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2.2 Diskurs in der Geschichtswissenschaft

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Der linguistic turn

In der Geschichtswissenschaft haben diskursanalytische Ansätze eine besondere Bedeutung aber auch Brisanz erlangt, weil eine Grundannahme diskursanalytischer Herangehensweisen das Selbstverständnis all jener kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaften berührt, „die sich keiner Laboratorien, Versuchsanordnungen und Reagenzgläser bedienen können“ (Landwehr 2008: 23). Diese Grundannahme besteht darin, dass unser gesamtes Wissen über die Welt sprachlich vermittelt ist, dass Sprache mithin Wirklichkeit konstituiert. Diese weitreichende Erkenntnis wird mit dem Titel eines Sammelbands von Richard Rorty (1967/1992) gerne als linguistic turn bezeichnet. Zwar sind die Diskussionen um diesen linguistic turn inzwischen weitgehend verstummt und durch andere turns wie den pictorial bzw. iconic turn ersetzt worden. Doch in der Folge des linguistic turn wurde auch das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, wenn auch mit Verzögerung, neu und kontrovers diskutiert.

Auswirkungen des linguistic turn

Die gesamten Auswirkungen des linguistic turn zu beschreiben, wäre ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen und für eine Einführung in die linguistische Diskursanalyse auch wenig angemessen. Immerhin lassen sich wichtige Tendenzen zusammenfassen, die diejenigen kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze teilen, für die der linguistic turn bestimmend geworden ist. Grundlegend ist dabei die Überlegung, dass Sprache nicht nur zur Erkenntnis der Wirklichkeit unumgänglich ist, sondern diese Wirklichkeit auch konstituiert.

Die meisten dieser Ansätze suchen eine solche Wirklichkeitskonstitution durch Sprache aber nicht in den Strukturen des Sprachsystems, sondern betrachten individuelle und gruppenspezifische sprachliche Handlungen als die Instanzen gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache. Das vorgegebene sprachliche Inventar lässt zwar für diese Sprachhandlungen keine absoluten Freiheiten zu; es wird aber in subjektiven, intentionalen und interessegeleiteten Handlungen jeweils bestätigt oder modifiziert. Daher stellen solche Handlungen die konkreten Bedeutungskonstitutionsakte dar.

(Wengeler 2003: 7)

Abwehrreaktionen in der Historiographie

Diese Denkrichtung, die mit Humboldt von der Wirklichkeitskonstitution bzw. -organisation durch Sprache ausgeht, kann in zahlreichen sich als kulturwissenschaftlich verstehenden Wissenschaftszweigen als weitgehend etabliert gelten. Insbesondere in der Geschichtswissenschaft führte sie aber zu einer Abwehrreaktion, die in dem Schlagwort vom „Verlust der Geschichte“ kulminierte. Gemeint ist damit ein Zerrinnen des Gegenstandsbereichs, den die Geschichtswissenschaft erforschen möchte. Diese Vorstellung aber löst Angst aus, wie der Historiker Peter Schöttler feststellt (1997: 147):

Warum also diese Angst? Denn daß es unter deutschen Historikern in den letzten Jahren eine weitverbreitete Angst vor einem „Herüberschwappen“ des „linguistic turn“ mit allem, was damit ebenso panisch wie frei assoziiert wurde, gegeben hat und teilweise noch immer gibt, ist unbezweifelbar.

