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Hybridtheater

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Thomas Oberender

Was wird man, fragte mich kürzlich mein Sohn, der gerade Geschichte studiert, über unsere Zeit in 200 Jahren sagen? Über Leute wie ihn und mich, die noch das Entstehen des Internets erlebt haben, die den ersten iPod und das erste iPhone gekauft haben, die am Leben waren, als Jeff Bezos zum reichsten Mann der Erde wurde und der Klimawandel eskalierte. Man wird sich fragen, wie wir das alles erlebt und daran mitgewirkt haben – am Klimawandel, an der Digitalisierung und am Ausklingen einer imperialen Weltordnung im Namen der Aufklärung. Man wird sich vorzustellen versuchen, wie es war, als man noch in Flüssen baden konnte. Als man noch Geheimnisse hatte und lesen konnte, ohne gelesen zu werden.

Wissenschaftler*innen trainieren Maschinen darauf, zu erkennen, worauf Menschen schauen, wenn sie ein Bild betrachten. Wenn Maschinen im digitalen Raum sehen, worauf ich achte, können sie die Darstellung dieser Informationen vergrößern oder weitere Informationen ähnlicher Art hinzufügen. Sie können aber auch bewirken, dass genau das verschwindet, was ich sehen möchte. In dieser Welt könnte ich beobachten, wie alles, was für mich bedeutsam ist, sich vor meinen Augen auflöst – oder vergrößert wird.

Was von vielen Menschen beachtet und geschätzt wird, kann also durch künstliche Intelligenz in unserem Wahrnehmungsfeld einen zentralen Platz erhalten oder entfernt werden, und dies in Echtzeit, während ich es betrachte, oder sogar noch zuvor. Was mir wichtig erscheint, wird von weniger wichtigen Aspekten der Realität separiert und bereinigt. Es ist eine Auslagerung und Verstärkung (durchaus „normaler“) mentaler Funktionen an Maschinen, die ihrerseits nicht nur die Bilder lesen und sortieren, die sie uns zeigen, sondern auch uns. Menschen mit Gewaltphobien werden im Netz zukünftig vielleicht keine Bilder von Gewalt mehr finden, so wie man im chinesischen Internet schon heute nichts mehr über das Massaker am Tiananmen-Platz findet, „das Netz“ aber bemerkt, wer sich dafür interessiert. Und über kurz oder lang wird „das Netz“ überall sein – in jedem Ding, Prozess, Ort, mit dem ich in Verbindung stehe.

Wir sind jene Mehrgenerationenschicht, die diese Entwicklungen hervorbringt und in dieser Netzmoderne zugleich noch eine Erinnerung an „früher“ hat, als die Medien noch linear waren und man Briefe schrieb. Schon jetzt entsteht unter den Vorzeichen der Netzkultur eine neue Aufmerksamkeit für das Analoge, Autonome, Vormoderne; aber das Leben, das in seiner Entwicklung stets einen Zuwachs an Intelligenz belohnt hat, so prognostiziert es James Lovelock in seinem Buch Novozän, wird vom biologischen Körper in den technologischen weiterziehen. Die Intelligenz, die Selbstreproduktion und die Evolution werden sich neue „Körper“ erschließen und die Grenzen zwischen Tieren, Menschen und Maschinen werden weniger strikt und weniger ängstlich bewacht, vielmehr wirken die Übergänge zwischen ihnen immer verlockender.

Die Neuzeit begann nicht damit, dass auf der Globe-Theatre-Bühne Shakespeares plötzlich Ferngläser und Mikroskope benutzt wurden. Shakespeares Theaterbau hatte keine Zentralperspektive. Aber die Perspektive der Figuren auf der Bühne wurde plötzlich eine andere – es war nicht mehr Gott, der ihrem Leben zuschaute, sondern der Mensch selbst. Und er sah Individuen, die zwar Züge ihrer mittelalterlichen Ahnen trugen, die noch halb Trickster oder Zauberer waren, aber nun ihrem eigenen Willen folgten und sich vor Menschen verantwortet haben. Das digitale Zeitalter beginnt seinerseits auch nicht mit Computer-animationen auf der Bühne, mit Videobildern in Echtzeit oder Streaming. Es kann sich völlig analog ereignen. Die Auflösung des Schemas von Sender und Empfänger ist zum Beispiel ein Aspekt der Netzwerkrealität – sie empfängt und sendet gleichzeitig, sie schafft einen Raum struktureller Rückkopplung, der andere Werk- und Begegnungsformen mit sich bringt. All das hat neue Formate und Dramaturgien entstehen lassen, die ihrem Wesen nach keine Computer brauchen, aber auf der Erfahrung einer digitalisierten Kultur beruhen.

