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Der Zigarettenstummelmann
ОглавлениеJosef Habermann sah sie schon von weitem. Sie stand am Rand des Zubringers zur Autobahn und starrte in seine Richtung, ein schmächtiges Persönchen, in einen weiten dunklen Mantel gehüllt.
Er fuhr vorbei, überlegte es sich dann anders und hielt. Im Rückspiegel beobachtete er, wie sie rasch ihre Tasche aufnahm und in seine Richtung hastete. Er öffnete die Beifahrertür.
„Stellen Sie ihre Tasche einfach nach hinten“, sagte er.
Das Mädchen tat es. Verstohlen musterte er sie. Schwarz geschminkte Lippen in einem blassen Gesicht. Etwas gewöhnungsbedürftig. Ebenso das Glitzerding in ihrem Nasenflügel und das Halsband, das mit seinen Nieten und Stacheln eher zu einem Kampfhund gepasst hätte.
Na, sie würde ihn schon nicht beißen.
Dann saß sie neben ihm und er fädelte sich in den Autobahnverkehr ein.
„Habermann, Josef Habermann“, stellte er sich vor.
„Sag einfach Maria zu mir“, vervollständigte das Mädchen die Vorstellungszeremonie. Sie duzte ihn. Wahrscheinlich war das bei der heutigen Jugend einfach üblich.
„Ich fahre aber nicht nach Bethlehem.“
Das Mädchen guckte irritiert, aber nur für einen Moment, und erwiderte: „Das hättest du mir auch früher sagen können.“
Jetzt war es an Josef, irritiert zu sein. Gar nicht dumm. Hatte seinen Witz mit der Weihnachtsgeschichte gleich begriffen. Und Humor hatte sie auch. Das gefiel ihm. Sollte sie anders sein?
„Ich fahre nach München. Bis dahin kann ich dich mitnehmen.“
Seine Passagierin seufzte erleichtert. „Super, heute ist mein Glückstag.“
Vielleicht, vielleicht auch nicht, dachte Josef.
Laut sagte er: „Ich besuche meinen Sohn und seine Familie. Will da die Feiertage verbringen.“
Sie schwieg. Es nieselte. Die Scheibenwischer machten wupp, wupp. Keine Chance auf weiße Weihnacht. Was kümmerte es ihn. Auf der Gegenspur kam ihm eine endlos lange Lichterkette entgegen, wie für einen gigantisch großen Weihnachtsbaum gemacht. Ihm kam der Gedanke, dass er schon lange keinen Weihnachtsbaum mehr geschmückt hatte. Wozu auch. Metha war nicht mehr. Seitdem mussten seine Kinder damit klar kommen, dass er sie zu Weihnachten abwechselnd mit seinem Besuch beehrte. Ob es ihnen nun passte oder nicht. Unwillkürlich schob er die Unterlippe vor. Das Mädchen neben ihm dürfte ungefähr in Torstens Alter sein, überlegte er.
„Und du? Geht’s in Urlaub. Skilaufen?“
„Nein, ich fahre zu meinen Eltern.“
„Bist du Studentin?“
„Ja.“
„Und was studierst du so?“
„Hör mal, bist du bei der Kripo?“
„Schon gut.“
Er verstummte. Es war immer dasselbe. Er ging allen auf die Nerven. Wie bei seinem Großen. Wieso kam er mit den Leuten nicht mehr klar? Er war eben ein alter nervtötender Sack. Aber gut genug, das Mädchen zu fahren. Wie kalt sie alle sind, dachte er. Er fühlte, wie sich ein kleiner roter Punkt in seinem Gehirn bildete und immer größer und heißer wurde.
Das Schweigen wurde dichter und füllte wie ein Nebel das Auto aus. Wupp, wupp. Er fuhr in den grauschwarzen Spätnachmittag und träumte. Es war sein Lieblingstraum. Er war der Zigarettenstummelmann. Diesmal wählte er seine Opfer auf der Autobahn aus. Er fuhr an ihnen vorbei, schön langsam und wenn er auf gleicher Höhe mit ihnen war, fixierte er sie mit seinem Blick. Zwei schwarze Augenhöhlen, in denen große glimmende Zigarettenstummel staken. Damit hypnotisierte er sie, drang mit ihnen in das Gehirn seiner Opfer ein, machte sie willenlos. Sie mussten ihm folgen, eine lange Autokarawane. Dann bremste er und stellte das Auto quer zur Fahrtrichtung. Die Anderen auch. Lichter rasten auf sie zu ...
„Ich hab’s nicht so gemeint, sagte das Mädchen.
„Schon gut.“ Gar nichts war gut. Gesagt war gesagt und so sprang man mit ihm nicht um. Er war der Zigarettenstummelmann.
„Ich bin einfach nur müde.“
„Ja, schon in Ordnung.“
„Falls es dich interessiert, ich studiere Geologie.“
„Aha.“
Es interessierte ihn nicht mehr. Sie war kalt wie die Anderen, wie Torsten, dessen Frau, wie seine Tochter Inge, die Enkelkinder, seine Bekannten ... Äußerlich Menschen, aber in Wirklichkeit Frösche, große kalte glitschige quakende Frösche. Josef schwieg. Das Mädchen seufzte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück.
Josef hing seinen Träumen nach. Jetzt kam die Stelle, vor der er sich immer ein wenig fürchtete. Der Regen. Er ging zwischen den qualmenden Blechtrümmern hindurch und der Himmel schoss ein Trommelfeuer aus grünen Fleischklumpen auf die Autobahn ab, noch zuckende kalte Froschleiber, die als kleine Biometeoriten auf der Straße zerplatzten, mit dumpfem Knallen auf Autodächer schlugen, Scheiben zerbersten ließen. Von fern waren Sirenen zu hören und die Frösche waren überall. Viele lebten noch und krochen über die Fahrbahn. Er bemühte sich, sie nicht zu zertreten, versuchte es wirklich, aber es waren einfach zu viele. Er musste es tun. Oh Gott, er musste es wieder tun.
Als er das Raststättenschild bemerkte, setzte Josef den Blinker.
„Zeit für einen Kaffee. Ich lad dich ein“, sagte er.
Er suchte sich einen Parkplatz ziemlich weit hinten. Dann drehte er sich zu dem Mädchen hin. Mit Genugtuung registrierte er, wie sie erschrocken die Augen aufriss und wegzuckte, wie ihre Hand hektisch nach dem Türgriff fummelte. Er ließ die Zigarettenstummel aufglimmen und ihre ganze Gestalt erschlaffte und fiel willenlos nach hinten.
Er war der Zigarettenstummelmann.