Читать книгу Der Weihnachtsmann kam mit dem Hubschrauber - Thomas Oehler - Страница 10
Оглавление3. Begegnungen
Die Zufälligkeit der eigenen Existenz ist für mich in der Rückschau fast ein wenig erschreckend. Wie gering war doch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu den Begegnungen kam, die für meine Menschwerdung grundlegend waren. Jemand, dessen irdisches Dasein nicht durch Weltkrieg, Flucht und Vertreibung sowie der Herkunft aus völlig unterschiedlichen Milieus beeinflusst worden ist, kann das vermutlich nicht nachvollziehen.
Das Zusammentreffen meiner Eltern stand eigentlich unter keinem besonders guten Stern. Im Nachkriegsdeutschland beherrschten oft Ressentiments das Verhältnis zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Flüchtlingen. Letztere standen in dem Ruf, in ihrer verlorenen Heimat über die Maßen privilegiert und wohlhabend gewesen zu sein. Folglich war die Bereitschaft, das Wenige des Nachkriegsalltags mit ihnen zu teilen, nicht sehr ausgeprägt. So erklärt sich auch, dass der Zustrom von Millionen entwurzelter Ostpreußen, Schlesier, Sudetendeutscher, Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben keine Welle der Hilfsbereitschaft auslöste, sondern häufig nur Missgunst und Ausgrenzung förderte.
Diese bedrückende Erfahrung machte anfangs auch die Familie meiner Mutter. Nach einer langen Flucht fanden Großmutter, Mutter und zwei Töchter, als Angehörige der niederen „Flüchtlings-Kaste“, Unterschlupf in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen. „Habenichtse“ war eine der harmloseren Bezeichnungen, an die sich meine Mutter als damals Dreizehnjährige noch lange erinnern sollte. Die zugewiesenen Quartiere waren häufig von allem beweglichen Mobiliar geräumt und wurden erst nach und nach, im Zuge vertrauensbildender Maßnahmen, wieder komplettiert. Die Vervollständigung der Familie hingegen sollte bis zur Entlassung meines Großvaters Hans aus der Kriegsgefangenschaft noch einige Wochen in Anspruch nehmen.
Meine Heimatstadt Bruchsal wurde noch kurz vor Kriegsende durch schwere Bombenangriffe nahezu vollständig zerstört. Dabei verlor die Familie meines Vaters zwar Heim und Besitz, behielt aber wenigstens ihre Heimat und das soziale Umfeld. In der Nachkriegszeit konnte man sich daher auf den Aufbau einer neuen Existenz konzentrieren. Den Fundus für die Errichtung eines neuen Heims bildeten dabei die Trümmer des ausgebrannten großelterlichen Gasthofs „Zum Löwen“, die zunächst geborgen und dann neu zusammengesetzt werden mussten. Drei Jahre lang waren alle familiären Aktivitäten auf den Hausbau fokussiert. Dabei achtete das familiäre Matriarchat sorgsam darauf, dass mein Vater bei der Realisierung dieses ambitionierten Projektes nicht zu sehr abgelenkt wurde.
Die Lebenslinien meiner Eltern kreuzten sich erstmals in der Oberschule. Sie besuchten zwar unterschiedliche Klassen, trafen aber regelmäßig im Schulchor aufeinander. Von einer „Liebe auf den ersten Blick“ konnte im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein. Es war eine eher schleichende und behutsame Form der Annäherung. Meine Mutter äußerte später einmal sogar, dass sie die Schwärmereien ihrer damaligen Freundinnen für meinen Vater anfangs überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Nach einiger Zeit fand sie dann - zu meinem Glück - doch noch Gefallen an ihm. Die beteiligten Familienvorstände waren mit dieser Partnerwahl allerdings nicht besonders glücklich und versuchten daher, auf ihre jeweiligen Schützlinge erzieherisch einzuwirken. Als quasi Ultima Ratio wurden in diesem Zusammenhang sogar vermeintlich „attraktivere Alternativen“ ins Spiel gebracht. Meine Eltern ließen sich durch derlei taktische Manöver nicht beirren. Und so wurde aus dem Mädchen mit dem Grübchen und dem Jungen mit den ziemlich langen Beinen schließlich ein richtiges Paar.
