Читать книгу 3 Tage im Juli - Thomas Pfanner - Страница 3

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Katastrophen und andere Belanglosigkeiten

So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich habe in den letzten Wochen reichlich Erfahrung mit schlimmen Dingen machen dürfen, von daher erlaubte ich mir gestern abend zur Abwechslung eine optimistische Einschätzung. Wie das eben so ist mit optimistischen Einschätzungen. Besonders, wenn sie von mir kommen. Ich bin in diesem verbiesterten Land vermutlich der einzige Kerl, dessen optimistische Einschätzungen sich am nächsten Tag immer und überall bewahrheitet haben. Und ganz sicher bin ich auf diesem verfluchten Planeten der einzige Kerl, der diese Gewissheit mit penetranter Ignoranz aus seinen Gedanken verbannt. Genauso gut könnte ich abends mit dem Vorhaben einschlafen, am nächsten Tag mit dem Auto zu fahren, wohl wissend, dass er bereits vor Wochen gestohlen wurde. Aber so bin ich eben: Hoch intelligent und völlig verblödet. Wobei die Einschätzung meiner Intelligenz nicht von mir kommt, sondern von einem Psychologen. Das erhöht den Grad der Gewissheit nicht übermäßig, lenkt aber von meinem eigentlichen Problem ab. Ich hätte es wissen müssen. Ich mache mir über alles und jedes Gedanken, ich plane jeden meiner Schritte und beleuchte jedes meiner Worte von verschiedenen Seiten, bevor ich es ausspreche. Mich hat dieser Aufwand wahnsinnig weit gebracht. So weit, dass ich vor ein paar Wochen ernsthaft über die Ausrüstungsgegenstände grübelte, die ich für ein Leben unter der Brücke benötigen würde. Auch diese Überlegungen erübrigten sich letzten Endes, wenn auch denkbar knapp. Dieses Leben hier kommt mir aber nicht wirklich besser vor. Unter der Brücke kann man immerhin ausschlafen. Aber wahrscheinlich irre ich auch in diesem Punkt.

Ich komme immer mehr vom Hölzchen aufs Stöckchen. Eigentlich wollte ich über meine unendliche Dämlichkeit nachdenken, diesen Augenblick nicht bedacht zu haben. Jeder Brüllaffe wäre schlauer gewesen. Ich bin kein Affe und ich brülle nie. Zwei Gründe, warum ein Brüllaffe schlauer ist als ich. Ich schlage mir die flache Hand vors Hirn, um mich geistig wieder einzufangen. Ich darf nicht so dämlich sein, über meine Dämlichkeit nachzudenken. Dieses eine Mal nicht. Ich verzettele mich in den unendlichen Hallen meines Denkapparates. Der Hauptgrund mag an der unendlichen Leere dieser Hallen liegen. Dieser Psychologe hat die Größe der Hallen vermessen und daraus auf meine Intelligenz geschlossen. Der Inhalt war ihm egal. Zu mühsam, nach ihm zu suchen. Ich finde die Tür, durch die ich meinen Gedanken entfliehen kann. Ich öffne die Augen.

Es ist hell. Sehr hell. Wieso zwitschern diese vielen Vögel so laut? Wer hat ihnen den Tipp gegeben, wo sie mich finden können? Ich schlage die Decke weg und stehe auf. Meine verquollenen Augen geben nach reichlich Bearbeitung mit den Handrücken erstaunlich viel Gebrösel her. Die Nase auch. Mein Magen knurrt wütend. Dieses Gefühl hat er mir seit den Tagen in der Bundeswehr nicht mehr gegeben: quälender Hunger, gepaart mit der erklärten Unlust, Nahrung aufzunehmen. Warum sollte ein Magen auch weniger widersprüchlich sein als sein Besitzer? Ich bin bedient. Das war ich schon vorher, nun aber bin ich mir absolut sicher, dass jede einzelne Minute des Tages schrecklich sein wird. Die letzten Wochen waren schrecklich, der heutige Tag wird sicher so eine Art krönender Abschluß sein. Aber soweit will selbst ich nicht in die Zukunft sehen. Sicherlich könnte ich das, ich bin ja Profi in Sachen sinnloser Planung. Ich lasse es einfach. Ohne Zukunft kann man auch keine planen. Selbst ich nicht.

Nachdem ich es über mich gebracht habe, das Zimmer zwecks Orientierung genauer zu betrachten, watschele ich krumm und lustlos zu dem schäbigen Waschbecken. Eine Drehung des einzigen Drehkranzes aus verblichenem Messing beschert mir außer einem gequälten Quitschen einen dünnen Strom eiskalten Wassers. Ich werfe mir mit hohlen Händen etwas davon ins Gesicht. Anschließend bringe ich es fertig, mich mit Hilfe eines abgewetzten Rasierers, etwas Schaum und besagtem kalten Wasser zu rasieren. Wie immer gelingt es mir nicht, wirklich sorgfältig zu sein. Die Stoppeln auf der rechten Gesichtshälfte grinsen mich beinahe unversehrt an. Dafür sind auf der linken Seite alle komplett verschwunden, mit ihnen leider auch Teile der Haut. Mit dem Handtuch wische und drücke ich eine Weile, bis kein neues Blut mehr aus den Kratzern quillt. Ich überlege halbherzig, ob ich neben dem Schnurrbart noch weitere Teile meines Gesichtes überwachsen lassen soll. Ich habe das schon einmal ausprobiert. Die Bartflechte hat mich fast aufgefressen. Also werde ich auch diesmal darauf verzichten. Wieder so eine sinnlose Überlegung. Diese allein wälze ich jede Woche drei Mal. Ich bin sehr beschäftigt, wenngleich immer ohne Ergebnis.

Ächzend streife ich mir die Kleidung über, ein wenig Unterwäsche, Jeans und Sweat-Shirt, Turnschuhe, fertig. Nun kann ich mich um meinen Magen kümmern. Ich schließe sorgfältig mein Zimmer ab und schlurfe langsam die Treppe hinauf. Die alten Eichenbohlen knirschen und jammern beinahe ebenso intensiv wie meine Knochen. Ich bin hundemüde. Das ist es, was ich hätte bedenken müssen. Ein Kerl wie ich, daran gewöhnt, morgens nicht vor 8.00 Uhr aufzustehen, ist einfach nicht in der Lage, wie ein junger Gott aus den Federn zu springen, wenn die Uhr erst 5.20 Uhr anzeigt. Das zwingt mich in die Knie und macht meinen Magen zum Feind. In der winzigen fensterlosen Küche suche ich umständlich nach dem Wasserkocher und dann mache ich mir so etwas wie ein Frühstück. Nach wenigen Minuten ist alles so weit vorbereitet, dass ich beginnen kann. Das Ritual kenne ich bereits. Bei der Bundeswehr lief das auch so ab. Eine große Scheibe Brot mit Nutella und ein großer Becher heißer Muckefuck. Ein Schluck dieses Kaffeersatzes bringt meinen Magen dazu, sich für einen Augenblick gnädig zu zeigen. Diesen Augenblick nutze ich, um ihm einen Bissen Brot zu schicken, den er auch tatsächlich bei sich behält. Zur Sicherheit lenke ich mich und ihn mit ein paar Betrachtungen ab. Um mich herum glänzt der modrige Charme der sechziger Jahre. Mit Kunststoff überzogene Holzmöbel um mich herum, wackelig und ein unbeachtetes Leben ohne Wartung hinter sich wie der Schemel, auf dem ich sitze. Den Tisch habe ich in dieser Art schon in alten Filmen gesehen. Solange man nicht wirklich davor sitzen muss, ist so ein Teil recht amüsant. Ich schaue mir den Wasserkocher genauer an. Der Stecker, ja, das muss Bakelit sein. Das Zeug, aus dem die alten Telefone gemacht wurden, die ganz alten Telefone, deren Schnur mit Stoff ummantelt war. Vielleicht sollte ich meine Betrachtungen einstellen, sonst komme ich unweigerlich an den Punkt, an dem ich mir über den Rost ernsthafte Gedanken mache. Und die Frage, ob der rötliche Rostfraß einen tödlichen Stromstoß verursachen wird, bevor mich die in den Muckefuck abgegebenen Splitter vergiftet haben, oder ob das ganze Ding einfach eines Tages auseinanderfallen wird. Ich verfüge über keinerlei Erfahrungswerte. Ich wohne erst seit vorgestern hier.

Brot und Muckefuck sind gleichzeitig zu Ende und als Andenken bleibt mir ein Gefühl, als hätte ich meinen Magen gerade mit einer halben Sau vollgestopft. Ich bin begeistert. Nun fühle ich mich noch mehr wie gerädert. Die Müdigkeit steigert sich, weil alles Blut zur Verdauung aus meinem Gehirn und meinen Beinen abgezogen wird. Und dabei muss ich mich beeilen. Die Bahn wartet nicht. Also schleppe ich mich zu einem kurzen Abstecher aufs Klo. Passenderweise befindet sich dieses direkt neben der Küche. Die Erbauer hatten wohl ein Herz für die armen Menschen, die sich mit bescheidenen Kochkünsten und untauglichem Gerät an verdorbenen Nahrungsmitteln versuchen. Diese Spezies lebt bevorzugt in abgewrackten Jugendstil-Villen wie dieser. Das Klo ist nachträglich eingebaut worden, dem Zustand der Holzverkleidung nach zu urteilen Ende der Sechziger. Beim Öffnen des Verschlages überwältigt mich die High-Tech dieses Ortes. Das Licht flammt automatisch auf, auch wenn es sich nur um eine nackte Glühbirne handelt. Zudem beginnt im gleichen Augenblick das auf dem Spülkasten festgetackerte Radio sachte zu dudeln. Das muss zusammen mit dem Holz der Wandverkleidung gekauft worden sein, die massiven Drehknöpfe finden sich seitdem an keinem Gerät innerhalb Europas mehr wieder. Ich verliere kostbare Zeit durch meine umständliche Art des Pinkelns im Sitzen. Es muss sein. Ich bin von Mönchen erzogen worden, da läuft manches anders ab als im richtigen Leben.

Nach getaner Verrichtung verlasse ich das Gebäude, treppab gewinne ich den nötigen Schwung für eine angemessene Marschgeschwindigkeit. Die verdammten Vögel zwitschern um die Wette. Ob die sich über mich lustig machen? Was sie sich wohl gegenseitig zurufen? Schaut mal, da läuft der Versager seiner letzten Chance nach? Sie haben Recht, wenn auch auf andere Weise. Heute ist der erste Juli. Der Tag wird heiß werden, keine Wolke läßt sich am Himmel blicken. Auch sonst wird sich heute niemand blicken lassen, auf den ich zählen könnte. Meine Laune sinkt weiter, so langsam wie der Klumpen in meinem Bauch, aber stetig und unaufhaltsam. In dem Maße, in dem ich nunmehr wirklich wach werde, gesellt sich ein weiterer Klumpen hinzu. Angst. Gut, ich habe oft Angst, sei es wegen realer Gefahren oder durch unsachgemäßes Nachdenken bedingte reine Hirngespinste verursacht. Ich bin ein Routinier in Sachen Angst. Leider hilft mir das jetzt kein bißchen. Ich habe schlicht und ergreifend Angst vor allem Neuen. Neue Menschen, neue Situationen, neue Fahrscheine. Heute nun wird es zum Äußersten kommen. Heute ist alles neu, wirklich alles. Noch dazu wird der heutige Tag extrem wichtig werden, eine Schlüsselstelle in meinem Leben einnehmen. Deshalb wird mein Klumpen zu ganz neuen Dimensionen anwachsen. Ich weiß es genau. Hilft mir aber überhaupt nicht, die Zukunft zu kennen, diese spezielle Zukunft. Weil ich weiß, dass mich die Angst packen wird wie ein Tiger ein Kätzchen, konzentriere ich mich auf die aufkommende Angst und versäume es, Schutzzäune dagegen zu errichten. Natürlich bemerke ich ganz nebenbei bei derart intensiver Nabelschau, wie ich es versäume, Schutzgitter zu errichten. Diese Erkenntnis lähmt mich zusätzlich, ich sage mir: »Guck an, nicht mal wehren kann ich mich«.

Wundervoll, nun befinde ich mich in einer perfekten Spirale des Schreckens. Natürlich bemerke ich es, wodurch ich mich veranlasst sehe, über die sofortige Umkehr nachzudenken. Bei leichten bis mittelschweren Fällen hätte ich das auch getan, aber die Vögel haben ganz recht: ich bin auf dem Weg zu meiner letzten Chance. Ich kann nicht umkehren, hinter mir befindet sich der Abgrund und er verfolgt mich. Das verstärkt die Angst zusätzlich. Ich betrachte mich selbst und halte mich nun selbst für einen Versager. Ich hätte leicht zum Arzt gehen können. Ein paar Pillen gegen die Angst verschreiben lassen. Leider, leider lese ich sehr viel und zu meinem unendlichen Bedauern vergesse ich nie etwas. Ergo weiß ich, dass diese Pillen abhängig machen. Die Angst beherrscht mein Leben, die Angst vor einer Sucht übertrifft alles andere jedoch bei weitem. Ich weiß, dass ich ein schwacher Mensch bin, für mich gäbe es aus einer Sucht kein zurück mehr. Deshalb rauche ich nicht, trinke keinen Alkohol und mache um Medikamente und Drogen weite Bögen. Ich bin ein Held. In Sachen Vorbeugung, und auch das nicht durchgängig.

Ich muss meine Gedanken kurz unterbrechen, der Abstieg in die U-Bahn erfordert unbedingte Aufmerksamkeit. Dann stehe ich auf diesem Bahnsteig, auf dem ich in meinem früheren Leben öfters ausgestiegen bin. So gegen 9.00 Uhr, zusammen mit den anderen Studenten. Jetzt, gegen 5.40 Uhr, ist der Bahnsteig fast leer, auf jeden Fall frei von Studenten jeder Art. Nur zwei weitere Jammergestalten bewegen sich unruhig über den genoppten Gummibelag. Eine übernächtigte Frau, die erkennbar den falschen Begleiter für die letzte Nacht erwischt hat, und nicht weit von ihr ein Mann, der erkennbar die falsche Menge Bier genossen hat. Und ich. Bevor ich mich übermäßig darüber freuen kann, unter den Blinden der Einäugige zu sein, erscheint die Bahn. Mit dumpfem Poltern kommt sie kurz zum Stillstand und nimmt tatsächlich mich mit. Der Klumpen wird größer. Die Erkenntnis, dass andere Zeitgenossen unter Umständen auch nicht besser dran sind als ich, hilft also nicht wirklich. Ich lasse es wie gehabt in großzügiger Willenlosigkeit zu, dass meine Gedanken wieder in das fruchtlose Verfolgungsrennen der Erkenntnis der Angst mit den Ursachen der Angst eintreten und beobachte dabei die Betonwände der Tunnelröhre. Kurz darauf schwingt sich die Bahn aus dem Untergrund empor und so beobachte ich eben den spärlichen Verkehr der Bundesstraße. Aus der U-Bahn ist eine Straßenbahn geworden, die auf dem Streifen zwischen den Fahrbahnen jedes Wettrennen gegen die Autos verliert. Noch ein Leidensgenosse. Ich versuche es mit Atemtechnik. Dumm nur, dass ich keine Ahnung von Atemtechnik habe. Nun ist mir auch noch schwindelig und ich debattiere mit mir selbst, ob der Schwindel von meinen Atemübungen herrührt, oder doch nur eine Nebenwirkung der sich ständig verstärkenden Angst ist.

Das bringt zwar nichts, verbraucht jedoch ein paar Minuten, in denen ich nicht auf die Angst an sich achte. Dann kommt die Station >Rheinallee< und der Klumpen wird zu Eis. Hier muss ich raus. Irgendwie schaffe ich es sogar, die Bahn zu verlassen. Nur noch neun Minuten bis zu meinem Ziel. Halb bewußtlos komme ich in Bewegung. Jetzt nicht darüber nachdenken, sonst verlangsame ich meine Schritte und dann komme ich zu spät. Nichts ist schlimmer für mich, als zu spät zu kommen. Außer vielleicht, süchtig zu werden. Ich bin noch nie zu spät gekommen. Wenn ich es nicht mehr schaffte, früher, bin ich ohne Umschweife auf der Schwelle umgekehrt. Lieber gar nicht kommen als zu spät. Ist vielleicht auch eine Art von Sucht. Oder eine Art von Wahnsinn. Oder ein Erkennungszeichen für Versager.

Mit Zynismus läßt sich der Klumpen auch nicht besiegen. Mißmutig stapfe ich durch die Fußgängerzone. Auf einem Friedhof herrscht mehr Leben als in dieser Einkaufszone. Alles tot und verlassen, sanft fächelt der Wind den Müll über die roten Ziegel, die der Städtebauer in seiner persönlichen Variante von Wahnsinn für das geeignete Material gehalten hat. Wäre es roter Lehm, die Szenerie würde zu einer verlassenen Western-Stadt passen. Was auch wiederum besser mit meiner Stimmung korrespondieren würde. Der Held auf dem Weg zum entscheidenden Duell, ohne Colt, ohne Geld, ohne Reiserücktrittsversicherung.

Glücklicherweise protzt die Fußgängerzone nicht gerade mit Größe, nach drei Minuten bin ich durch. Nun noch den Berg hoch, an einem echten Friedhof vorbei. Tatsächlich, hier klimpern drei alte Frauen geschäftig mit Gießkannen. Ich kann mir ein ohnmächtiges Lächeln nicht verkneifen. Es verfliegt sogleich wieder. Nun wird es ernst. Noch ernster als bisher. Der Klumpen vibriert nun im hastigen Takt meines Herzklopfens. Ein paar Häuser hinter dem Friedhof, ein weiteres Stück den Berg hinauf, dort steht es. Das Haus des Schicksals. Der Satz klingt mördermäßig bedeutungsschwanger in meinem Kopf nach, kitschig, aber treffend. Dabei habe ich überhaupt keine Ahnung, was mich erwartet. Ich weiß gerade so viel, dass es für ein nebulöses Bild der herannahenden Katastrophe reicht.

