sondern »Botter«- oder gar »Batterkruke« sprach und ihr eigensinnig kläffendes Hündchen nicht »Bobby«, sondern »Babby« rief. Wenn sie zu einer Schülerin sagte: »Kind, sei nich–t sa domm!« und zweimal dabei ganz kurz mit dem gekrümmten Zeigefinger auf den Tisch pochte, so machte dies Eindruck, das ist sicher; und wenn Mademoiselle Popinet, die Französin, sich beim Kaffee mit allzuviel Zucker bediente, so hatte Fräulein Weichbrodt eine Art, die Zimmerdecke zu betrachten, mit einer Hand auf dem Tischtuch Klavier zu spielen und zu sagen: »Ich wörde die ganze Zockerböchse nehmen!« daß Mademoiselle Popinet heftig errötete …
Als Kind – mein Gott, wie winzig mußte sie als Kind gewesen sein! – hatte Therese Weichbrodt sich selber »Sesemi« genannt, und diese Änderung ihres Vornamens hatte sie beibehalten, indem sie den besseren und tüchtigeren Schülerinnen, Internen sowohl wie Externen, gestattete, sie so zu nennen. »Nenne mich ›Sesemi‹, Kind«, sagte sie gleich am ersten Tage zu Tony Buddenbrook, indem sie sie kurz und mit einem leicht knallenden Geräusch auf die Stirn küßte … »Ich höre es gern.« Ihre ältere Schwester Madame Kethelsen aber hieß Nelly.
Madame Kethelsen, die ungefähr 48 Jahre zählte, war von ihrem verstorbenen Gatten mittellos im Leben zurückgelassen worden, bewohnte bei ihrer Schwester im oberen Stockwerk eine kleine Stube und beteiligte sich an der allgemeinen Tafel. Sie kleidete sich ähnlich wie Sesemi, war aber im Gegensatz zu ihr außerordentlich lang; an ihren hageren Handgelenken trug sie wollene Pulswärmer. Sie war nicht Lehrerin, sie wußte nichts von Strenge, und in Harmlosigkeit und stillem Frohsinn bestand ihr Wesen. Hatte ein Zögling Fräulein Weichbrodts einen Streich vollführt, so stieß sie darüber ein gutmütiges und vor Herzlichkeit beinahe klagendes Lachen aus, bis Sesemi auf den Tisch pochte und so eindringlich »Nelly!« rief, daß es wie »Nally« klang; dann verstummte sie eingeschüchtert.
Madame Kethelsen gehorchte ihrer jüngeren Schwester, sie ließ sich von ihr ausschelten wie ein Kind, und die Sache war die, daß Sesemi sie herzlich verachtete. Therese Weichbrodt war ein belesenes, ja beinahe gelehrtes Mädchen und hatte sich ihren Kinderglauben, ihre positive Religiosität und die Zuversicht, dort drüben einst für ihr schwieriges und glanzloses Leben entschädigt zu werden, in ernstlichen kleinen Kämpfen bewahren müssen. Madame Kethelsen dagegen war ungelehrt, unschuldig und einfältigen Gemütes. »Die gute Nelly!« sagte Sesemi. »Mein Gott, sie ist ein Kind, sie ist niemals auf einen Zweifel gestoßen, sie hat niemals einen Kampf zu bestehen gehabt, sie ist glücklich …« In solchen Worten lag ebensoviel Geringschätzung wie Neid, und das war ein schwacher, wenn auch verzeihlicher Charakterzug Sesemis.
Das hochgelegene Erdgeschoß des ziegelroten Vorstadthäuschens, das von einem nett gehaltenen Garten umgeben war, wurde von den Unterrichtsräumen und dem Speisezimmer eingenommen, während sich im oberen Stockwerk und auch im Bodenraum die Schlafzimmer befanden. Die Zöglinge Fräulein Weichbrodts waren nicht zahlreich, denn die Pension nahm nur größere Mädchen auf und besaß, auch für externe Schülerinnen, nur die drei ersten Schulklassen; auch sah Sesemi mit Strenge darauf, daß nur Töchter aus zweifellos vornehmen Familien in ihr Haus kamen … Tony Buddenbrook ward, wie angedeutet, mit Zärtlichkeit empfangen; ja, zum Abendessen hatte Therese »Bischof« gemacht, einen roten und süßen Punsch, der kalt getrunken ward, und auf den sie sich mit Meisterschaft verstand … »Noch ein bißchen Beschaf?« fragte sie mit herzlichem Kopfschütteln … und das klang so appetitlich, daß niemand widerstand.
