Читать книгу Liebeszeiten - Thomas Neumeier - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеZu Weinbrand, Wodka oder Martini genossen die Tischgäste unterschiedliche Dessertspezialitäten. Es war kaum anzunehmen, dass Edwina all das in so wenigen Stunden gezaubert hatte. Vermutlich war es bereits vorbereitet gewesen.
„Also, woher kommst du, Susanna?“, fragte Rupert und schaute sie erwartungsvoll an, während er sich ausgiebig an den mit Orangenlikör flambierten Crêpes bediente. „Erzähle uns von dir. Wer bist du?“
Nun also würden die Fragen auf Claudia einbrechen, auf die Adrian sie mehr schlecht als recht vorbereitet hatte. Sie tischte Rupert und den anderen ihre kurze Alibigeschichte auf, die sie mit Adrian abgesprochen hatte und die nicht viele Schlüsse auf ihre Persönlichkeit zuließ, genau wie es Adrian genehm war. Er wollte seinen Geschwistern und Anverwandten eine Gattin präsentieren, doch greifbar sollte sie ihnen nicht werden. Aus welchen Gründen auch immer.
„Und du, Aglaia?“, fuhr Rupert fort. „Der Beruf einer Verlegerin muss sehr vielseitig sein. Aber wohl auch sehr schwer. Selbstgefällige Autoren, eigenwillige Lektoren, Schund, den man nur publizieren muss, weil er gekauft wird. Ich könnte mir vorstellen, dass dein Alltag dem meinen gar nicht so unähnlich ist. Ich produziere Musik, musst du wissen. Was für dich die widerspenstigen Autoren sind, sind für mich die Musiker, die ich unter Vertrag habe. Eine zunehmend miese Branche, wie ich einräumen will. Ich muss entsetzlich viel Schund produzieren, um im Geschäft zu bleiben. Musikalischen Abfall von arroganten Zeitgenossen, die sich nach einer halbwegs erfolgreichen Single für Stars halten.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „An manchen Tagen wünschte ich mir, ich könnte es mir leisten, sie mit einem Fußtritt aus dem nächsten Fenster zu befördern. Nun, wem erzähle ich das. Du weißt sicher, wovon ich rede.“
„Diese Gefühle sind mir in der Tat nicht fremd“, antwortete Aglaia, wobei Claudia sie erstmals ein wenig lächeln sah. „Die Branche entwickelt sich anders, als mir lieb ist. Leider muss man mit der Zeit und den Geschmäckern der Leser gehen, nur leider auf Kosten literarischer Qualität.“
„Verloren, wer der Mode unterworfen“, trug Rupert maliziös vor und prostete Aglaia mit einem leidvollen Lächeln zu.
„So schlecht können deine Geschäfte nicht gehen“, sagte Gunther, „wenn ich mir die Klunker an meiner Schwester so ansehe.“
„Ich bin ein Profi auf meinem Gebiet, wie du wissen solltest, Gunther“, konterte Rupert, ohne mit der Wimper zu zucken. „Hast du deine Berufung erst gefunden, kommt der Erfolg von ganz allein. Ach ja, wo wir beim Thema sind, ich habe neulich eins deiner Taschenhefte gekauft und gelesen. Den Titel habe ich vergessen, aber es hat mich gut unterhalten. Es ging um ein Haus an einem Moor, in dem es spukte. Und dann gab es da noch so ein grässliches Vieh in den Sümpfen.“
Es folgte weitgehend belangloser Austausch von Alltagsangelegenheiten und Anekdoten, die mal zum Schmunzeln, mal zum gespielten Staunen anregten. Claudia brachte sich nur gelegentlich ein und war sich sicher, ihrer Rolle weitgehend nach Adrians Wunsch Leben einzuhauchen. Und tatsächlich, während Rupert eine Sensationsgeschichte aus seinem Produzentenleben zum Besten gab, fand Adrians Hand die ihre und drückte sie zärtlich. Sie tauschte einen intensiven Blick mit ihrem Auftraggeber, in dem sie seine Zufriedenheit las. Doch da war noch mehr. Eine bemerkenswerte Ruhe war in seine Augen eingekehrt, die ihnen vor ein paar Stunden noch nicht zu eigen gewesen waren. Vielleicht lag es an der Wirkung des Weinbrands. Oder war es eine reale Empfindung, die ihm gerade inneren Frieden schenkte?
Zu ihrer eigenen Verwunderung war es Claudia, die den Blickkontakt schließlich unterbrach. Sie kannte diesen Mann nicht. So verführerisch es war, sich auf ein Abenteuer mit ihm einzulassen – könnte er ihr mit seinen Verbindungen doch vielleicht auch beruflich auf die Sprünge helfen –, etwas an den Umständen dieses Auftrags machte sie vorsichtig und zwang sie auf Distanz. Sie glaubte, gute Arbeit zu leisten, doch verstand sie bestenfalls die Hälfte dessen, was hier gerade passierte. Darüber hinaus wäre es unprofessionell. Adrian war ihr Auftraggeber. Wenngleich eine echte Affäre ihrer falschen Ehe wohl kaum abträglich wäre.
„… das müsst ihr euch mal vorstellen, das hat der Kerl wirklich vor versammelter Runde gesagt“, polterte Rupert ausgelassen und beendete damit eine Anekdote, die auch Gunther und Aglaia zum Lachen brachte.