Nun jedoch wird aus der Sache ein lebendes Bild. Wie so oft kommt der Schrecken ganz beiläufig und unauffällig daher. Zum Beispiel als flacher, langgestreckter Bau, schon etwas angejahrt aber modern, schön angestrichen, kleine viereckige Fenster in regelmäßigen Abständen, gepflegte Rabatten, ein Eingang wie bei einem ganz normalen Mehrparteienmietshaus und ein nicht übermäßig großes Schild neben diesem Eingang. Es ist weiß und rot und von innen beleuchtet und mit schwarzer Schrift steht der Name des Gebäudes darauf: >Sankt Maria. Alten- und Pflegeheim<. Der Klumpen will mich niederstrecken. Wieder versuche ich ein paar kontrollierte Atemzüge. Vergebens. Ich schaue auf die Uhr, obwohl ich die Anzeige bereits kenne. Unter Druck kann ich die Uhrzeit aus dem Gefühl heraus auf zwei Minuten genau bestimmen. Noch so eine geniale Fähigkeit von mir, genial und völlig unnütz. Wie erwartet ist es soweit. Ich muss da rein. Damit fangen die Probleme erst richtig an.

Normalerweise mache ich ein wenig Aufklärung, bevor ich mich in Unbekanntes stürze, zum Beispiel so etwas wie eine neue Stelle. Ich hasse es, ins Unbekannte zu laufen. Um einen Zipfel von Sicherheit zu erhaschen, gehe ich für gewöhnlich ein paar Tage vorher hin, sehe mir alles an und bin auf diese Weise im Bilde, wohin und auf welchem Wege ich mich zu wenden habe. Vordergründig bilde ich mir ein, Fluchtwege auszukundschaften. Ich leide schon an einigen Paranoia, bei dieser handelt es sich um eine sarkastische Paranoia. Normale Menschen würden messerscharf analysieren, dass ich mir was vormache. Ich hasse es aber, wenn ich mir was vormache. Ich wälze nicht umsonst Tonnen von Gedanken, um alles und jedes zu bedenken. Da paßt Selbstbetrug nicht ins Bild. Vermutlich mache ich mir gerade vor, mir nichts vorzumachen. Mein Problem löse ich dadurch nicht. Zu meinem Unglück konnte ich mir dieses Haus und seine Fluchtwege, um bei meiner Paranoia zu bleiben, diesmal nicht ansehen. Ich habe mich schriftlich beworben, was ich bereits unmittelbar nach Einwurf in den Briefkasten bereute, und gestern erst kam die Zusage, ebenfalls schriftlich. Keine Zeit für Aufklärung, da die Post erst um 15.00 Uhr kommt, und ich den Brief auch erst am abend öffnete. Ich ging davon aus, eine Absage in Händen zu halten, da der Briefumschlag in DIN A4 vermuten ließ, meine Bewerbungsunterlagen zu enthalten. Als ich ihn dann doch beiläufig öffnete, fielen mir verschiedene Fragebögen entgegen. Und die Aufforderung, heute zum Frühdienst zu kommen. 6.00 Uhr. Im Vorausahnen von Briefinhalten bin ich nicht so toll. Das tröstet mich überhaupt nicht, fällt doch diese Art des daneben liegen unter die Rubrik >Versager<. Ich verfüge nicht nur über eine beeindruckende Anzahl unnützer Talente, mir fehlen auch solche, die ich dringend brauchen könnte. Heute. Jetzt. Zum Beispiel ein wenig Mut. Selbst wenn es den zu kaufen gäbe, ich habe gar kein Geld. Und keine Zeit. Mut ziert auch den Mamelucken, sagte mein Geschichtslehrer früher. Der war auch feige. Mehr oder weniger entschlossen schiebe ich meine Gedanken beiseite und öffne die Tür. Schon stehe ich im Treppenhaus und bin damit auch nicht weiter als zuvor. Ich sehe mich um und versuche dabei, einen klaren Kopf zu bekommen. Angst schränkt das Gesichtsfeld ein. Erst jetzt sehe ich die Pförtnerloge zu meiner Rechten. Zum Glück leer, sonst gäbe es jetzt bereits einen Beschäftigten in diesem Laden, der von meinem kopflosen Geglotze berichten könnte. Also weiter suchen.

Vor mir eine weitere Tür, links daneben ein Treppenhaus, genau in der Größe, die man für gewöhnlich in mittleren Mietshäusern antrifft. Ganz links noch eine Tür. Warum sind hier alle Türen aus Milchglas? Egal, ich höre etwas. Durch die linke Milchglastüre dringt Gelächter. Hartes, meckerndes, lautes Gelächter. Hat mich doch einer gesehen? Alle Vermutungen nützen nichts, ich muss jetzt durch diese Türe gehen, wenn ich in den nächsten Minuten einen lebenden Menschen treffen will. Ich will zwar nicht, öffne aber dennoch die Türe. Erstaunt bemerke ich den starken Widerstand. Die Tür läßt sich nur mit viel Kraft dazu bewegen, mich hindurch zu lassen.

Dahinter finde ich mich in einem langen Flur wieder. Auf so einen Flur freut sich keiner. Lang und nicht sehr breit, der Boden mit einem dunklen speckigen Linoleum ausgelegt, die Wände mit rotem Backstein erbaut. Wie im Keller meiner Eltern, schießt es mir durch den Kopf. An der Decke erkenne ich in regelmäßigen Abständen viereckige Plastikverkleidungen, hinter denen jeweils vier kurze Neonröhren ein unfreundliches kaltes Licht verbreiten. Ich kenne diese Art der Beleuchtung. Sitze ich im Behandlungsstuhl meines Zahnarztes, fixiere ich zu meiner Ablenkung eine baugleiche Leuchte. Ich bin oft dort, diese Art Lampe verfolgt mich in meinen Träumen. Sehe ich eine solche Lampe, spüre ich einen Hauch von Erinnerung an den langsamen Bohrer. Der, mit dem unter infernalischem Vibrieren die Bohrlöcher in den Zähnen abgerundet werden. Großartig. Ich hatte also mal wieder Recht. Es geht schon los mit der Katastrophe. Irgendwie lenkt mich diese Überlegung von meinem Klumpen ab, der meinen Brustkorb ausfüllt, wodurch ich in die Lage versetzt werde, mich zu bewegen. In der Drehung gewahre ich noch das einzige Fenster, klein und wenig erhellend an der Stirnseite des Flures gelegen. Dann stehe ich vor der nächst gelegenen Tür neben dem Zugang aus Milchglas. Hinter dieser Tür wurde bis vorhin noch gelacht. Auch jetzt dringen Stimmen aus dem Raum, wenn auch wesentlich gedämpfter. In einem seltenen Moment ohne Überlegungen und Abwägungen öffne ich die Tür und stehe im Nebel. Hier wird geraucht, was die Lunge hergibt, der Raum ist mit dicken Qualmwolken verhangen. Ein Zimmerbrand könnte keine stärkere Verqualmung bewirken. Immerhin erkenne ich die wesentlichen Details. Ein quadratischer Raum von beeindruckender Tristesse, weiße Wände ohne Bilder oder andere Auflockerungen, der gleiche Boden wie im Flur und neben mir an der Tür ein schlichtes Waschbecken. Mitten drin in diesem Nichts ein langer Tisch mit einer Anzahl billiger Holzstühle, die aussehen, als stammen sie aus der Entrümpelung einer Behörde, die endlich das Mobiliar aus der Vorkriegszeit loswerden wollte. Das entscheidende spielt sich allerdings auf den Stühlen ab. Frauen! In halb durchsichtigen Kitteln.

Die nächste Minute vergeht ungeheuer langsam. Die Anwesenden mustern mich und ich sehe mir die Leute auf den Stühlen an. Naturgemäß fällt mein erster Blick auf die Blondine. Sie ist klein und sehr propper, was wegen ihres geringfügig zu knappen weißen Kittels ziemlich auffällt. Die fast weißen Haare kontrastieren stark mit der von zahlreichen Besuchen auf der Sonnenbank dunkel gebräunten Haut. Sie ist sicher nicht älter als ich, und sie schaut mich mit einer Mischung aus Frechheit und Neugierde an. Die zweite Frau wird wohl etwas älter sein, auf alle Fälle ist sie dünner und größer. Auch ihre Nase ist dünn und groß, die Augen wirken dagegen etwas zu klein und zu nahe beieinander stehend. Sie hat die Zigarette im Mundwinkel und schält mit bloßen Händen eine Apfelsine, während sie zu mir herüber sieht. Die dritte Frau betrachtet mich zwar, verleiht ihrem Blick jedoch erkennbar einen Ausdruck völligen Desinteresses. Sie verfügt über lange, schwarze Haare, und in ihrem etwas hageren Gesicht verläuft eine fahl schimmernde Narbe von der Nasenwurzel zum Jochbein. Die braunen Augen werden von starken kosmetischen Bemühungen umrandet und schauen unangenehm kühl. Ich fühle mich immer ganz klein, wenn eine Frau mich mit diesem >was-willst-du-Wurm-Blick< ansieht. Also weiche ich aus und auf der Suche nach Sicherheit fällt mein Blick auf einen Mann. Den habe ich doch tatsächlich übersehen. In diesem Raum ist er aber auch der mit Abstand häßlichste. Um die fünfzig, mit einiger Sicheheit darüber, mit einem Gesicht, in das sich etliche Schicksalsschläge eingegraben haben. Werde ich in zwanzig oder dreißig Jahren auch so aussehen? Wahrscheinlich nicht, gegen alle Erwartung sind die Mundwinkel nicht nach unten gebogen. Der ganze schlaksige Kerl wirkt entspannt und ausgeglichen und seine Augen strahlen eine wenn auch distanzierte Wärme aus.

Die Minute ist vorbei und der Mann öffnet den Mund: »Du bist der neue Praktikant, nicht wahr?«

Da mir niemand etwas anderes geglaubt hätte, nicke ich matt: »Ja. Oliver Römer. Ich soll mich hier melden.«

Nun nickt der Mann und erhebt sich in übertriebener Anstrengung. Derweil widmet sich die schwarzhaarige wieder irgendwelchen Eintragungen, die sie in eine auf ihrem Schoß liegende Mappe macht, und das blonde proppere Mädchen gewährt mir einen Blick auf ihre Zähne, weil sie offenherzig zu mir sagt: »Hallo, Olli. Ich bin die Angie. Wir kommen sicher gut miteinander aus.«

Da wäre ich mir nicht so sicher, trotzdem lächele ich unsicher zurück und traue mich nicht, ihr die Hand zu geben. Der Mann rückt seinen Stuhl geräuschvoll an den Tisch und grinst diese Angie an. Dann winkt er mir und beginnt, in Richtung Tür zu gehen. Da er am weitesten vom Ausgang entfernt saß, passiert er dabei die Frauen und zeigt im vorbeigehen auf die zwei, die sich noch nicht vorgestellt haben.

»Das ist Monika, und das ist Verena.«

Monika, die große mit den stählernen Fingern, winkt freundlich mit der zerfleischten Apfelsine, Verena würdigt mich keines Blickes mehr. An der Tür sagt der Mann: »Und ich bin der Vettel.«

Leicht bekümmert blickt er in mein Gesicht, das meine ganze Ahnungslosigkeit ausdrückt. Er winkt mich weiter und auf dem Flur erhalte ich eine genauere Erklärung: »Ich bin der V-I-E-R-T-E-L. Erhard Viertel. Die Alten nennen mich Vettel. Kannst mich Erhard nennen.«

Aha. Vettel ist nur die verwaschene Schnellsprech-Variante von Viertel. Für Zahnlose und solche, die es werden wollen. Das beruhigt mich. Überhaupt stelle ich gerade fest, dass mein Klumpen kleiner wird. Das Schwierigste scheint vorbei zu sein, ganz ohne Vorwarnung und ohne Schmerzen. Mit Katastrophen kann ich umgehen, irgendwie. Fremde Menschen jedoch sind mir ein Gräuel. Bin ich mit den Menschen erst mal vertraut, ist alles andere nicht mehr schlimm. Dieser Erhard scheint ein verträglicher Kerl zu sein, etwas väterlich und vor allem ausgeglichen. Genau der Richtige, um ein kleines bißchen Vertrauen zu fassen.

Er führt mich hinaus in den Eingangsbereich und dort die Treppe hinunter. Während ich ihm wie ein Lamm folge, kommte mir mein Problem in den Sinn. Eines davon zumindest. Jedenfalls eines, was mich in die nächste Schwierigkeit führen kann. Ich habe echte Schwierigkeiten, mit Menschen umzugehen. Und nun bin ich im Begriff, einen Job zu machen, bei dem ich ausschließlich mit Menschen zu haben werde. Fremden Menschen. Warum bedenke ich jedes Kinkerlitzen, aber nie die wirklich wichtigen Dinge? Ich habe mir heute Nacht ausgiebig Gedanken über meine Angst im Umgang mit Menschen gemacht. Keine Sekunde habe ich daran gedacht, warum zum Teufel ich mich überhaupt in diese Situation begeben muss. Nun ist es zu spät. Ich kann nämlich auch nicht >nein< sagen. Jetzt zu diesem Erhard sagen: »Ach, ich habe es mir überlegt. Dieser Kram ist nix für mich. Ich gehe dann mal.« Unmöglich. Geht nicht. Das ist wie zu spät kommen. Der Klumpen wird wieder größer.

Wir gelangen in einen neuen Flur. Der gleicht dem oberen Flur aufs Haar, er ist nur dunkler, weil das Licht aus der Eingangstür fehlt. Exakt unter dem Aufenthaltsraum mit den Frauen führt mich Erhard in einen fensterlosen Verschlag, angefüllt mit Spinden. Er öffnet einen davon.

»Hier kannst du dein Zeug rein tun. Ich warte draußen.«

In dem Verschlag riecht es nach kaltem Schweiß. Und jede Menge Parfüm in einer wilden Mischung der unterschiedlichsten Sorten. Der mir zugewiesene Spind erfreut mich mit zentimeterdickem Staub. Der letzte Praktikant muss vor mindestens einem Jahr seinen Platz geräumt haben. Vermutlich ging es deshalb so schnell mit der Zusage. Was ist das für ein Job, auf den sich nur alle Jubeljahre mal ein einsamer Versager bewirbt? Hastig hole ich meine Ausrüstung aus dem kleinen Beutel, den ich am Handgelenk trage. Eine Art Sweatshirt mit Taschen, vom Verkäufer >Kasack< genannt, sowie ein Paar Sandalen mit ausgeformten Fußbett und einem Profil, als gelte es, die Alpen zu ersteigen. Das dieses Schuhwerk für diese Stelle als Ausrüstung gefordert wird, läßt auf hohe Laufleistungen schließen. Na ja, laufen kann ich wenigstens, daran soll es nicht liegen. Rasch trete ich in meiner neuen Pracht wieder vor die Tür. Erhard mustert mich kurz. Eine Art nachsichtiges Mitleid scheint aus seinen Augen zu sprechen. Der Augenblick geht vorbei, er drückt mir etwas kaltes, metallisches in die Hand.

»So, ich werde dich jetzt einarbeiten. Du gehst einfach mal mit und siehst dir an, wie ich das mache. Ist nicht so schwer, wirst schon sehen.«

Da bin ich entschieden anderer Meinung. Da ihn meine Meinung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wirklich interessieren wird, halte ich den Mund und folge ihm. Dabei betrachte ich das Ding in meiner Hand. Eine Schüssel aus Stahl, genau in der Form einer Salatschüssel. Da Salatschüsseln in der Regel auf Frauenpartys gekauft werden und aus Plastik gefertigt sind, wird es wohl mit dieser Schüssel etwas anderes auf sich haben. An dieser hier ist auch ein sehr belastbarer Griff angeschweißt, viel zu massiv für Salat. Erhard geht in einen anderen Raum. Eine Wäschekammer oder so etwas, voller Regale mit Wäsche aller Art, der restliche Raum mit merkwürdigen Gestellen auf Rollen vollgepfropft, in denen Säcke hängen, mal aus Stoff in verschiedenen Farben, mal aus blauem Plastik. Erhard gibt den Kommentar dazu ab, ruhig, fast gleichgültig spricht er, als ob er beim Hörfunk die Kulturnachrichten bekannt geben müßte: »So, hier holen wir uns Handtücher und Waschlappen. Damit gehen wir dann aufs Zimmer. Wenn wir fertig sind, werfen wir die gebrauchten Sachen in die Säcke. Jedes Teil in einen anderen Sack. Ist wegen der Hygiene. Braun für Unterwäsche, blau für Bettwäsche, Grün für Oberbekleidung. Müll und Windeln in den blauen Plastiksack.«

Er sagt das so, als ob er das alles nicht richtig ernst nimmt. Sein Gesicht lächelt dabei aber nicht, vielleicht habe ich mich ja auch verhört. Im allgemeinen verstehe ich nichts von Frauen, von Männern verstehe ich aber auch öfters nichts. Von diesem Laden hier verstehe ich bislang ebenso wenig wie von Frauen. Am meisten wundert mich, dass ich hier geduzt werde. Niemand duzt mich, außer drei oder vier Leuten. Meine Freunde duzen mich, reden mich aber mit dem Nachnamen an. Ich kann nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen sich wildfremde Menschen mit >Du< ansprechen. Mir ist das so fremd wie der Gruß der Vulkanier. Es erzeugt in mir kein Gefühl der Nähe, falls man das zu diesem Zweck hier handhaben sollte. Eher ein gewissen Mißtrauen. So ähnlich wie bei dem Bettler, der mit der Vertraulichkeit in dem Satz >hast Du mal ne Mark< etwas erreichen will, was der Angesprochene eigentlich vermeiden wollte.

Ich erwache aus dem Nebel meiner wie üblich nutzlosen Überlegungen. Erhard ist in die hinterste Ecke des langen Flures marschiert, dort wo das Tageslicht vermutlich nie hinkommt. Er öffnet die letzte Tür auf der dem Treppenhaus entgegen gesetzten Seite und verschwindet darin. Mir bleibt ein kurzer Blick auf ein Landratsamt-Schild neben der Tür. Das kleine viereckige Schild birgt zwei dünne Rinnen, in die man Papierstreifen einziehen kann. Auf diesen Streifen stehen Namen.