Fräulein Weichbrodt saß auf zwei Sofakissen am oberen Ende der Tafel und beherrschte die Mahlzeit mit Tatkraft und Umsicht; sie richtete ihr verwachsenes Körperchen ganz stramm empor, pochte wachsam auf den Tisch, rief »Nally!« und »Babby!« und demütigte Mlle. Popinet mit einem Blicke, wenn diese im Begriffe stand, sich alles Gelée des kalten Kalbsbratens anzueignen. Tony hatte ihren Platz inmitten zweier anderer Pensionärinnen erhalten. Zwischen Armgard von Schilling, einer blonden und stämmigen Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, und Gerda Arnoldsen, die in Amsterdam zu Hause war, einer eleganten und fremdartigen Erscheinung mit schwerem, dunkelrotem Haar, nahe beieinander liegenden braunen Augen und einem weißen, schönen, ein wenig hochmütigen Gesicht. Ihr gegenüber plapperte die Französin, die aussah wie eine Negerin und ungeheure goldene Ohrringe trug. Am unteren Tischende saß mit säuerlichem Lächeln die hagere Engländerin Miß Brown, die gleichfalls im Hause wohnte.
Man befreundete sich rasch mit Hilfe von Sesemis Bischof. Mlle. Popinet hatte in der letzten Nacht wieder Alpdrücken gehabt, erzählte sie … Ah, quelle horreur! Sie pflegte dann »Ülfen, Ülfen! Dieben, Dieben!« zu rufen, daß alles aus dem Bette sprang. Ferner stellte sich heraus, daß Gerda Arnoldsen nicht Klavier spielte, wie die anderen, sondern Geige, und daß Papa – ihre Mutter war nicht mehr am Leben – ihr eine echte Stradivari versprochen habe. Tony war unmusikalisch; die meisten Buddenbrooks und alle Krögers waren es. Sie konnte nicht einmal die Choräle erkennen, die in der Marienkirche gespielt wurden … Oh, die Orgel in der Nieuwe Kerk zu Amsterdam hatte eine vox humana, eine Menschenstimme, die prachtvoll klang! – Armgard von Schilling erzählte von den Kühen zu Hause.
Diese Armgard hatte vom ersten Augenblicke an den größten Eindruck auf Tony gemacht, und zwar als das erste adelige Mädchen, mit dem sie in Berührung kam. Von Schilling zu heißen, welch ein Glück! Die Eltern hatten das schönste alte Haus der Stadt, und die Großeltern waren vornehme Leute; aber sie hießen doch ganz einfach »Buddenbrook« und »Kröger«, und das war außerordentlich schade. Die Enkelin des noblen Lebrecht Kröger erglühte in Bewunderung für Armgards Adel, und im geheimen dachte sie manchmal, daß für sie selbst dieses prächtige »von« eigentlich viel besser gepaßt haben würde, – denn Armgard, mein Gott, sie wußte ihr Glück nicht einmal zu schätzen, sie ging umher mit ihrem dicken Zopf, ihren gutmütigen blauen Augen und ihrer breiten mecklenburgischen Aussprache und dachte gar nicht daran; sie war durchaus nicht vornehm, sie machte nicht den geringsten Anspruch darauf, sie hatte keinen Sinn für Vornehmheit. Dieses Wort »vornehm« saß erstaunlich fest in Tonys Köpfchen, und sie wandte es mit anerkennendem Nachdruck auf Gerda Arnoldsen an.