Lange währte die partnerschaftliche Harmonie jedoch nicht. Nach Abschluss der zehnten Klasse beschloss mein Vater, die Schule zu verlassen, um einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Allen guten Ratschlägen zum Trotz und gegen den Widerstand meiner Mutter begann er eine Ausbildung zum Werkzeugmacher beim ortsansässigen Siemens-Werk. Er wollte endlich sein eigenes Geld verdienen und versprach sich dadurch ein wenig mehr Eigenständigkeit. Während seiner Lehre wurde der damals Siebzehnjährige zum ersten Mal auf den Militärdienst aufmerksam gemacht. Sein Berufsschullehrer, ein in den Schuldienst eingegliederter ehemaliger Wehrmachtsangehöriger, schwärmte vor den jungen Männern vom Soldatenberuf. Unmittelbar nach Kriegsende gab es wohl immer noch einige Unbelehrbare, die trotz des ganzen Leids und Elends, das der gerade überstandene Krieg verursacht hatte, ihr Faible für alles Militärische noch nicht aufgeben konnten. Zum damaligen Zeitpunkt war mein Vater für derlei Schwärmerei allerdings (noch) nicht empfänglich und beendete nach knapp drei Jahren erfolgreich seine Lehre.
Die Freude an seinem Beruf währte allerdings nicht lange. Schon als Lehrling hatte er einen Großteil seiner Ausbildungsvergütung zuhause abgeben müssen, und diese Praxis wurde auch in Bezug auf seinen Lohn beibehalten. So war der Traum von der Selbstständigkeit in der Realität schnell eingebremst. Dazu gesellte sich die Erkenntnis, dass ein Werkzeugmacher nur eine äußerst überschaubare berufliche Perspektive hat. Derart geläutert, verließ mein Vater den „goldenen Boden des Handwerks“ wieder und nahm an der Fachhochschule in Karlsruhe ein Maschinenbaustudium auf. Ein Schritt, der seiner Mutter Verdruss, meiner Mutter hingegen große Freude bereitete.
Nachdem mein Großvater Hans im Sommer 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, stand für ihn die ebenso aufwändige wie unvermeidliche Entnazifizierung im Vordergrund. Schließlich sollte es künftig wieder seine Aufgabe sein, für das Wohl seiner Familie zu sorgen, und ohne ein entsprechend positives Testat der Besatzungsmacht war die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit ausgeschlossen. Ein umfangreicher Schriftverkehr mit den amerikanischen Behörden in Heidelberg ist Beleg für einen äußerst zähen Prozess, der sich über einen Zeitraum von drei Monaten hinziehen sollte. Nachdem diese Hürde erfolgreich genommen war, stellte die begrenzte Aufnahmekapazität des Arbeitsmarktes im Nachkriegsdeutschland allerdings das nächste Hindernis bereit. So war es ein außerordentlicher Glücksfall, dass eine zufällige Begegnung in einer Gastwirtschaft die erste echte Perspektive bot.
Ein älterer Herr, dessen Herz meine quirlige, damals vierjährige Tante erobert hatte, offerierte die Möglichkeit zu einem Einstellungsgespräch bei der Deutschen Bank in Heidelberg. Mein Großvater vermochte zu überzeugen und bekam eine Anstellung als Schalterbeamter, die er fast dreißig Jahre lang bis zu seiner Pensionierung behielt. Ich sehe ihn noch heute vor mir: am Bankschalter hinter dickem Panzerglas, dunkler Anzug, schwarze Brille - ein Monument der Korrektheit.
Im Sog dieses beruflichen Neustarts zog die gesamte Familie in ein neues Mehrparteienhaus nach Heidelberg-Pfaffengrund. Eine Ironie des Schicksals war, dass meine Mutter zeitgleich mit meinem Vater die Oberschule verließ. Anders als er tat sie dies aber nicht freiwillig. Sie folgte vielmehr dem elterlichen Entschluss, eine kaufmännische Ausbildung bei der Heidelberger Schnellpressen AG zu beginnen. Dass sie, trotz ihrer guten schulischen Leistungen, kein Abitur machen durfte, hat meine Mutter ihren Eltern nie verziehen.