Adrian stimmte nicht ein. Stattdessen visierte er Aglaia an. „Wie viele Kinder hast du noch gleich aus erster Ehe, Aglaia? Zwei Jungen, nicht?“
„Drei“, korrigierte ihn Aglaia. „Der Jüngste ist zehn, der Älteste zwanzig.“
„Wow, Gunther, mit dem kannst du ja nachts um die Häuser ziehen.“
„Er studiert und ist nur selten bei uns“, klärte Gunther ihn auf. „Ein ehrgeiziger junger Mann. Du würdest ihn mögen.“
„Das mag wohl sein“, entgegnete Adrian, klang aber nicht recht überzeugt. Erneut nahm er sich Aglaia vor. „Ich vermute mal, du willst keine weiteren Kinder, meine Liebe?“
„War das eine Frage oder eine Mitteilung?“, konterte Aglaia. „Als mein Schwager steht dir beides zu, doch wäre mir lieb, du würdest dich präzisieren. Kurzum: Deine Annahme ist weder richtig noch falsch. Gunther und ich planen keine Empfängnis, aber sollte sie mich ereilen, werden wir sie freudig annehmen.“
Eine umfassende und durchaus schlagfertige Antwort, die Claudia imponierte. Aglaia, obgleich von beiden Geschwistern ihres Gatten offensichtlich nicht sonderlich geschätzt, wusste sich gegenüber dem Hausherrn zu behaupten. Und mit ihrer Weigerung, sich der äußerlichen Etikette der hiesigen Gesellschaft anzupassen, stellte sie auch klar, dass sie eine Anbiederung nicht nötig hatte.
„Nun, die weibliche Fruchtbarkeit nimmt mit den Jahren ja auch nicht zu“, meinte Adrian nüchtern und nippte an seinem Schwenker. „Wie alt bist du, wenn die Frage gestattet ist? Fünfundvierzig?“
„Zweiundvierzig“, antwortete Aglaia.
„Adrian, bitte lass das“, wandte Gunther nachsichtig ein. „Wir sind glücklich, und nur das zählt.“
„Da hat er recht“, sprach Claudia aus, von der unverhohlenen Unverschämtheit Adrians gegenüber seiner Schwägerin enttäuscht und dieses Mal auch tatsächlich peinlich berührt. „Das ist doch kein Thema für diesen schönen Abend“, ergänzte sie unterwürfig der Tischplatte zugewandt und hoffte, ihren Auftraggeber damit nicht verärgert zu haben. Doch selbst wenn sie es getan hatte, feuern konnte er sie nicht mehr. Der Vorhang hatte sich geöffnet, das Stück seinen Lauf genommen. Die Besetzung der Paraderolle war nicht mehr zu korrigieren.
„Warum habt ihr denn eigentlich noch keine Kinder?“, stellte nun Gunther die Frage, auf die Adrian Claudia nicht vorbereitet hatte. Vermutlich bewusst. Das unterband von vorneherein, dass sie darauf eine Antwort gab.
„Oh, wir haben es nicht eilig damit“, antwortete Adrian und lehnte sich aufgeräumt zurück. „Wenn es passiert, passiert es. Nicht wahr, Aglaia?“
Seine Schwägerin prostete ihm daraufhin zurückhaltend, aber unmissverständlich mit ihrem Glas zu.
Touché, schoss es Claudia durch den Kopf.
Eine fremde, feste Stimme zerriss den Raum. „Wie ich sehe, habt ihr schon ohne mich angefangen.“
Sämtliche Köpfe wandten sich ruckartig der Tür zum Flur zu, wo ein unbekannter Mann am Rahmen lehnte. Von einem Augenblick zum nächsten wirkte Adrian hellwach und voll konzentriert. Der andere Mann lächelte gemessen, löste sich dann vom Türstock und trat zwei Schritte in den Raum.
„Natürlich werfe ich euch eure Ungeduld nicht vor“, sprach er weitaus sanfter und versöhnlicher als zuvor. „Ich habe mich außerordentlich verspätet. Woran ein Keiler nicht ganz schuldlos ist, der mitten auf der Straße liegt. Aber nun bin ich ja hier. Hier, im Kreise meiner lieben Anverwandten. Ist der freie Platz dort neben Rupert etwa für mich gedeckt?“
„Ist er“, bemerkte Adrian, rückte seinen Stuhl zurück und erhob sich, ohne den Neuankömmling aus den Augen zu lassen. „Sei uns willkommen, Farin. Wir fürchteten schon, du kämst nicht.“
Er trat vor ihn hin und klopfte ihm die beiden Schultern, was respektvoll erwidert wurde. Respektvoll, aber nicht herzlich.
„Ich habe es sogar inständig gehofft“, tat sich Emilia kund.
„Ach, Schatz, nun sei doch nicht so“, tadelte Rupert düpiert.
„Bitte, nimm Platz“, lud Adrian ein. „Karolus, sieh nach, was noch zu essen da ist.“
„Danke, deine Gastfreundschaft ist vorbildlich, Schwager.“
Mit grimmiger Miene machte sich Karolus davon, während der Neuankömmling an der Tafel Platz nahm. Das also war Farin Welf, der mit der ältesten Prewett-Schwester Bianca verheiratet gewesen war. Er sah sehr gut aus. Schwarze Locken umrandeten ein aufgewecktes, jungenhaftes Gesicht mit funkelnden blauen Augen, die neugierig in die Runde der Anwesenden schauten.
„Du bist fett geworden, Rupert“, vermerkte er, was der schmale Rupert mit schallendem Gelächter quittierte.
„Ha ha … schön, dass du in unsere Mitte gefunden hast“, donnerte er und prostete in seine Richtung. „Na los, schenk dir ein. Es ist viel zu lange her, dass wir in solcher Runde gesessen haben. Lasst uns auf den Anlass trinken.“
Was ist hier eigentlich der Anlass?, spukte in Claudias Kopf herum. Sie behielt die Frage natürlich für sich.
„Ich freue mich auch, Rupert“, beteuerte Farin Welf und langte nach der Weinbrandflasche.
„Na klar freust du dich“, brachte sich Emilia weitaus weniger euphorisch ein. „Alle freuen sich hier, nicht wahr?“
„Ach, jetzt hör doch auf, Liebling“, wurde sie von ihrem Gatten gescholten. „Verdirb uns bitte nicht die Laune an diesem schönen Abend.“
„Reizend wie immer, unsere Emilia, wie ich sehe“, begegnete Welf der ungeschönten Offenheit seiner Schwägerin. „Und hübscher denn je. Du musst sehr glücklich sein, Rupert.“
Adrian hatte eine Weile abgewartet, erst jetzt nahm er zögerlich wieder seinen Platz an der Stirnseite der Tafel ein.
