Читать книгу Charles Finch: Gedächtnisverlust - Thomas Riedel - Страница 4
Оглавление»Das Gedächtnis ist das Tagebuch,
das wir immer mit uns herumtragen.«
Oscar Wilde
(1854-1900)
1
Barking, England, 1888
Zu Lebzeiten war das ehemalige Mitglied des ›House of Lords‹, ein Mann von großer Bedeutung. Jetzt, wo Cameron Whiteman tot war, stieg diese Beteutung in unermessliche Höhen. Von seinen Freunden wurde er als ein großer liberaler Politiker und Mensch gepriesen – als ein Mann, der das Weltgeschehen vielleicht besser im Griff hatte als jeder andere im britischen Empire. Seine Karriere im Oberhaus des britischen Parlaments bekam einen Charakter der Robustheit und Kraft. Die Bücher und Artikel, die er seit seinem Abschied geschrieben hatte, wurden von Fachleuten als Dokumente angesehen, die Teil der britischen Geschichte werden könnten. Er wurde zu einem Staatsmann erhoben – zu einem Mann, an den man sich schon allein seiner immerwährenden Wohltätigkeit erinnern würde – zu einem Mann der Oberschicht, und doch zu einem, der nie den Bezug zum einfachen Volk verloren hatte.
In der Nacht, in der Cameron Whiteman starb, sprach sein Sohn ein paar Worte, über die die Leute nur verständnislos den Kopf schüttelten. Schnell machte es die Runde, wie schwer das Kreuz war, dass Whiteman seinetwegen ein Leben lang mit sich herumgetragen hatte. Sein Sohn hatte in seinem ganzen Leben noch nie wirklich etwas gemacht, abgesehen von einer ›Karriere‹, die von immerwährenden Exzessen geprägt und vor allem durch reichlich Alkohol gekennzeichnet war.
Spät in der Nacht, in der Cameron Whiteman starb, saß Joseph in der Bibliothek seines Vaters. Sein fahles, maskenhaftes Gesicht hatte eine fast grünliche Farbe, und der feine Zug, der seine dünnen Lippen umspielte, war nicht mehr als der Spott eines Lächelns. Er hob seinen sechsten zweifingerbreiten Whisky in Folge an, mit der Geste eines Mannes, der einen Toast ausbringen wollte. Dabei sprach er laut, obwohl sich außer ihm niemand im Raum befand: »Der König ist tot! … Jetzt kann vielleicht jemand anderes leben!«
Er wusste nicht, dass vor der Tür zur Bibliothek ein in Zivil gekleideter Beamter von Scotland Yard jedes Wort akribisch in seinem kleinen Notizbuch niederschrieb.
*
Gegenüber der Bibliothek befand sich ein kleiner, mit Büchern angefüllter Raum, der Cameron Whiteman als Arbeitszimmer gedient hatte. Die Bücherregale, die erst mit der hohen Zimmerdecke abschlossen, waren mit in Kalbsleder gebundenen Gesetzesbüchern, Werken der Politik, Psychologie und Kriminologie beladen. In einem speziellen Regal, das vom großen dunkelbraunen Ledersessel aus leicht zu erreichen war, fanden sich die eigenen Schriften des ehemaligen Mitgliedes des Oberhauses. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiger Schreibtisch, umringt vom Sessel und zwei Stühlen, auf dem eine messingfarbene Leselampe stand.
Diese moderne elektrische Lampe war durch diverse Gelenke verstellbar, und wurde jetzt so gedreht, dass sie das Gesicht des Mannes erleuchtete, der im Ledersessel hinter dem Schreibtisch saß. Es war ein großer, hagerer Mann kurz vor seinen Vierzigern, mit tiefen Linien an den Mundwinkeln und dunkelblauen Augen. Sein Blick wirkte wie der eines in die Enge getriebenen wilden Tieres. Sein Gesicht wirkte farblos. Er setzte sich im Sessel ein wenig nach vorne und packte die Lehne mit langen, gespreizten Fingern – gerade so, als ob er erwartete, dass der Sessel plötzlich nach hinten umkippen würde und er selbst dabei in Vergessenheit geriet.
Außerhalb des Lichtkreises hatte sich ein Mann auf der Armlehne eines Stuhls niedergelassen. Er war mäßig groß, von dünner Statur, mit einem eiförmigen Kopf und dunklen Augen, die glitzerten, wenn sie ein Lichtstrahl traf. Er war ein starker Raucher, wie der neben ihm stehende Aschenbecher zeigte, der bis zum Überlaufen gefüllt war. »Fangen wir also noch einmal von vorne an, Mr. Steel«, knurrte er unzufrieden.
Der Mann im Lichtkegel befeuchtete unruhig seine Lippen. »Es tut mir leid, Sir, wirklich«, erwiderte er mit verzweifelter Stimme, »aber mein Name ist nicht Steel.«
»Wie heißen Sie dann?«
Der Mann senkte den Kopf. »Ich … ich weiß es nicht … Ich fürchte, ich bin sehr verwirrt.«
»Ich schlage vor, Sie fangen jetzt endlich an zu reden,« forderte ihn der Kettenraucher auf. »Sagen Sie mir alles, was Sie wissen.«
Der Mann hob seine Augen – Augen, die eindeutig um Hilfe baten. »Ich sage Ihnen, ich … fühle mich wie in einer Nussschale auf offener See ... Da war eine Stimme in mir, die mir sagte, ich solle in einem fremden Garten spazierengehen … und eine Frau, die ich in meinem Leben nie zuvor gesehen habe, nannte mich immerzu ›Dustin‹. Ich fühlte …« Er stockte und schluckte schwer.
