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Kapitel 2

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Unter regelmäßigen Kontrollblicken in seinen Rückspiegel fuhr Leo die Landstraße weiter. Von einem weiteren Scheinwerferpaar war weit und breit nichts zu sehen, doch er wollte nicht ausschließen, dass ihm die beiden Polizisten mit ausgeschalteten Abblendlichtern auf den Fersen waren. Als die bewusste Abzweigung in Sicht kam, setzte er gewohnheitsmäßig den rechten Blinker und bog ab.

Leos Herzschlag gewann wieder an Fahrt. Nun würde sich gleich herausstellen, inwieweit sein Streich Chancen auf Gelingen hatte. Möglicherweise überwand er nicht einmal die erste Hürde, das eiserne Tor. Vielleicht schaffte er es bis zum Parkplatz, würde dann aber an der Tür scheitern. Vielleicht aber schaffte er es tatsächlich ins Innere dieses Gemäuers, in dem Sandra augenscheinlich sehr oft verkehrte.

Die schmale Straße schlängelte sich in Windungen durch das Gehölz. Nadelbäume und Buschwerk zu beiden Seiten ragten zuweilen so weit über den Asphalt, dass sie das Auto streiften. Niemand, der nicht sehr genau wusste, wohin ihn diese Straße führte, würde annehmen, dass sie irgendwo anders hinführte als ans Ende der Welt.

Irgendwann waren Lichter im Gespinst der Bäume erkennbar. Leo fuhr eine letzte Kurve, dann lag das mysteriöse Herrenhaus vor ihm. Mächtig wie eine Burg ragte es vor der Kulisse aufsteigender Nadelwälder in den nachtschwarzen Himmel. Die meisten Fenster glühten von Vorhängen gefiltert, so als wäre das Gebäude ein riesiger Ofen. Darüber hinaus hielt nur die Hofbeleuchtung der umzingelnden Dunkelheit stand.

Jenseits der eisernen Gitterstäbe sah Leo den Torwächter stehen. Leo hielt im Schrittempo auf ihn zu und brachte sein Fahrzeug wenige Meter vor dem Tor zum Stehen. Er atmete noch einmal tief durch, überprüfte mit einem flüchtigen Blick sein Erscheinungsbild im Rückspiegel und stieg aus. Der unvergleichliche Duft von Baumpech und Nadelhölzern nahm ihn gefangen. Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, doch hier schien er ihm bedeutend intensiver als an seinem Beobachtungsposten. Das war gewissermaßen die Krönung der eindrucksvollen Aura, die von dieser Stätte ausging.

Der kantige Torwächter, ein dunkelhaariger Hüne im schwarzen Maßanzug, erwartete ihn mit vornehm auf Hüfthöhe überschlagenen Händen.

»Guten Abend, mein Herr«, sprach eine gebirgsbachklare Stimme. »Was kann ich für Sie tun? Haben Sie sich möglicherweise verfahren?«

Leo biss sich fahrig auf die Lippen und tat sein Bestes, dem stechenden Blick des Kerls standzuhalten. Nun würde sich herausstellen, ob er die Sache mit dem Losungsspruch richtig kapiert hatte. Er schützte größtmögliche Selbstsicherheit vor, als er verkündete: »Pan spielt mir ein Frühlingslied am Friedhofstor.«

»Seien Sie willkommen«, entgegnete der Torwächter mit einem grußvollen Nicken und entfernte sich, um den Öffnungsmechanismus auszulösen.

Leo triumphierte stumm, als er zum Wagen zurückkehrte. Kaum hatte er wieder hinter seinem Lenkrad Platz genommen, schob sich das Tor zur Seite und ebnete ihm damit den Weg zu Sandras Geheimnissen.

Doch um welche Geheimnisse ging es hier überhaupt? Führte Sandra eine Art Doppelleben? Von dem Gespräch mit den beiden Polizisten angestachelt, malte sich Leo die krude Theorie aus, dies wäre intimer Treffpunkt von Mördern, die hier im Kreise Gleichgesinnter ihre grausigen Verbrechen diskutierten.

An der Rückseite des Gebäudes, schon nahe am eisernen Außenzaun, fand Leo einen freien Parkplatz. Als er ausstieg, fiel ihm zu allererst die inzwischen geräumte Terrasse auf. Wo zuvor noch eine muntere Stehparty im Gange gewesen war, hielten sich nun nur noch vereinzelte Personen auf. Leos Blick glitt die Hausfassade zu den Balkonen empor. Vom Hoflicht unberührt lagen sie im Nachtschatten, doch Leo war sich sicher, ein paar Gestalten auszumachen.

Mit einem mulmigen Gefühl und der Sporttasche in der Hand hielt er auf die Tür unterhalb der Terrasse zu. Tatsächlich gab es keinen Klingelknopf. Er hatte jedoch auch niemanden Anklopfen gesehen, als er vor Kurzem noch jenseits des Zauns auf der Lauer gelegen hatte. Was also war der Trick? Wodurch verschaffte man sich Einlass? Gab es irgendwo eine versteckte Sprechanlage, in die man noch einmal diesen obskuren Losungssatz sprechen musste? Leo hielt still und übte sich in Geduld. Eine unbedachte Handlung würde ihn womöglich verraten. Die Leute auf den Balkonen hatten bestimmt ein Auge auf ihn.

Seine Geduld wurde belohnt, als sich die Tür ohne irgendwelches Zutun öffnete und die nackte Frau mit der gefiederten Maske vor ihm stand. Er konnte nicht anders als den Blick zu senken und ihren wohlgeformten Körper umfänglich in Augenschein zu nehmen.