„Sachgeschichte“ als Material

Ein wichtiger Grund für diese Angst dürfte mit der Auffassung zu tun haben, dass es eine unabhängig von Sprache existierende Sachgeschichte als „Material“ der historiographischen Erforschung gebe. Mit dieser Auffassung einher geht die Vorstellung, dass geschichtliche Quellen nur der Erschließung der außersprachlichen Wirklichkeit dienen, dass Sprache und Kultur „eher als Dekoration, als bloßer Zusatz“ zu gelten hätten. Diese in der „mainstream-Geschichtswissenschaft“ (Sarasin 2011: 62) vorherrschende Überzeugung musste im linguistic turn geradezu eine Bedrohung ihrer Daseinsberechtigung sehen. Denn: Bestreitet man, dass es eine Sachgeschichte hinter und unabhängig von Sprache gibt, dann scheint sich das Material der Geschichtswissenschaft zu verflüchtigen. Genau diese Nichtanerkennung einer sprachunabhängigen Wirklichkeit macht aber – in unterschiedlichen Ausprägungen – das Wesen des linguistic turn aus:

Dies ist eben die Position, die nicht nur von „postmodernen“ Historikern, sondern auch von denen abgelehnt wird, die der Weltkonstitution durch Sprache „nur“ einen gebührenden Rang einräumen wollen: Geschichtliche Quellen haben nicht nur Hinweischarakter, sie schaffen auch geschichtliche „Fakten“ und sind geschichtliche Faktoren.

(Wengeler 2003: 24)

Und – so könnte man wiederholend fortfahren – geschichtliche Fakten, die sich unabhängig von Sprache denken ließen, gibt es nicht. Akzeptiert man diese Prämissen, dann kann der Gegenstand historischer Analysen nicht eine hinter der Sprache liegende Wirklichkeit sein. Mit Landwehr (2008: 23) muss man dann akzeptieren, dass Sprache „sich keinesfalls als Hülle verstehen lässt, welche die Bedeutungen umgibt, und die Geschichtswissenschaft kann nicht als ein Forschungszweig verstanden werden, der ‚das Eigentliche‘ enthüllt“.

Unhintergehbarkeit von Sprache

Diese Position darf übrigens nicht mit einer Position gleichgesetzt werden, die die Existenz einer realen Außenwelt generell leugnet. Vielmehr hebt der linguistic turn darauf ab, dass wir bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit immer auf unser sprachliches Vermögen angewiesen sind und dieses nicht umgehen können.

linguistic turn und Diskurs

Soweit in aller Kürze zur Bedeutung des linguistic turn für die Geschichtswissenschaft. Es bleibt allerdings noch zu klären, inwieweit linguistic turn und Diskurs zusammenhängen und welche Konsequenzen sich aus ihrem Zusammenhang ergeben. Die zentrale Annahme, die sich mit dem linguistic turn verbindet, die Unhintergehbarkeit der Sprache, wird auch von den verschiedenen Spielarten der Diskurstheorie in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Sie alle zielen darauf ab, die gesellschaftliche Konstitution von Bedeutung und Wissen mittels Sprache zu analysieren.

Diskursivität geschichtlicher Quellen

Für die Geschichtswissenschaft hat diese Auffassung gravierende Konsequenzen. Sie lässt eine Unterscheidung zwischen geschichtlichen Fakten („Sachgeschichte“) und ihrer sprachlich interpretierenden Rekonstruktion in sich zusammenbrechen. Weiterhin – nimmt man den Gedanken von der Diskursivität der Quellen ernst – macht diese Auffassung deutlich, dass historiographische Interpretationen, die auf ‚sachgeschichtlichen Fakten‘ beruhen, wiederum sprachvermittelt sind:

Interpretationen sind Geschichten über Dinge und Ereignisse, die in Archiven tatsächlich eine Spur hinterlassen haben – aber es sind erfundene Geschichten, die nicht nur aus heutiger Perspektive, mit heutigen Zielen und im Kontext von heutigen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Referenzen erzählt werden, sondern die auch unterschiedlich erzählt werden können, ohne daß jeweils den ‚Fakten‘ Gewalt angetan würde.