„Zunächst einmal, Farin“, sprach er, „würde mich doch sehr interessieren, wie du ins Haus gelangt bist, ohne die Glocke zu läuten.“
„Guter Punkt“, wurde er von Rupert unterstützt. „Du hast uns ganz schön erschreckt, mein Junge.“
Farin Welf kippte ein Glas auf ex, stellte es ab und legte einen mächtigen Schlüssel daneben.
„Der Schlüssel für die Garagentür“, erklärte er. „Ganz entsetzt habe ich feststellen müssen, dass du das alte Schloss noch immer nicht ausgetauscht hast, Adrian. So bin ich ins Haus gelangt. Verzeih mir bitte den theatralischen Auftritt. Ich konnte nicht widerstehen.“
„Wo steht dein Wagen?“
„Ich habe ihn neben der Garage geparkt. Ach ja, bei der Gelegenheit sollte ich erwähnen, dass mein Diener gerade dabei ist, mein Gepäck ins Haus zu schaffen. Das solltest du Karolus vielleicht mitteilen, nicht dass er den armen Fausto noch als Einbrecher erschlägt.“
Genau in dem Moment kam Karolus in den Speisesaal marschiert. Mit der rechten Hand hielt er einen in einen weißen Smoking gekleideten Mann am Kragen, einen Kleinwüchsigen mit kurzen dunklen Haaren und ostslawischen Zügen. Mit finsterer Miene und verschränkten Armen musste er zulassen, dass Karolus ihn wie einen Einrichtungsgegenstand vor die versammelte Gesellschaft schleppte.
„Er war unten“, knurrte Karolus knapp und stellte den kleinen Mann auf den Dielen ab.
„Ah, ihr habt euch schon kennengelernt“, posaunte Welf und erhob sich. „Liebe Freunde, dieser muskelstarke Mann ist mein Diener Fausto“, erklärte er mit ausladender Gestik. „Ein sprachgewandter wie zuverlässiger Gefährte und Bruder im Geiste an meiner Seite. Du solltest dich bei Gelegenheit unbedingt beim Schach mit ihm messen, Adrian. Er wird dir die Haut abziehen. Ich habe ihm aufgetragen, meine Sachen ins rote Zimmer zu verfrachten. Ich nehme an, dieses Zimmer hast du für mich vorgesehen, Schwager?“
Adrian bestätigte.
„Fabelhaft“, sagte Welf und klatschte sich in die Hände. „Du kannst damit fortfahren, Fausto.“
Der kleine Mann verbeugte sich wortlos und tapste auf seinen kurzen Beinen an Karolus vorbei in den Flur hinaus. Mit einem Handzeichen entließ Adrian auch seinen Diener, der den Speisesaal ebenfalls verließ.
Farin Welf wirkte rundum vergnügt, als er wieder Platz nahm und seinen Drink erneuerte. Verheiratet war er mit Adrians älterer Schwester gewesen, doch augenscheinlich war er jünger als Adrian – Claudias Schätzung nach um mindestens zwei oder drei Jahre. Offenkundig eine sehr erfrischende Persönlichkeit, die, wenngleich nicht minder gut gekleidet, nicht die üblichen Gepflogenheiten vornehmer Kreise pflegte. Damit passte er in dieser Runde wohl am besten zu Aglaia – und zu ihr.
Welf kippte ein weiteres Glas hinunter, dann widmete er sich erneut der Runde am Tisch. „Jetzt aber“, läutete er ein, „verlange ich zu erfahren, wer diese beiden Damen sind, die mir bedauerlicherweise heute zum ersten Mal über den Weg laufen.“
Das Eis, inwieweit vorhanden, war schnell gebrochen. Farin Welf brachte Schwung und Witz an die Tafel, was Claudia zuvor etwas gefehlt hatte. Emilia blieb weiterhin reserviert, ihr Gatte Rupert hingegen hatte seinen Spaß mit dem Neuankömmling. So auch Gunther und Aglaia. Zurückhaltend wie seine Schwester blieb auch Adrian. Er schien Welf keine Sekunde aus den Augen zu lassen, doch er interagierte nicht mit ihm. Er begnügte sich mit der Rolle des Beobachters und Zaungastes an seiner eigenen Tafel, während Welf die Show schmiss. Claudia wurde nicht schlau aus diesem Gebaren. Adrian hatte Welf freundschaftlich willkommen geheißen, hatte ihm ein Zimmer gerichtet und ließ ihn von Karolus bewirten. Dennoch war da etwas zwischen ihnen. Ein schwelender Konflikt, wie Adrian ihn wohl auch mit anderen Familienangehörigen pflegte. Als er sich für einen Moment entschuldigte und vom Tisch entfernte, setzte Claudia ihm nach. Das war eine Gelegenheit, seinem merkwürdigen Verhalten auf den Zahn zu fühlen.
„Adrian, warte. Ist alles in Ordnung? Wie mache ich mich?“, flüsterte sie ihm noch im Flur hinterher und griff nach seinem Arm.
Adrian fuhr zu ihr herum. „Geh zurück zu den Gästen“, forderte er sie auf.
Anstelle dessen trat Claudia vor ihn hin. „Wie sieht es aus, bist du mit meiner Arbeit zufrieden?“, wisperte sie, darauf bedacht, dass dieses Haus im Moment viele Ohren hatte.
„Du schlägst dich gut“, gab Adrian nüchtern zur Antwort, was etwas weniger Lob war, als Claudia sich erhofft hatte.
„Gib mir Stichworte, dann werde ich darauf reagieren“, schlug sie vor.