»Guten Abend, mein Herr«, sprach das unbekannte Wesen und holte Leos Augen damit zu ihrer ausdruckslosen Maske zurück. Ihre Stimme klang aufgrund des Plastikwiderstands vor dem Mund merkwürdig dumpf. »Bitte treten Sie ein.«

Die schöne Fremde trat zur Seite und bat den Eindringling herein. Leo entsprach der Geste. Grußworte wollten ihm nicht über die Lippen kommen.

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen«, verlautete die Maskierte unaufgeregt. »Ist dies Ihr erster Besuch, mein Herr?«

Leo sah keinen Sinn darin, das zu leugnen.

»Ja, mein erster Besuch«, krächzte er heiser.

Er räusperte sich.

»Bitte folgen Sie mir«, lud die Gastgeberin ein - eine Aufforderung, der Leo nur zu gerne nachkam. Ihr zierlicher Hintern bot einen herrlichen Anblick. Erst recht, als sie dem Gangverlauf folgend ein paar Stufen hinaufstieg. Ihre langen kastanienfarbenen Haare schwangen im gleichmäßigen Takt ihrer Schritte hin und her.

»Am besten, Sie ziehen sich unverzüglich um«, riet sie ihm. »Sie kommen sehr spät, es beginnt schon in wenigen Minuten.«

Leo sah sich genötigt, etwas zu erwidern.

»Die Polizei hat mich leider ein wenig aufgehalten.«

Die nackte Schönheit verlangsamte ihren Schritt und drehte gemessen den Kopf zu ihm um.

»Was Sie nicht sagen«, merkte sie an, wobei Leo ihre scharfen Augen spürte, die ihn durch zwei schmale Schlitze in der Maske musterten.

Er fühlte sich ertappt. Hatte er mit diesem unüberlegten Ausspruch alles verdorben?

»Sind Sie über die Abläufe im Bilde?«, fuhr die Schöne fort.

»Aber ja, das bin ich«, log Leo bemüht, überzeugend aufzutreten. »Voll und ganz.«

Die Gefiederte setzte daraufhin den Aufstieg fort und geleitete ihn durch einen langen, schmalen Korridor in eine mit dunklem Holz getäfelte Empfangshalle, von der aus etliche Zimmer einsehbar waren. In jedem befanden sich Menschen, die sich augenscheinlich ihrer Kleider entledigten. Von der Beschaffenheit der Räumlichkeiten nahm Leo nur Bruchstücke auf.

»Ich wünsche viel Vergnügen«, sprach die Maskierte und zog sich mit einer untertänigen Verbeugung in den Korridor zurück.

Überfordert versuchte Leo, sich einen Überblick zu verschaffen. Was ging hier vor? Leise Harfenmusik untermalte die Kulisse und ein dominanter Duft von Jasmin, durchsetzt von Parfüms und Rasierwasser, schwebte umher. Aus den offenen Zimmern vernahm er Gesprächsfragmente und vereinzeltes Gelächter. Die eindrucksvollste Tür war verschlossen. Sie war bogenförmig und ihr Stock wurde zuoberst von einer Büste in Form eines grimmigen Eberkopfes gekrönt. Leo hatte keinen Zweifel, dass dies die unbenutzte Frontpforte war. Hoch über ihm hing ein kristallener Kronleuchter an der Decke. Eine mächtige Treppe führte zu einer Galerie ein Stockwerk höher. Dies aber schien nicht der ihm auferlegte Weg zu sein. Als aus einem der Zimmer eine Gruppe von Gestalten in grauen Mönchsroben hervorkam, wusste Leo, was er zu tun hatte.

In einem gemütlichen Wohnraum, in dem neben einem edel designten Billardtisch und ein paar Schachtischen diverse Sessel und Sofas aufwarteten, stellte Leo seine Sporttasche ab und fing an, sich auszuziehen. Er tat es in aller Gemächlichkeit und analysierte dabei schweigend die anderen Leute im Raum, die überwiegend dasselbe taten. In den meisten Gesichtern, jung wie alt, loderte ein Ausdruck freudiger Erwartung. Sandra war definitiv nicht zugegen. An seiner Gegenwart hatte sich bislang niemand gestört.

Die Leute zogen sich hier in der Tat komplett aus und warfen sich anschließend die obligatorische Robe über. Leo öffnete seine Sporttasche, nahm sein Exemplar heraus und schob die Tasche anschließend unter einen der Schachtische. Seine zusammengefalteten Klamotten legte er daneben, so wie es auch die anderen Gäste machten.

In weiser Voraussicht hatte Leo auch an bequeme Sandaletten gedacht. Dass solche hier üblich waren, hatte er aus seiner Beobachtungsaktion vor fünf Wochen zwar nicht erschließen können, doch hatte er damals welche in Sandras Sporttasche entdeckt. Es war ihm gelungen, heimlich einen Blick hineinzuwerfen, kurz bevor sie aufgebrochen war. Sandaletten und eine graue Faschingsrobe - eine eigentümliche Kombination.

Nachdem er in seiner Robe steckte, zog Leo sich die zugehörige Kapuze in die Stirn und wartete ab. Nun würde ihn Sandra auch dann nicht erkennen, wenn sie wenige Meter an ihm vorbeispazierte. Da er nicht wusste, was weiter zu geschehen hatte, gedachte er, sich einer der nächsten Personen oder Grüppchen anzuschließen, die den Raum verließen. Viele waren nicht mehr übrig.