Frau Leute

Frau Mager

Dann bin ich durch die Tür und sehe etwas, was ich nie zuvor gesehen habe. Das, wovor ich Angst gehabt habe. Mein neues Arbeitsfeld. Auf den ersten Blick wirkt alles ganz friedlich. Bis ich dann einatme. Unbeschreiblich. So muss es riechen, kurz bevor die Insassen eines Atombunkers zum ersten Mal nach langen Jahren lüften. Wobei diese Insassen hier vor mir noch ein Problem mit der Dichtigkeit zu haben scheinen. Es riecht nach Schweiß, nach Urin und nach Schlimmerem. Vor allem aber riecht es ... alt. Dieser Geruch löst ein Deja Vu bei mir aus. So hat meine Urgroßmutter gerochen. Unmittelbar vor ihrem Tod verlief ich mich als fünf Jahre alter Unruhestifter in ihr Zimmer. Da roch es so undefinierbar gräßlich. Seit damals habe ich diesen Geruch mit dem Nahen des Todes gleichgesetzt. Einen kurzen Augenblick lang überfällt mich die Vorstellung, auch hier würde der eine oder andere Tote liegen, vielleicht noch nicht ganz tot, aber auf dem besten Wege. Ein Blick auf Erhard beruhigt mich sogleich. Der Pfleger spaziert gelassen zum Fenster, zieht die Vorhänge beiseite und öffnet einen Flügel ein Stück weit. Das hierdurch verstärkt einfallende Tageslicht ermöglicht mir einen klaren Blick auf das Innenleben dieses Zimmers. Ein relativ schmaler und langer Raum, ziemlich vollgestellt und dadurch kleiner wirkend, als er sein mag. Die Wände ebenso leer wie ihre Pendants im Flur, das gleiche Linoleum auf dem Boden, wenngleich deutlich schmuddeliger. Dunkles grün wirkt nicht so leicht verdreckt, so das mich der fleckige Anblick doch erstaunt. Zum Glück vermag ich nicht übermäßig viel von dem Boden zu erkennen. Im Raum stehen nämlich zwei Betten und zwischen den Betten noch zwei kleine Tische. Die Betten sind mit etwas Abstand nebeneinander quer im Raum aufgestellt. Auf der anderen Seite steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, eine Anrichte und darauf ein uralter Fernseher. Fasziniert bestaune ich kurz das Gerät, das statt der heute üblichen Sensortasten noch über solide Rasten verfügt. Zwischen Betten und Tisch bleibt kaum Platz, um hindurch zu gehen. Erhard hat es immerhin geschafft.

Ich schaue mich weiter um und dann erkenne ich, was hier fehlt: es existiert keine Toilette. Nur ein Waschbecken hängt an der Wand neben der Tür, in der gleichen zweifelhaften Qualität wie dasjenige im Aufenthaltsraum. Den letzten Rest an Platz verbraucht der Einbauschrank, der den Raum zwischen Waschbecken und dem Ende der Wand einnimmt. Er ist für sich betrachtet schon reichlich häßlich, der anhaftende Charme der Siebziger inklusive intensiver Gebrauchsspuren verstärkt den Eindruck, stilistisch in keiner Weise zum Rest den Interieurs zu passen. Auf der anderen Seite dann noch das Fenster in Standardgröße: das ist alles. Soweit besteht kaum ein Unterschied zu einem Krankenhaus, wenn auch zu einem sehr alten Krankenhaus. Ich wundere mich etwas, von draußen erschien der Bau doch wesentlich frischer und jünger. Ich werde aus meinen Betrachtungen gerissen, Erhard gibt mir die Anweisung, die Schüssel in meiner Hand mit Wasser zu füllen. Ich tue mein Bestes. Das Waschbecken nicht. Aus dem Hahn quillt kaltes Wasser, eiskaltes Wasser, ohne jede Aussicht auf Änderung. In meinem Rücken rumort Erhard mit undefinierbaren Sachen herum, dann sehe ich ihn an mir vorbei den Raum verlassen. Er hat irgendetwas in der Hand, was ich nicht deuten kann. Kurz darauf ist er zurück und erkundigt sich nach der Waschschüssel. Der Kran gibt immer noch nur kaltes Wasser her. Erhard bedeutet mir, meine Versuche einzustellen und nimmt mir die halb volle Schüssel mit klarem kalten Wasser ab. In seinem leicht dahin gesagten Tonfall brummt er: »Hier gibt es kein warmes Wasser. Nicht vor 9.00 Uhr. Macht auch nichts. Was für Bier gut ist, ist auch für Menschen gut.«

Er griemelt vor sich hin, als ob er einen guten Witz gerissen hätte und stellt die Schüssel auf das Beistelltischchen neben dem ersten Bett. Ein wenig klamm im Kopf trete ich an der anderen Seite dazu. Jetzt also geht es um die eigentlich wichtige Sache in diesem Raum. Die alten Leute. Alle Betrachtungen dienten ja nur der Ablenkung, wie immer. Vorbei. Nun betrachte ich die Frau in diesem Bett. Unter der Decke schaut nur das Gesicht hervor, ein altes, uraltes Gesicht. Weiße Haare waren zu erwarten gewesen, aber das so viele Falten in ein Gesicht passen, hätte ich nicht vermutet. Dazu verstärkt noch die Haut, die wie Pergament gefärbt ist und auch ein wenig durchscheinend wirkt, den Eindruck, dass womöglich nicht mehr allzu viel Leben in dieser Frau verweilt. Erhard stört das nicht. Er tätschelt sie sachte auf die Wange, die Hand ist um einiges größer als der Kopf.

»Magerli, wach auch, der Viertel ist da.«

Die Frau stöhnt laut auf, öffnet die Augen und sieht sich verwirrt um. Ihr Gesicht will einen weinerlichen Ausdruck annehmen, doch der Pfleger verhindert es, indem er seine riesige Hand an ihre Wange legt, sich zu ihr herunterbeugt und sanft, aber doch drängend weiterspricht: »Komm, Magerli, nicht schlimm, gar nicht schlimm, ein bißchen waschen, frisch machen, dann fühlst dich wohl und kannst in Ruhe dein Frühstück essen.«

Die alte Frau nickt fast dankbar, schluchzt kurz auf und ihr Gesichtsausdruck nimmt eine Art Nullstellung an, sie entspannt ihre Züge, schließt die Augen und keine Regung läßt sich mehr erkennen. Fast sieht es aus, als stürbe sie nun wirklich, oder sie will damit zeigen, dass sie nun bereit ist, für was auch immer. Oder ist es nur wie beim Zahnarzt, Augen zu und durch? Der Pfleger nimmt die Hand vom Gesicht weg zur Decke, schlägt sie gar nicht mehr sanft mit einem Ruck auf und beginnt ohne Halt, der Frau das Nachthemd auszuziehen. Dies gelingt ihm erstaunlich unproblematisch, denn es handelt sich um kein richtiges Nachthemd, es wirkt mehr wie ein Laken mit Ärmeln, welches am Hals verknotet werden kann, jedenfalls liegt es nur auf der Frau und nicht unter ihr und kann einfach so weggenommen werden. Auch das habe ich noch nie gesehen.

Ich beobachte die Szene, die sich mir bietet, fast glaube ich zu träumen, so unwirklich erscheint mir alles. Die Frau in dem anderen Bett schläft, die hier tut so, als schliefe sie, während sie von einem großen Mann nackt ausgezogen wird. So erlange auch ich freie Sicht auf ihren ausgemergelten Körper, dessen Haut die gleiche Pergament-ähnliche Tönung aufweist, sehe einen Waschlappen über sie hinweg wischen, regellos und wirkungslos. Die Frau ist am ganzen Körper faltig, wie bei einer Magersüchtigen, die sich in kurzer Zeit vom Kugelblitz zur Bohnenstange hungert. Die Haut reicht aus, um das doppelte Volumen zu ummanteln. Erhard wischt stoisch über den Körper, aber keine der zahllosen Falten glättet sich bei der Prozedur und den Lappen verläßt dabei kein Tropfen Wasser. Den Pfleger interessiert dies offensichtlich nicht, er sieht gar nicht richtig hin. In diesem Zimmer scheint jeder für sich zu existieren, keiner nimmt den anderen richtig wahr. Und doch, mich fasziniert das Geschehen, es hat etwas völlig fremdartiges an sich, etwas unwirkliches, ich tauche hier in eine Welt, von der ich nicht gewußt habe, dass sie überhaupt existiert. Vielleicht hilft es, dass ich begeistert Fantasy-Romane lese. Und dieser Welt scheint es umgekehrt völlig egal zu sein, dass es mich gibt. Der Pfleger beachtet mich nicht, sieht sich nicht nach mir um, spricht nicht mit mir, er spricht auch nicht wirklich mit der alten Frau, im Grunde führt er Selbstgespräche, abwesend gemurmelte Standard-Sätze. Ausschließlich wiederholt er in verschiedenen Varianten, dass das alles ja nicht so schlimm sei. Ich selbst finde indes sehr wohl, dass sein Handeln und die Begleitumstände ziemlich schlimm sind. Ich kann nicht genau definieren, warum ich das alles schlimm finde, schließlich sehe ich zum ersten Mal ein Altenheim von innen, mein Gefühl legt mir von innen einen Pelz an. So pelzig wie kurz vor einem unvermeidlichen Erbrechen, bei dem man auch nicht weiß, wieso das jetzt sein muss. Die andere Frau, Frau Leute wohl, teilt offenbar diese Meinung, denn gerade in dem Moment, in dem sie erwacht, beginnt sie auch schon mit entsprechenden Äußerungen. Als sie anfängt, leise und schnell lauter werdend eine Art wehklagenden Dauerton zu produzieren, beschleunigt der Pfleger seine Bemühungen bei Frau Mager, die Prozedur mit grimmigem Gesicht verkürzend. Er wischt rasch noch ein wenig über die Beine, dreht die Frau mit Schwung auf die Seite, wobei sie an das mir zugewandte Bettgitter gedrückt wird, ihr Gesicht verbiegt sich etwas an dem Gitter. Eigentlich müßte sie mich jetzt ansehen, ihr Gesicht befindet sich genau vor meinem Bauch. Ihre Augen sind beharrlich geschlossen, sie will offenbar nicht anwesend sein. Erhard wechselt derweil die Windel. Einigermaßen fasziniert sehe ich mir dieses Schauspiel an, so große Windeln an so erwachsenen Menschen. Dieses Verfahren ist mir gänzlich neu. Was erwarte ich auch, in einer neuen Welt ist eben alles neu, nicht nur die Optik. Demnächst werde ich das also auch machen, Omas auf die Seite schmeißen und ihnen eine Pampers der zwei-Kilo-Klasse verpassen. Erhard jedenfalls beherrscht die Handgriffe, die einzelnen Handgriffe erfolgen so schnell aufeinander, dass sie nicht genau zu verfolgen sind. Auch die Trägerin dieser Windel bemerkt nicht viel, hoffentlich. Als sie erschreckt >ah< ausruft, etwas verzerrt, der Mund wird durch eine eiserne Stange dieses Gitters behindert, bleibt lediglich übrig, die neue Windel zu schließen. Erhard wirft die benutzte Windel achtlos und nicht verschlossen auf den Boden vor dem Bett, so dass seinen Praktikanten beinahe augenblicklich die daraus entweichende Wolke intensiven Geruchs erreicht. Bemerkenswert, auch ein monströser Gestank läßt sich beliebig verstärken.

Unmittelbar darauf liegt die Frau wieder auf dem Rücken, trägt wieder das Fähnchen, welches nicht auf den Rücken reicht und liegt wieder gut verstaut unter der Decke.

Der Pfleger verliert keine Zeit, dreht sich um die eigene Achse und steht so auch schon vor Frau Leute. Hier wiederholt sich alles auf wundersame Weise bis ins kleinste Detail. Auf die “ist schon gut”-Ansprache hin stellt die alte Frau tatsächlich das Gejammer ein und erträgt in gleicher Weise wie ihre Zimmer-Genossin die Tätigkeiten des waschens und windelns. Ein kleiner Unterschied läßt sich aber doch feststellen. Frau Leute trägt zwar auch eine Windel, jedoch hängt an ihrem Bett ein Beutel, gefüllt mit gelber Flüssigkeit, der von einem dünnen Schlauch beschickt wird, der vom Beutel bis zu ihrem Gesäß verläuft, unter dem er schließlich verschwindet. Da könnte ich was draus machen, ich bilde mir ja ein, von Technik mehr zu verstehen als von Gefühlen, obwohl mich bei dem einen wie bei dem anderen schwere Probleme plagen, aber egal. Hier kann ich zeigen, dass ich da bin. Auf eine Art, die es mir ermöglicht, mir die tatsächliche Konsequenz noch offen zu halten. Ich denke zuviel, daher räuspere ich mich, schließlich muss ich dem Pfleger deutlich machen, dass da ein lernwilliger Bursche steht, der Beachtung verdient. Ich mache also nichts anderes, als Erhard vorzuspielen, kein Versager zu sein. Was scheitern muss, da er wissen wird, dass es für einen jungen Mann mit Abitur keinen vernünftigen Grund gibt, hier für Gottes Lohn herumzustehen.

»Ahm, was ist das da?«

»Katheter, Blasenkatheter. Sie kann nicht mehr selbst pinkeln, gell, alte Leute«, brummt Erhard, wieder die Wange der alten Frau anfassend. Das muss so eine Art Standard-Geste sein. Dann nimmt der den Beutel, trennt ihn und ein Stück Schlauch ab, geht zum Waschbecken und entleert den Beutel dort. Als der Urin zu seiner Zufriedenheit plätschert, wendet er sich wieder mir zu. Offensichtlich fällt selbst ihm, dem abgefeimten Routinier, auf, dass er für sein Handeln eine Erklärung abgeben muss: »Die Pflegeversicherung zahlt nicht genug, weißt du. Die Ärzte verschreiben auch nicht genug, deshalb müssen wir die Beutel öfter verwenden. Ist auch nicht weiter schlimm, hat noch keiner eine Infektion bekommen.«

Das sagt mir gar nichts, doch zerstreut seine Argumentation meine Bedenken nicht gerade. Kraft der Bemühungen der elterlichen Erziehung pinkelt man seit einigen Jahrzehnten nicht mehr ins Waschbecken. Warum sollte man eine Ausnahme machen, nur weil der Eigentümer die Suppe nicht mehr persönlich übergibt? Stellt sich nur noch die Frage nach dem wahren Grund. Erhard spült derweil ungerührt den leeren Beutel noch einmal kurz und unvollständig mit Leitungswasser durch und stöpselt ihn wieder an den Schlauch. Frau Leute scheint dies nicht so sehr viel auszumachen, sie verzieht dankbar das Gesicht, als sich die Decke wieder bis zum Kinn auf sie legt. Der Pfleger räumt die kaum feucht gewordenen Textilien zusammen, und schließt seine Aktivitäten in diesem Raum dadurch ab, dass er jeder Frau einen Schluck Wasser reicht, aus Gläsern, die bereits gefüllt waren, als wir diesen Raum betraten. Allerdings müssen sie ursprünglich deutlich mehr Flüssigkeit enthalten haben, ganz oben unterhalb der Ränder zeichnen sich wie Baumringe mehrere konzentrische Kreise mit kalkigen Ablagerungen ab.

Dann stehe ich wieder draußen auf dem Flur. Erst hier kommt mir irritiert die Erkenntnis, dass der Pfleger das Waschwasser gar nicht gewechselt hat und sich darüber auch nicht den Kopf zerbrechen wird.

»Na, war doch gar nicht so schlimm«, spricht mich Erhard unvermittelt an, ich schrecke aus meinen Überlegungen hoch. Er blickt mich gar nicht an, redet wohl mit mir in der gleichen abwesenden Weise wie mit den Frauen. Es bleibt keine Zeit, denn die nächste Tür ist nah. In diesem Moment zähle ich nach einem kurzen Rundblick zusammen und komme zu der Erkenntnis, dass wir sehr lange diese Arbeit werden tun müssen, denn der Flur ist verflucht lang, viele Türen warten noch darauf, geöffnet zu werden und außer uns beiden läuft niemand sonst hier herum. Wenn ich recht gesehen habe, dann besteht dieses Haus aus drei Etagen. Aufgeteilt auf die wenigen Leute, die heute morgen in dem kargen Aufenthaltsraum saßen, ergibt das ein ziemlich schlechtes Verhältnis. Ein Angestellter pro Flur. Mir schwant unvermittelt, dass ich mir die Arbeit des Pflegers sehr gut ansehen sollte. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann stehe ich eines morgens mutterseelenallein auf so einer Etage. Upps, da schleicht sich doch ein optimistischer Gedanke in mein Hirn. Sofort verdränge ich ihn. Nach Lage der Dinge gilt es noch lange nicht als sicher, dass ich länger als diesen einen Tag hier überlebe.

An meiner beschissenen Situation hat sich schließlich noch nichts geändert und im Ergebnis nützt es mir rein gar nichts, dass hier andere Menschen leben, die noch etwas beschissener dran sind. Habe ich gerade >leben< gedacht?

Erhard kippt die Schüssel im Waschbecken des kleinen Kabuffs aus, in dem auch die ganze Wäsche lagert. Nicht uninteressant finde ich in dem Zusammenhang die Frage, warum er im Zimmer der alten Leute den Urin ins dortige Becken kippt, nicht aber das Waschwasser. Rituale werden wohl erst durch ihre Unverständlichkeit richtig schön. Wie ein Ölgötze mitten auf dem Flur stehend beobachte ich seine Handlungen, sehe, wie er an mir vorbei zu dem zweiten Zimmer geht, wie er stockt, weil ihm einfällt, dass er vielleicht doch neue Handtücher braucht und fluchend wieder an mir vorbei marschiert, um Nachschub zu holen. Ich freue mich ein bißchen, weil ich zum ersten Mal im voraus weiß, was als nächstes nötig ist. Dabei handelt es sich um reines Raten. Hätte ja auch gut sein können, dass er die gleichen Handtücher öfters benutzt als das Waschwasser. Was weiß ich denn schon? Viele Leute lehnen diese Tätigkeit kategorisch ab, mit den Worten >das könnte ich nie<. In diesem Augenblick bin ich selbst der festen Überzeugung, es nie zu können.

Und doch, es gibt einen kleinen aber entscheidenden Unterschied zwischen mir und den anderen Leuten: ich habe keine Wahl! Ich muss hier meinen Job machen, komme da, was da wolle. Wird es wohl auch. Erhard stapft wieder an mir vorbei in Richtung Pflegezimmer, und endlich komme ich in den zweifelhaften Genuß, die nächsten zwei alten Damen kennen zu lernen. Seit ein paar Jahren ist mir bekannt, dass es immer etwas Schlimmeres gibt als das augenblicklich Erlebte. Nun entdecke ich langsam, dass zwischen der theoretischen Erkenntnis und dem praktischen Erleben Welten liegen.