Ein neues Worldbuilding

Das Theater des archaischen und mechanischen Zeitalters hat eine eigene Hochtechnologie hervorgebracht: Dramen, Stücke und die gerahmte Bühne sind seine über Jahrhunderte perfektionierten Instrumente und sie werden nicht veralten. Sie werden weiter funktionieren wie die symphonischen Orchester des 19. Jahrhunderts und zu Teilen in Strukturen eines anderen Worldbuildings aufgehen. Diese neuen Theaterformen sind weniger literaturbasiert, auch wenn sie raffinierter geskriptet sind. Die neue Rolle des Skripts, das die Begegnung zwischen den Besucher*innen und dem Werk partizipativer und symbiotischer gestaltet, korrespondiert mit den Herausforderungen, vor denen unsere hochgradig vernetzte Kultur insgesamt steht: „Gesucht sind Ordnungen“, schreiben Ruedi Widmer und Ines Kleesattel in ihrem Reader Scripted Culture, „in denen sich Vorstellungen der Gleichverteilung von Macht („distributed“, „dezentral“) mit Vorstellungen des freien Fließens von Daten und Informationen sowie solchen des Schutzes vor Manipulation („Blockchain“) verbinden. Die in der realen Digitalisierung, Globalisierung und Ökonomisierung liegenden Formen der Durchdringung und Entgrenzung werden als Probleme gesehen, denen man, wenn überhaupt, durch die Verbesserung dessen, was bei Galloway Protokoll heißt, beikommt.“1

Diese Protokolle bewirken und managen zum Beispiel die strukturelle Verflüssigung und Molekularisierung der Öffentlichkeit oder steuern im Hybridtheater den Chat und die Abläufe und Zugänge in einem virtuellen Theaterraum. In der künstlerischen Produktion erlauben sie das Entstehen von symbotischen, partizipativen Welten, die inklusiv sind und in Echtzeit die verschiedensten Akteur*innen und Technologien verbinden und im eigentlichen Sinne nur noch Akteur*innen unterschiedlichen Grades kennen. Hier ist jeder und jede mittendrin, aber viele Elemente der technologischen Struktur sind interaktiv und mit verschiedenen Programmen vernetzt. Ein Wesenszug dieser neuen Theaterformen ist eine transhumane Vision, die das Funktionieren der symbiotischen Systeme schildert – und nicht des Menschen. In ihnen trifft die Zeitlosigkeit der digitalen Medien, in denen alles präsent bleibt, auf die Augenblicklichkeit des Geschehens und inszeniert diese Begegnung. Während die Programme der linearen Medien kuratiert sind und in der Zeit vergehen, liegen, so der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, die digitalen Angebote zeitlos wie Minen im Raum und warten auf ihre Begegnung mit dem Publikum. Und so verhält es sich auch mit den digitalen Theaterwelten – selbst da, wo sie analog inszeniert sind, aktivieren sie ihre Inhalte erst durch die aktiven Gesten des Publikums. Jede Aufführung in den Narrative Spaces von Mona El Gammal beruht auf diesem Skript verborgener Optionen, die von den Besucher*innen im analogen Raum ausgelöst werden.

In den kommenden Jahrzehnten können im digitalen Raum Schauspieler*innen, die gestorben sind, wieder erscheinen und nun neue Rollen spielen – sie können Texte sprechen, die sie nie gesagt haben, und das in jeder Sprache und in jeder physischen Gestalt. Wie in dem Science-Fiction-Film The Congress von Ari Folman, in dem die Schauspielerin Robin Wright in den besten Jahren ihrer Karriere dazu gezwungen ist, die Rechte über ihre Erscheinung an einen Medienkonzern abzutreten, der sie fortan in einer digital animierten Produktionswelt noch zu ihren Lebzeiten weiterarbeiten lässt – ohne dass sie jemals wieder vor einer Kamera stehen muss. Die Frage danach, wer spricht, wird sich anders beantworten, genauso wie die nach dem Was und dem Wo. Bereits heute ist es unklar und oft unwichtig, wer auf Imageboards wie 4chan mit seinen anonymen Posts ohne Login und Registrierung spricht.