Die Harfenklänge kamen vom oberen Stockwerk, wie Leo in der Eingangshalle bemerkte. Er riskierte einen Blick nach oben zur Galerie. Unbekleidete Frauen mit unterschiedlich verzierten Gesichtsmasken lehnten am Geländer und schauten auf die farblosen Kostümträger im Erdgeschoss herab. Hätte er seinen Instinken nachgegeben, wäre Leo in Windeseile die Treppen zu den Schönheiten hinaufgelaufen. Stattdessen folgte er den anderen Kostümierten in einen spärlich beleuchteten Kellerabgang.

Schwarzlicht brachte jeden Fusel auf den Mönchskostümen zur Geltung. In der Schar der anderen wurde Leo in einen weiten Raum gespült. Im diffusen Dämmerlicht konnte er neben den anderen Robenträgern nur ein paar mächtige Säulen unterm dunklen Gebälk ausmachen. Jede Bewegung wirkte wie in Zeitlupe. Gespräche und Gelächter wurden gänzlich eingestellt. Alle Anwesenden verharrten in stummer Erwartung und starrten dabei in ein- und dieselbe Richtung. Ein leichter Duft wie von gerösteten Mandeln lag in der Luft.

Leos Unruhe nahm mit jeder Minute des ungewissen Wartens zu. Er hatte das Tor überwunden, war ins Haus gelangt und befand sich nun unerkannt unter den anderen Hausgästen. Doch wie ging es weiter? Worauf warteten sie hier unten? Die rituelle Bekleidung aller Beteiligten ließ auf irgendwelche Zeremonien schließen. Die drängende Frage war, mit welcher Art von Geheimgesellschaft er es hier zu tun hatte. Bestand Gefahr für seinen Leib und sein Leben, sollte man ihn enttarnen? Unter seiner Kutte fühlte er sich vorerst sicher, doch wie lange würde er sie anbehalten können? Die kollektive Nacktheit darunter verfolgte sicher irgendeinen Zweck.

Leo rief sich Sandras Vorlieben und Gewohnheiten ins Bewusstsein. Ihre gemeinsame Zeit lag zehn Jahre zurück, doch ihm war, als könnte er jeden einzelnen Moment mit ihr rekapitulieren. Was lockte sie in die Gemeinschaft dieser Leute? Sie war weder ein Faschingsfreund noch außerordentlich religiös. Sollte sie sich in den vergangenen Jahren diesbezüglich neu orientiert haben?

Mit praktiziertem Katholizismus hatte das Geschehen hier definitiv nichts zu tun, so viel stand fest, doch vielleicht fand hier eine Art Schwarze Messe statt. Der rituelle Aufzug aller Anwesenden ließ zumindest darauf schließen. Die Huldigung irgendwelcher esoterischer Mächte konnte jedoch kaum das einzige Lockmittel sein, das so viele augenscheinlich gutsituierte Leute in diese Mauern köderte. Letztendlich ging es um Sex, dessen war sich Leo weitgehend sicher.

Als ihm das Warten nach etwa fünf Minuten unerträglich wurde, schaute sich Leo vorsichtig um. Er versuchte seine Kapuze dabei so wenig wie möglich zu bewegen. Wie weit die Wände des Raums weg waren, konnte er bei den vorherrschenden Lichtverhältnissen nicht ausmachen. Nicht einmal die Kellerflucht war noch zu erkennen, nachdem jemand die Tür geschlossen hatte. Als leise Streichermusik einsetzte, gewann Leo anhand der Akustik den Eindruck, sich in einem gewaltigen Saal aufzuhalten.

Mit den Streichern glommen verschiedenfarbige Lichter auf. Sie erhellten ein Podium, das keine zehn Meter von Leo entfernt seinen Anfang nahm. Über die vermummten Köpfe der anderen Wartenden hinweg identifizierte er im schemenhaften Licht diverse Kulissen und Utensilien. Da war ein Tisch, eine Liege und eine fratzenhafte Statue gleich einem menschgewordenen Raubtier. Das große Gebilde gleich daneben schien Leo ein Galgen zu sein. Diese Annahme bestätigte sich, als die Lichter an Intensität gewannen. Auf dem Podium war ein massivhölzerner Galgen aufgebaut. Die hintergründigen Kulissen repräsentierten eine mittelalterliche Stadt. Leo bekam es mit der Angst zu tun. Sollte hier heute Abend jemand hingerichtet werden?

Wenig später nahm ein groteskes Theaterstück seinen Anfang. Die Streichermusik verstummte, woraufhin ein Mann und eine Frau das Podium betraten. Die beiden trugen nichts außer unheimliche schwarze Vogelmasken. Sie wechselten ein paar gestelzte Phrasen über Befreiung, Verfolgung und Leidenschaft, dann begann der Mann die spitzen Brüste seiner Partnerin mit seinen Fingern zu stimulieren. Leo war klar, was nun folgen würde. Das Ganze war ein okkult angehauchter Live-Sex-Act.

Unter weiteren eigenartig formulierten Dialogen gingen die beiden Akteure zu Werke. Der Penis des Mannes erigierte, als die Frau ihn beidhändig mit Daumen und Mittelfinger befühlte und streichelte. Die geschlechtliche Vereinigung sollte ihnen jedoch verwehrt bleiben. Weitere Akteure betraten die Bühne und trennten die beiden gewaltsam voneinander. Auch die neu Hinzugekommenen trugen nichts außer Masken am Leib, Masken, die lediglich ihre Augenpartien verhüllten. Eine Frau, deren Stirn eine Pfauenfeder zierte, schwang sich zu einer nach Leos Ansicht weitgehend sinnfreien Rede in Versform auf, woraufhin sich das sexuelle Treiben fortsetzte. Zwei Damen fielen über den Vogelmann her, die Vogelfrau wurde von zwei Herren bedient. Ein weiteres Pärchen ging zu Fuße des Galgens zur Sache.