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Adrian. „Morgen beim Frühstück sehen wir weiter.“
Adrian ließ sie in der Eingangshalle stehen und verschwand im finsteren Flur des Westflügels, noch bevor Claudia fragen konnte, was sein Problem war. Sie machte sich auf den Weg zu den Gästen zurück, wobei sie die Stiege ins Obergeschoss passierte, wo ein weißer Fleck ihre Aufmerksamkeit erregte. Etwa auf halber Treppe hockte Fausto, der kleinwüchsige Diener Welfs, und lächelte ihr stumm zu. Ein kurzes Schaudern überkam sie, doch wusste sie auch, dass der Mann ihr Gespräch mit Adrian unmöglich belauscht haben konnte. Sie hatten viel zu leise gesprochen, kaum mehr als geflüstert.
„Hat man Ihnen im Souterrain keinen Platz an der Tafel gewährt?“, kehrte Claudia in ihre Rolle zurück.
„Doch, Herrin, das hat man“, entgegnete der Kleinwüchsige mit einer süßlich untertänigen Stimme. „Wofür ich sehr dankbar bin, seien Sie versichert. Doch ziehe ich die Einsamkeit vor.“
Claudia wollte ihm sagen, dass es ihr nicht gefiel, wenn jemand im Haus umherschlich und Leute belauschte, schluckte es aber hinunter und fragte stattdessen: „Hat Karolus Ihnen ein Zimmer zugewiesen?“
„Sehr aufmerksam, ja, Herrin“, entgegnete der Kleinwüchsige und senkte dankbar den Kopf. „Ein sehr schönes Zimmer mit einem großzügigen Bett. Ich danke Ihnen.“
Claudia nickte in Ermangelung einer sinnvollen Erwiderung und kehrte in den Speisesaal zurück.
„Wo ist Adrian?“, donnerte Rupert. „Wir sollten allmählich in den Salon überwechseln. Susanna, meine Liebe, hat Adrian noch eine Pulle von diesem hervorragenden Schliersee-Whisky da? Na, wie hieß er denn noch? Ich komme nicht auf den Namen, verdammt.“
„Das frage ihn besser persönlich, Rupert“, entgegnete Claudia mit einem gewogenen Lächeln, während sie bemüht elegant an ihren Platz zurückschwebte. „Von seinen Spirituosen verstehe ich nicht viel.“
„Trinkst du gar nicht?“, fragte Farin Welf.
„Tee mit Rum, wenn sich eine Erkältung anbahnt“, erklärte Claudia und glitt in ihre schüchterne Pseudo-Persönlichkeit zurück. „Mehr nicht.“
„Eine Frau mit Prinzipien“, meinte Welf anerkennend und nippte von seinem Weinbrand.
Claudia wurde ein wenig unruhig. Adrian hatte ihr geraten, möglichst wenig Zeit ohne ihn mit seinen Gästen zu verbringen, aber nun ließ er sie allein bei ihnen zurück, ihren Fragen und Zoten ausgeliefert. Fast schien es, als hätten so manche am Tisch genau darauf gewartet.
„Du musst dich hier draußen oftmals sehr einsam fühlen“, bemerkte Emilia. „Zu Hause in deiner Heimatstadt hast du doch sicher viele Freunde zurückgelassen. Dann noch die anderen Annehmlichkeiten von Städten.“
„Adrian und ich haben hier alles, was wir brauchen“, antwortete Claudia bestimmt. „Einsam fühle ich mich nie. Adrian ist bei mir. Und ab und an statten wir meiner alten Heimat einen Besuch ab und gehen dort aus.“
„Ach ja? Das kann ich mir bei meinem Bruder gar nicht vorstellen. Stattdessen hätte ich erwartet, dass er dich regelmäßig nach Skandinavien verschleppt.“
Darauf konnte Claudia nicht guten Gewissens eine Antwort geben, ohne alles zu gefährden, deshalb griff sie auf ein verschämtes Lächeln zurück und beließ es dabei, in der Hoffnung, dass Emilia sich mit dieser Antwort begnügte.
Sie tat es. Dafür stellte Farin Welf eine gefährliche These in den Raum: „Nun, ein Partymensch war Adrian nie. Wahrscheinlich waren wir deshalb auch nicht zur Hochzeit eingeladen.“
Er schaute Claudia so zutraulich wie verständnisvoll an, doch sie spürte, dass alle Anwesenden eine Antwort erwarteten.
„Wir wollten keine große Feier“, erklärte sie unaufgeregt leise, doch alle am Tisch hörten ihr zu.
„Wir? Oder doch eher nur Adrian?“, fragte Emilia spitzfindig.
„Wir“, stellte Claudia nun lauter und ungleich fester klar. „Adrian und ich haben uns für eine intime Zeremonie entschieden. Wir würden es jederzeit wieder so handhaben.“
„Da hört ihr es“, merkte Gunther halblaut an.
„Wollen wir hoffen“, dröhnte Rupert mit erhobenem Glas, „dass das nicht nötig sein wird. Ich trinke auf euer junges Glück, liebe Schwägerin.“
„Danke, Rupert.“
„Aber ein Hochzeitsalbum habt ihr doch gewiss.“ Welf ließ nicht locker. „Dürfen wir es sehen?“
Claudia steckte in der Bredouille. Adrian hatte es ihr verboten, aber nun musste sie doch improvisieren, wollte sie das Kartenhaus nicht einstürzen lassen.
„Wir haben nur wenige Fotos anfertigen lassen“, erklärte sie. „Sie sind oben im Schlafzimmer.“
„Was für ein Brautkleid hast du getragen?“, fragte Emilia von gegenüber.
„Na, wer wird denn da so neugierig sein?“ Adrian kam ins Zimmer zurück und nahm wieder Platz.
Claudia war heilfroh darum. Zwar war es nicht ihre Schuld, dass er sie nicht besser vorbereitet hatte, doch hätte sie sich als Versagerin gefühlt, wäre die Täuschung ihretwegen aufgeflogen.