Das Genre der Science-Fiction, sagte die Autorin Ursula Le Guin, ist gegenwartsbeschreibend, nicht prognostisch. Es formuliert, was heute evident ist, nicht was kommt: „Der Zweck eines Gedankenexperiments – als ein Begriff, wie er von Schrödinger und anderen Physikern verwendet wurde – besteht nicht darin, die Zukunft vorherzusagen“, so Le Guin. „Schrödingers berühmtestes Gedankenexperiment zeigt, dass die ‚Zukunft‘, auf der Quantenebene, nicht vorhergesagt werden kann; aber es beschreibt die Realität, die gegenwärtige Welt. Science-Fiction ist nicht vorhersagend, sondern beschreibend.“2

Die Digitalkultur macht sich heute im Gegenwartstheater auf unterschiedliche Weise bemerkbar: Erstens als ein anderes mindset, als eine neue Perspektivierung unseres Denkens und unserer individuellen Verortung in der Welt, die nicht mehr grundsätzlich menschen-bezogen und menschengeneigt ist, wie Wolfgang Welsch dies formulierte.3 Felix Stalder beschreibt in seinem Buch Kultur der Digitalität, wie sich dieses mindset schon in der frühen Neuzeit herausgebildet und mit Aspekten wie Quantifizierung und Algorithmisierung verbunden hat. Zweitens zeigt sich die Digitalkultur im Vorhandensein eines digitalen Raums. In ihm hat das „Soziale“ oder „Gesellschaftliche“ eine andere Bedeutung. Er wird von der Tendenz des Internets zur Gamifizierung geprägt, von der Wettbewerbsorientierung, Fiktionalisierung und Affektorientierung der sozialen Medien, wie wir sie heute kennen. Drittens sind es die Echtzeit-Technologien, die hybride oder vollständig virtuelle Realitäten schaffen und zugänglich machen. Damit verbunden ist ein Überschwappen der digitalen Sphäre in die physische, realkörperliche Wirklichkeit und vice versa – inhaltlich, habituell, kommunikativ und politisch.

Diese Kennzeichen der Digitalkultur prägen nun digitale Theaterformen, die analog realisiert werden, hybrid oder rein virtuell. Virtuelles Theater ist es vollumfänglich dann, wenn Publikum und Performer*innen in Echtzeit im gleichen digitalen Raum sind. Mit den alten Technologien war dies bislang unerschwinglich – die Weiterentwicklung von Rechnern und Software hat das verändert. Auch das mit dieser Entwicklung verbundene operative Know-how nimmt auf Seiten der Künstler*innen und Institutionen beständig zu. Parallel zu diesem rein virtuellen Theater entstehen im freien und institutionalisierten Theater weit häufiger hybride Formate. Sie beruhen auf unterschiedlichen technischen Zugängen und besitzen unterschiedliche Gewichtungen zwischen dem rein Virtuellen und dem physisch Präsenten.

Hybride Theaterformen finden zeitgleich online und offline statt. Sie entwickeln für das Publikum im Saal und online nicht nur simultan unterschiedliche Beteiligungsformen, sondern auch unterschiedliche Modi der körperlichen Präsenz und Verhaltensweisen. Dennoch spielt der physisch präsente Körper in ihnen eine besondere Rolle und verankert das Geschehen. Denkbar ist, dass vollumfänglich virtuelle Theaterformen in Zukunft nicht mehr komplett und ausschließlich von Menschen generiert werden und sich daher mit Fragen nach einem Theater ohne Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Text verbinden. Was passiert, wenn all das von der KI kommt? Wer „macht“ das dann? Diese Fragen werden in den hybriden Theaterproduktionen von Arne Vogelgesang bereits sichtbar.

Empirie im digitalen Empire

Seit 2005 realisiert Arne Vogelgesang mit dem Theaterlabel internil und unter eigenem Namen freie Theaterprojekte, die mit verschiedenen Zusammensetzungen von dokumentarischem Material, neuen Medien, Fiktion und Performance experimentieren. Mit seiner Kollegin Marina Dessau und anderen realisiert er Projekte und Workshops, die auf dem Umgang mit dokumentarischem Material basieren, das sie auf YouTube und anderen Plattformen gefunden haben und im Theater live reenacten. „Unser künstlerisches Verfahren als Performer*innen ist es also“, so Vogelgesang, „die zusammengeschnittenen und collagierten Dinge, die wir recherchiert und in einen dramaturgischen Zusammenhang gebracht haben, mit technischen Mitteln einzuspielen und mit einer Sekunde Verzögerung nachzusprechen. So schlagen wir die Brücke zwischen Dokument und Gegenwart, zwischen Netz und Theaterraum, mit unseren eigenen Spielkörpern.“4

In den Videodokumenten seiner Recherchen, die er in seinen Lectures und Aufführungen zeigt, werden digitale Protogesellschaften sichtbar, die wie ein virtuelles „Ausland“ erscheinen – sie spielen mit unbekannten Formen der Selbstinszenierung, der Fiktionalisierung unserer analogen und biologischen Welt „draußen“ und der wirklichen Emotionalität der sozialen Plattformen.