Unter seiner Robe erigierte auch Leos Penis. Das schamlose Schauspiel nahm ihn gefangen, faszinierte ihn, drohte ihm beinahe die Sinne zu rauben. Er war sich sicher, dass der eigentümlich süßliche Duft, den er schon eine ganze Weile schnupperte, zu seinen Regungen und neuerlichen Fantasien beitrug. Ob Sandra eine der Akteurinnen war? Den Gedanken empfand Leo ungeahnt aufregend. Er beäugte die weiblichen Darsteller ganz genau, ihre gesichtslosen Münder, ihre Brüste, ihre Beine, ihre geöffneten Vaginas. Zehn Jahre waren eine zu lange Zeit, wie er feststellte. Er konnte unmöglich verifizieren, ob einer dieser ekstatisch zuckenden Körper der von Sandra war.

Die orgiastischen Liebesspiele auf dem Podium hielten an und wurden nur hin und wieder von den vermeintlich poetischen Auswürfen der Beteiligten unterbrochen, wenn sich Stellungen und Konstellationen neu ordneten.

Dass sich die Lichtverhältnisse im weiteren Voranschreiten der Inszenierung weiter geändert hatten, war Leo aufgrund des lasziven Schauspiels weitgehend entgangen. Als er bemerkte, dass einige Umstehende ihre Plätze aufgaben und dem Theaterstück den Rücken kehrten, schaute er sich um. Im rückwärtigen Bereich des Saals, wo zuvor alles in Finsternis ruhte, hatten sich ebenfalls Lichter eingeschaltet. Viele kleine Salzkristalllampen tunkten eine Ansammlung von Laken, Polstern und Liegen in ein tiefes Purpur. Etliche Vermummte machten sich auf den Weg in das Areal. Leo beobachtete, wie sie ihre Roben abwarfen und sich dann zu Paaren oder in kleinen Grüppchen niederließen. Eine kollektive Orgie nahm ihren Anfang.

Die Reihen der Zuschauer hatten sich gelichtet, doch die Podiumsaktivisten waren noch leidenschaftlich bei der Sache. Als Leo sich wieder zu ihnen umwandte, sah er sich einem anderen Robenträger gegenüber. Ein Gesicht war unter der Kapuze nicht auszumachen.

Instinktiv wich Leo einen Schritt zurück. Er fühlte sich ertappt, durchschaut, entblößt. Dass sich unter seiner Robe zudem sein erigiertes Glied abzeichnete, intensivierte dieses Gefühl. Obgleich er die Augen seines Gegenübers nicht ausmachen konnte, spürte er, wohin dessen Blick gerichtet war.

Leo war kurz davor, Reißaus zu nehmen, als sich zwei filigrane Hände von der vor ihm stehenden Robengestalt lösten und sich zu der verräterischen Ausbeulung an seiner Körpermitte aufmachten. Es waren zweifellos die Hände einer Frau. Leo ließ zu, dass sie durch den groben Stoff der Robe seinen Penis befühlte, sehnte sich sogar nach dieser intimen Berührung.

»Bist du allein?«, sprach eine leise, feminine Stimme unter der Kapuze.

»Yeahhh«, gab Leo als ein verunglücktes Stöhnen von sich.

Die zärtlichen Finger ließen von seinem Penis ab und strichen über den Stoff zu seiner Brust hinauf. Erst am Ansatz seiner Kapuze machten sie Halt. Leo hingegen hatte seine beiden Hände zur absoluten Untätigkeit eingefroren. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte nicht verhindern können, dass ihm die vermummte Frau die Kapuze zurückschlug und ihn damit allen Anwesenden preisgab.

Selbst jetzt konnte Leo nur an Sandra denken. Schaute sie ihm gerade zu? Steckte sie unter einer der Kapuzen? Oder war das Geschöpf ihm gegenüber gar niemand anderes als sie?

Die nagende Neugier brachte Kraft und Leben in seine Hände zurück. Er strich seinem Gegenüber behutsam über die Schultern und nahm ihre Kapuze in Besitz. Als er sie zurückschlug, kam ein hübsches Gesicht, eingerahmt von langen dunkelroten Haaren, zum Vorschein. Ihr Anblick verdrängte sogar das imaginäre Gesicht von Sandra ein paar Momente lang aus Leos Bewusstsein.

»Komm«, sprach die Unbekannte und nahm Leo an die Hand.

Er wusste, was nun geschehen würde - und nichts wollte er im Augenblick mehr. Die junge Frau, sie war vielleicht sechsundzwanzig, älter nicht, führte ihn ins purpurne Gelage, wo sich längst Dutzende Körper ungehemmt ihrer Lust hingaben. Leo wurde Zeuge verschiedenster Variationen menschlicher Paarungsgewohnheiten. Nicht wenige wurden zu dritt, zu viert und mehreren auf engstem Raum ausgelebt.

Als seine Begleiterin begann, ihre Robe aufzuschnüren, gehörte Leos Aufmerksamkeit ganz ihr. Sie entblößte einen betörend schönen, schlanken Körper mit üppigen Brüsten, dessen Anblick Leo den Atem raubte. Seine Hände waren dadurch erneut zur Untätigkeit verdammt, somit oblag es ihr, ihm seine Robe auszuziehen. Ihre Finger lösten die Schleife am Halsansatz, dann hob sie die Kutte über seinen Kopf hinweg und warf ihn über einen niedrigen Mauerlauf aus dem Wirkungskreis der Salzlampen.