Adrian nahm ihre Hand zärtlich in seine und rückte ein Stück näher zu ihr. „Sie hat ein wundervolles weißes Kleid getragen“, verkündete er den Anwesenden. Seine Aufmerksamkeit aber galt ganz Claudia. Er schaute ihr tief in die Augen. „Sie hat darin ausgesehen wie ein Engel. Bezaubernd. Wie eine göttliche Lichtgestalt, in diese weiten, dunklen Wälder gesandt, um Trost und Liebe zu spenden.“
„Deine Lichtgestalt“, entgegnete Claudia liebevoll. „Deine allein. Um dir Trost und Liebe zu spenden.“
Der Kuss vollzog sich, ohne dass Claudia bewusst darauf hingearbeitet hätte. Es geschah unwillentlich und fühlte sich vielleicht deshalb richtiger an als alles andere, was sie in diesen Mauern bislang gesagt und getan hatte. Ob inszeniert oder nicht, der Kuss war an dieser Stelle nicht zu vermeiden gewesen. Doch er währte nur kurz. Dann lösten sich ihre Lippen wieder voneinander. Ihre Blicke aber blieben beisammen.
„Wundervoll“, posaunte Rupert und klatschte unnötig penetranten Beifall. „Noch immer eine junge und feurige Liebe, wie ich sehe. Wundervoll.“
„Hör schon auf damit“, wies ihn Emilia säuerlich zurecht, woraufhin Rupert verstummte.
„Lasst uns jetzt in den Salon hinüberwechseln, da haben wir es gemütlicher“, schlug Adrian vor und erhob sich auch schon. „Rupert, ich habe da neulich eine ganz besondere Spezialität erstanden, die du unbedingt kosten musst.“
„Da bin ich aber gespannt“, proklamierte Rupert hoheitsvoll und stand ebenfalls auf.
„Ich habe dafür keinen Bedarf“, sagte Emilia. „Wenn du nichts dagegen hast, lieber Bruder, werde ich schlafen gehen. Es war eine anstrengende Reise.“
„Natürlich“, sah Adrian ein. „Für dich und Rupert habe ich das blaue Zimmer vorgesehen. Gunther, für dich und deine Frau das grüne.“
„Ich habe noch nicht vor, schlafen zu gehen“, erklärte Aglaia und erhob sich. „Was ist das für eine Spezialität, Adrian, von der du gesprochen hast? Ich möchte sie ebenfalls probieren.“
Emilia verabschiedete sich und strebte in den Flur hinaus. Alle anderen begaben sich nach nebenan in den Salon. Karolus legte gerade ein paar Holzscheite in den Kamin nach.
„Dann lass mal sehen, was du da für uns hast, Adrian“, meinte Rupert, rieb sich erwartungsvoll die Hände und fand auch ohne ihn oder Karolus das Panel mit der Minibar. Gunther und Aglaia nahmen Seite an Seite eine bequem aussehende Ledercouch in Beschlag. Welf hielt sich vornehm im Hintergrund, so als wolle er den Raum gänzlich im Bilde haben. Claudia wiederum fing einen Blick von Adrian ein, mit dem ein unmerkliches Handzeichen einherging. Sie wusste, was er von ihr wollte.
„Auch ich werde mich zurückziehen“, richtete sie an die Gäste. „Gehabt euch noch wohl.“
„Gute Nacht, Susanna“, sprachen mehrere Münder.
Welf schenkte ihr ein amüsiertes Lächeln, als sie ihn passierte.
Welfs Diener Fausto saß nicht mehr auf der Treppe, als Claudia hinaufstieg. Im oberen Korridor warf sie einen Blick in den Westflügel. Sämtliche Wandlaternen brannten. Es war niemand zu sehen, doch irgendwo lief Wasser. Emilia hatte sich beeilt und nahm vermutlich eine Dusche. Wahrscheinlich im selben Badezimmer, das sie, Claudia, heute Nachmittag benutzt hatte.
Nach der abendlichen Hygieneprozedur im vergleichbar schlichten Bad neben Adrians Arbeitszimmer wechselte sie in ihr Nachthemd, zog die Vorhänge zu, löschte das Licht und kuschelte sich in ihr Bett. Die Tür zu Adrians Schlafzimmer ließ sie nur angelehnt. Sie wollte hören, wenn er kam. Es gab ein paar Dinge aufzuarbeiten, bevor sie morgen wieder ihre Arbeit aufnehmen konnte.
Der Himmel hatte etwas aufgeklart. Zuweilen schien das Mondlicht, gefiltert von den Vorhängen, ins Zimmer. Claudia überlegte, wann sie dergleichen zuletzt bewusst wahrgenommen hatte. In Städten herrschten andere Formen der Helligkeit, die ganze Nacht hindurch. Dort gab es keinen Platz für dieses sanfte, wohltuende Licht.
Sie war kurz eingenickt, als sie von einem leisen Poltern aufgeschreckt wurde. Dem folgte ein weiteres. Claudia orientierte sich und spähte zur Tür. Kein Licht fiel durch den Spalt, und doch war ihr, als kämen die Geräusche von nebenan.
Etwas, vielleicht eine Ahnung, hielt Claudia davon ab, Adrians Namen zu rufen. Stattdessen stieg sie tunlichst lautlos aus ihrem Bett und schlich barfuß zur Tür. Nun war sie sicher. Nebenan war jemand. Doch warum schaltete er kein Licht ein? Claudia öffnete den Spalt ein wenig weiter und lugte hindurch. Ein Duft verirrte sich in ihre Nase, der vorhin noch nicht da gewesen war. Bei Adrian hatte sie keine Parfümdüfte wahrnehmen können, darüber hinaus war diese Note schwerlich einem Mann zuzuordnen. Claudia öffnete den Spalt noch etwas weiter. An Adrians Kommode stand eine weiß gekleidete Gestalt und wühlte offensichtlich in den Schubladen, wobei sie sich einer Taschenlampe bediente.