Als frisch gebackener Maschinenbauingenieur fand mein Vater zunächst eine Anstellung beim Gasinstitut des Karlsruher Technikums und wechselte nur ein Jahr später zur Eternit AG in Leimen bei Heidelberg. Von seinem Lohn musste er allerdings den Großteil zuhause abgeben. Meine Mutter hingegen, die nach Abschluss ihrer Ausbildung in der Lohnbuchhaltung der Schnellpresse zu arbeiten begonnen hatte, durfte bis auf einen kleinen Haushaltsbeitrag alles behalten. In dieser Zeit verfügte sie daher über ein größeres Einkommen als mein Vater. Bei der Anschaffung eines Motorrollers griff sie ihrem Verlobten daher mit einem „zinslosen“ Darlehen unter die Arme. Das war nicht ganz uneigennützig, denn dadurch erweiterte sich der Aktionsradius des jungen Paares über die Grenzen des öffentlichen Nahverkehrs hinaus. Möglich waren nun auch Ausflüge in den nahen Odenwald. Dessen Steigungen setzten dem Leistungsvermögen der zweitaktenden „Lambretta“ allerdings häufig Grenzen. Ich erinnere mich an die lebhafte Schilderung von Ausfahrten, bei denen steigungsbedingt zunächst meine Mutter absteigen und kurz darauf auch mein Vater neben dem Roller herlaufen musste.
Im Jahr 1956 schlossen meine Eltern in Heidelberg ihren Bund fürs Leben. Zum künftig gemeinsamen Wohnsitz wurde, zum Leidwesen meiner Mutter, das Haus der Schwiegermutter in Bruchsal auserkoren. Wohnraum war wohl zur damaligen Zeit äußerst knapp, und eine eigene Wohnung blieb aus diesem Grund ein unerfüllbarer Wunsch. So rückte man ein wenig zusammen und schuf auf diese Weise Platz für das junge Paar.
Den Entschluss zur damals noch jungen Bundeswehr zu gehen, fassten drei junge Männer, die sich noch aus der Schulzeit kannten, gemeinsam. Es sollte ein großes Abenteuer werden, das die Freunde aus der kleinbürgerlichen Enge Bruchsals hinaus in die Welt führen sollte. Die Luftwaffe mit ihren interessanten Jobs und den weltweit gestreuten Standorten war für sie der Schlüssel zur Freiheit. Mein Vater war spontan inspiriert von der Idee, sich als zukünftiger Pilot zu bewerben. Dieser Traum wurde allerdings ziemlich schnell durch den „Einplaner“ kassiert, der einen Ingenieur keinesfalls für ein Flugzeugcockpit verschwenden wollte. Technischer Offizier war nach einer entsprechenden Korrektur die berufliche Perspektive.
Am Tag der Abreise zur Grundausbildung erschienen am Bahnhof nur noch zwei der vormals drei „Abenteurer“. Den eigentlichen Initiator hatte der Mut verlassen. Er übernahm in der Folgezeit dann doch lieber das elterliche Radio- und Fernsehgeschäft. Für derartige menschliche Unzulänglichkeiten prägte mein Vater später den Spruch: „Dicke Backen machen und dann keinen Mut, zu blasen“. Die Übergebliebenen reisten in das niedersächsische Bückeburg, um sich dort die grundsätzlichen militärischen Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln zu lassen. Mein Vater hat mir gegenüber eingestanden, dass ihn damals die Einfältigkeit seiner Ausbilder zeitweise an der Richtigkeit seiner beruflichen Entscheidung zweifeln ließ. „Na, sie trübe Tasse“, war die knapp gefasste Begrüßung durch den gerade volljährigen Gruppenführer. Für einen siebenundzwanzigjährigen Ingenieur kein glücklicher Start in einen neuen Beruf.