Hände und Körper fanden zueinander. Ihre Finger strichen wie prüfend über seine verkümmerte Brustmuskulatur, seine Finger fanden ihre aufgerichteten Nippel. Leo wollte sich in diese vollen Brüste vergraben, doch noch hielt sie ihn auf Distanz.

»Ist dir dieser Platz genehm?«, schnurrte sie und wies auf etwa drei Quadratmeter Bodenraum, der gerade von niemandem der anderen Vögelnden beansprucht wurde.

Leo konnte nur nicken. Er hätte auch genickt, hätte sie ihn gefragt, ob er mal schnell zum Mond fliegen könne.

Sie ließ sich nieder und zog ihn mit sich. Auf Knien konnte Leo endlich seinem vorangegangenen Verlangen nachgeben und machte sich mit Händen und Lippen über ihre Brüste her, womit er ihr ein verzücktes Stöhnen entlockte. Sandra war plötzlich bedeutungslos, ebenso die ungewisse Örtlichkeit. Die Leute um sie herum waren vergessen. Leo knetete und bearbeitete ihre Brüste wie im Akkord. Sie wand sich gefällig unter ihm, schmiegte sich an ihn und ermunterte ihn fordernd fortzufahren. Leo entsprach ihrem Wunsch. Seine Hände bei ihren Brüsten verweilend, arbeitete er sich tiefer, leckte Bauch und Nabel, bevor er sich ihrem Süßesten annahm. Durch einen synchron gestutzten Flaum dunklen Schamhaares erschmeckte er mit seiner Zunge das Zentrum ihrer Weiblichkeit.

Ihre Schenkel kneteten seinen Kopf, während Leos Zunge die inneren Regionen ihrer Vulva erforschte und auch ihre Perle benetzte. Die Rothaarige zuckte begierig, trieb ihn mit Händen und ihren Fersen auf seinem Rücken an, tiefer vorzudringen. Leo war mehr als bereit dazu. Er befreite seinen Kopf aus dem Mahlwerk ihrer Schenkel und brachte seinen Penis in Position, in sie einzudringen. Sie aber wies ihn zurück. Leo verstand nicht und fürchtete, etwas falsch gemacht zu haben.

»Nicht so schnell, Stürmer«, gemahnte sie ihn mit einem provozierenden Lächeln.

Sie langte an ihm vorbei zu ihrer Robe und holte ein Präservativ aus einer Tasche.

Die schleichende Erkenntnis, wie dumm und leichtsinnig er gerade zu handeln bereit war, entriss Leo seinen ureigenen Welten blinder Begierde. Hätte sie sich nicht prompt über sein Glied hergemacht, er hätte womöglich aus Scham vor sich selbst und seiner Verantwortungslosigkeit das Weite gesucht. So aber entrollte sie mit geübten Fingern das Kondom, während ihre andere Hand zärtlich seine Hoden wog. Ungewollt gab Leo ein lustvolles Ächzen von sich.

Dann legte sie sich zurück und öffnete ihre Schenkel.

»Nun komm, mein Mittelstürmer«, verlangte sie mit fordernden Blicken.

Leo kam der Einladung augenblicklich nach und drang in sie ein. Nachfolgend arbeitete er in ihr, als müsste er Zeit gutmachen. Schon nach einer kurzen Weile übernahm sie die Kontrolle und gebot ihn unter sich. Nun ritt ihn die Rothaarige unter gleichmäßigem Atmen in einem weitaus weniger überschlagenden Tempo. Leo wusste dennoch, dass er seinem ekstatischen Höhepunkt nicht mehr fern war. Um ihn wenigstens noch ein wenig hinauszuzögern, verweigerte er sich sowohl Blick- als auch Hautkontakt zu ihren herrlich hüpfenden Brüsten.

Sie war es, die seine Hände wieder an sich führte. Als Leo spürte, dass seine Ejakulation nicht mehr aufzuhalten war, fuhr er hoch, schlang beide Arme um sie und unterstützte ihren bewährten Reitrhythmus mit zusätzlichen Stößen. Seine Hände gruben sich in ihren festen Hintern, während er kam. Dann presste er sie fest an sich und ließ seine Ekstase ausklingen. Ob auch sie gekommen war, wusste er nicht.

Schwer atmend und schwitzend klammerten sich die beiden aneinander. In ihrer Nachbarschaft hielt das sexuelle Austoben an. Allmählich kehrte Leos Verstand zurück und ließ ihn die Situation aus rationeller Warte betrachten. Für einen Moment schauderte er, als er sich bewusst machte, was hier gerade geschehen war. Im nächsten Moment erfüllte es ihn mit ungeahnter Wonne und Zufriedenheit. Vor diesem Abend war es ihm unvorstellbar, gar undenkbar gewesen, den Liebesakt in Gegenwart Dritter zu vollziehen. Nun aber war genau das passiert - noch dazu mit einer Partnerin, von der er nicht einmal den Namen kannte.

Die Rothaarige löste sich von seinem Oberkörper und schaute ihm in die Augen.

»Du bist ein sehr ungestümer Stürmer«, bemerkte sie mit einem undefinierbaren Lächeln, das es Leo schwer machte, zu entscheiden, ob er das Gesagte als Kompliment oder Kritik nehmen sollte.

»Ich bin etwas aus der Übung«, keuchte er zur Antwort, womit er ihr ein süßes Grinsen entlockte.

»Wenn du jetzt deine Hände von meinem Hintern nimmst, werde ich absteigen«, meinte sie und gab ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Nase.

Leo gehorchte, worauf sie das Angedrohte wahrmachte und damit seinen Penis aus ihrer Vagina befreite. Ein unerwartetes Gefühl von Blöße stellte sich in Leo ein. Er drehte sich zur Seite und machte sich daran, das Präservativ abzustreifen. Die Rothaarige ging ihm dabei zur Hand.