Das war nicht Adrian. Sie trug das dunkelbraune Haar ungemacht, darüber hinaus war es feucht, doch Claudia erkannte Emilia. Der weiße Stoff um ihren Leib war ein Bademantel. Was hatte Emilia in Adrians Schlafzimmer zu suchen?
Einen Moment lang überlegte sich Claudia einen Ausfall. Der Gedanke, diese eingebildete Schnepfe beim Schnüffeln bloßzustellen, gefiel ihr. Andererseits gingen sie die Angelegenheiten dieser Familie im Grunde nichts an, und vielleicht wäre Adrian über eine Konfrontation mit seiner Schwester auch gar nicht glücklich. Claudia beschloss, sich ruhig zu verhalten und Adrian später davon zu berichten.
Was immer Emilia suchte, in der Kommode wurde sie anscheinend nicht fündig. So öffnete sie nun eine der Türen des begehbaren Schranks hinter der Kopfseite des Bettes und verschwand darin. Claudia biss sich auf die geschlossene Faust. Wenn Emilia da drin kein Sortiment an Frauenkleidern fand, war ihr Schwindel aufgeflogen.
Emilia kehrte schon kurze Momente später zurück. Die zweite Schranktür auf der anderen Bettseite schien sie nicht zu interessieren. Noch einmal schaute sie sich flüchtig um, dann verließ sie Adrians Schlafzimmer. Außer ihrer Taschenlampe hatte sie nichts in der Hand gehabt. Irgendetwas aber hatte sie zweifellos gesucht.
Eine Vermutung holte Claudia nur wenige Augenblicke später ein. Doch konnte es das sein? Konnte das der banale Grund für Emilias Schnüffelei sein? Claudia hatte an der Tafel fallen lassen, dass sich im Schlafzimmer ihre Hochzeitsfotos befänden, an denen ihr die Anwesenden sehr interessiert gewesen zu sein schienen. Hatte Emilia nach denen gesucht?
Claudia dachte darüber nach und konnte es nicht recht glauben. Wegen ein paar Hochzeitsfotos setzte man sich doch nicht dem Risiko aus, beim Schnüffeln ertappt zu werden. Es sei denn, es verhielt sich so, dass Emilia bereits Verdacht geschöpft hatte. Nun, spätestens der leere Schrank musste ihren Verdächtigungen zusätzliche Nahrung gegeben haben. Aus reiner Neugier wollte sich Claudia dessen versichern. Sie schaltete das Licht im Schlafzimmer ein und öffnete dieselbe Schranktür wie Adrians Schwester. Auch dort fand sich ein Lichtschalter, den Claudia betätigte und der den begehbaren Schrank erleuchtete. Zu Claudias Erstaunen hingen hier etliche hübsche Kleider. Doch nicht nur das. Sie fand auch Blusen, Nylonstrümpfe und Damenunterwäsche.
Zurück in ihrem Bett spielte Claudia in Gedanken unterschiedliche Variationen durch. Entweder hatte Adrian die Schnüffelei seiner Hausgäste vorausgesehen und entsprechend Vorsorge getroffen, die Illusion seiner Ehe zu perfektionieren, oder – und das schien Claudia wahrscheinlicher – hier hatte bis vor Kurzem tatsächlich noch eine Frau mit ihm Tisch und Bett geteilt. Claudia zog auch einen Fetisch für Frauenkleider in Betracht, doch das erschien ihr als die unwahrscheinlichste Option. Der Schrank war beispielhaft und zweckgerecht eingerichtet worden. So etwas vollbrachte nur eine Frau. Vielleicht hatte sie Adrian ein paar Wochen vor dieser Zusammenkunft verlassen. Doch falls dem so war, weshalb sollte sie ihre Sachen zurücklassen? Und warum war es Adrian überhaupt so wichtig, seinen Anverwandten eine Gattin zu präsentieren? Es stand in der Tat einiges im Raum, das Adrian ihr gegenüber umgehend klarstellen sollte.
Claudias Überlegungen kehrten zu den Hochzeitsfotos zurück, die es nicht gab und somit von Emilia auch nicht gefunden werden konnten. Ihr fiel auf, dass sie bislang noch nirgendwo in diesem Haus Fotos gesehen hatte. Nicht ein einziges Familienbild zierte die Räume. Das war eigenartig. Adrian hatte Vater, Mutter, drei Geschwister und vermutlich eine Schar an Onkeln, Tanten und Cousinen. Doch offenbar war es ihm keiner von denen wert, als Bildnis in seinen Räumen zu verweilen. Folglich dürften auch keine Fotos von jener Frau auffindbar sein, die Adrians Kleiderschrank eingerichtet hatte.
Da sie nicht schlafen konnte, schlüpfte Claudia in ihre Filzpantoletten und zog die Vorhänge beiseite, um den Anblick der in Dunkelheit gehüllten Umgebung auf sich wirken zu lassen. Der Mondschein war Gast in ihrem Zimmer, somit sollte die Nacht weite Blicke in die Ferne gestatten. Der Grasteppich, der vom Haus ostwärts zum Waldrand hinüber strebte, glänzte silbergrau im Licht von Mond und Sternen. Erst unter den Bäumen begannen sich Schatten aufzutürmen, undurchdringlich, unüberwindbar. Ein solch wundervoller Anblick machte die quälende Einsamkeit dieses Gemäuers beinahe wieder wett.
Eine Bewegung, vielleicht auch nur eine kurze Reflektion des Nachtlichts unter ihr, erregte Claudias Aufmerksamkeit. Sie rückte näher ans Fenster und stierte die Hausfassade hinab. Dort unten war jemand.