Vor seinem Regiestudium am Max Reinhardt Seminar in Wien hat Arne Vogelgesang sechs Semester Ethnologie studiert. In seiner Arbeit reist er feldforschend in andere gesellschaftliche Welten, die digital sind, und bringt Theaterformen zurück und auf die Bühne, von denen Menschen wie ich, die wenig Zeit in diesen Foren verbringen, gar nicht wussten, dass sie überhaupt existieren. Mit ethnologischem, aber auch künstlerischem, mustererkennendem Blick studiert er die Sprachen und Codes, die sich in den Online-Gesellschaften herausgebildet haben, und schleust sie zurück in den politischen Diskurs des Theaters. Warum geht Vogelgesang auf diese Online-Recherchen? Warum verbringt er Monate und vielleicht Jahre seines Lebens in diesen Foren? Warum bereist und erforscht er die digitalen Plattformen wie ein Ethnologe und analysiert und übersetzt deren eigene Sprache und Theaterrealität für jene, die keine Insider*innen dieser Szenen sind? Es kann nicht nur der Ethnologe dort fündig werden, sondern es muss auch der Künstler sein – mit seinem, wie Vogelgesang über sich sagt, Interesse an Spielarten der politischen Radikalisierung, devianten Praktiken und der Digitalisierung des Menschlichen.

Seine Arbeit zeigt den digital playground als relativ unzensiertes Experimentierfeld unterschiedlicher Gruppen und Akteur*innen im digitalen Raum. In den Insider*innen-Foren der menschlichen Netzgemeinschaften entwickelt sich unsere Praxis der Liebe, Politik, Spiritualität oder Ökonomie weiter und spitzt sich zu. Vogelgesangs Recherche ist aber auch eine Form zeitgenössischer Theaterforschung, des Abgleichs physischer Spielwelten mit denen reiner Virtualität. Sie eröffnet uns viele Fragen: Wieso ist in vielen Internet-Communitys die Theatermetapher so en vogue? Wie funktioniert die mediale Kreislaufwirtschaft zwischen digitaler und physischer Welt? Gibt es eine neue Art von politischer Entertainment-Kultur im Netz, andere Formen von Verständniskunst? Welche Politiken hat Kunst nach dem Agitprop-Theater aus der Zeit Brechts, des Living Theatre oder Schlingensiefs heute anzubieten? Die Mechanik der sozialen Medien beruht, wie das Theater, auf Erregung, aber in ihnen ist alles zugleich ernst und nicht nur „als ob“. Was bedeutet das für das Theater? Wie unterscheidet sich die Konstruktion von Identität als Machtfaktor in den sozialen Medien von der im Theater? Wie entstehen und beglaubigen sich Rollenbilder in den sozialen Medien? Was sind und tun truther und baker in dieser Welt? Kann man die Austauschkultur auf 4chan als Avantgardetheater betrachten? Was verbindet solche Spiele mit dem DAU-Projekt von Ilya Khrzhanovsky? Ist das politische Projekt der Fake-isierung von Wirklichkeit bei QAnon etwas anderes als die Inszenierung von Wirklichkeit im „wirklichen“ Theater? Und ist eine Form von hergebrachtem Theater denkbar, die ähnlich community driven funktioniert wie ein alternate reality game? Wie können sich diese Spiele ohne wirklichen Plot nur mit einem plot device am Leben erhalten? „Dont dream it – be it“ – war das nicht Julian Becks Traum vom Theater? Wenn Insider*innen-Plattformen ein kollektives Subjekt erschaffen, stirbt damit die Figur oder nur das Individuum? Was ist Surkows diskordianistisches Theater und wo findet es statt?

