Читать книгу Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie - Thomas Nagel - Страница 4
1 Einleitung
ОглавлениеDieses Buch gibt eine kurze Einführung in die Philosophie für Leser, die noch wenig Ahnung von ihr haben. Man lernt die Philosophie normalerweise erst auf der Universität kennen, und ich gehe davon aus, dass der größte Teil der Leser sich in diesem oder einem fortgeschritteneren Alter befindet. Dies hat jedoch nichts mit der Natur der Sache zu tun, und ich würde mich sehr freuen, wenn das Buch auch für intelligente Gymnasiasten der mittleren und höheren Jahrgänge mit einem Sinn für abstrakte Gedanken und theoretische Argumente von Interesse wäre – falls einige von ihnen es lesen sollten.
Unsere analytischen Fähigkeiten sind oft schon weit entwickelt, bevor wir sehr viel über die Welt erfahren haben, und ungefähr im Alter von vierzehn Jahren fängt man von selbst damit an, über philosophische Probleme nachzudenken – über die Fragen, was wirklich existiert, ob wir überhaupt etwas wissen können, ob es tatsächlich Recht oder Unrecht gibt, ob das Leben einen Sinn hat, ob der Tod das Ende ist. Über diese Probleme wird seit tausenden von Jahren geschrieben, doch das philosophische Rohmaterial stammt unmittelbar von der Welt und unserer Beziehung zu ihr, und nicht von irgendwelchen Schriften der Vergangenheit. Das ist auch der Grund, warum sich diese Fragen immer und immer wieder von neuem in den Köpfen von Menschen stellen, die nichts über sie gelesen haben.
Ich gebe hier eine direkte Einführung in neun philosophische Probleme, die jeweils für sich und ohne Rückgriff auf die Geschichte des Denkens verständlich sind. Ich werde weder die großen philosophischen Schriften der Vergangenheit diskutieren noch ihr kulturelles Umfeld. Im Zentrum des Philosophierens stehen gewisse Fragen, die ein reflektiertes menschliches Bewusstsein auf natürliche Weise verwunderlich findet, und am besten beginnt man sein philosophisches Nachdenken, indem man sich ihnen unmittelbar zuwendet. In der Folge ist man dann eher in der Lage, die Arbeiten anderer zu würdigen, die diese Probleme zu lösen versucht haben.
Die Philosophie unterscheidet sich einerseits von den Naturwissenschaften und andererseits von der Mathematik. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften stützt sie sich nicht auf Experimente und Beobachtungen, sondern allein auf das Denken. Im Unterschied zur Mathematik kennt sie keine formalen Beweisverfahren. Man philosophiert einzig, indem man fragt, argumentiert, bestimmte Gedanken ausprobiert und mögliche Argumente gegen sie erwägt, und darüber nachdenkt, wie unsere Begriffe wirklich beschaffen sind.
Das Hauptanliegen der Philosophie besteht darin, sehr allgemeine Vorstellungen in Frage zu stellen und zu verstehen, die sich ein jeder von uns tagtäglich macht, ohne über sie nachzudenken. Ein Historiker mag fragen, was in einem bestimmten Zeitraum der Vergangenheit geschah, doch ein Philosoph wird fragen: »Was ist die Zeit?« Ein Mathematiker wird das Verhältnis der Zahlen untereinander erforschen, doch ein Philosoph fragt: »Was ist eine Zahl?« Ein Physiker wird fragen, woraus die Atome bestehen und was für die Schwerkraft verantwortlich ist, doch ein Philosoph wird fragen, woher wir wissen können, dass es außerhalb unseres eigenen Bewusstseins etwas gibt. Ein Psychologe mag untersuchen, wie ein Kind eine Sprache erlernt, doch ein Philosoph fragt eher: »Was ist dafür verantwortlich, dass ein Wort eine Bedeutung hat?« Jeder kann sich fragen, ob es unrecht ist, sich ohne eine Eintrittskarte ins Kino zu schleichen, doch ein Philosoph wird fragen: »Was macht etwas zu einer rechten oder unrechten Handlung?«
Wir könnten unser Leben nicht führen, würden wir unsere Vorstellungen von der Zeit, den Zahlen, von Wissen, Sprache, Recht und Unrecht nicht die meiste Zeit unhinterfragt voraussetzen; in der Philosophie jedoch machen wir diese Dinge zum Gegenstand der Untersuchung. Wir sind bemüht, unser Verständnis der Welt und unserer selbst ein Stück weit zu vertiefen. Dies ist offensichtlich nicht leicht. Je grundlegender die Ideen sind, die wir zu erforschen versuchen, umso weniger Werkzeug haben wir hierfür zur Verfügung. Nur weniges darf angenommen oder vorausgesetzt werden. Die Philosophie ist daher eine etwas schwindelerregende Tätigkeit, und nur wenige ihrer Ergebnisse bleiben langfristig unangefochten.