Auf dem Landratsamt-Schild steht diesmal >Maria Kadner< und >Maria Gaccia<. Kurze Zeit später wünsche ich mir, auf dem Schild wäre statt dessen oder zusätzlich eine deutliche Warnung verzeichnet gewesen. Es beginnt einigermaßen harmlos, obwohl es mir in diesem Moment nicht so vorkommt, erst im nachhinein wird mir in der rückwärtigen Betrachtung der ersten Eindruck von diesem Zimmer als geradezu läppisch erscheinen. Beim betreten fällt mir zuerst nur der Geruch auf, besser gesagt, der Gestank. Er ist gänzlich anders als im ersten Zimmer. Es riecht diesmal nicht furchtbar nach Kot und Urin, diesmal riecht es furchtbar nach Verwesung, Fäulnis, mithin nach allem, was ich bisher nur aus wochenlang vernachlässigten Bio-Tonnen kannte. Ja, das trifft es ungefähr, auch diese Erkenntnis hilft mir nicht unbedingt. In dem Zimmer sieht es ansonsten ebenso harmlos und trist aus wie in dem anderen mir bereits bekannten Raum. Zwei alte, verdorrte Frauen liegen parallel zueinander in ihren Betten und rühren sich nicht. Auch sonst wirkt das Zimmer wie geklont, jedes Detail stimmt exakt mit dem anderen Zimmer überein, wenn es diese Schilder nicht gäbe, man könnte sich verlaufen. Sind möglicherweise alle Zimmer gleich? Sehen alle alten Leute in diesem Etablissement gleich aus?

Tun sie nicht, aber anders als erwartet. Die Zimmer mögen gleich sein, die Frauen gleich aussehen, in der gleichen Position still im Bett liegen, sogar die Lage der Bettdecke ist identisch, die Wahrheit befindet sich unter dieser Decke. Erhard schlägt in nun schon gewohnter Entschlossenheit bei der ersten Frau die Decke weg, der Gestank wird schlimmer, viel schlimmer. Gut, dass ich nichts gegessen habe. Auf die Seite drehen, Windel runter, das flüchtige waschen, ich bleibe auf meiner Beobachtungs-Position, sicher ist sicher, ich möchte den Grund für den Geruch wirklich nicht erfahren, schon mal gar nicht mit eigenen Augen sehen. Der Pfleger denkt anders darüber. Er lächelt mich versonnen an und ich erkenne den Grund für sein langes suchen im Bad. Aus der Waschschüssel holt er eine Vielzahl von Einzelteilen hervor, alles medizinischer Kram, Salben, Tinkturen, Verbände. Er nimmt sie, sieht mich an, er sieht mich tatsächlich an, gerade in diesem Zimmer kann ich darauf gut verzichten, denn es kommt wie es kommen muss: er winkt mich heran:

»Hier, kannst dir das ansehen, mir was helfen.«

Wie man sieht reichen auch einsilbige Erklärungen, um einen Schrecken auszulösen. Das Grauen lauert in diesem Bett, ich ahne es, ich spüre es. Wenn ich auch sonst nicht sonderlich sensibel bin, hierbei schlagen meine dürftigen Sinne Alarm. Die Möglichkeit der Flucht ist aber sein fünfzehn Minuten per du. Ich gehe also heran, schön langsam, vielleicht schlägt ja der Blitz ein und wir müssen schnell noch ein Feuer löschen. Am Fußende angekommen erkenne ich noch einen Unterschied. Diese Frau schließt die Augen nicht, sie hat sie im Gegenteil weit aufgerissen. Ob sie wirklich etwas bestimmtes ansieht, bleibt jedoch fraglich. Ich stelle mich neben Erhard, die Frau wendet das Gesicht ab, was meinen Blick freigibt. Von unsichtbarer Hand geleitet, fast unter Zwang, gleitet er tiefer, hin zu ihrem Gesäß, da ist etwas, was mich magisch anzieht. Ein Loch, ein rotes, lebendes Loch. Über der Gesäß-Falte, dort, wo das Steißbein sitzt, dort sitzt immer noch das Steißbein. Nur, bei dieser Frau kann ich es sehen. Keine Haut, kein Fleisch, blanker Knochen. Unwillkürlich drängt sich mir das Bild eines abgenagten Eisbeins auf. Nur, um mich von der mich schlagartig anspringenden Übelkeit abzulenken, sinniere ich eine Sekunde darüber, dass die Kids sich doch besser dies hier anschauen sollten. Die blutigen Ballerspiele am PC würden von der Realität, echter gesehener und gerochener Realität, vollständig in den Schatten gestellt. Dann würden sie es nicht mehr cool finden, Leute in Stücke zu ballern. Eine Runde kotzen und alles wäre im Lot. Kotzen, gut ich habe fast nichts gegessen, die Relevanz dessen schwindet angesichts der Details. Dieses Loch ist tief, es ist rot, es ist eitrig, es ist blutig, es... lebt! Ich sehe zweimal hin, mein erster fahriger Eindruck hat also nicht getrogen. Ich brauche eine Erklärung, sonst glaube ich noch, in einem Film zu spielen.

»Ähm, Erhard, Herr Viertel, ich glaube, da sind Würmer drin. Kann das sein?«

Der schaut mich verkniffen an, nicht überrascht, genervt vielleicht. Auch ein wenig lauernd. Wie ein Blitz kommt mir der Verdacht in den Sinn, dass sich an diesem Bett entscheidet, wer zum Pfleger taugt, und wer nicht.

»Klar sind das Würmer. Haben sich durch den Darm gefressen und fressen nun das Fleisch. Kann man nichts machen.«

»Wie, durch den Darm? Kann man die nicht umbringen, mit Antibiotika oder so was?«

Ich habe keine Ahnung, was man machen könnte, aber die Angestellten hier, dieser Kerl hier, dass sind doch die Profis, die wissen doch, was man machen kann, die können doch nicht zusehen und die Achsel zucken. Sie können.

»Geht nicht. Sie ist so geschwächt, dass es sie umbringen würde. So warten wir, lindern den Schmerz und irgendwann hat sie es hinter sich gebracht. Die Würmer selbst bringen sie nicht um, nicht in der Wunde. Irgendwann werden die inneren Organe befallen, das ist dann das Ende. Da können wir aber nicht machen. So, jetzt hör auf zu quatschen und hilf mir.«

So einfach ist das also. Erhard vermittelt den Eindruck eines gänzlich uninteressierten Menschen. Insofern doch ein Profi? Profis sind doch kühl und berechnend, sachkundig und unsentimental, fachlich Spitze und menschlich ein Wrack. Scheint zu stimmen. Um nicht aufzufallen, unterdrücke ich jede Änderung meines Gesichtsausdruckes. Verstohlene Seitenblicke brennen auf meiner Haut. Erhard überprüft tatsächlich, ob mich die Würmer aus der Bahn werfen. Wenn ich jetzt kotzen gehe, kann ich wahrscheinlich anschließend meine Sachen packen. Das darf nicht geschehen. Also spiele ich den Harten, assistiere dem Pfleger in vorgeblicher stoischer Ruhe. Ich halte Tücher aus Zellstoff, während er eine klare Flüssigkeit über die Wunde der Frau schüttet, die bei Kontakt mit der Haut zu schäumen beginnt, was die Frau mit schrillem Schreien quittiert und sich mittels aufbäumen der Prozedur entziehen will. So viel zu der Erklärung, Erhard wolle nur die Schmerzen bekämpfen. Auch den Würmern geht es an den Kragen, ihre kleinen weißen Leiber beginnen zu zucken und mit der Flüssigkeit in meine Tücher zu fallen. Nicht alle Würmer, für mich jedenfalls genügend. Ich verstehe jetzt, warum die Frauen in den Horror-Filmen so entsetzlich schreien, wenn sie von finsteren Gestalten verfolgt werden. Ich fühle mit ihnen. Leider kann ich mir im Augenblick nicht erlauben zu schreien. Träumen werde ich hingegen ganz sicher von dieser Stunde. Wahrscheinlich ziemlich oft. Mir wird heiß und kalt, noch nie habe ich Tücher mit solcher Sorgfalt zusammengefaltet, um bloß von keinem Wurm berührt zu werden. Die Vorstellung überfällt mich, ein kleiner weißer Wurm fällt auf meine Hand und bohrt sich in die Haut, um am nächsten Tag aus meinem Rücken zu wachsen, mit tausend Kumpels. Wie reißfest sind eigentlich diese Tücher? Kalt prickelt der Schweiß auf meinem Rücken, die Nackenhaare stellen sich auf. Mit einem Hauch von Panik frage ich: »Wo werfe ich das hin?«

»In den Mülleimer, hier unter dem Tisch.«

Wie? Was? Das habe ich doch sicher durch das Rauschen in meinen Ohren falsch verstanden.

»Guck nicht so, die Viecher sind hin, tun keinem mehr was. Was willst du denn, sie in Beton eingießen? Mach schon, wir haben nicht ewig Zeit.«

Für mich wäre es OK gewesen, das mit dem Beton, doch den Mülleimer nehme ich auch, Hauptsache weg von meinen Händen. Hoffentlich gibt es Putzfrauen, ich will das nicht noch mal anfassen. Hoffentlich verfügt der Mülleimer über glatte Wände. Erhard macht weiter, ungerührt vom Ekel seines Praktikanten, ungerührt vom Geschrei der Frau, sogar ungerührt vom großen Gekrabbel, schüttet er als nächstes eine rote Flüssigkeit hinterher, quetscht einen großen Strang zäher dunkelbrauner Paste aus einer riesigen Tube, drückt diesen mit der Tubenöffnung tiefer in die Wunde, klatscht einen kleinen Stapel Kompressen darüber und klebt diese mit Pflasterstreifen fest. Windel drüber, auf den Rücken gelegt, fertig.

Ich bin auch fertig. Habe ich das eben wirklich gesehen? Der Pfleger verliert keine Zeit, wäscht die zweite Frau im Zimmer, flucht darüber, dass sie ihre Windel bis zum Rand vollgekotet hat. Das habe ich gar nicht gerochen. Auch hier helfe ich, doch Kot macht mir nun nichts mehr aus. Das ist ja schon normal, ich bin abgelenkt und was sollte mich noch erschüttern? Da wird eine Frau bei lebendigem Leib aufgefressen und alles, was der Profi macht, ist eine neue Verpackung anzufertigen, ein paar Würmer weg zu waschen, ein paar Schmerzen zu verteilen, an Wurm und Mensch gleichermaßen, da sie nun einmal eine Gemeinschaft zu bilden scheinen, und die Sache zu vergessen. Ich denke angelegentlich schon darüber nach, wie ich die nächsten Tage überstehe. Jeden Tag diese Wunde versorgen, nach drei Tagen, wenn es mich bis dahin nicht zerrissen hat, vielleicht allein mit dieser Wunde ohne Erhard. Und im Anschluß bis zur Rente diese Wunde versorgen, ist ja dann wohl mein Beruf, also jeden Tag Würmer gucken, jeden Tag alte Leute schreien hören. Bei was soll ich hier eigentlich helfen? Nun könnte ich leicht sagen, ich bin der Loser, ich gehöre hierhin, nur: gehört die alte Frau hier hinein?

Erhard beendet seine Arbeit an der zweiten Frau. Diese hat sich nicht gewehrt und auch nicht geschrien. Ich habe den Eindruck, sie kämpfte darum, rechtzeitig wach zu werden. Wie aus tiefer Trance wurde sie ganz langsam immer wacher, ruderte mit den Armen, verdrehte die Augen, kämpfte darum, etwas sagen zu können. Irgendwie glaube ich, Erhard wußte das und hat sich extra beeilt, um wegzukommen, bevor ihr das gelingt. Tatsächlich rafft er hastig die Sachen zusammen und winkt mich eilig nach draußen. In der Tür stehend höre ich ein verwaschenes >Herr Viertel<, der Rest wird von der zuschlagenden Tür verschluckt. Erhard kann offenbar seine Prüfblicke nicht mehr sein lassen, denn er hat meinen erneut irritierten Gesichtsausdruck bemerkt.

»Die Gaccia quatscht nur dummes Zeug. Das kann ich am frühen Morgen nicht brauchen. Deshalb beeile ich mich da drin. Wirst schon sehen, die alten Leut sind nicht nur pflegebedürftig, die sind auch richtig nervig.«

Nun durfte ich also auch am Rande erfahren, welche Frau in diesem Zimmer welchen Namen trägt. Ansonsten helfen mir die Ausführungen des Pflegers nicht. Bis gestern hatte ich eine ganz andere Vorstellung von Altenheimen. Liebenswerte alte Leute sitzen vor Fernsehern und da die müden Knochen knirschen, muss man ihnen gelegentlich helfen. Sie betüdeln, mit ihnen reden, sich die ganzen alten Geschichten anhören, das Essen bringen und das Bett aufschlagen. So wie bei meinen Großeltern eben. Eine ziemlich geschönte Vorstellung, zugegeben. Würde ich an diese Geschichte glauben, hätte ich mir heute morgen nicht vor Angst in die Hose machen wollen. Das es aber dermaßen schlimm werden würde, habe ich denn doch nicht erwartet. Und ich habe erst zwei Zimmer mit vier Senioren gesehen. Beinhaltet die Reihenfolge der besuchten Zimmer eine Dramaturgie? Wir es von Zimmer zu Zimmer immer schlimmer? Jetzt reime ich schon.

Erhard kehrt wieder mit frischem Material aus dem Kabuff zurück und ergeben trotte ich hinter ihm her. Meine Befürchtung wird gleich an der Wahrheit gemessen werden. Er geht vor und schon flucht er. Was ist jetzt wieder für eine Katastrophe im Anmarsch? Ach nein, er ärgert sich nur darüber, dass die Vorhänge zugezogen sind und da das Licht aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, muss er sich im halbdunkel ans Fenster tasten. Ich vergaß, der Mann ärgert sich nur über unwichtige Dinge. Wieder einmal gebe ich mich der Panik verfrüht hin. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Noch ein Blick auf das Landratsamtschild. Es wird keinen Trost spenden, aber um mir die Namen merken zu könne, muss ich sie zuvor kennen. Auf dem Schild stehen wieder zwei Frauen, Frau Nenn und Frau Schulenburg, im Zimmer selbst stellt sich eine Neuerung ein. Beide Frauen liegen nicht mehr, die sitzen auf der Bettkante, einander abgewandt, eine schaut Fernsehen, die andere die Wand an. Und das alles im Dunkeln, selbst der Fernseher bietet nur ein reichlich dusteres Bild. Ich bin unsäglich erleichtert, hier erwarten mich keine Bettdecken mit schrecklichen Geheimnissen darunter. Noch eine Änderung, eventuell eine positive: die Frau, die Fernsehen schaut, ist nicht klapperdürr, sondern ziemlich dick. Endlich mal eine Oma, die so aussieht, wie man sich eine Oma vorstellt: Rund, rosig und gar nicht unfreundlich. Der Pfleger spricht sie denn auch zuerst an:

»Na, Frau Nenn, alles klar?«

Sie nickt nur, wendet den Blick nicht ab, Fernsehen ist wichtiger. Offenbar denkt auch Erhard so, er unternimmt erst gar nicht den Versuch, die Frau zu waschen, statt dessen gibt er mir die Anweisung, Frau Nenn die Schuhe anzuziehen. Das mache ich auch, das kann ich sogar und birgt nicht den kleinsten Horror. Alte ausgelatschte Schuhe, die sehr leicht auf die alten Füße passen, der Geruch beweist, dass beides zusammen gehört, die brüchigen Schnürsenkel verknote ich mit größter Vorsicht, dann richte ich mich wieder auf und versuche, mein erstes freundliches Wort mit einer alten Frau zu wechseln:

»Jut.«

Ich denke mir einfach, mit kölschem Platt am besten zu fahren, alte Leute reden praktisch immer breitestes kölsch, sie beherrschen kein hochdeutsch oder wollen es nicht beherrschen. Bei meinen Großeltern war das jedenfalls so, daher sage ich nicht >gut<, sondern spreche es platt aus. Lächle dabei mein bestes Lächeln. Frau Nenn findet das jedoch nicht komisch, sie blickt finster zu mir hoch: »Bin kein Jut, bin Deutscher.«

Ich höre Erhard grinsen und Frau Nenn sieht mich noch eine Weile mißbilligend an und wendet sich endlich wieder dem Fernseher zu. In meinem Kopf drehen sich ein paar Rädchen. Ich berechne das vermutliche Geburtsdatum, schließe daraus auf ihr Alter anno 45 und staune nicht schlecht. Natürlich, vermutlich befanden sich alle alten Leute zu der Zeit im richtigen Alter. Ganz junge Mädchen oder ganz frische Mütter. Frau Nenn muss damals ungefähr so alt gewesen sein wie ich heute. Zehn Jahre rauf oder runter. Eher runter. Urplötzlich fällt mir ein geflügeltes Wort ein, das die alten Leute in meiner Umgebung öfters verwendeten. Immer, wenn es darum ging, dass jemand ganz furchtbar schuften musste, sagten sie: »Der arbeitet bis zur Vergasung.« Wie konnte ich das übersehen? Erst jetzt, bei den Stinkefüßen der Frau Nenn, kommt mir die Erleuchtung. Leider kann ich mich damit nicht weiter befassen, die Arbeit ruft. Genau genommen ruft Erhard. Die andere Frau, Schulenburg, wehrt sich gegen seinen Versuch, ihr das Nachthemd abzunehmen. Er will es vom Bett nehmen, augenscheinlich hat er gute Gründe für seinen Entschluß, doch Frau Schulenburg ist anderer Ansicht. Mit verbissenem Gesicht hält sie das Nachthemd fest, sagt kein Wort, preßt die Lippen zusammen, starrt ihr Hemd an und gibt ihr Bestes. Erhard könnte natürlich mit einem heftigen Ruck die Lage bereinigen, was aber ziemlich sicher den Sturz der alten Frau zur Folge hätte. Dunkel ahne ich, dass ihm das im Zweifel egal sein dürfte, aber wenn man schon mal einen Praktikanten hat.