(Sarasin 2011:81)

Beispiel: Victor Klemperer

Dieser Befund – so merkt der Historiker Sarasin (ebd.) an – gilt sogar für die Interpretationen der selbst erlebten Geschichte. Am Beispiel von Victor Klemperers Tagebüchern und Jorge Sempruns Erinnerungen an seine KZ-Zeit führt Sarasin aus, dass auch diese „keineswegs frei von Interpretationen, Mutmaßungen, Mißverständnissen“ seien. Für beide Autoren – die hier stellvertretend für Autoren selbsterlebter Geschichte stehen – gelte, „daß sie sich aus den Netzen ihrer eigenen Sprache, ihren kulturellen Referenzen, ihren Assoziationsmustern, ihren vielen Namen und doppelten Identitäten nicht befreien können“ (ebd.: 82).

Materialität und Medialität von Diskursen

Es bleibt allerdings zu fragen, was eine diskursanalytisch orientierte Geschichtswissenschaft der skizzierten Sprachvergessenheit der traditionellen Geschichtswissenschaft entgegenzusetzen hat. Dies lässt sich – notwendigerweise verkürzt – unter den Stichwörtern Materialität und Medialität von Diskursen erläutern (vgl. dazu Sarasin 2011: 71ff.). Generell lässt sich Diskursanalyse auffassen als ein Bemühen, Sinn- und Bedeutungs- bzw. Wissenskonstitution zu verstehen. Eine so verstandene Diskursanalyse stellt sich also die Frage, „wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erlangen“ (Sarasin 2003: 36). Dabei behält sie die Materialität von Diskursen in zweifacher Hinsicht im Blick: Zunächst geht sie davon aus, dass Diskurse einer Ordnung unterliegen, die festlegt, über welche Gegenstände in welcher Weise geredet werden kann. Das Reden über beliebige Gegenstände bedarf nun jeweils bestimmter Medien. Hier kann insbesondere die Geschichtswissenschaft „nach den ökonomischen und technischen Bedingungen der Buchproduktion und nach den konkreten Lesepraktiken“ fragen (Sarasin 2011: 71). Im Gegensatz zur traditionellen Geschichtswissenschaft legt eine diskursanalytisch orientierte also besonderes Gewicht auf die Eigenheiten der zugrunde liegenden Quellen, die sich durch eine nicht hintergehbare „Eigenlogik“ (ebd.: 82) auszeichnen. Wenn weiterhin Diskurse den sprechenden Subjekten bestimmte Handlungsrahmen vorgeben, dann muss eine diskursanalytisch orientierte Geschichtsschreibung diese Rahmen als Grenzen des Sagbaren im Blick behalten. Das Sprechen historischer Subjekte muss somit jeweils als unter bestimmten diskursiven Voraussetzungen Entstandenes interpretiert werden (vgl. ebd.: 83). Damit geht eine diskursanalytisch geprägte Geschichtswissenschaft laut Sarasin über „basale Hermeneutik“ (ebd.: 82) hinaus und liefert Impulse für eine weitergehende Gesellschaftsanalyse:

Diskurse regeln also das Sagbare, Denkbare und Machbare. Sie organisieren Wirklichkeit. Offensichtlich geht diese diskursive Produktion von Wirklichkeit jedoch nicht willkürlich vonstatten, sondern unterliegt gewissen Regeln, die es den Beteiligten ermöglichen, im Rahmen eines Diskurses korrekt zu sprechen, zu denken und zu handeln. Die historische Diskursanalyse will vor allem über die Aufdeckung solcher Regeln zur Identifizierung entsprechender Diskurse gelangen und konzentriert sich darüber hinaus auf die Frage, wie und warum sich solche Diskurse im historischen Prozess verändern und damit zugleich eine veränderte Wirklichkeit hervorbringen.

(Landwehr 2008: 21)

Historisches Wissen

Mithin hebt die historische Diskursanalyse darauf ab zu erforschen, welche Wirklichkeit in einer historischen Situation als gegeben aufgefasst wird, wie diese organisiert ist und nicht zuletzt wie das (historische) Wissen beschaffen ist, das diese Wirklichkeit „handhabbar“ (ebd.: 22) machen soll.

Einführung in die linguistische Diskursanalyse

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