»Wohin damit?«, fragte Leo von der augenblicklichen Situation überfordert.

»Ich entsorge es«, antwortete die Rote beruhigend, stand auf und marschierte davon.

Leo sah ihr hinterher, fühlte sich alleingelassen und fürchtete, sie würde nicht wiederkommen.

Doch sie kam wieder und legte sich zu ihm. Mit einer Hand befühlte sie seine Brust, die andere wühlte in seinem Haar. Leo schaute ihr ins Antlitz und versuchte zu ergründen, was sie nun von ihm erwartete. Hatte ihr gemeinsamer Liebesakt in diesem Gemäuer eine besondere Bedeutung? Waren Sie dadurch irgendeine rituelle Bindung eingegangen?

Leos Penis war noch nicht vollständig erschlafft, und er hatte das Bedürfnis, sich zu bedecken. Er fühlt sich plötzlich preisgegeben und bloßgestellt, ein Gefühl, das sich schon kurz nach seiner Ejakulation angebahnt hatte. Da seine Robe nicht zur Verfügung stand, zog er die seiner Partnerin über sich. Die aber schob sie wieder fort und erklärte sein Glied ohne ein Wort zu verlieren zu ihrem Spielzeug.

So betörend schön und sinnlich diese Frau auch war, Leo hoffte inständig, dass sie nicht noch eine weitere Runde verlangte. Er schaute sich um. Überall um sie herum wurde gevögelt, zügellos, hemmungslos. Manche taten es zu dritt, bei anderen Gruppen hatte sich ein ganzes Knäuel ergeben, das sich über- und nebeneinander in verschiedensten Stellungen befriedigte. Es gab jedoch nicht nur aktive Akteure, wie Leo bemerkte. Im Dämmerlicht rund um das purpurne Gelage zeichneten sich Beobachter ab. Sie trugen nach wie vor ihre Roben. Ihre vollständig verhüllten Körper gegenüber dem anderen Extrem all der öffentlich zelebrierten Sexualität setzte der Obszönität die Krone auf. Leos Gefühl, hier preisgegeben auf einem Präsentierteller zu liegen, nahm angesichts der stillen Zuschauer noch zu.

»Hör mal, können wir woanders hingehen?«, trug er seiner Gespielin an.

»Hast du Durst?«, entgegnete sie.

»Ja, das habe ich«, sagte Leo.

»Tja, ich könnte ebenfalls etwas vertragen«, erwog sie schulterzuckend. »Also los, gehen wir nach oben!«

Sie sprang auf und zog auch Leo auf die Beine. Ihr ruheloses, ungestümes Wesen gefiel ihm. Er sträubte sich ihrer sanften Gewalt erst, als er realisierte, dass sie im Begriff waren, ihre Roben zurückzulassen.

»Warte! Warte mal!«, wandte er ein. »Was ist mit unseren Kutten?«

»Sind nur unnötiger Ballast«, erwiderte sie und zog ihn weiter. Leo ließ es sich gefallen. Außerhalb des purpurnen Lichts, wo er sich nicht länger im Fokus der Robenvoyeure befand, fühlte er sich gleich wohler. Sein Blick fiel zum Podium. Die Schauspieler hatten inzwischen voneinander abgelassen. Es war leer. Alle sexuellen Aktivitäten konzentrierten sich auf das Purpurgelage.

Wie groß der Saal war, konnte Leo noch immer nicht ermessen, da die schummrigen Lichtverhältnisse nur bedingt Einblicke gewährten. Im Zwielicht nahe des Podiums entdeckte er Vogelfrau und Vogelmann offenbar in ein Gespräch vertieft. Die weiteren Gestalten in absehbarer Nähe waren vermutlich ihre Mitspieler.

In den uneinsichtigeren Bereichen des Kellersaals zeichneten sich vereinzelte Vermummte ab. Leo fragte sich, was deren Begehrlichkeiten hier waren. Konnte es ernsthaft Spaß machen oder Befriedigung bereiten, stumm aus den Schatten heraus zu beobachten, während andere sich ungeniert die Seele aus dem Leib vögelten? Ihm war das unbegreiflich.

Die Fantasie, Sandra könnte unter einer dieser Kapuzen stecken, erfuhr eine Fortsetzung in Leos Kopf. Der Gedanke, sie könnte aus nächster Nähe zugesehen haben, als er sich mit seiner hübschen Gespielin dem lüsternen Spektakel hingegeben hatte, jagte ihm ein Kribbeln durch den gesamten Körper.

Die Rothaarige fand den ungenügenden Lichtverhältnissen zum Trotz die Tür zum Kelleraufgang.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Leo.

»Nehmen wir erstmal eine Dusche, dann trinken wir was«, schlug sie vor. »Oder was meinst du?«

»Klingt gut.«

War er bei seiner Ankunft in diesem Gebäude noch dankbar gewesen, sich unter der Robe verbergen zu können, empfand Leo es nunmehr erbaulich befreiend, auch ohne sie agieren zu können. Gänzlich unbekümmert durchmaß er mit seiner Begleiterin die leere Eingangshalle und strebte die breite Treppe zum ersten Stockwerk an. Die Vorstellung, im Adamskostüm ganz unbedarft und wie selbstverständlich Sandra über den Weg zu laufen, war überaus reizvoll. Weitere Heimlichkeit erachtete er als überflüssig. Ob er sich den Eintritt nun ergaunert hatte oder nicht, er war in diesen erotischen Kult aufgenommen worden, war Teil von ihm geworden. Sandra würden vermutlich vor Schreck die Augen ausfallen, sollte sie seine Anwesenheit bis dato noch nicht bemerkt haben.