Eine dunkle Gestalt huschte den Schotterweg entlang, der das Gebäude umgab. Als sie um die Ecke in Richtung Eingangspforte wuselte, sah Claudia sie deutlicher. Eine kleine Gestalt. Es musste Fausto sein, Welfs kleinwüchsiger Diener. Offensichtlich hatte er seinen weißen Smoking gegen etwas Unauffälligeres getauscht. Was hatte das zu bedeuten? Was trieb der kleine Mann so spät noch draußen? Nun, zumindest bedeutete es, dass er keine Angst hatte, von den Wölfen geholt zu werden.
Claudia erinnerte sich, dass Fausto und sein Herr unbemerkt durch den rückwärtigen Garagenanbau ins Haus gelangt waren. Es war merkwürdig genug, dass Welf einen Schlüssel dafür gehabt hatte. Er hatte ihn Adrian zurückgegeben, aber wenn Fausto diesen Zugang gerade noch einmal benutzt hatte, musste er noch einen zweiten besitzen. Es sei denn, Adrian hätte nicht abgeschlossen. Weshalb beorderte Welf seinen Diener sonst um diese Zeit noch einmal hinaus in die Kälte? Claudia wollte jede Wette eingehen, dass Adrian nichts davon wusste.
Die merkwürdigen Ereignisse bescherten Claudia eine weitere schlaflose Stunde. Zu vorgerückter Zeit stand sie noch einmal auf und spähte aus dem Fenster. Dieses Mal war niemand zu sehen. Das Gras glitzerte im Silberlicht des Mondes, und in der Ferne neigten sich am Waldrand die Baumwipfel, immer dann, wenn der anhaltende Wind vorübergehend zunahm.
Als Claudia Schritte und angeheiterte Stimmen draußen im Korridor hörte, hatte sie noch nicht geschlafen. Ruperts Lachen war nicht zu verkennen. Der erzähllaunige Musikproduzent schien ziemlich angetrunken zu sein.
Kurz darauf schaltete jemand das Licht in Adrians Schlafzimmer ein, und Claudia vernahm eine sich schließende Tür. Adrian war also gekommen. Sie schlüpfte in ihren grauen Bademantel und rief in angemessener Lautstärke seinen Namen, um ihn davon abzuhalten, sich auszuziehen. Anschließend klopfte sie um Einlass bittend an die nur angelehnte Tür.
„Nur herein.“
Adrian hatte sein Sakko abgelegt, alles andere trug er noch am Leib. „Du schläfst noch nicht?“
Claudia schüttelte den Kopf. „Ich glaube, wir müssen noch ein paar Dinge besprechen.“
Mit nach oben geöffneten Handflächen lud Adrian sie ein fortzufahren. Seine Augen sahen müde aus, doch anders als Rupert machte er einen weitgehend nüchternen Eindruck.
„Zunächst einmal“, läutete Claudia ein, „was ist der Anlass für dieses Familientreffen? Was wollen deine Gäste hier?“
„Mich zu meiner Ehe beglückwünschen, was sonst?“, entgegnete Adrian.
„Warum erst nach vier Jahren?“, setzte Claudia dem entgegen. „Wir sind seit vier Jahren verheiratet, warum kommen sie erst heute?“
„Nach dem Tod unseres Vaters gab es mehr Streit als Eintracht. Ich habe sie schlicht und ergreifend erst jetzt eingeladen. Um die Wogen zu glätten.“
„Sind deine Geschwister ebenfalls nur hier, um Wogen zu glätten?“
„Das will ich hoffen.“
„Du belügst mich, Adrian“, sagte Claudia. „Nein, schlimmer noch, du erzählst mir ständig nur Halbwahrheiten und Halbwissen. Das wäre heute schon beinahe schiefgegangen, als mich Welf und deine Schwester über unsere Hochzeit ausgefragt haben.“
„Ich weiß, aber es ist ja alles gut gegangen“, wiegelte Adrian ab. „Du machst einen hervorragenden Job, Claudia, ich bin sehr zufrieden.“
„Mit Schmeicheleien hältst du mich jetzt auch nicht mehr von weiteren Fragen ab“, erwiderte Claudia spitz. „Hier geht irgendetwas vor, das ich nicht begreife. Gib mir endlich mehr Informationen, damit ich meine Rolle weiterhin überzeugend spielen kann.“
„Was willst du denn wissen?“
„Zum Beispiel, warum deine Schwester unser Schlafzimmer durchsucht.“
Adrian hob die Brauen. „Sie war hier drin?“
„Ich habe sie durch den Türspalt beobachtet. Sie hat in deiner Kommode gewühlt und den Schrank inspiziert.“
„Sieh mal an. Dieses kleine Luder …“
„Wonach sucht sie, Adrian?“
Adrian seufzte wie vor Anstrengung und ließ sich schwerfällig in einen Sessel neben der Kommode fallen. „Na ja, ich fürchte, sie ahnt etwas“, sagte er. „Vielleicht ahnen sie alle etwas.“
„Was ahnen sie? Dass ich nicht echt bin?“
„Ja. Oder dass irgendetwas anderes mit unserer Ehe nicht stimmt.“
„Was soll nicht stimmen? Weil wir noch keine Kinder haben?“
„Zum Beispiel.“
„Bitte erkläre es mir, Adrian“, sagte Claudia und verschränkte matronenhaft die Arme. „Was geht hier vor?“
„Nun, meine lieben Geschwister wollen das Haus und die dazugehörigen Ländereien.“
„Gehören die denn nicht dir?“
„Unser Vater verstarb leider, bevor er ein Testament aufsetzen konnte“, erklärte Adrian. „Der frühe Tod unserer großen Schwester hat sicher das seinige dazu beigetragen. Jedenfalls beruht die momentane Erbfolge mangels anderer Anweisungen von unserem Vater auf der langjährigen und althergebrachten Familientradition, wonach der jeweils Älteste einer Generation Prewetts das Haus und die dazugehörigen Pflichten erbt und fortführt. Nach Biancas Tod war ich das.“
„Na, dann ist doch alles klar, oder nicht?“