Nur, wie stelle ich das an? Statt seiner selbst an dem Hemd zu zerren, kann es nicht sein. Unsicher und ratlos gehe ich von hinten an die Frau heran und lege ihr begütigend die Hand auf die Schulter. Die Berührung scheint für die alte Frau ebenso ungewöhnlich zu sein wie für mich, denn sie hält erstaunt inne und dreht sich zu mir um. Sie sieht mich erkennbar grübelnd an und bemerkt dabei gar nicht, dass Erhard die Gelegenheit nutzt und sich des Nachthemdes bemächtigt. Frau Schulenburg sieht mich weiter an, während der Pfleger im Schrank ein neues Hemd heraus holt und unter ihr Kopfkissen stopft. Sie wendet sich immer noch nicht ab, als ihr ein nasser Waschlappen ins Gesicht geklatscht wird und mit ein paar flüchtigen Schwenks ein wenig Frische verbreitet wird. Es irritiert sie nicht einmal, statt dessen fragt sie plötzlich mit feiner dünner Stimme, aus der verhaltener Tadel tropft: »Gustav, wo bist du gewesen?«

Erhard grunzt unverständlich in seinen nicht vorhandenen Bart. Der nächste Test? Ich erkenne, dass ich immer noch die Hand an ihrer Schulter habe und ziehe sie hastig weg. Dazu erkläre ich mit brüchiger Stimme, die nicht auf ihren Einsatz vorbereitet ist: »Ich bin nicht Gustav, ich bin Oliver.«

Die Frau hört mich nicht. Ihre Augen werden von einer glitzernden Feuchtigkeit überzogen, sie macht einen Schritt auf mich zu und trifft alle Vorbereitungen, mir um den Hals zu fallen: »Gustav, ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst so lange weg.«

Ich stehe da wie angewurzelt und bin zu keiner Reaktion fähig. Was hat die Frau? Erkennt sie nicht, dass sie mich noch nie in ihrem Leben gesehen hat? Oder sehe ich jemandem ähnlich? Das kann doch nicht sein. Ihre Enkel wird sie wohl aus nächster Nähe kennen und ihre gleich alten Verwandten sollten sich schon etwas von mir unterscheiden. Da huscht ein Arm an mir vorbei. Erhard fällt Frau Schulenburg in die Parade, drängt sich zwischen uns und drückt die alte Frau mehr oder weniger sanft zurück, bis sie gezwungen ist, auf dem Bett Platz zu nehmen.

»Ist schon gut, Oma Schulenburg, das ist nicht der Gustav. Das ist unser Praktikant. Und wir müssen jetzt gehen. Tschüss, ihr Leute.«

Wieder sehe ich mich in der Situation, an einer Art Flucht teil zu nehmen. Diesmal bin ich direkt betroffen. Es steigert sich also. Noch ist alles offen, die Wahrscheinlichkeit steigt aber deutlich, dass meine Befürchtungen eintreffen werden.

Ich kann meine Gedanken noch nicht in Worte fassen, einfach zu schweigen vermag ich hingegen auch nicht. Bleibt nur noch eine einfache Frage, eine naheliegende: »Mehr muss bei den Leuten nicht gemacht werden? Ich meine, müssen die Leute nicht gebadet werden oder so was?«

Ich habe ja selbst keine Ahnung und der Ablauf der Dinge hier trägt nicht zu einer besseren Information meinerseits bei. In der Fülle der völlig neuartigen Eindrücke kommen mir viele Dinge nicht nur fremdartig, oder auch irgendwie... falsch vor. Düster schwant mir, dass es bessere Möglichkeiten gibt als das, was sich mir hier darstellt. Am offenkundigsten, weil am ehesten mit den richtigen Leben vergleichbar, springt mir die Waschung der alten Leute ins Gesicht. Erhard handhabt dies uneinheitlich und bestenfalls flüchtig. Gut, ich selbst wasche mich auch nicht übermäßig gründlich und bestenfalls unregelmäßig. Ich halte mich jedoch für einen Sonderfall, denn zum einen ist mein Immunsystem so gut, dass ich erst nach mehreren Tagen und dann ganz sanft zu müffeln beginne. Zum anderen gibt es zur Zeit niemanden, der mir so nahe käme, dieses Müffeln neben dem allgegenwärtigen Gestank wahrzunehmen. Außerdem bin ich depressiv und stehe kurz vor dem endgültigen Versagen, warum sollte ich auf Körperhygiene achten? Die alten Leute aber entwickeln definitiv einen starken Geruch, da wäre eine ordentliche Behandlung mit Wasser, Seife und duftenden Essenzen wahrlich angebracht. Erhard ist anderer Ansicht und er verkündet diese gänzlich unaufgeregt in jovialer Gestik: »Nein, gebadet wird nur einmal in der Woche. Freitags, bevor die Verwandten kommen. Unter der Woche kriegen die nur eine Sichtreinigung«.

Er lacht, er lacht tatsächlich, im Stile eines Geheimagenten, der seinem Lehrling die besten Tricks beibringt, fügt er hinzu: »Nur für den Fall, dass Angehörige kommen und nachsehen. Angehörige sind nämlich die Pest, wirst schon sehen, glaube mir. Die gucken dann, ob Oma Schlafkruste unter den Augen hat und dann machen die eine große Welle beim Vorstand, deshalb kriegen die Leute alle das Gesicht abgeledert. Ist eigentlich nicht nötig, werden ja alle gebadet, das ist mehr, als die in ihrem ganzen Leben an Reinigung abgekriegt haben. Die hatten doch früher nichts als einen Zuber mit Wasser. Und jetzt wollen sie jeden Tag durch die Waschstraße. Nicht mit mir, verarschen können die einen anderen. Die alten Leute leben ganz gut, ohne zu viel waschen. Ist sogar gesünder. Wirst schon sehen. So, komm, wir müssen weiter.«

Ich bin verwirrt. In dieser Welt ist alles anders, sogar das unbeliebt machen funktioniert nicht mehr. Aus dem Vortrag des Pflegers entnehme ich, dass er mir meinen Einwand nicht krumm nimmt, ja sogar fast dankbar die Gelegenheit ergreift, ein paar Erklärungen abzugeben. Er redet munter weiter mit mir, wodurch ich der Höflichkeit halber gezwungen bin, ihn ins Bad zu begleiten, wo er zum wiederholten Mal die Wäsche wechselt, ohne die Schüssel zu wechseln:

»Wirst schon sehen, die Leute hier sind alle bekloppt, die Alten sind bekloppt, die Angehörigen, sogar die Ärzte. Guck nicht so, da in dem Zimmer, die Schulenburg, die ist völlig neben der Schnur, die weiß nicht mal mehr, wer wir sind. Die weiß gar nichts.«

Mir schien sie mir gar nicht bekloppt zu sein, nur etwas verwirrt. Sie hat mich verwechselt. Vielleicht gibt es dafür einen guten Grund? Das müßte der Pfleger doch besser wissen als ich.

»Sie schien mir gar nicht so ungewöhnlich. Sie hat mich nur Gustav genannt. Ansonsten wirkte sie ganz normal.«

Unbeholfen, unbeholfen, was soll ich sagen? Ich versuche nur, den Faden nicht abreißen zu lassen. Ich muss mehr wissen und wenn mir dieser Pfleger nichts sagt, dann bin ich aufgeschmissen. Er läßt sich nicht hängen, vielleicht ist er froh, jemanden zum reden zu haben. Ob er sonst immer und immer allein auf dieser Etage ist?

»Ach Jung’, man merkt, dass du neu bist. Die weiß nicht mal mehr, wie sie selbst heißt. Die nennt jeden jungen Mann Gustav. War ihr Mann, der ist im Krieg vermißt. Da sie zu bekloppt ist, ihr eigenes Alter zu kennen, denkt sie, sie wäre noch jung, der Adolf lebt noch und Gustav muss bald nach Hause kommen. Würde mich nicht wundern, wenn die noch an den Endsieg glaubt.«

Er lachte meckernd und fügte augenblinzelnd hinzu: »Vor ein paar Monaten hat hier eine Russlanddeutsche als Putzfrau angefangen. Am Ende der Schicht hat ihr Mann sie abgeholt. Die haben dann ein paar Worte auf dem Flur gequatscht. Auf Russisch. Da hat die den Ausraster gekriegt. Um Hilfe hat sie geschrien wie eine Wilde. Hat sich danach Tagelang nicht anfassen lassen. Ich sage dir, hier boxt der Papst im Kettenhemd.«

Das denke ich auch, allerdings aus anderen Gründen. Matt frage ich: »Hat man die Frau deshalb hier eingeliefert?«

Gönnerhaft ergreift Erhard die Gelegenheit, mir, dem Frischling, die bösen Nachrichten zu unterbreiten:

»Das ist noch gar nichts. Wirst schon sehen. Sind immer die gleichen Gründe, warum Angehörige ihre Leute bei uns abgeben.«

Er beginnt mit den Fingern aufzuzählen: »Mann und Frau müssen arbeiten, die Oma stellt nur Dummheiten an, also ab ins Heim. Das sind dann unsere verwirrten Schätzchen.

Alte Rechnungen werden beglichen. Oma oder Opa war das ganze Leben lang ein verdammtes Arschloch, in dem Moment, in dem sie die Fäden nicht mehr in der Hand haben, werden sie ins Heim gebracht. Passiert meist nach Krankenhausaufenthalt. Geht auf die Art wohl leichter. Na ja, die benehmen sich hier natürlich auch wie Arschlöcher, leider sind die Kinder nicht besser, du weißt schon, großes Ei und kleines Ei.

Geld-Gier. Oma hat das Häuschen an ihren Augenstern überschrieben und zack, wird sie abgeschoben. Kam früher nicht so oft vor, aber seit die Pflegeversicherung da ist, steigt das immer weiter an. Komischerweise sind gerade das die Angehörigen, die auf jeden Scheiß achten, ob ihr wertvolles Geld, das ja gar nicht ihres, sondern das der Versicherung ist, wenn man es mal genau nimmt, auch ja richtig eingesetzt wird und nicht etwa für uns einen Gewinn abwirft. Die alten Leute sind richtig arme Schweine, versuchen, lieb zu sein und alles richtig zu machen, werden aber immer unglücklicher.

Na, und dann gibt es noch die Leutchen, die gar keine Angehörigen mehr haben. Werden vom Sozialamt oder auch mal von den Vermietern zu uns geschoben. Die sind ganz unterschiedlich.

Wirst schon sehen, ist aber gar nicht so schlimm, gewöhnst dich dran, ich habe mich auch dran gewöhnt. Ich war früher Maurer, und jetzt mache ich das schon 17 Jahre. Komm, nun müssen aber wirklich weiter machen.«

Spricht´s und öffnet die nächste Tür. Ich zögere etwas, ziemlich viel Informationen für den kurzen Moment, ich gewinne den Eindruck, in diesem Panoptikum in einer Stunde mehr zu lernen als in vier Jahren Studium. Hier tobt das Leben, und ich habe es nicht gewußt. Die Informationen muss ich unbedingt überprüfen, einiges daran kommt mir seltsam vor. Was aber kein Maßstab ist in einem Altenheim, in dem mir alles merkwürdig vorkommt. Vielleicht bin nur ich derjenige, der merkwürdig ist? Wundern würde mich das nicht. War bei der Bundeswehr auch so. Überlegungen helfen nicht weiter. Ich muss den Durchblick kriegen. Und mich nicht abhängen lassen. Deshalb mache ich ein paar entschlossene Schritte und dann stehe ich dem nächsten Raum, sehe Erhard beim Befüllen der Schüssel, sehe, dass der Raum kleiner ist als die anderen Zimmer, sehe, dass hier auch nur eine Frau wohnt oder schläft oder was auch immer, und dann sehe ich sie mir genauer an.

»Frau Alambra, aufwachen, der Viertel ist da, hallo.«

Ein Berg bewegt sich, ein kleiner Kopf hebt sich, kleine Augen mustern die Umgebung, bleiben an mir hängen. Eine unnatürlich helle Stimme näselt: »Ah, jemand neues, wie schön. Wer bist denn du?«

Erhard verhindert durch schnelles Antworten eine Erklärung meinerseits: »Das ist der neue Praktikant, der schaut sich alles an. Wenn es ihm gefällt, bleibt er ein Jahr.«

Das finde ich spannend. Zum einen, warum läßt er das nicht mich sagen? Zum anderen, wieso denkt er, es würde an mir liegen, ob ich bleibe oder nicht? Verhält es sich nicht üblicherweise so, dass der Arbeitgeber entscheidet, ob er einen neuen Mitarbeiter behält oder nicht? Jedenfalls habe ich das so immer gehört und durch persönliche Erfahrungen, also Mißerfolge, auch bestätigt bekommen. Andererseits, ich koste meinen Arbeitgeber auch nicht allzu viel, da kann man wohl nichts falsch machen. Und nach dem, was ich bis hierhin weiß, wäre eine zusätzliche Hand genau das, was fehlt. Nur, sieht das der Chef auch so? Egal, Frau Alambra gibt sich mit der Antwort zufrieden, ich lächle friedlich dazu, sie verzichtet auf weitere Fragen, schlägt dafür selbst die Decke weg. Der Berg lebt. Sie ist klein, sehr klein, oben und unten ist viel Platz im Bett, an den Seiten nicht. Sie füllt das Bett in ganzer Breite aus. Wie ist nochmal der Umfang, wenn man einen Meter breit ist? Zu mathematisch, ich konzentriere mich auf das, was ich sehe. Die kleine Kugel, aus der die Augen auf mich gerichtet sind, schließt sich nahtlos an eine riesige Kugel an. Hätte ein Schneemann sein können, auch wegen der tödlich weißen Farbe, doch unten fehlt die dritte Kugel, statt dessen erkenne ich zwei Beine mit dicken Oberschenkeln und ganz dürren Waden, darunter grotesk kleine Füße. Wie man wohl ursprünglich aussehen muss, um im Alter auf diese Formen zu kommen? Ausgerechnet an einer dieser schlanken Waden klebt ein Verband, Erhard nimmt ihn ab, darunter sprudelt ein Bächlein. Ich blinzele und gehe näher heran. Tatsächlich, das Wasser quillt aus der Haut. Den Resten davon. Die Haut hat sich großflächig aufgelöst, im rohen Fleisch steht das Wasser, rinnt in winzigen Adern herunter. Ich kann mir das nicht erklären. Das Wasser entspringt dem Fleisch, es stammt nicht aus einer externen Quelle, die Frau ist definitiv undicht. Erstaunlich, ausgerechnet an einer Stelle, an der sie normal und gesund sein sollte. Wäre Frau Alambra eine Statue, sie würde als Wunder anerkannt. Wieviel Liter da wohl pro Tag heraus rinnen?

Erhard geht wieder so vor wie bei der Frau mit dem großen Loch, nur verzichtet er auf den Schaummacher und geht gleich zur roten Flüssigkeit über. Verband drauf, fertig. Ich wundere mich, dass gar nicht gesprochen wird. Die Frau schaut mich an, ihr Bein befindet sich ja außerhalb ihres Sichtfeldes, da bin ich wohl der einzige interesante Punkt im Zimmer. Der Pfleger arbeitet und kümmert sich um nichts anderes, die Zeit verrinnt unendlich langsam. Ich spüre den Druck, etwas sagen zu müssen, wenn die nichts sagen, müßte ich doch? Ich habe nichts zu tun, also was hindert mich. Ich habe keine Idee. Über das Wetter zu reden fand ich noch nie besonders lustig. Unter anderem finden mich Mädels deshalb ebenfalls nicht besonders lustig. Über was anderes traue ich mich nicht, für gewöhnlich bringe ich nur blödes Zeug zum Vortrag, wenn ich small talk machen will. Dazu wirke ich immer verkniffen und unecht, wenn ich belanglose Worte hervorquetsche. Meistens versuche ich eine Art von dozieren, in dem ich mich streng auf sachliche Erklärungen beschränke, in der Form, Dinge lang und breit zu erklären. Meist dauert es lange, bis die Anderen sich bereit finden, es zu verstehen. Ich bin da einfach nicht begabt. Und außerdem, so blöd wie das klingt: eine Frau ist eine Frau, alt oder jung, ich habe da meine Hemmungen. Bei Frauen darf man nichts falsch machen, das sind Außerirdische, gefährlich, undurchschaubar, und sie vergessen nie etwas. Besonders peinlichen Scheiß, der von jungen Blödmännern erzählt wird. Bei Frauen rede ich immer Blödsinn und da immer und bei allem eine Frau in der Nähe ist, rede ich dauernd Blödsinn. Das hat mich hierher gebracht und nun darf ich zur Kenntnis nehmen, dass dieser Schuppen auch fast nur aus Frauen besteht. Das hätte ich wissen müssen. Habe ich aber mal wieder mitnichten. Wäre ja auch sinnvolles und nützliches Wissen, dagegen bin ich allergisch. Mein Vertrauen in die Zukunft sinkt ins Unendliche. Dafür entschließ sich Frau Alambra, aufzustehen. Der Berg kann sich erstaunlich hastig bewegen. Als der Berg steht, reicht er mir allenfalls bis zur Schulter, kann aber nur längsseits das Bett umrunden, weil es ohne abstützen am Bett doch nicht geht. Ist die dick, so was habe ich noch nicht einmal im Fernsehen gesehen. Sie beginnt zu schnaufen, bewegt sich auf die Tür zu, die Beine müssen sich dabei einander umrunden, zu dick, und dann ist sie tatsächlich draußen. Ich sehe den Pfleger an, der sieht mich an und weiß, was ich denke. Jeder würde das an meiner Stelle denken.

»Ist noch viel schlimmer, als du denkst«,

beginnt er mit bedeutungsvoller Miene, was mich erstaunt. Bisher ist doch alles nicht so schlimm und die Frau ist doch einfach nur fett, na gut, ultra fett, aber gemessen an den Schicksalen in den anderen Räumen mag das vielleicht wirklich nicht so schlimm sein. Andererseits sinkt mein Vertrauen in die Beschwichtigungen des Pflegers mit jeder Gelegenheit, bei der er seinen Spruch aufsagt. Nun also das Gegenteil, die Ausnahme. Ausnahmen müssen sogleich begründet werden: »Die ist einen Meter sechzig groß und wiegt mindestens 139 Kilo. Bestimmt ist es jetzt noch mehr, sie weigert sich aber seit einem halben Jahr, auf die Waage zu steigen. Ist vielleicht auch besser für die Waage, die hört bei 140 auf, hä hä. Der Trick ist aber: die Frau ist Diabetikerin, hat Zucker, verstehst? Eigentlich darf sie nix essen, strenge Diät ausgenommen, pfeift aber drauf. In dem Schrank da, da liegt normalerweise bei Heimbewohnern die Kleidung drin. Bei ihr nicht. Sie hat vielleicht vier Nachthemden, sonst nichts. Der Rest des Schrankes ist hoch voll mit Süßigkeiten. Zeig ich dir bei Gelegenheit mal.«

Der Boden schwankt kurz und heftig unter mir. Der Klumpen in meinem Magen verflüchtigt sich mit einem Schlag. Statt seiner tut sich ein Loch auf, ein trichterförmiger rotierender Mahlstrom. Hunger bis unter die Arme. Wie kommt das denn? Ich weiß es. Ich esse gerne Süßigkeiten. Was heißt gerne? Schokolade in allen Zustandsformen stellt mein Hauptnahrungsmittel dar. Auch deshalb liegt mir ordinäres Graubrot wie Blei im Magen. Für derlei schwer zu verdauende Lebensmittel bin ich nicht trainiert. Leider habe ich seit zwei Wochen außer besagtem Graubrot und gelegentlichem Mensaessen nichts mehr zu mir genommen. Bezogen auf Süßigkeiten bin ich demnach auf strengem Entzug. Die Wirkung der erwähnten Vorräte ist fatal. Ein Verlangen entsteht, ein Verlangen, diesen Schrank zu öffnen und eine Schneise hinein zu fressen. Steht Mundraub noch unter Strafe? Können Mercedes-Fahrer Mundraub begehen? Ich beschließe, Überstunden zu machen, falls mir der Vorschuß verweigert werden sollte. Dabei fällt mir was ein. Unter beachtlichen Bemühungen, nicht tückisch zu klingen frage ich: »Verläßt sie denn nie das Zimmer? Ich meine, irgendwie kommt sie doch an das ganze Zeug, sie muss doch einkaufen gehen.«

Erhard verzieht das Gesicht, die Furchen teilen es in drei Teile. Merkwürdige Art, zu grinsen.