Die einsehbaren Zimmer im Erdgeschoss dienten offensichtlich nur als provisorischer Kleiderhort für die Gäste. Jegliches Geschehen schien sich im Keller und in den Stockwerken abzuspielen. Im Erdgeschoss traf Leo daher nicht eine Menschenseele an.

Nackte, maskierte Grazien blickten von der Galerie auf Leo und seine Gespielin herab, während sie Stufe um Stufe erklommen. Seine vollkommene Blöße in Gegenwart des Unbekannten, des Verruchten verursachte in ihm ein wohliges Schaudern. Das anregende Räucherwerk im Keller und die okkult und lasziv angehauchte Steicher- und Harfenmusik, die unaufdringlich an seine Ohren drang, schienen ihn darin noch zu beflügeln.

Unter den Blicken der Maskendamen betrat er von der Rothaarigen geführt das erste Stockwerk. Entlang des breiten Mittelkorridors sah Leo sämtliche Türen geöffnet. Menschen, manche nackt, manche maskiert, manche in Handtüchern, manche in Roben, saßen einträchtig auf Couchfragmenten an den Seitenwänden oder standen in Grüppchen beieinander, führten Gespräche und nippten dabei an gefüllten Gläsern. Mit Bedacht auf sein eigenes, nicht unbedingt eindrucksvolles Erscheinungsbild war Leo sehr froh, dass an diesem Ort nicht nur Traumfrauen und Adoniskörper zugegen waren.

Seine Begleiterin führte Leo zunächst in ein weiß gefliestes Badezimmer, wo sie sich gemeinsam unter die Dusche begaben. In der benachbarten Badewanne saß ein anderes Pärchen und trank Champagner - vielleicht auch nur Sekt. Leo hatte keine Ahnung, was hier eigentlich vorging und was hier oben nun weiter passieren würde, doch längst war er dem Reiz des Unbekannten erlegen. Er wollte das gesamte Gebäude besichtigen, wollte sämtliche Geheimnisse, die es barg, ergründet wissen.

Die Ergründung eines der vor ihm liegenden Geheimnisse nahm er unverzüglich in Angriff.

»Wie heißt du?«, fragte er seine Badegesellschaft, während er ihren Rücken einseifte.

»Hildegard«, bekam er zur Antwort. »Die meisten nennen mich Hilde. Und du? Wie ist dein Name?«

»Leopold. Die meisten nennen mich Leo.«

»Erfreut, dich kennenzulernen, Leo.«

»Ganz meinerseits, Hilde.«

Als die beiden wenig später aus der Dusche stiegen, gab sich das Pärchen in der Wanne nicht länger mit Champagnertrinken ab. Mit scherenweit gespreizten Beinen lag die brünette Frau halbseitig auf dem Wannenrand und erwartete ihren Liebhaber. Ihr linkes Bein ruhte auf dessen Schulter, als der ihr sein erigiertes Glied einführte.

Während Hilde aus einem Schrank zwei weiße Handtücher nahm, riskierte Leo einen genaueren, intimeren Blick auf das Spiel der beiden. Mit seinem gegenwärtigen Selbstbewusstsein konnte ihn nicht einmal der direkte Augenkontakt mit der fremden Frau verunsichern. Im Gegenteil. Es war aufregend.

Zwanglos in ihre Handtücher gehüllt, flanierten Leo und Hilde in eine Art Bar. Vor einem antiken Tresen hatten sich ein paar Leute versammelt. Etliche weitere hockten neben ihren abgestellten Getränken zwischen den Whirlpools und anderen Becken, die die andere Hälfte des goldgrün gefliesten Raumes bildeten. Die Beleuchtung war angenehm unaufdringlich, die zugezogenen rubinroten Vorhänge an den zwei Fenstern sorgten für etwas Kontrast, ein paar Topfpflanzen verpassten der feuchtfröhlichen Wohnzimmeratmosphäre den letzten Schliff.

Leo betrachtete die Anwesenden ohne jegliche Scheu. Es gab nichts mehr, wovor er glaubte, sich fürchten zu müssen. Er gehörte dazu, war Teil dieser illustren Gesellschaft. Nicht alle Köpfe in den Pools waren ihm zugewandt, doch dass Sandra anwesend war, schloss er schnell aus.

Hilde hatte inzwischen bei einem grauhaarigen Bartender, der einen schwarzen Smoking und eine silberne Gesichtsmaske über der Augenpartie trug, zwei Cocktails bestellt. Leo hätte ein großes Glas Mineralwasser bevorzugt, doch er gab sich auch damit zufrieden.

»Lass uns eine ruhige Ecke suchen, wo wir ein bisschen plaudern können«, schlug Hilde vor und nickte in Richtung der Becken.

Der Vorschlag fand Leos bedingungslose Zustimmung. So begehrenswert er seine neueste Bekanntschaft auch fand, von einer weiteren Runde Sex wollte er vorerst absehen. Er fand es angebracht, nun ein wenig zu entspannen, Kräfte zu tanken und Gedanken zu ordnen. Ein Teil von ihm verwehrte sich noch immer dieser grotesken Realität und redete ihm ein, dies alles wäre nichts weiter als ein verrückter Traum.

Wenig später saßen Leo und Hilde mit ihren Cocktails im hintersten Becken, das sie ganz für sich hatten. Für Leos Belange war dieser Platz optimal. Er konnte den gesamten Raum überblicken. Sollte Sandra hereinkommen oder draußen am Korridor vorbeispazieren, würde es ihm nicht entgehen.