Gerda war ein wenig apart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an sich; sie liebte es, ihr prachtvolles rotes Haar trotz Sesemis Einspruch etwas auffallend zu frisieren, und viele fanden es albern, daß sie die Geige spiele – wobei zu bemerken ist, daß »albern« einen sehr harten Ausdruck der Verurteilung bedeutete. Darin jedoch mußte man mit Tony übereinstimmen, daß Gerda Arnoldsen ein vornehmes Mädchen war. Ihre für ihr Alter voll entwickelte Erscheinung, ihre Gewohnheiten, die Dinge, die sie besaß, alles war vornehm: Zum Beispiel die elfenbeinerne Toiletteneinrichtung aus Paris, die Tony besonders zu schätzen wußte, da sich auch bei ihr zu Hause allerlei Gegenstände vorfanden, die ihre Eltern oder Großeltern aus Paris mitgebracht hatten und sehr wert hielten.
Die drei jungen Mädchen schlossen rasch einen Freundschaftsbund, sie gehörten der gleichen Unterrichtsklasse an und bewohnten gemeinsam den größten der Schlafräume im oberen Stockwerke. Welche amüsanten und behaglichen Stunden waren das, wenn man um zehn Uhr zur Ruhe ging und beim Auskleiden plauderte – mit halber Stimme nur, denn nebenan begann Mlle. Popinet von Dieben zu träumen … Sie schlief zusammen mit der kleinen Eva Ewers, einer Hamburgerin, deren Vater, ein Kunstschwärmer und Sammler, sich in München angesiedelt hatte.
Die braungestreiften Rouleaus waren geschlossen, die niedrige, rotverhüllte Lampe brannte auf dem Tische, ein leiser Duft nach Veilchen und frischer Wäsche erfüllte das Zimmer und eine gemächliche, gedämpfte Stimmung von Müdigkeit, Sorglosigkeit und Träumerei.
»Mein Gott«, sagte Armgard, die halb ausgekleidet auf dem Rande ihres Bettes saß, »wie geläufig Doktor Neumann spricht! Er kommt in die Klasse, stellt sich an den Tisch und spricht von Racine …«
»Er hat eine schöne, hohe Stirn«, bemerkte Gerda, während sie sich vor dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern beim Schein zweier Kerzen die Haare kämmte.
»Ja!« sagte Armgard rasch.
»Und du hast auch nur von ihm angefangen, um das zu hören zu bekommen, Armgard, denn du blickst ihn beständig mit deinen blauen Augen an, als ob …«
»Liebst du ihn?« fragte Tony. »Mein Schuhband geht einfach nicht auf, bitte Gerda … so! nun! Liebst du ihn, Armgard? Heirate ihn doch; es ist eine sehr gute Partie, er wird Professor am Gymnasium werden.«
»Gott, ihr seid scheußlich. Ich liebe ihn gar nicht. Ich werde sicherlich keinen Lehrer heiraten, sondern einen Landmann …«
»Einen Adligen?« Tony ließ den Strumpf sinken, den sie in der Hand hielt, und blickte gedankenvoll in Armgards Gesicht.
»Das weiß ich noch nicht; aber ein großes Gut muß er haben … Ach, wie freue ich mich darauf, Kinder! Ich werde um fünf Uhr aufstehen und wirtschaften …« Sie zog die Bettdecke über sich und sah träumend zum Plafond empor.
»Vor ihrem geistigen Auge stehen fünfhundert Kühe«, sprach Gerda und betrachtete ihre Freundin im Spiegel.
Tony war noch nicht fertig; aber sie ließ ihren Kopf im voraus aufs Kissen sinken, verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete auch ihrerseits sinnend die Zimmerdecke.
»Ich werde natürlich einen Kaufmann heiraten«, sagte sie. »Er muß recht viel Geld haben, damit wir uns vornehm einrichten können; das bin ich meiner Familie und der Firma schuldig«, fügte sie ernsthaft hinzu. »Ja, ihr sollt sehn, das werde ich schon machen.«
Gerda hatte ihre Schlaffrisur beendet und putzte ihre breiten, weißen Zähne, wobei sie sich ihres elfenbeinernen Handspiegels bediente.