Nur langsam baut sich ein neues Verständnis davon auf, was heute eine Figur, ein Stoff und eine Vorstellung ist – verändert durch die Erfahrungen im Netz und den digitalen Spielwelten. So beschreibt Vogelgesang das theatrale Milieu der Reichsbürger*innen und ihren Versuch, mitten in unserem Land eine „Theaterrepublik“ zu gründen, also einen von ihnen selbst ausgerufenen Staat, den sie mit Theatermitteln inszenieren und für „echt“ halten, weil sie die politische Realität der Bundesrepublik für Theater halten. Er entdeckt in diesen Netz-Milieus neue Figuren wie „natürliche Personen“, „Selbstverwalter*innen“ oder „Querdenker*innen“, die spezifischen Narrationen und Spielszenarien folgen, ohne sie selbst für ein Spiel zu halten. Seine Theaterprojekte bringen die Theatralität dieser Videodokumente auf der Bühne wieder in eine Verbindung mit dem physischen Körper des Performers. So wird es reenactet, durchfühlt, durchdacht, als das Andere nachvollziehbar, erlebbar, kommentiert und Teil einer divergierenden szenischen Konstruktion. Vogelgesangs Klimawandel-Stück Es ist zu spät adaptiert zum Beispiel den digitalen Fakten-Stream der Katastrophe und kreiert den fiktionalen Charakter eines Influencers, dessen aufgezeichnete Netz-Performance auf der Bühne live vom Urheber und Darsteller der Figur nachgespielt wird. Wobei diese Wiederbegegnung der Figur mit ihrem Erfinder und Double sich auf der Theaterbühne nicht nur für dessen Eingebungen öffnet, sondern auch für den Input des Publikums am Bildschirm, das via Chat die Vorgänge kommentieren und die Kameraperspektive verändern kann.

Symptome des digitalen Zeitalters

Es ist also vieles „hybrid“ an dieser Aufführung – gebündelt, gekreuzt und durchmischt ist nicht nur das zeitgleiche Geschehen auf der physischen und digitalen Bühne. In unseren Gesprächen beschreibt Arne Vogelgesang verschiedene Merkmale des digitalen Zeitalters, wie sie sich in seiner Arbeit zeigen. Zum einen formalisieren sie das Verhältnis zwischen Werk und Publikum anders und bieten dafür partizipative Regeln an. Diese Regeln sind systemisch organisiert – sie verknüpfen die Akteur*innen untereinander und mit den unterschiedlichen Protokollen, die in der technologischen Einrichtung der Mise en Scène wirksam sind, um das Wort „Inszenierung“ an dieser Stelle bewusst zu vermeiden.5 Hybride Aufführungen entwickeln so ein anderes Theaterdisplay, das seine eigene mediale Konstruktion und „Scheinhaftigkeit“ offen zeigt. Als reflektiertes Spiel ist es auf einer Ebene seines Geschehens stets reaktiv, nicht nur auf der sozialen Ebene der Begegnung mit dem Publikum, sondern auch hinsichtlich des Inputs von Komponenten, die von digitalen Protokollen bestimmt werden. Die Aufführung organisiert dafür ein symbiotisches System, in dem der Performer mit seiner Figur, aber auch die Zuschauer*innen im Chat mit ihm und auch untereinander kommunizieren können. Sie werden aktiv wahrgenommen und können sich zwischen unterschiedlichen Sichtweisen des Geschehens entscheiden. Eine solche Option, das lineare „Sendegeschehen“ der Performance zu durchbrechen, hat Vogelgesang in früheren Arbeiten bereits rein analog hergestellt, indem er ritualhafte Performanceregeln aufstellte, die dem Publikum die Möglichkeit gaben, die Dauer der Aufführung gruppendynamisch selbst zu bestimmen. Auch solch ein analoges Verfahren für multilaterale Partizipation ist für ihn ein Symptom des digitalen Zeitalters.

Auf der Ebene von Darstellung bedeutet die Hybridisierung von Aufführungsformen die Implementierung von Feedbackstrukturen in diese – die Darstellung beginnt, sich selbst zu betrachten. Prinzipiell begann dies bereits mit der simultanen Bühne des Videobildes, das zum Beispiel in Frank Castorfs Aufführungen das aktuelle Bühnengeschehen in Echtzeit in der anderen Sichtweise des Videos zeigte. In den Stücken von internil hat diese Aufnahme in gewisser Weise schon stattgefunden und das Echtzeitgeschehen ist das Live-Reenactment der Aufzeichnung, die wiederum parallel live gestreamt und neben den Beobachter*innen im Saal auch den Follower*innen am Bildschirm zugänglich ist.