»Wirst schon sehen, wie das geht. Die Alambra hat Vermögen, muss nicht vom Taschengeld leben wie die Szialhilfe-Fälle. Die hat ihr eigenes Telefon, damit ruft die beim Edeka unten an der Ecke an und die schicken einen Schüler, der es ihr für fünf Euro bringt. Das macht der jeden verfluchten Tag, hat sich erst letzte Woche einen Roller gekauft vom Gewinn. Nee, die verläßt ihr Zimmer nicht. Wozu auch, kriegt alles in den Arsch geschoben. Wirst schon sehen, die ist Weltmeister im klingeln.«

Das sagt mir nichts, ich sehe nur mein Schlaraffenland, wie es durchsichtig wird und mit sanftem >plopp< entschwindet. Keine Überstunden also. Nachfragen geht nicht, die Frau kehrt gerade zurück, rot im Gesicht wackelt sie zu dem eben erwähnten Kleiderschrank, zerrt an der Kette, die sie um den Hals trägt und der einen Schlüssel trägt, dreht sich um und sagt: »Ich klingle, wenn ich was brauche.«

Mit diesem Rausschmiß erster Klasse trollen wir uns, Frau Alambra möchte bei ihrem Diätfehler unbeobachtet bleiben, oder es soll niemand erfahren, was noch alles in diesem Kleiderschrank lockt. Erhard findet das ganz normal, die bekannte Routine wiederholt sich und schon ist das nächste Zimmer dran. Keine Zeit zum Nachdenken. Das wird mir noch Entzugserscheinungen ganz anderer Art bescheren. Der Trichter in meinem Bauch jedenfalls trollt sich, da für die nächste Zukunft kein Futter in Aussicht steht.

Diesmal wieder zwei Frauen. Beide liegen im Bett, beide sind wach. Erhard begrüßt sie wieder, diesmal jedoch herzlicher. Die eine Frau strahlt richtig, als er sie an der Wange streichelt, sie umarmen sich, da sieht sie mich. Sie stößt einen undefinierbaren Laut der Freude aus und streckt beide Arme nach mir aus. Erhard grinst:

»Geh ruhig hin, unsere Frau Jonas ist ein Schätzchen, die braucht das. Ist nicht schlimm.«

Wieder so was, was nicht schlimm sein soll, für mich aber durchaus ein Problem darstellt. Ich habe es nicht damit, wildfremde Menschen zu umarmen und wildfremde Menschen, die mich mir Begeisterung in der Stimme umarmen wollen, machen mich extra mißtrauisch. Dennoch, Job ist Job, ich gehe hin, Frau Jonas greift erstaunlich kräftig zu, ein Schraubstock preßt sich an mich, ein feuchter Schmatz knallt mir ans Ohr, ein wenig Sabbel läuft mir zusammen mit einem Schauer herunter. Ich versuche, sie nicht anzufassen, spüre ich doch deutlich ihren großen Busen. Verdammt, warum macht es mir was aus, einen großen Busen zu spüren? Die Frau, die sich vor kurzem noch meine Freundin nannte, hat auch keinen großen Busen, hat mich noch nie gestört. Nur ist das nicht das Problem. Ich stelle plötzlich fest, dass es für mich keinen Unterschied macht, wie alt die Trägerin eines großen Busens ist.

Das auch noch! Heute ist wirklich der große Tag der unvermuteten Probleme. Natürlich, ich habe mit Problemen gerechnet, irgendwie. Ich rechne immer mit Problemen. Das rührt daher, dass im Gegenzug alle Probleme irgendwann auch wirklich zu mir kommen. Meistens mehrmals. Und nun darf ich erkennen, dass immer noch Probleme durch die Welt wandern, die sich ihren Antrittsbesuch bei mir noch aufgehoben haben. Mithin vermag ich es trotz aller Anstrengungen nicht zu bewerkstelligen, mich sachgerecht auf ein Problem vorzubereiten, von dem ich noch nichts ahne. Das ist wirklich übel. Ich lag also wieder einmal daneben. Ich habe mit dieser Frau und ihrem arglosen breiten Grinsen nicht gerechnet. Das ist definitiv das falsche Problem. Ich habe mich anhaltend mit dem finalen Problem auseinandergesetzt, nicht mit einer endlosen Kette von Grauenhaftigkeiten, die mich stückweise fertig machen. Der große Vernichter wäre mir jetzt lieber, einmal bumm und Schluß. Wieviel Nägel hat ein Sarg? Die hätten mich gar nicht erst für diesen Job anzustellen brauchen. Ein Blinder bei Neumond im U-Bahnschacht erkennt doch, dass ich völlig unfähig bin. Aber nein, man unterwirft mich einer Reihe bizarrer Prüfungen und tut so, als müßte man das Offensichtliche erst noch mühevoll herausdestillieren. Soll ich mir selbst den Strick nehmen, weil die Anderen zu fein dafür sind?

Frau Jonas jedenfalls ist alt und deshalb kennt sie wohl die Männer. Sie sieht mich an, scheint alles zu sehen, was sie nicht sehen soll, und sie grinst mich an wie eines dieser Luder aus der Werbung, die beim Joghurt-naschen ansatzlos rollig werden. Ich sehe an ihr herunter, die Augen gehen mir über. Sie trägt ja nur ein Nachthemd, ein relativ durchsichtiges noch dazu. Offenbar wertet sie meinen Blick als eine Art Signal, jedenfalls knurrt sie so etwas wie ein Kommando und reißt sich das Nachthemd runter. Ein unverstellter Blick auf den zuvor nur gespüren Busen blockiert meine ohnehin nur ansatzweise vorhandene Denkfähigkeit. Ja, genau so hat er sich angefühlt. Mir ist alles nur noch peinlich. Wie soll ich damit jetzt umgehen? Das ist eine Oma. Eine Oma mit einem Busen, der überhaupt keine Falten aufweist. Da hilft nur der Blick zurück in das faltige Gesicht, wenn auch nur kurz, das Leuchten in ihren Augen trifft mich noch stärker als die nackten Tatsachen. Selbst bei einer jungen Frau hätte mich die Entwicklung vollständig überrumpelt, zumal ich nicht sonderlich an Zuschauern interessiert bin. Der Umstand, nichts zu tun, durch mein warten quasi die Zeit in ihrem Lauf zu behindern, macht alles nur noch peinlicher.

Ich höre Erhard neben mir breit grinsen. Er hat seinen Gönner-Tag, offensichtlich soll ich ihm heut auch ein wenig Freude bereiten. Er geht zum Waschbecken, macht den Lappen feucht, kommt zurück, in der ganzen Zeit ist der Rest des Bildes eingefroren, ich stehe hier und sehe den Busen, sehe das erwartungsfrohe Strahlen der alten Frau, und bedenke den Umstand, dass mich bislang keine meiner Freundinnen derart offenkundig erfreut erwartet hat. Diese Erkenntnis hilft mir ebensowenig aus der Klemme wie alle anderen Überlegungen zuvor. Erhard drückt mir den feuchten Lappen in die Hand und meint in echter Gönner-Laune:

»Na los, mach ihr die Freude. Bei irgendeiner musst du ja mal anfangen.«

Sicher, sicher, aber nicht heute, nicht bei ihr und ganz sicher nicht unter den feixenden Blicken dieses Widerlings. Nur: So feige wie ich im normalen Leben bin, fürs weglaufen bin noch viel mehr zu feige. Pest oder Cholera. Ich weiß nicht, was Frauen wollen und schon mal gar nicht, was Omas wollen. Ganz besonders schwierig wird es aber, wenn ich es, wie in diesem Fall, weiß, aber nicht weiß, wie ich hier mit Anstand raus komme. Andererseits: ich habe doch schon immer daneben gelegen, wenn es um die geheimen Wünsche der Frauen ging.

Nie werde ich die beispielhafte Begegnung mit der einzigen vollbusigen Frau meines bisherigen elenden Lebens vergessen. Eine Mitstudentin aus den goldenen Tagen, sie lud mich zum abendlichen Workshop ein. Mineralogie, Kristallklassen bestimmen. Ich erschien mit einem Arm unverdaulicher Fachbücher. Sie öffnete mit einem Lächeln und einem brutal häßlichen grellblauen durchsichtigen Etwas. Mir fiel die Kinnlade herunter und fragte eine Spur zu sachlich: »Was soll das denn?«

Die Tür ging unverzüglich wieder zu und ich musste noch weitere sechs Monate auf Sex warten, dann allerdings mit einer anderen Frau. Seit damals zermartere ich mir das Hirn nach einer passenden Antwort, wie ich diese Situation hätte bewältigen können. Die Frau damals hat mich nie so angegrinst wie Frau Jonas. Mag sein, dass ich einfach zu unflexibel bin. Unter Druck fällt mir nichts ein.

Frau Jonas ist über sechzig. Sie verfügt über die entsprechenden Kenntnisse im Umgang mit schüchternen Jungs. Sie nimmt sich meiner an, greift entschlossen und fest meine Hand und führt sie dahin, wo ich nicht hin will. Kreisende Bewegungen, sie sagt kein Wort, grunzt nur, strahlt und strahlt. So fest wollen die Frauen das? Ich dachte immer, es gibt nur männliche Lüstlinge und auch die hören im Alter irgendwann auf. Sicher erhalte ich demnächst einen Preis, weil ich zum tausendsten Mal falsch vermutet habe. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert, dass diese alte Frau scharf darauf ist, von einem Jüngling die Brust massiert zu bekommen, oder, das ich es tief in mir doch als Glück empfinde, endlich einmal ein solches Format greifbar nahe zu haben. Mein Gesicht eifert derweil im Ausdruck einem bekannten Action-Star nach: nur keinen Muskel bewegen. Erhard schaut belustigt aus der Wäsche, doch ihm entgeht nichts. Keine Anzeichen von gar nichts, sonst wird es der Kerl sicher weiter erzählen. Ich kenne ihn zwar nicht, doch warum sollte er schweigen? Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bin wohl in einer Zeitfalle gefangen, jedenfalls zeigt Erhard schließlich doch Erbarmen. Er nähert sich, löst meine Hand aus dem Schraubstock, zieht Frau Jonas ohne Worte wieder an und wendet sich der anderen Frau im Zimmer zu.

Ich schäme mich, immer noch den nassen Lappen in der Hand. Nicht genug, dass es mir eventuell gefallen haben könnte, ich konnte überhaupt nicht aufhören. Dieser alte Pfleger hat mich von der alten Frau regelrecht losmachen müssen. In diesem Land glaubt niemand eine Geschichte, in der die Frau den Mann zwingt. Nun werde ich wohl auch hier unten durch sein. So schnell geht das. Betreten stehe ich herum, kein Wort wird gewechselt, nur diese Jonas strahlt mich immer noch unverfroren an. Mehr bekomme ich nicht mit. Endlos lange dauert es, bis Erhard die andere Frau versorgt hat und geht. Ich nichts wie hinterher. Draußen stellt er sich an die Wand und ... lacht los. Nicht besonders laut, aber herzlich. Bin ich jetzt gefeuert?

»Oh, Mann, dein Gesicht war ja der Hammer. Hast nicht damit gerechnet, was? Niemand rechnet damit, ist wirklich der Brüller. Ne geile Alte, das ist der Hit, bringt euch junge Leute todsicher aus der Fassung. Mach dir nichts draus, die Jonas kann nicht dafür. Ist ein bißchen zurückgeblieben, nicht besonders schlau, weißt du? Kann noch nicht mal reden, aber geil war sie schon immer. Ist seit zehn Jahren hier und seitdem kriegt sie jeden neuen Jüngling dran. Mach dir nichts draus, hast dich tapfer gehalten.«

Mit einem Klaps auf die Schulter geht er weiter. Ich hasse ihn und bin doch erleichtert. So eine Art Äquatortaufe also, na bravo.

Diese Frau Jonas kann also nicht dafür, dass sie mich anbaggert? Sie baggert sowieso jeden an? Dann ist ja alles wieder im Lot. Welche normale Frau würde mich auch dergestalt offen und ohne Bedenken annehmen? Das ich da nicht früher drauf gekommen bin. Langsam wird mir bewußt, dass ich wirklich nicht im Feriencamp stecke, sondern in einem Pflegeheim. Ich lerne gerade, dass man nicht unbedingt am Körper krank sein muss, um hier wohnen zu müssen. Habe ich gerade >wohnen< gesagt?

Ich wechsele zum nächsten Thema und bedenke kurz den Zusammenhang: Wenn man debil ist, ist man gleichzeitig geil. Trifft das auf alle zu? Wieder bleibt viel zu wenig Zeit zum nachdenken. Obwohl der Pfleger sich nicht wirklich schnell bewegt, steht doch unausgesprochen ein ständiger Druck im Raum, sich nicht zu lange in einem Zimmer aufzuhalten, der Druck, allein zu sein gegen die vielen Leute in den vielen Zimmern. Ich zähle ja nicht, ich habe keine Ahnung und mit der folge ich Erhard in das nächste Zimmer. Immer schön eines nach dem anderen, dass Ende des Flures ist noch nicht erreicht und auf der anderen Seite befinden auch auch noch Türen. Wie spät ist es eigentlich? Ich habe den Sinn für die Zeit verloren, mich verfolgt die Vorstellung, nicht schnell genug zu sein, so viel Arbeit noch nicht gesehen zu haben, so viele Katastrophen noch vor mir zu haben und gleichzeitig den Eindruck zu gewinnen, die Zeit würde stehen bleiben. Schon jetzt ahne ich, dass so was einen zerreißen kann. Mich ganz bestimmt, wo ich doch absolut nicht zu spät kommen kann. Und hier werde ich immer und überall zu spät kommen. Düstere Aussichten.

Auf dem Türschild steht diesmal eine Frau Rosenkranz und eine Frau Stiefelhagen, dazu noch Frau Poppinger und Frau Wimmer. Vier Frauen auf einem Zimmer, das läßt doppelten Ärger vermuten. Und wieso ist nirgendwo der Vorname verzeichnet? Egal, ich tauche in das Zimmer ein und wieder riecht es nach allem, was ich sonst nicht rieche. Das Zimmer selbst ist ziemlich groß, was aber angesichts der drangvollen Enge nicht so sehr viel bedeutet. Es stehen eben vier Betten darin, drei parallel nebeneinander, das vierte Bett längs an der gegenüberliegenden Wand. Die entsprechende Anzahl Schränke und Stühle und fertig ist die Laube. Die Betrachtung der Frauen darin ist sehr spannend, fast überwältigend, so unterschiedlich sind sie. Wir kommen gerade recht, zuvor einen Streit zwischen den beiden vorderen miterleben zu können, von daher kann ich das mit den Unterschiedlichkeiten gut beurteilen.

»Sie han se doch nimi all, sie Sumpfkoh.«

Die Rednerin sitzt aufgerichtet in ihrem Bett, fuchtelt mit einem Arm, der andere hängt schlaff herunter. Sie ist dünn, faltig und fast kahl. Und rot im Gesicht. Ihre ziemliche beleibte Widersacherin nimmt die Beleidigung gelassen entgegen, liegt auf der Seite, sieht äußerlich unberürht herüber und antwortet dann auf die kölschen Töne mit herablassendem Hochdeutsch, jedes Wort trieft vor Arroganz:

»Wenn sie nicht einmal eine Vorlage lesen können, dann wäre es sicher an der Zeit, die berufliche Perspektive zu überdenken.«

»Wat? Ich lese kin Vorlagen, ich dunn se mir in de Hos, sie Ferkel. Wat sin sie dann für en Tröt, sie han doch denn Schuß net jehürt.«

»Den Schuß? Nun, ich habe den Schuß sehr wohl gehört, gleichwohl kann ich mich der Fragestellung nicht entziehen.«

Ich frage mich ernsthaft, um was es hier eigentlich geht, die zwei reden doch schwer aneinander vorbei. Erhard kümmert sich wie gehabt nicht um die Details, er geht zu der kölschen Frau und faßt sie am Arm an:

»He Oma Wimmer, was ist los? Mußt dich doch nicht immer so aufregen.«

»Wat? Die Aahl do bringt mich ob zack. Die hätt en Tour drupp, also nä.«

Die dicke Frau richtet sich in ihrem Bett auf und sagt mit größmöglich Würde und perfekt herablassend: »Das ist keine Tour, das ist eine ordnungsgemäß angemeldete und genehmigte Dienstfahrt. Ich muss doch sehr bitten.«

Die Frau mit dem roten Kopf beschreibt mit dem Zeigefinger drehende Bewegungen an der Schläfe und rollt mit den Augen: »Na, wat han ich jesacht? Dat is en Sumpfkoh, und dat se dat is.«

Ihre Widerscherin gibt sich nicht geschlagen. Einigermaßen fasziniert beobachte ich den Streit. Die beiden reden miteinander und übereinander, aber sie vermeiden es peinlich, sich anzusehen. Wie im richtigen Leben.