Da ich der Meinung bin, dass man am ehesten etwas über die Philosophie erfährt, indem man über bestimmte Fragen nachdenkt, werde ich über ihren allgemeinen Charakter hier nichts weiter zu sagen versuchen. Bei den neun Problemen, die wir erwägen werden, handelt es sich um Fragen über die folgenden Gegenstände:
unser Wissen von einer Welt außerhalb unseres Bewusstseins
unser Wissen von einem anderen Bewusstsein als dem eigenen
die Beziehung zwischen dem Bewusstsein und dem Gehirn
wie die Sprache möglich ist
ob wir einen freien Willen haben
das Fundament der Moralität
welche Ungleichheiten ungerecht sind
das Wesen des Todes
den Sinn des Lebens
Wir haben hier nur eine Auswahl getroffen; es gibt viele, viele weitere Fragestellungen.
Was ich hier sagen werde, wird mein eigenes Verständnis dieser Probleme wiedergeben und sich nicht notwendigerweise mit dem decken, was die meisten Philosophen denken. So etwas wie das, was die meisten Philosophen über diese Fragen denken, gibt es vermutlich auch gar nicht: die Philosophen sind unterschiedlicher Meinung, und jede einzelne philosophische Frage hat mehr als nur zwei mögliche Antworten. Nach meiner persönlichen Auffassung sind die wenigsten dieser Probleme gelöst worden, und einige von ihnen werden vielleicht niemals gelöst werden. Hier geht es mir jedoch nicht um Antworten – noch nicht einmal um die Antworten, die ich selbst für die richtigen halte –, sondern einzig darum, Sie auf eine sehr vorläufige Weise so in diese Probleme einzuführen, dass Sie von sich aus über sie nachdenken können. Bevor man eine Vielzahl philosophischer Theorien zur Kenntnis nimmt, lässt man sich besser erst einmal von den philosophischen Fragen in Verlegenheit bringen, die diese Theorien zu beantworten versuchen. Und dies tut man am besten, indem man einige mögliche Lösungen betrachtet und sich fragt, was an ihnen nicht stimmt. Ich werde versuchen, meine Antworten offenzulassen, doch auch wenn ich sage, was ich selbst für richtig halte, haben Sie keinen Anlass, es zu glauben, falls Sie es nicht für überzeugend halten.
Es gibt eine Vielzahl ausgezeichneter Einführungen mit Textstellen aus den Werken der großen Philosophen der Vergangenheit und aus jüngeren Schriften. Dieses kleine Buch ist kein Ersatz für eine solche Zugangsweise, es vermittelt jedoch hoffentlich einen ersten Blick auf unser Gebiet, der so klar und unmittelbar wie möglich ist. Falls Sie sich nach der Lektüre dazu entscheiden sollten, einen zweiten Blick darauf zu werfen, so werden Sie sehen, wie viel mehr sich über diese Probleme sagen lässt, als ich hier vorführe.