Das klassische Regiebuch als ein Meta-Skript zum Text des Stückes enthält die akribischen Notate jener vielen kleinen Entscheidungen, die den Text eines Stückes und die Einrichtungen auf der Ebene von Ton, Licht und Ausstattung auf der Bühne zur Handlung einer Gruppe von Menschen werden lassen. Auf der digitalen Ebene des Hybridtheaters schreiben die Leute im Chat das Regiebuch der Szene, das ebenfalls Handlungsanweisungen wie zum Beispiel einen Kamerawechsel in der Aufnahme des Streams beinhaltet. Das bedeutet eine Transformation des Publikums und der szenisch Handelnden – in diesem System werden sie Akteur*innen und nehmen zudem Einfluss auf das Skript des für sie partiell offen zugänglichen Geschehens. So wird unsere traditionelle Theaterwelt davon erfasst, was für Influencer*innen grundlegend und üblich ist – nämlich dass sie sich zurückmelden, dass sie Reaktionen aufnehmen, wie im „Theatersport“ und damit umgehen, dass nicht nur sie zu ihren Follower*innen kommen, sondern auch diese zu ihnen und das Environment der Mise en Scène das entsprechend vorsieht. Das Konzept der Theaterregie als Modell der zentralisierten Herrschaft und Augpunkt im Saal trifft in der Wirklichkeit unseres digitalen Zeitalters auf Strukturen, die Regie nicht mehr als einen endlichen Vorgang der Einrichtung begreifen, sondern des permanenten Mitspielens, Anwesendbleibens. Die Regisseur*innen gehen im Hybridtheater nach der Premiere nicht mehr nach Hause, sondern performen allabendlich mit im Team und öffnen das Regiebuch für andere. Das können Menschen sein, aber auch digitale Dienste, die mediale Inhalte algorithmisch vermitteln und filtern.

Systemschaffend ist jedes Kunstwerk, doch vom traditionellen Black-Box-Theater unterscheidet sich ein Stück wie Es ist zu spät durch seine neuen Beteiligungs-Regeln. Das Hybridtheater ist kein einfaches Streaming klassischer Aufführungen mit Chatfunktion, sondern macht den Theatervorgang porös für mehrere Seiten – das Publikum chattet mit dem Publikum und der Performer wiederum mit diesem und der Videoexistenz seiner Figur. Zusätzlich agiert ein Team im technischen Setup und arbeiten parallel algorithmisierte Inputsysteme. Qualitativ entwickelt das Hybridtheater also andere Angebote und Strukturen als frühere Theatermedien. Das Publikum spielt in den Austauschforen des Netzes und kreiert dort andere soziale Beziehungsformen mit einer eigenen Sprache aus Emojis und Codes. Das digitale Medium, das in die analoge Aufführungswelt eingebunden wird, man könnte dies natürlich auch umgekehrt sehen, ist schließlich selbst zu einer realitätserzeugenden Sphäre geworden, die Gefühle und Bindungen kreiert, ausbeutet, bereichert und uns alle in dieses Spiel verwickelt.

Die Theaterarbeit von Arne Vogelgesang und internil beobachtet und nutzt die Veränderungen sozialer Interaktion unter den neuen Bedingungen der Kommunikation auf digitalen Plattformen. Zum Beispiel im Hinblick auf die Art und Weise, wie sich in einem alternate reality game wie QAnon die Rolle vom individuellen Menschen auflöst und Teil eines Spiels wird, das durch verschiedene puppetmaster eine Wirklichkeit konstruiert, die für viele Menschen nicht in Anführungsstrichen steht. internil gibt in seinen Stücken dem Publikum Verantwortung, auch wenn es diese gar nicht will. Und da, wo die Rollen und Aufgaben sehr wechselhaft verteilt sind, wird das Spiel gleichzeitig partizipativer und auch schwerer zu verlassen.

Im Falle von Es ist zu spät gibt es kein klares Ende der Performance – die Grenzen fließen auch hier ineinander. Immersiv ist diese Theaterarbeit nicht nur in dem landläufigen Sinne, dass sie unter die Haut geht und zu Empathie und Identifikation verführt. Partizipative und symbiotische Strukturen, die das alte Subjekt-Objekt-Verhältnis in ihren spezifischen Raum- und Beteiligungsformen auflösen, sind in verschiedensten Kunstgattungen inzwischen ein eigenes Genre. Typisch für dieses Genre ist, dass es seine eigene Rahmung auflöst, die vierte Wand verschwinden lässt, über die Grenze geht und fließende, wechselseitige Begegnungsrichtungen zwischen Werk und Publikum herstellt. Was der Schlussapplaus vorm Vorhang im klassischen Theater beendet und als ein Ritual der abschließenden Begegnung außerhalb des Spiels inszeniert, ersetzt im hybriden Theater der Chat, der das Publikum mit in die Garderobe der Künstler*in und von der Garderobe mit an die Bar nimmt.