„Leider nein. Zu den Pflichten des Stammhalters gehört auch, die weitere Erbfolge der Dynastie zu sichern. Ich bin nun fast fünfunddreißig und habe noch keinen Stammhalter in die Welt gesetzt. Meine Geschwister sind hier, um nach dem Rechten zu sehen und gegebenenfalls ihre Ansprüche geltend zu machen.“
„Mit anderen Worten“, folgerte Claudia, „wenn du keinen Erben hast, würden das Haus und die Ländereien dem nächsten Erbberechtigten deiner Generation zufallen.“
„So ist es. Das wäre Emilia. Da sie bereits einen Sohn hatte, als unser Vater vor einigen Jahren starb, glaubte sie sich damals berechtigt, die Dynastie weiterzuführen und gleichbedeutend alles zu erben. Wir haben uns damals heftig gestritten. Der zugeschaltete Notar, ein Vertrauter unseres Vaters, hat jedoch zu meinen Gunsten entschieden.“
„Das muss Emilia sehr geärgert haben.“
„Und Rupert auch.“
„Rupert? Was will ein Musikproduzent mit diesem Haus?“
„Rupert ist ein Hobbyjäger und würde aus unseren weitläufigen Wäldern ein Paradies für andere Wochenendflintenhalter machen. Vor denen könnte er sich dann als Gutsherr und Wildaufseher aufspielen, ihnen seine Trophäen zeigen und mit ihnen im Wald herumballern.“
Allmählich begann Claudia zu begreifen. „Darf ich daraus folgern, dass Farin Welf aus ähnlichen Gründen hier ist?“
„Natürlich ist er das“, bestätigte Adrian. „Hätte sie nicht diesen tragischen Jagdunfall gehabt, hätte Bianca das Haus und allen Grund geerbt, und als ihr Witwer hat sich damals auch Welf erbberechtigt gefühlt. Er und Bianca hatten noch keine Kinder, aber Bianca war gerade schwanger geworden, als sie starb. Ohne einen Stammhalter konnte Welf jedoch keine Ansprüche geltend machen.“
Claudia fiel ein, dass Emilia Welf als Schnorrer betitelt hatte. Vermutlich wollte sie damit andeuten, dass er Bianca nur wegen des in Aussicht stehenden Erbes geheiratet hatte.
„Und Gunther?“, fragte sie. „Ist Gunther ebenfalls hinter dem Haus her?“
Adrian zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht“, sagte er. „Ich sehe nicht, wie ihm dieser Coup gelingen könnte. Aber wer weiß das schon so genau. Vielleicht verfolgt seine Gattin etwas in diese Richtung.“
„Ist diese Befürchtung der Grund, warum du sie nicht magst?“
„Was? Nein. Es ist … nun ja, ich hatte immer gehofft, mein kleiner Bruder würde jemanden heiraten, mit dem er eine Familie gründen kann – mit eigenen Kindern und Enkelkindern. Stattdessen heiratet er eine zwölf Jahre ältere Frau, die mit fast schon erwachsenen Söhnen beschenkt ist. Das finde ich schade.“
„Die beiden scheinen glücklich zu sein.“
„Sie scheinen alle glücklich zu sein, oder etwa nicht?“
Das hatte etwas für sich, wie Claudia eingestehen musste.
„Du flunkerst deinen Geschwistern also eine Ehe vor, damit sie dir nicht das Familienvermögen streitig machen können“, fasste sie zusammen und tat dabei ein paar Schritte im Kreis. „Nun gut, jetzt verstehe ich einiges besser. Emilia hat demnach tatsächlich nach unseren Hochzeitsfotos gesucht. Was wiederum bedeutet, dass sie etwas ahnt. Möglicherweise ahnen sie alle etwas, wie du sagst.“
„Genau das ist unsere Situation.“
„Was droht dir, wenn die Täuschung auffliegt?“
„Es wäre peinlich. Ich wäre in großer Erklärungsnot, und die Streitereien fingen von vorne an.“
„Und du könntest alles verlieren.“
„Korrekt.“
„Sagen wir, die Täuschung gelingt und deine Gäste reisen wieder ab. Was dann?“
„Dann werde ich dich möglicherweise erneut engagieren, wenn sie in ein paar Jahren ein weiteres Mal vorbeischauen.“
„Warum heiratest du nicht einfach wirklich und zeugst einen Stammhalter?“
Claudia suchte seinen Blick und fand ihn, doch schon wich Adrian aus und besah sich das leere Himmelbett.
„Das mache ich vielleicht noch“, sagte er.
„Fände ich ratsam“, merkte Claudia an und ging erneut im Kreis. „Es würde meiner Einschätzung nach all deine Probleme lösen.“ Adrian schwieg dazu, so fuhr Claudia fort: „Zumindest diejenigen, von denen ich inzwischen weiß. Wie dem auch sei, das Spiel läuft noch. Deine Schwester Emilia hat keine Hochzeitsfotos gefunden, aber sie hat die umfassende Auswahl Wäsche im Schrank gesehen. Demzufolge sollte sie nicht daran zweifeln, dass in diesen Mauern eine Frau wohnt. Noch eine andere als Edwina, meine ich. Da fällt mir ein, wem gehören eigentlich all die Kleider in deinem Schrank, Adrian?“
Bei diesem Stichwort erfasste Adrian sie unverwandt finster mit seinen Augen. „Das geht dich nichts an“, raunte er.
„Aha. Okay“, räumte Claudia wenig beeindruckt ein. „Dann behalte deine blöden Geheimnisse für dich. Falls ich das noch mal betonen muss, ich will hier lediglich den guten Job abliefern, für den du mich bezahlst. Alles Weitere ist mir vollkommen egal.“
„Gut“, sagte Adrian und erhob sich aus seinem Sessel. „Dann solltest du jetzt schlafen gehen, um morgen für alle Attacken gewappnet zu sein.“
Adrian nahm ein Täschchen aus der Kommode und marschierte damit aus dem Zimmer. Claudia kehrte in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür diesmal ganz.