»Meines Wissens gibt es keine Sumpfkühe, zumindest habe ich von keiner entsprechenden Richtlinie Kenntnis erhalten. Weder national noch auf europäischer Ebene.«

Erhard räuspert sich vernehmlich und geht zum obligatorischen Waschbecken, um das Ritual des waschens einzuleiten. Während ich darüber spekuliere, ob die Füllung der Schüssel wohl auch für vier Personen reichen wird, sagt er laut: »Schluß jetzt, ihr zwei, jetzt wird gewaschen und dann gibt es was zu essen und so lange ist Ruhe hier. So Oma, fangen wir an. Mit dem Viertel gibts keinen Ärger, nicht wahr?«

Frau Wimmer nickt und verschränkt mit trotzigem Blick ihre Arme vor der Brust, um damit nach alter Indianer-Tradition klar zu machen, dass sie bis an ihr Ende schweigen wird. Ich fühle mich vertraut mit dieser Szene, so was kenne ich. Endlich ein Fenster zur Realität. Frau Wimmer läßt das Folgende über sich ergehen, die verschränkten Arme stören niemanden. Die andere Frau macht einen indignierten Gesichtsausdruck und dreht sich noch mehr weg.

Aus dem Augenwinkel erkenne ich eine Bewegung. Eine andere Frau springt aus dem Bett und kommt zügig auf mich zu. Was passiert denn jetzt? Sie ist sehr klein, sehr geschäftig und komplett angezogen. Sie tippt mir auf die Brust:

»Hören sie mal, sie müssen was für mich erledigen.«

Aha? Was denn diesmal? Die Frau leckt sich über die Lippen und redet sehr schnell, nur unterbrochen von kurzem hektischen Atem holen: »Rufen sie heute noch an. Unbedingt müssen sie heute noch anrufen. Ich bin die Frau Stiefelhagen, hören sie? Ich habe 33 Jahre beim Karstadt in Wuppertal gearbeitet. Kennen Sie Wuppertal? Jedenfalls müssen Sie anrufen. Bei meiner Krankenkasse. Die Betriebskrankenkasse vom Karstadt in Wuppertal. Sagen sie denen, ich brauche einen neuen Krankenschein. Ich muss nämlich die Zähne machen lassen.«

Zu meiner Verblüffung greift sie beherzt in den Mund und holt einen kompletten Unterkiefer heraus. Ein Blick genügt und mir kommt die Erleuchtung, warum die alten Leute hier so merkwürdig eingefallene Gesichter mit so vielen Falten haben. Ohne Zähne ist nicht mehr genug Gesicht da für die vorhandene Haut. Frau Stiefelhagen fehlt nach dem Griff zum künstlichen Gebiß der Unterkiefer, die Unterlippe endet nun kurz hinter dem Kiefergelenk, eine gezackte Öffnung gewährt den Blick auf eine kleine rote Zunge. Mehr und mehr erstaunt betrachte ich sie bei ihren weiteren Ausführungen. Genau genommen betrachte ich den Mund und versuche zu ergründen, wie sie es schafft zu reden, ohne ihr Zahnfleisch zu beschädigen. Sie spricht immer noch relativ klar und sauber, als sie schnell wie ein Specht auf ihre unteren Zähne klopft.

»Die halten nicht mehr, sehen sie? Der Dr. Diesing hat sie schon drei mal geschliffen und was drunter geklebt. Aber nun halten sie nicht mehr. Sie müssen unbedingt bei der Krankenkasse anrufen. Stiefelhagen, mein Name ist Stiefelhagen. Die kennen mich. Ich habe 33 Jahre bei Karstadt gearbeitet. Karstadt Wuppertal, waren sie da schon mal?«

Ich schüttele den Kopf. Ich bin mal Schwebebahn gefahren, aber an einen Karstadt kann ich mich nicht erinnern. Überhaupt stehe ich wiederum vor der Frage, was ich hier und jetzt machen soll. Was wird von mir verlangt? Die Frau will mir offenbar als Bekräftigung ihrer Argumentation die Zähne in die Hand drücken. Ein kleiner Schauer rieselt über meinen Rücken. Da klebt noch ein Batzen dran, dessen Zusammensetzung ich nicht genau analysieren kann. Was steckt im Mund und ist rötlich-gelb? Vor allem aber peinigt mich meine Unwissenheit über die Anforderungen, die mein neuer Arbeitgeber in derartigen Situationen an mich stellt. Die Antwort auf diese Frage läßt nicht lange auf sich warten. Von hinten ertönt die barsche Stimme Erhards: »Stiefelchen, laß den Mann in Ruhe. Und stecke die Zähne wieder in den Mund. Der Krankenschein ist unterwegs.«

Die Frau zuckt zusammen und stopft ihren Unterkiefer in einer rasanten Bewegung in den Mund. Sie schweigt, beäugt mich aber weiterhin, wenn auch ab jetzt mehr von der Seite. So stehen wir beide etwas unschlüssig zusammen, keiner traut sich etwas zu sagen. Erhard wäscht derweil die hochnäsige Dame auf dem Bett. Diese reckt die Nase noch ein Stückchen höher und sagt: »Was erlauben sie sich? Wissen sie nicht, mit wem sie es zu tun haben?«

Erhard unterbricht sein Tun keine Sekunde, murrt aber zurück: »Sie sind Frau Poppinger, sie sind 88 Jahre alt und sie haben einen Riß im Kappes.«

Frau Poppinger reißt die Augen auf und legt alle Verachtung in ihren Gesichtsausdruck. Sie sieht den Pfleger nun an, um ihn mit größmöglicher Strenge in die Knie zu zwingen: »Noch nie bin ich so beleidigt worden. Dafür werden sie zur Verantwortung gezogen werden. Soviel ist gewiß. Oh ja, ich werde einen Aktenvermerk verfassen, gleich morgen früh. Gegrüßest seiest du, Maria.«

Ungerührt schrubbt Erhard weiter an ihr herum, zerrt sie dann vom Bett, zieht ihr eine beeindruckend große Unterhose herunter und setzt sie in einen Stuhl.

»Das haben sie gestern auch schon gesagt. Und vorgestern. Sie sagen es jeden Tag. Und ich werde jeden Tag bestraft. Ich muss jeden Tag hier rein und mir euren Quatsch hier anhören.«

Nun grinst er zu mir herüber und sagt: »So steigert sich der Unsinn: Quatsch, Quätscher, Poppinger.«

Dann reißt er sie wieder aus dem Stuhl, zieht die Hose hoch, streift ihr ein Kleid über, das bisher achtlos über einem Bettpfosten hing und setzt Frau Poppinger wieder auf ihr Bett. Dort nimmt sie ihre ursprüngliche Lage wieder ein, halb liegend und zur Gänze arrogant starrt sie eine Stelle an der Wand an. Dies tut sie sehr hochmütig und auch abweisend und es stört sie nicht im geringsten, dass es die Wand nicht im geringsten stört. Erhards und auch mein Augenmerk richtet sich nun auf die vierte Frau in diesem Raum.

Ich bin erstaunt. Sie sieht aus wie eine feine Dame. Gepflegtes Gesicht, ein ordentliches frisches Nachthemd an und die Frisur sorgfältig toupiert. Mein Erstaunen wird größer, als Erhard der Frau ganz brav die Hand gibt: »Guten Morgen, Frau Rosenkranz. Haben sie gut geschlafen?«

Mit angenehmer ruhiger Stimme bejaht dies die Frau, woraufhin der Pfleger seinen Praktikanten vorstellt. Also gebe ich der Frau ebenfalls die Hand. Sie lächelt mich freundlich und doch distanziert an und gibt dann dem Pfleger ein Zeichen. Erhard dreht sich zu mir um: »Schütte mal den Topf aus. Ich mache derweil Frau Rosenkranz fertig.«

Welcher Topf? Leicht irritiert sehe ich mich um. Bevor die vollständige Ratlosigkeit über mich kommt, verfängt sich mein Blick an dem Stuhl, auf dem eben Frau Poppinger saß. Da ist ein Loch drin. Hat es eben nicht geplätschert, als die Frau da drauf saß? Ich trete an das Möbel heran. Tatsächlich befindet sich in dem Stuhl ein großes Loch und darunter erblicke ich den angesprochenen Topf. Der Topf ist groß und tief, vom Umfang her einem handelsüblichen Putzeimer gleich, aber nur halb so tief. Was nicht unbedingt ein Vorteil sein muss. Er ist nämlich bis fast zum Rand mit Urin gefüllt. Wie kriege ich das Ding jetzt da raus? Nun ja, solange ich nicht mit Menschen, sondern mit Gerätschaften zu tun habe, behalte ich einigermaßen den Überblick. Ich erkenne die Technik hinter dieser Konstruktion und es geling mir, den Topf aus seiner Verankerung zu ziehen. Kurz darauf stehe ich auf dem Flur und es wird mir bewußt, dass es der Pfleger versäumte, mir den Weg zu einer Entsorgungsstätte zu beschreiben.

Am Kopf kratzen verbietet sich, da ich den Topf mit beiden Händen am überschwappen hindern muss. Also gehe ich einfach mal den Flur hinunter und lese die Türschilder. Der Flur ist sehr lang, wenn man in jedem Zimmer arbeiten muss, von der reinen Entfernung her betrachtet aber ziemlich überschaubar. Nach wenigen Metern finde ich das Bad und freue mich über eine Tür, die aus weiser Voraussicht nur angelehnt wurde. Licht brennt auch, was angesichts fehlender Fenster vernünftig erscheint. Der Raum ist recht groß, größer jedenfalls als die Zwei-Bett-Zimmer. In der Mitte steht ein Monstrum von einer Badewanne, an einem metallenen Block am Kopfende befestigt, an dem man die Wanne in der Höhe verstellen kann. Jedenfalls schwebt die Wanne in einer ordentlichen Höhe, der Rand befindet sich etwa auf meiner Schulterhöhe. Das Gerät ist umstellt von blauen Stühlen, die auf klobigen Fahrwerken aufgebaut sind. Hinten dran bemerke ich eine Art Propeller mit Griff. Vermutlich wird daran die Höhe verstellt, um die Leute in diese Gebirgs-Badewanne zu hieven. Nicht mein Problem. Am anderen Ende des Raumes gewahre ich mein mutmaßliches Ziel. Ein Klo. Relativ leichtfüßig bewege ich mich mit meiner Fuhre dorthin und schaffe es tatsächlich, den Inhalt unfallfrei auszuleeren. Als einigermaßen reinlicher Mensch spüle ich den Topf anschließend noch mit klarem Wasser aus dem Waschbecken kurz um.

Meine erste gelungene Aktion heute morgen. Ich verharre einen Augenblick, um meine kleine Freude auszukosten. Einigermaßen verblüfft stelle ich fest, dass meine Angst fast vollständig verflogen ist. Jedenfalls die Angst vor unbekannten Situationen. Ich habe nicht darauf geachtet und nun ist sie weg. Statt dessen tritt eine gewisse Unsicherheit in den Vordergrund. Die Unsicherheit, die mich immer überfällt, wenn ich mich bemühen will, nichts falsch zu machen. Also eine für mich normale, übliche und damit beherrschbare Angelegenheit. Auch ein Quantum an Neugierde stelle ich fest. Dieses Altenheim bedeutet für mich ungefähr das gleiche wie für einen Raumfahrer, zum ersten Mal den Palast einer fremden Macht zu betreten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass dies hier wahrhaftig kein Palast ist. Immerhin bleibt festzuhalten, dass sich das schlimmste Gefühl langsam verflüchtigt hat und nun das zweitschlimmste Gefühl am Zug ist. Ob das wirklich ein Vorteil ist, wage ich zu bezweifeln.

Ich muss weiter. Ergeben raffe ich mich auf und gehe wieder zu dem Zimmer. Dort hat sich in der Zwischenzeit nicht viel verändert. Frau Wimmer und Frau Poppinger ignorieren sich demonstrativ und Erhard macht irgendetwas an einem Kleiderschrank, während Frau Rosenkranz nunmehr in einem Rollstuhl sitzt und eine Zeitung liest. Frau Stiefelhagen lauert unruhig und sprungbereit auf ihrem Bett, ihr Blick hetzt zwischem dem alten Pfleger und mir hin und her. Ich kann ihre Gedanken lesen. Wäre Erhard nicht zugegen, sie würde auf der Stelle und blitzartig zu mir herüber springen und mir ein Gespräch ins Ohr drücken. Ich schiebe den Topf an seinen Platz und schon wendete sich Erhard von seiner Arbeit ab und bedeutet mir, ihm nach draußen zu folgen.

»Na, hast du die Fäkalienspüle gefunden?«

Was? Habe ich es doch nicht richtig gemacht? Vorsichtig sage ich: »Wieso? Ich habe alles ins Klo geschüttet.«

Warum soll das verkehrt sein? Diese Urin-Beutel werden auch ins Waschbecken gekippt, warum soll das ein als Entsorgungsmöglichkeit gesellschaftlich anerkanntes Klo nun ausgerechnet falsch sein? Alle Welt benutzt Toiletten als Friedhof für Urin. Außer China, Afrika und der Besatzung von Ballermann 6 natürlich. Erhard griemelt sich eins: »Du bist wirklich neu in der Branche. Wir haben spezielle Spülen für Töpfe und Pfannen. Aber Klo ist schon OK. Diese Hygiene-Fuzzis sollen sich nicht so anstellen. Na komm, machen wir weiter. Ist schon spät.«

Oh Herr, nicht so viel Input. Pfannen kommen auch in die Fäkalienspülen, was immer das auch sein mag? Was sind Hygiene-Fuzzis? Hilft alles nichts, die nächste Tür, der nächste Kunde.

Ich trete durch die Tür und sehe gerade noch, wie der Pfleger verschwindet. Im Nebel. Dieses Zimmer ist tatsächlich so dicht vernebelt wie die Vulkaneifel an einem frühen Herbstmorgen. Der Gedanke an eine Filmszene überkommt mich. Ein Unfall auf der Rennstrecke, dichter Qualm nimmt jede Sicht. Der Held knirrscht mit den Zähnen und stürzt sich mit Vollgas hinein. Einen Schritt weiter ist mir klar, dass ich so falsch nicht gelegen habe. Hier herrscht kein richtiger Nebel sondern Qualm. Dichter ätzender klebriger übel richender Qualm. Zigarren-Qualm. Sogar die Sorte kenne ich. Mein Opa rauchte auch dieses Kraut. Handelsgold. Die billigsten Zigarren auf dem Markt, klein und dick produzieren sie zuverlässig den fettigsten Qualm der Galaxis.

Offenbar unternimmt Erhard alles Notwendige zur Rettung der Zimmer-Besatzung, es wird windig und die Sicht fast sofort deutlich besser. Ich dachte immer, so was gäbe es nur in Cartoons. Aber tatsächlich schälen sich erst jetzt zwei Betten aus dem Nebel. Erhard füllt wieder seine ominöse Schüssel und ruft von dort: »Na, Kalle, wieder die Nacht durchgequalmt? Kannste da überhaupt noch den Fernseher erkennen?«

Erst jetzt sehe ich, dass dies ein Zimmer mit Männerbesatzung ist. Der Mann im rechten Bett schnaubt verächtlich und keift dann mit ungewöhnlich hoher und rostiger Stimme: »Ach Quatsch! Titten sehe ich immer und überall.«

Erhard dreht sich um und griemelt wieder: »Kriegst du das nicht langsam dicke? Diese Werbung für Telefonsex ist doch völlig hirnrissig.«

»Jedes Weib ist hirnrissig. Die meisten tun nur so, als wären sie schlau und erhaben. Die Schlampen im Fernsehen sind wenigstens erhrlich. Nun gib schon her.«

Sichtlich genervt schwingt sich der Mann auf die Bettkante, während Erhard die Schüssel und einen Lappen nebst Handtuch auf dem Beistelltischchen absetzt. Ich danke noch über das Gesagte nach, da erkenne ich, warum dieser Mann im Altenheim lebt: beide Beine fehlen. Er trägt nur ein Shirt, untenrum nichts und deshalb erkenne ich sehr deutlich, dass von den Beinen nur mehr ganz kurze Stümpfe übrig sind. Ich hefte den Mann unter der Rubrik >zynischer Kriegsheld< ab und widme meine Aufmerksamkeit dem anderen Mann. Wie bestellt fordert mich Erhard auf, diesem Mann aus dem Bett zu helfen. Dann verläßt er den Raum. Der Kriegsheld stößt heldenhafte Kampfrufe aus, das Wasser wird wohl kalt sein. Unsicher trete ich an das Bett des anderen Mannes. Ein hagerer Glatzkopf lächelt mich an. Auf seinem Beistelltischchen stehen drei Aschenbecher. Große Aschenbecher. Alle voll mit Asche und winzigsten Stummeln von Zigarren. Ahnungsvoll wandert mein Blick zu seinen Fingern, die er mir gerade entgegen streckt. Braunschwarze Ruinen greifen nach mir. Diese Finger müßten von Rechts wegen zu einem Brandopfer gehören, so vollständig sind sie mit schwarzen Wunden, rotem Heilfleisch und eitrigen Stellen übersät. Die soll ich jetzt anfassen. In Bruchteilen von Sekunden fällt mir Old Shatterhand ein und ich schaffe es, ihn am Handgelenk zu packen. Die Finger bleiben mir erspart, aber das war noch nicht alles. Plötzlich steigt die Angst in mir auf, den Mann zu zerbrechen. Alle seine Gelenke knirschen und knacken wie alte Holztüren, die man nach Jahren wieder einmal öffnet. Trotzdem verfügt der Mann über Kraft, er hilft gut mit. Dann sitzt er auf der Bettkante und grinst mich von unten schelmisch an: »Rauchst du, mein Junge?«

Nein, ich rauche nicht. Die drittschlimmste Angst: süchtig werden. Deshalb rauche ich nicht und ich trinke auch nicht. Ich hasse es, wegen einer Sucht die Kontrolle zu verlieren. Andererseits überwältigt mich manchmal der Wunsch nach eben diesem Kontrollverlust. Nicht denken zu müssen, eine wunderbare Vorstellung. Knirschende Geräusche reißen mich aus meinen Überlegungen. Der Mann steht auf und sagt ganz stolz.

»Rauchen ist überhaupt nicht gefährlich. Ich bin neunzig und rauche, seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. Jeden Tag, den Gott gibt, dreißig oder vierzig Stück. Das hält mich fit.«

Ich hätte da noch eine andere Möglichkeit anzubieten. Den Geräuschen nach zu urteilen, wurde er durch das Rauchen fachgerecht eingepökelt. Gepökeltes hält sich länger. Außerdem inhalieren Zigarren-Raucher nicht.

»Ich heiße Göschl.«

Er streckt mir freundlich die Hand hin, die ich instinktiv ergreife.