In Vogelgesangs devised media theatre geht er nicht nur via Live-Performance und -stream zum Publikum, sondern die Zuschauer*innen müssen zu ihm kommen, dort, wo sie gerade sind – in ihrer Welt, vor ihrem Bildschirm. Das Theater hat in der Lockdown-Phase der Pandemie nach verschiedensten Wegen gesucht, sein Publikum auch jenseits der physischen Bühne zu erreichen, aber das für das digitale Zeitalter wirklich typische Theater lässt das Publikum schlicht die Bühne erreichen. Es sind also mindestens drei Parameter, die sich in seinem Hybridtheater grundlegend verändern: Das Publikum wird aktiviert. Das Geschehen auf der Bühne wird als ein Wirklichkeitssplitting erlebt, das seine Herstellung offen zeigt, und diese reflexive Medialität führt zu einem neuen Bewusstsein für die manipulative Apparathaftigkeit des Theaters, das sein Darstellen offen darstellt und für das Publikum partiell veränderbar macht. Dadurch entzieht sich die Mise en Scène des Hybridtheaters auch seiner endgültigen Fixierung, denn an Teilen seines Skripts wird jeden Abend im Chat weitergeschrieben.

Hybridtheater beruht auf Echtzeit-Technologien, die es erlauben, die digitale und physische Ebene seiner doppelten Existenz durch verschiedene Inputs ständig zu modifizieren. Da Ton und Bild (wie die Live-Performance) im selben Moment bearbeitet werden können, überlagert oder vermischt sich das Bühnengeschehen mit anderen Bildern und Klängen, sodass mit dem Abbild selbst gespielt wird. Was wir im Leben oft erst im Laufe der Zeit herausfinden – dass die Dinge sich so oder auch ganz anders betrachten lassen –, geschieht auf dem digitalen Spielfeld durch die Wechsel der Kameraperspektive und die Kommentare der Mitsehenden automatisch. Neben der Diversifizierung der Perspektiven entsteht also auch eine Aktivierung der Betrachtenden, die in die Situation der Aufführung eintreten können – bisweilen physisch, oft und vorzugsweise aber auch durch ihre Wortmeldung, ihr Mitspielen oder im Austausch mit anderen Gästen.

Während zum Beispiel die Fans vom Tatort diesen in diversen Online-Foren live kommentieren und untereinander bewerten können, kann die Sendung selbst aus ihrer linearen Struktur nicht austreten. Das hybride Theater aber öffnet sich den Einwirkungen seiner Fans und Zuschauer*innen und trägt ständig die Züge eines offenen Spiels. In seiner Geschichte hat das westliche Theater seine Gemachtheit in unterschiedlichen Formen thematisiert – im Extempore, in der Durchbrechung der vierten Wand, anhand epischer Mittel, mit denen sich Schauspieler*innen oder Autor*innen selbst einbringen. Im digitalen Theater dichtet das Publikum mit und schreibt im Chat, was es denkt, während das vorproduzierte Theater läuft und ihm für dieses Feedback eigene Sektoren einrichtet. Dieser Kommentarteil fließt in einem Stück wie Es ist zu spät sofort in das Stück ein, dessen Skript porös, aber dennoch keine durchgehende Improvisation ist. Vielmehr steigert sich die präsentische Geistesgegenwart der Aufführung in schwindelerregende Höhe. Im Skript seiner Aufführung wird das Publikum selbst zur (kollektiven) Figur, die Arne Vogelgesang mitschreibt, anspricht, in sein System integriert und aktiv inszeniert.

Der Körper

Teilhabe an kultureller Produktion ist die neue Ware. Mit ihr verbindet sich in den digitalen Foren eine neue Performance von Ehrlichkeit, die vor allem auf einem offenen Geben und Nehmen beruht. Es geht, in den Worten Vogelgesangs, um die Beglaubigung von Beziehungs-Transaktionen. Auf der Grundlage von Marktregeln entstehen im digitalen Raum neu designte Online-Beziehungen zwischen Performer*innen und Publikum. Wer bezahlt hat, darf hier etwas fordern: Das ist der Payback-Imperativ sozialer Foren im digitalen Raum. Für die Influencer-Figur in Vogelgesangs Stück Es ist zu spät erzeugt das eine kraftvollere, „echtere“ Wirkung und Beziehung.

Seit Jahren erforscht Arne Vogelgesang den digitalen stream of performance von Influencer*innen, rechten Propagandist*innen, Pick-up-Artists und deren verblüffend ehrlichem Hunger nach Klicks und Likes, der diversen devianten Gesinnungen und Praktiken eine Bühne eröffnet. Dies sind in der Regel abweichende Verhaltensweisen, die bizarr oder gefährlich sind und ihre Abweichung von der Norm virtuell, aber nicht unwirksam ausleben. Vogelgesang performt diese Verhaltensformen digitaler Gemeinschaften mit seinem eigenen Körper nach und macht sie dadurch für sich erfahrbar. Das Netz erscheint so als eine Plantage von Devianz – es erzeugt anonymisierte Abweichungsenklaven und ist ein Weltreich der Sezession und der Singularitäts-Aktivist*innen. Hier, im virtuellen, staatenlosen Raum, entstehen die freien Republiken von Menschen, die wirklich probehandeln, im Guten wie im Schlechten, und oft eine Vorhut späterer Entwicklungen sind.