»Du bist zum ersten Mal hier, nicht?«, meinte Hilde und musterte ihn eingehend, so als wolle sie die Antwort seinen Augen entnehmen.

Leo sah keinen Sinn darin, die Wahrheit zu verleugnen. Vermutlich hatte er sich ihr gegenüber bereits mehrfach unfreiwillig als Neuling offenbart.

»Ja, es ist mein erster Besuch«, gestand er. »Merkt man mir das an?«

»Nun, ich habe dich hier noch nie gesehen«, erklärte Hilde. »Außerdem wusstest du weder wo du duschen kannst, noch wo du etwas zu trinken findest.«

»Tja, ich wusste tatsächlich nichts davon.«

Hilde schien ihn jetzt noch eingehender als im Keller zu beäugen.

»Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragte sie.

»Was soll ich denn gesucht haben?«, entgegnete Leo der Frage.

»Jeder, der hierher kommt, sucht etwas«, führte Hilde an. »Jeder hat einen Grund, weshalb er hier ist. Welcher ist deiner, Leo?«

Leo wusste nicht recht, worauf ihre Frage abzielte und was er darauf antworten sollte. War dies womöglich eine Fangfrage? War Hilde im Begriff herauszufinden, wie er sich den Zutritt ergaunert hatte?

Leo beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben, soweit er es vertreten konnte.

»Eigentlich bin ich wegen einer Freundin hier«, sagte er. »Sie muss sich hier irgendwo herumtreiben.«

»Wie ist ihr Name? Vielleicht kenne ich sie.«

»Ihr Name ist Sandra.«

»Beschreib sie mir.«

»Unmerklich kleiner als du, dunkelbraune Haare bis zu den Schulterblättern, hübsches Gesicht, dreiunddreißig Jahre alt.«

Hilde nickte wissend . »Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Habt ihr eine Beziehung?«

»Nein. Das heißt, doch. Wir haben sozusagen eine kollegiale Beziehung. Wir waren mal zusammen, aber das ist etliche Jahre her.«

»Wie kommt es dann, dass sie dich eingeladen hat?«

»Oh, sie ... sie hat mich gar nicht eingeladen.« Leo beschlich die vage Ahnung, dass er gerade dabei war, sich um Kopf und Kragen zu plappern. Er gebot sich, sorgfältiger abzuwägen, was er sagen wollte.

»Es soll gewissermaßen eine Überraschung für sie sein, dass ich heute hier bin«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

»Eine Überraschung, verstehe«, meinte Hilde, und Leo spürte, dass er ihr Misstrauen geweckt hatte. Er haderte mit sich. Durfte er zu diesem Zeitpunkt schon alle Masken fallen lassen, oder würde das womöglich unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen? Fürs Erste beschloss er, den Schein so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

»Eingeladen hat dich also jemand anders«, fuhr Hilde fort. »Verrate es mir! Wer?«

»Nein, das möchte ich für mich behalten«, blockte Leo wenig stilvoll ab.

»Also bitte!«, erwiderte Hilde. »Du wärst der Erste, der nicht mit seinen Beziehungen und Seilschaften angibt. Na los, rück schon raus damit!«

»Nein, lieber nicht.«

Leo hoffte inständig, dass sie seine Standhaftigkeit nicht zu sehr auf die Probe stellen würde. Er wollte ihr nach Möglichkeit nicht verraten, dass er an den Losungsspruch gelangt war, indem er Sandras E-Mail-Account gehackt hatte, und hielt es deshalb für eine gute Idee, zum Gegenangriff überzugehen.

»Bist du hier Stammgast?«, fragte er.

Hilde nickte bestätigend. »Seit zwei Jahren.«

»Und was war es, das du gesucht und hier gefunden hast?«, legte Leo nach.

»Freiheit, Selbstbestimmung, Spaß, Abenteuer«, kam es von Hilde, als hätte sie die Antwort irgendwo abgelesen.

»Hattest du das vorher nicht?«, fragte Leo.

An ihrer Mimik erkannte er, dass er zu weit gegangen war. Er hatte zwar mit diesem hübschen Ding gevögelt, doch sie waren einander fremd. Er hatte keinerlei Anspruch, derart intime Antworten von ihr zu fordern.

Um das Schweigen zu brechen, hob er seinen Drink, um mit ihr auf den heutigen Abend anzustoßen. Hilde entsprach der Geste. Anschließend tranken sie. Leo nahm nur einen kleinen Schluck, Hilde hingegen leerte ihr Glas auf ex.

»Wow«, gab Leo mehr verwundert als erstaunt von sich. »Geht das bei dir immer so schnell?«

»So hat wohl jeder sein eigenes Fachgebiet, auf dem er schnell ist«, entgegnete Hilde mit einem kecken Lächeln. »Ich nehme an, du hast vor, auf deine Freundin zu warten.«

Sie formulierte diese Annahme im Tonfall einer Frage.

»Nun ja, das ging mir durch den Kopf«, antwortete Leo wahrheitsgetreu.

»Dann werde ich dich jetzt allein lassen«, sagte Hilde und erhob sich aus dem sprudelnden Wasser.

»Wo willst du hin?«, fragte Leo.

»Ich weiß noch nicht«, erwiderte sie. »Ich brauche noch etwas Zerstreuung, nehme ich an.«

Sie klimperte mit ihren Augen, dann wandte sie sich um und stieg über Beckenmauern zurück ins Trockene, wo sie ihre Handtücher abgelegt hatten. Bevor sie den Raum verließ, schenkte sie Leo noch ein Lächeln - ein Lächeln, das er erwiderte.

Laszive Landhausriten

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