»Römer. Oliver Römer.«

Er nickt und dann beginnt er mit etwas, was bei jedem anderen Menschen >Kniebeugen< genannt werden würde. Es hört sich an, als ob Kinder ganz langsam die alte Holztür auf- und zumachen. Herr Göschl schafft die Bewegungen auch nurmehr ansatzweise. Er streckt beide Arme nach vorne aus, geht ein wenig in die Knie und kommt ganz langsam wieder hoch. Dazu knirschen und knacken die Gelenke lautstark. Ich erwarte, dass jeden Augenblick ein Meniskus aus den ledrigen Hautlappen hervorbricht und durch den Raum fliegt. Doch Herr Göschl bleibt ganz. Sein Gesicht verfärbt sich rötlich und er schnauft auch wie eine dieser historischen Dampfloks, wenn sie ermattet in den Bahnhof einlaufen. Aber zu meinem größeren Erstaunen schafft er den Bewegungsablauf zwanzig Mal. Dann setzt er sich auf einen Stuhl, der neben dem Bett auf ihn wartet, und zieht aus der einzigen Schublade des stählernen Beistellschrankes eine imposant große Kiste. Sie ist noch halb voll. Er bietet mir auch einen seiner Nebelwerfer an, was ich dankend ablehne. Herr Göschl gibt Feuer, pafft ein paar Wolken über das Bett, grunzt zufrieden und erst danach greift er zur Fernbedienung und zappt sich durch ein paar Kanäle. Er hat sich nicht gewaschen, was der Auftrag von Erhard auch nicht beinhaltete. Die härtesten unter uns waschen sich nie.

Der andere Mann hat seine rituellen Waschungen beendet, was mich dazu ermutigt, ihm spontan meine Hilfe anzubieten. Ungnädig gestattet er mir, die Waschschüssel abzuräumen. An ihrem Rand hat sich bereits ein dicker Streifen gebildet, genau an der Wasserlinie, die Zusammensetzung ist mir unbekannt. Jedenfalls läßt sich der Streifen mit hartem Wasserstrahl zumindest teilweise wegwaschen. Ihn anzufassen, womöglich mit den Fingern abzuribbeln, dafür halte ich es noch für zu früh. Das soll mir erst mal einer zeigen.

Kaum fertig, erscheint Erhard wieder und übermittelt mir eine Botschaft: »Gehe mal nach oben. Die Elke will dich kennenlernen.«

Diese Aufforderung ist für mich in jeder Hinsicht mysteriös. Wer ist Elke und wo ist oben? Aber wie schon zuvor bringe ich es nicht über mich, genau zu fragen. Ich hasse es, zu fragen. In jedem Supermarkt suche ich mir den Wolf, anstatt eine Verkäuferin zu fragen. So bin ich eben und daher mache ich mich unverzüglich auf den Weg. Auch wenn ich nicht weiß, auf welchen Weg, und was mich da erwartet.

Nun ja, in Wirklichkeit ist es natürlich recht einfach. Ich habe schließlich nacheinander eine paramilitärische und eine militärische Ausbildung genossen. Ich finde ohne Landkarte einen bestimmten zwanzig Kilometer entfernten Punkt in der Pampa, da wird so ein relativ kleines Gebäude nicht übermäßig kompliziert sein.

Und richtig, ich erreiche das Erdgeschoß und folge dem Qualm und dem Lärm. Zwei Frauen quatschen lautstark mit eingestreuten Lachern. Zu meiner milden Überraschung dringt der Lärm nicht aus dem mir bereits bekannten Zimmer neben der Glastür, sondern aus dem Raum gegenüber. Die Tür ist einen Spalt breit offen und Qualm dringt in schweren Schwaden heraus. Nachdem ich gerade aus dem Zimmer mit den beiden Todesrauchern komme, versetzt mich der Anblick nicht mehr in Unruhe. Mit Feuerlöschern kenne ich mich aus, ich bezweifele allerdings, angesichts allgegenwärtiger Rauchschwaden einen echten Brand rechtzeitig erkennen zu können. Jedenfalls trete ich relativ entschlossen durch die Tür und tauche in einen ähnlich dicken Nebel ein wie vorhin im Untergeschoß. Die hier arbeitenden Leute haben ihre Sinne offenbar perfekt an die neue Umweltbedingung angepaßt. Ich sehe noch nichts, werde aber bereits erkannt.

»Hey, bist du der Praktikant?«

Ich nicke nur, dann fällt mir ein, dass ich ja unsichtbar sein müßte und krächzte ein >Ja< hinterher, und nehme die Gelegenheit wahr, mich weiter in den Raum zu schieben. Ich möchte schließlich auch meinen Gesprächspartner sehen können. Ob das eine Freude ist, bezweifele ich auf der Stelle. Die sprechende Gestalt schält sich aus dem Nebel wie ein Eisbrecher und genau das ist sie, in mehrfacher Hinsicht. Eine Frau steht da hinter einem kalkweißen Schreibtisch, größer als ich, breiter als ich und ganz sicher schwerer als ich. Wenn ich einen Zwilling hätte, den ich nicht habe, dann wären wir zusammen nicht so schwer wie sie. Der Oberkörper ein Koloss, mit Säulenbeinen unten dran, aber mit einem normal proportionierten und damit wesentlich zu klein wirkenden Kopf oben drauf. Der wird allerdings von der grellen Schminke ziemlich verunstaltet, und bei näherem Hinsehen stelle ich bei ihr Haarausfall fest, was durch die amateurhaft fleckig-rot gefärbten Haare noch deutlicher auffällt. Unglaublicherweise trägt sie einen weißen Kittel, solche Größen habe ich nie zuvor gesehen. Ich habe aber auch nicht danach gesucht. Wer sucht schon etwas, von dessen Existenz er nichts ahnt? Der Koloß umrundet breit grinsend den Schreibtisch, walzt auf mich zu wie ein Leopard-Panzer und gönnt mir einen Händedruck, bei dem ich gerade noch rechtzeitig genug Widerstand aufbringe, um meine Knochen vor dem zerquetschen zu retten. Dann höre ich ihre helle, merkwürdig euphorische Stimme:

»Hallöchen, ich bin Elke. Wenns was zu entscheiden gibt, halt dich an mich.« Dann entläßt sie meine Hand in die Freiheit, dreht sich um und walzt wieder zurück und läßt sich schwer auf ihren Sessel plumpsen, der das gar nicht lustig findet. Klar, denke ich militärisch korrekt, überschwere Panzer dürfen nicht auf der freien Prärie herumstehen, sondern müssen immer in gut gesicherten Stellungen untergebracht sein. Nicht, dass ich etwas gegen dicke Frauen hätte. Im Gegenteil vermeide ich es nach Kräften, mit ultradünnen und klapprigen Mädels in näheren Kontakt zu treten. Ich bin ein Mann und kein Fakir. Wieder so eine Sache, bei der alle anderen Männer gänzlich anderer Ansicht zu sein scheinen. Jedenfalls habe ich gerne was in der Hand, der Genuß ist dann größer. Bei Elke müßte ich jedoch ablehnen. Wenn die mit dem Becken zuckt, zerbröseln meine Hüftgelenke, von den dazwischen liegenden Teilen ganz zu schweigen. Leider entbehren meine Überlegungen jedweder Bodenhaftung. In Wahrheit bin ich so ausgehungert, dass ich es blindlinks riskieren würde. Nachdem ich wieder einmal glücklich einen Ring sinnlosen denkens abgeschlossen habe, gewahre ich auch die andere Person, die sich in diesem Nebel befindet. Es ist Monika, die ziemlich große Pflegerin. Sie rafft jetzt ein paar Sachen zusammen und wendet sich zum gehen: »So, tschausi, ich muss noch ein paar Kerle verarzten.«

Dabei sieht sie mich an, als müßte ich über einen Witz lachen. In der Kürze der Zeit vermag ich mir gerade noch ein schiefes Lächeln abzuringen, dann ist Monika auch schon draußen.

Jetzt bin ich mit dem Koloß allein. Mut ziert auch den Mammelucken, da muss ich nun durch. Sie beugt sich nach vorn, merkwürdigerweise knirrscht der Tisch gar nicht: »Na, Olli, erzähle mal was. Deine Bewerbung war ja ziemlich dünn.«

Sie sieht mich aufmunternd an. So fühlt man sich also in der Talk-Show, wenn man ohne Ahnung hineingerutscht ist. Die Kamera läuft, also erzähle jetzt verdammt noch mal was. Egal was, die Zuschauer warten. Schön und gut, aber ich bin erst Anfang zwanzig und habe noch nicht viel erlebt. Außer einer reichen Anzahl von Kathastrophen und Fehlschlägen natürlich, aber das werde ich ihr auch unter der Folter nicht erzählen. Glaube ich jedenfalls.

»Nun, ich war Schüler, habe mein Studium versiebt und nun bin ich hier.«

Offensichtlich habe ich schon zu viel verraten, denn sie nickt wissend.

»Ich habe gehört, du warst bei den Jesuiten? Jedenfalls hat das dem Pastor gefallen. Er denkt, dass du dadurch die richtige Einstellung hast.«

Aha? Ich habe von keinem Pastor gehört. Ich habe auch bis vorhin nicht gewußt, dass dieses Altenheim von einem Pastor geleitet wird. Auf dem Wisch, den man mir schickte, stand nur drauf, dass ich mich heute hier einfinden solle, weil man mich einzustellen gedenke. Unterschrift unleserlich, in Klammern dadrunter >Leiter<. Wieviel Leiter hat der Laden eigentlich? Mir scheint der Augenblick gekommen, zu den Ausführungen der aktuell in diesem Raum befindlichen Leitung zu nicken. Das hat sie so erwartet.

»Das ist gut. Der Pastor denkt, was er denken will. Hier bei uns kommt es auf andere Dinge an. Wir halten hier viel auf Teamgeist. Wir müssen zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen, uns helfen. Sonst wird das hier schnell zu einer furchtbar freudlosen Tätigkeit. Verstehst Du?«

Nicht wirklich. Soll ich nackt auf dem Tisch tanzen, damit wieder Freude einkehrt in diese heiligen Hallen? Auf meiner Stirn steht das offenbar zu lesen, wenn auch in einer leicht redigierten Fassung.

»Du bist neu hier, aber du hast sicher schon raus, wie der Hase läuft. Es ist nun mal so, dass wir hier bei Katholens arbeiten. Unsere Bosse halten nicht viel von Fröhlichkeit, alles tödlich ernste Wichtigtuer. Nur halten wir es nicht aus ohne ein Mindestmaß an Scherzen und Lockerheit. Die Arbeit ist schon ohne diese Heinis schwer genug, ohne Lachen und Scherze wäre sie unerträglich.«

Du bist schon schwer genug. Da braucht es gar keine Arbeit mehr. Davon abgesehen eröffnet sich mir ein neues Stück der Wahrheit. Elke ist gar nicht der Oberboß, da stehen die Anderen noch drüber. Das hätte ich mir nach dem Vorangegangenen schon denken können, hätte ich denn darüber nachdenken wollen. Hier zeigt sich hingegen, dass sich die mehr oder weniger zahlreichen Leitungen untereinander nicht einig sind. Da gibt es Chefs, denen es nicht gefällt, wie hier gearbeitet wird. Möglicherweise. Hilft mir aber auch nicht weiter. Zeit, etwas zu sagen, was dem Koloß gefallen muss.

»Ich bin hier, um zu lernen. Alles andere interessiert mich nicht.«

Der Koloss grinst noch breiter. Grinsen scheint hier zur Dienstkleidung zu gehören.

»Fein. Dann verstehen wir uns. Dann kann ich dir die Details erklären. Also: Wir machen vormittags um 9.30 Uhr eine Pause. Die Brötchen muss man normal bezahlen, wenn man die Dienstanweisung beachtet, was wir aber nicht tun. Klappe halten gegenüber dem Pastor, klar? Mittags um 12.00 Uhr essen wir was warmes. Auch davon ahnt kein Boß etwas, weil wir offiziell nichts essen dürfen und auch nichts erhalten. Wir kommen trotzdem an Essbares heran. Was halt so übrig bleibt bei der Fütterung der Raubtiere.«

Sie lacht schallend und macht sich einen Kaffee. Erst jetzt sehe ich den in der Ecke auf einem Wandregal angebrachten Espresso-Automat. Mit beeindruckendem Lärm mahlt und kocht und rattert und gurgelt er vor sich hin, um am Ende eine lächerlich kleine Tasse mit tiefschwarzer Flüssigkeit zu füllen. Mit einem happ stürzt Elke die Brühe hinunter, wischt sich den Mund breitflächig ab, wobei die Schminke nur mühsam den Wellen folgt und spricht weiter: »Na ja, im Spätdienst läuft es ähnlich ab. Wichtig ist halt, dass du dir genau ansiehst, wie Erhard die Dinge da unten regelt. Das ist deine zukünftige Stamm-Station. Dort wirst du fortan immer eingeteilt. Wenn du in ein paar Tagen alles weißt, dann kann der Erhard endlich mal in Urlaub gehen und auch seine Überstunden abfeiern. Dann ist das dein Job. Natürlich musst du das auch hinkriegen, von der Arbeit her.«

Die Einschläge kommen wieder näher. Das Herz rutscht mir ziemlich tief in die Hose. Die lassen mich also tatsächlich mutterseelenallein vor mich hin brasseln. Einer gegen wieviel alte Leute? Die Aussicht, auch hier recht schnell der Loser zu sein, steht wieder sehr konkret und sehr groß vor meinem geistigen Auge.

»Da kommen auch öfters die Großköpfe vorbei, wegen der Frau Bartsch. Das ist unser Fundi. Hast du sie schon gesehen?«

Ich schüttele matt den Kopf. Was denn jetzt noch? Sitze ich zu allem Überfluß auch noch auf so einer Art Präsentierteller?

»Du wirst sie lieben«, sagt Elke mit schelmischem Augenaufschlag, »die alte Nervensäge ist so was von rechtsradikal, dass sie links wieder rauskommt. Und dabei noch turbo-katholisch. Alles zusammen wird erst so richtig verständlich, wenn du einen Blick in ihre Krankenakte geworfen hast. Nebenbei leben nämlich die Tauben in ihrem Hirn«, Elke beschreibt mit dem Zeigefinger kreisende Bewegungen an ihrer Schläfe, »vielleicht gehört das ja wirklich zusammen. Was ich sagen will: Du musst den Mund halten. Der Pastor und die anderen Vorstandsfuzzis fragen Neue gerne aus. Um uns alten Hasen dann einen reinzudrücken. Denen sind nämlich langjährige Mitarbeiter ein Gräuel, weißt du? Wegen dem mit den Jahren anwachsenden Kündigungsschutz und noch mehr, weil die alten Hasen mehr Informationen und Wissen von dem ganzen Laden haben, als so ein Super-Katholik in seinem ganzen Leben auch nur erahnen könnte. Deshalb feuern sie gerne mal den einen oder anderen guten Mitarbeiter, nur um klar zustellen, wer der Boß ist. Also mache dich beliebt und halte den Mund. Alles klar?«

Ja und nein. Ich sehe jetzt, dass es hier mit einiger Sicherheit mehr Häuptlinge gibt als Indianer. Von der Theorie aus betrachtet, und ich kann die Welt nur aus der Theorie betrachten, eine wesentliche Voraussetzung für Chaos und Untergang.

Außerdem legen die Indianer Wert darauf, sich die Häuptlinge vom Hals zu halten. Nun, davon verstehe ich etwas. Die christliche Variante der Diktatur habe ich neun Jahre lang genossen. Und überlebt. Meine größte Lebensleistung bisher.

»Ja, alles klar.«

»Fein, dann kannst du jetzt wieder runter gehen zu Erhard.«

Das mache ich gerne. Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie sie zum Hörer greift und sich gemütlich zurücklehnt, dann genieße ich die frische Luft, die der Flur mir bietet. Wie kann ein einziger Mensch nur derart qualmen? Und dafür derart viel Zeit zur Verfügung haben?

Auf dem Weg nach unten bemerke ich etwas. Neugierig trete ich näher. An der Wand zwischen der Tür und den Treppenstufen hat man ein buntes Plakat angebracht, dessen Überschrift mich eingefangen hat: »Leitbild« steht dort geschrieben. Hastig lese ich den Text durch. Die Schlagworte schwirren durch meinen Kopf: >Der Mensch steht im Mittelpunkt< und >wir leben das Christentum<. Die Passage >unsere Mitarbeiter fühlen sich den christlichen Glaubensgrundsätzen verpflichtet, sie pflegen und betreuen die ihnen anvertrauten Senioren im Geiste Christi. Sie leben ein soziales und gottgefälliges Leben auch im privaten Bereich vor< empfinde ich eher als Drohung. Der Rest ist gelogen, in peinlicher schwadronierender und selbstgefälliger Diktion, eben unerträglich. An wen richtet sich dieses Machwerk?

Oh, um die Ecke am Ansatz des Treppenlaufs sehe ich ein weiteres Plakat. Unter Stress bin ich blind wie ein Maulwurf, heute morgen waren die Wände noch weiß. Tunnelblick. Vielleicht auch eine reine und sinnvolle Schutzmaßnahme, denn auch auf diesem Plakat lese ich Dinge, die mir Knoten in die Zehen treiben. Ein Spendenaufruf, der ziemlich plump den Christen in uns allen anspricht. Schlimm genug, dies wird jedoch durch fein verpackte Verleumdung des Staates getoppt. Die schreiben doch tatsächlich, dass der Staat nicht genügend Geld zahlt, damit eine menschenwürdige Pflege gewährleistet ist. Mit anderen Worten, der Staat sorgt für den Standard eines Knastes, wer es >menschlich< haben will, der muss den Kirchen spenden, damit die dann ein wenig für die armen geschundenen Heimbewohner unternehmen kann. Ziemlich fies. Nicht, weil die Kirchen unendliche Summen vom Staat bekommen, um ihre eigenen Leute, die Priester und Prälaten zu entlohnen. Ich halte diesen Aufruf für fies, weil dies eine kirchliche Einrichtung ist, die bereitwillig für Vater Staat eben jene Drecksarbeit erledigt, die sie zum Wohle des Spendenflusses anprangert. Und dann noch ausschließlich in Spendenaufrufen, im TV habe ich noch nie was von dieser Problematik gehört. Au weia, nun muss ich also nicht nur das Christentum leben, am Ende erwartet man von mir auch noch den zehnten Teil meiner Einnahmen als Spende.

3 Tage im Juli

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