Die Neuerfindung des Menschlichen im sogenannten Web 2.0, das auch das Soziale 2.0 hervorgebracht hat, erschafft digitale Beziehungen, die oft sozialer und auch körperlicher sind, als man es ihnen aus kritischer Perspektive oft zugesteht. Solche koproduzierenden Beziehungen im Theater zu etablieren kann, so Arne Vogelgesang, eine Trainingssituation für Verwertungsformen sein, die in Zukunft auch im Theater wichtiger werden. Insofern sind unsere drei Gespräche tastende Versuche, mit Vogelgesangs Erfahrungen Theater auch dort zu entdecken, wo wir es normalerweise nicht suchen und erwarten. Seine hybride Struktur folgt hybriden Erfahrungen – der wilde, von devianten Lebensformen bevölkerte Sozialraum des Netzes produziert Figuren und Lebenshaltungen, die vital und abgründig, attraktiv oder politisch gefährlich sind, die narrative Systeme, kollektive Codes und Muster offenbaren, die Vogelgesang über Wochen und Monate faszinieren und in diese virtuellen Lebenswelten bannen. Zugleich spielt er nicht dort, sondern mit dem, was er dort findet, auf einer Bühne, die materiell ist und ein alter Ort körperlicher Repräsentanz.

Die Tiefenstruktur unserer gesellschaftlichen Gegenwart, die sich im Sozialen 2.0 nackter, fantastischer und vielleicht wahrer zeigt als in der Welt der Klarnamen und Institutionen, ist ganz sicher einer der Gründe für die Beutezüge im Netz, die Arne Vogelgesang seit fünfzehn Jahren umtreiben. Dass er sie nicht einfach rückübertragen kann in die literaturbasierten Theaterstrukturen, sondern dafür selbst hybride Systeme baut, eher bastelt, ist das Zukunftsweisende seiner Arbeit. Und mit dem Alien-Blick, mit dem er auf unsere Gesellschaft im Netz schaut, der politischen Sorge, die ihn dabei umtreibt, schaut er zugleich auf die traditionelle Theaterroutine und ihre Meister*innen am Regiepult, deren Zentralperspektive und Verschwinden nach der Premiere er auflöst. Es ist dieser Übergang vom Text zum Skript (im Sinne von Protokoll), das er entwickelt, um diese Live-Begegnung mit dem Leben außerhalb der Bühne, aber auch mit dem Leben auf der Bühne zu ermöglichen, die in 200 oder 300 Jahren vielleicht erinnert werden wird als Spielform eines Theaters, das noch nicht loslassen konnte vom Echtraum. So wie auch der Körper noch nicht hybrid war, kein Cyborg, sondern der Leib eines Performers, der das Theater selbst als Netz und Plattform nutzte.

1Ruedi Widmer, Ines Kleesattel (Hg.): „Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung“, Zürich 2018, S. 14.

2https://www.bukrate.com/quote/1777290 (Übersetzung durch den Autor).

3Wolfgang Welsch: „Die Kunst und das Inhumane“, in: „Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie 2002“, Berlin 2004, S. 736.

4Katharina Anzengruber, Anita Moser, Arne Vogelgesang (2020): „Kunst mit politischem Material dann interessant, wenn es neue Formen von Theatralität enthält“, in: „p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #11“, abrufbar hier: https://www.p-articipate.net/kunst-mit-politischem-material-dann-interessant-wenn-es-neue-formen-von-theatralitaet-enthaelt/

5„Der Begriff der Mise en Scène“, so Jörn Schafaff, „ist in diesem Zusammenhang auch insofern bedeutsam, als er, wie Beate Söntgen erläutert, ‚die Aktivität des Herstellens und Einrichtens im Akt des Darstellens, aber auch das Hervortreten des Szenischen selbst [betont], während der Begriff der Inszenierung mit der negativen Konnotation des Scheins behaftet ist.‘“ Beate Söntgen zitiert nach: „Mise-en-Scène“, in: Jörn Schafaff, Nina Schallenberg, Tobias Vogt (Hg.): „Kunst-Begriffe der Gegenwart“, Köln 2013. Hier zitiert in: Jörn Schafaff: „Rirkrit Tiravanija. Set, Szenario, Situation“, Köln 2018.

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