»Ich werde wahrscheinlich gar nicht heiraten«, sagte sie ein wenig mühsam, denn das Pfefferminzpulver behinderte sie. »Ich sehe nicht ein, warum. Ich habe gar keine Lust dazu. Ich gehe nach Amsterdam und spiele Duos mit Papa und lebe später bei meiner verheirateten Schwester …«
»Wie schade!« rief Tony lebhaft. »Nein, wie schade, Gerda! Du solltest dich hier verheiraten und immer hier bleiben … Höre mal, du solltest zum Beispiel einen von meinen Brüdern heiraten …«
»Den mit der großen Nase?« fragte Gerda und gähnte mit einem kleinen zierlichen und nachlässigen Seufzer, wobei sie den Handspiegel vor den Mund hielt.
»Oder den anderen, das ist ja gleichgültig … Gott, wie ihr euch einrichten würdet! Jakobs müßte es machen, Tapezierer Jakobs in der Fischstraße, er hat einen vornehmen Geschmack. Ich würde täglich zu Besuch kommen …«
Aber dann ließ sich Mlle. Popinets Stimme vernehmen:
»Ah! voyons, mesdames! zu Bette, s'il vous plaît! Sie werden sich heute abend nicht mehr verheiraten!«
Die Sonntage aber und die Ferien verlebte Tony in der Mengstraße oder draußen bei den Großeltern. Welch Glück, wenn am Ostersonntag gutes Wetter war und man die Eier und Marzipanhasen in dem ungeheuren Krögerschen Garten suchen konnte! Welche Sommerferien an der See, wenn man im Kurhause wohnte, an der Table d'hote speiste, badete und Esel ritt! Auch wurden in einigen Jahren, wenn der Konsul Geschäfte gemacht, Reisen von größerer Ausdehnung unternommen. Aber welch Weihnachtsfest, vor allem, mit drei Bescherungen: zu Hause, bei den Großeltern und bei Sesemi, woselbst an diesem Abend der Bischof in Strömen floß … Am herrlichsten aber war dennoch der Weihnachtsabend zu Hause, denn der Konsul hielt darauf, daß das heilige Christfest mit Weihe, Glanz und Stimmung begangen ward. Wenn man in tiefer Feierlichkeit im Landschaftszimmer versammelt war, während die Dienstboten und allerlei alte und arme Leute, denen der Konsul die blauroten Hände drückte, sich in der Säulenhalle drängten, dann erscholl dort draußen vierstimmiger Gesang, den die Chorknaben der Marienkirche vollführten, und man bekam Herzklopfen, so festlich war es. Dann, während schon durch die Spalten der hohen, weißen Flügeltür der Tannenduft drang, verlas die Konsulin aus der alten Familienbibel mit den ungeheuerlichen Buchstaben langsam das Weihnachtskapitel, und war draußen noch ein Gesang verklungen, so stimmte man »O Tannebaum« an, während man sich in feierlichem Umzuge durch die Säulenhalle in den Saal begab, den weiten Saal mit den Statuen in der Tapete, wo der mit weißen Lilien geschmückte Baum flimmernd, leuchtend und duftend zur Decke ragte und die Geschenktafel von den Fenstern bis zur Tür reichte. Aber draußen, auf dem hartgefrorenen Schnee der Straßen musizierten die italienischen Drehorgelmänner, und vom Marktplatz scholl der Trubel des Weihnachtsmarktes herüber. Außer der kleinen Klara beteiligten sich auch die Kinder an dem späten Abendessen in der Säulenhalle, bei dem es Karpfen und gefüllten Puter in übergewaltigen Mengen gab …
Hier ist zu erwähnen, daß Tony Buddenbrook in diesen Jahren zwei mecklenburgische Güter besuchte. Ein paar Sommerwochen verlebte sie mit ihrer Freundin Armgard auf dem Besitztum des Herrn von Schilling, das Travemünde gegenüber jenseits der Bucht an der Küste lag. Und ein anderes Mal reiste sie mit Cousine Thilda dorthin, wo Herr Bernhard Buddenbrook Inspektor war. Dieses Gut hieß »Ungnade« und brachte nicht einen Heller ein; aber als Ferienaufenthalt war es trotzdem nicht zu verachten.
So wanderten die Jahre vorbei, und es war, alles in allem, eine glückliche Jugendzeit, die Tony verlebte.