»Sprechen Sie weiter, Mr. Steel.«
»Ich sagte Ihnen doch schon: Mein Name ist nicht Steel! Ich heiße nicht Dustin Steel! … Auch wenn mich hier alle so nennen. Ich weiß nicht warum. Wie oft muss ich noch beteuern, dass ich von den Menschen hier niemanden kenne?«
»Das man Sie so nennt liegt vermutlich daran, dass Sie sich mit dem Namen vorgestellt haben und bereits seit mehr als drei Monaten in dem kleinen Häuschen im Garten leben. Meinen Sie nicht auch, Mr. Steel?«, reagierte der auf der Stuhllehne sitzende Mann mit einem spöttischen Unterton.
»Oh Gott im Himmel, steh mir bei!«, stöhnte Steel gequält und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
»Bridget Whiteman hat Sie vor einiger Zeit in einem kleinen Pub in der Innenstadt eingesammelt, weil Sie nach einer Unterkunft gesucht haben. Sie hat Ihnen das alte Spielhaus auf dem Anwesen ihres Vaters Cameron angeboten, und Sie haben akzeptiert.«
»Ich kenne keinen Cameron Whiteman«, beharrte der mit Steel angesprochene Mann, »und auch seine Tochter Bridget nicht.«
Der glatzköpfige Mann stieß seine Zigarette ungeduldig im Aschenbecher aus. »Ach, kommen Sie, Mr. Steel!«, schmunzelte er lockend. »Wohin soll uns dieses Theater führen?«
»Hören Sie, Sir«, reagierte Steel aufgebracht, »ich weiß genug, um zu erkennen, dass ich einen Schock erlitten habe!«
»Das kann ich mir denken! Einem Mann sieben Mal in die Brust zu stechen, muss eine durchaus schockierende Erfahrung für Sie gewesen sein!«
»Ich weiß, dass es einen Mord gab«, erwiderte Steel gedehnt. »Ich habe den Toten schließlich mit eigenen Augen gesehen!« Er schüttelte sich als wäre ihm kalt oder er könne das Gesehene von sich abschütteln. »Die fremde Frau, die mich aus dem Garten hergebracht hat, hat ihn mir gezeigt.«
»Bei der Frau, von der Sie sprechen, handelt es sich um Alexandra Whiteman. Sie ist die Gattin des Ermordeten.«
»Sie … Sie schien zu denken, dass ich … Aber ich sage Ihnen: Ich habe diesen Mann nie zuvor gesehen … und auch seine Frau nicht … genauso wie den Rest dieser Menschen! Alles was ich weiß ist, dass mir das hier alles völlig fremd ist … und das es einen Mord gegeben hat ... Und ja, ich kenne Ihren Namen, der, wie Sie mir vorhin sagten, James Pontypool lautet, und das Sie ein Anwalt der Krone sind ... Wenn Sie tatsächlich ein Mann sind, der sich für das Recht einsetzt, dann helfen Sie mir … Und vor Gott, ich schwöre es Ihnen: Ich weiß nichts weiter!«
Pontypools Streichholz flammte auf als er sich eine weitere Zigarette ansteckte. »Und Sie bleiben weiterhin dabei, dass Sie Miss Bridget Whiteman nicht kennen?«
»Ja … Ich kenne sie wirklich nicht!«
Der Kronanwalt erhob sich von der Stuhllehne und schritt zur Tür. Er öffnete und winkte den Beamten heran, der in der Halle gewartet hatte. »Suchen Sie Miss Whiteman auf und bitten Sie sie herzukommen.«
Während er im Türrahmen wartete, bedeckte Dustin Steel das Gesicht mit seinen Händen. Einige Minuten später hörte er eilige Schritte in der Halle. Gleich darauf erschien eine junge Frau in der Tür. Ihre dunklen Haare fielen offen über ihre Schultern. Sie trug ein dünnes, blaues Seidengewand über einem leicht verknitterten Nachtrock. Ihre Füße steckten in grauen Filzpantoffeln. Sie hatte Pontypool mit keinem Blick gewürdigt, öffnete ihren Mund, um zu sprechen, änderte aber ihre Meinung und lief schnell zu Dustin Steel hinüber. Neben seinem Sessel ging sie auf die Knie und nahm eine seiner Hände in die ihre. »Dustin! Dustin, mein Liebster!«
Steel sah sie aus nicht erkennenden leeren Augen an. »Es tut mir leid, Miss Whiteman«, murmelte er. »Es tut mir schrecklich leid, aber ich …«
»Ist schon gut, Dustin«, unterbrach sie ihn mit sanfter Stimme. »Es wird alles wieder gut werden, glaub mir.« Sie erhob sich und blickte Pontypool scharf an. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie fordernd.
»Gemacht? Ich habe gar nichts mit ihm gemacht«, erwiderte Pontypool ebenso scharf. »Lassen Sie mich offen fragen, Miss Whiteman: Nehmen Sie ihm sein zur Schau getragenes Verhalten ab?«
»Zur Schau getragenes Verhalten?« Bridget Whitemans Stimme flammte wütend auf. »Ja, sind Sie denn völlig von Blindheit geschlagen, Mr. Pontypool? Können oder wollen Sie nicht sehen, dass er Ihnen nichts vorspielt? Irgendetwas ist mit ihm geschehen ... Warum lassen Sie ihn nicht einfach in Ruhe? Haben Sie sich in Ihrer Tätersuche bereits festgelegt und wollen ihm keine Chance geben?«
Pontypool blies langsam den Zigarettenrauch durch die Nase aus. »Das ist alles für den Augenblick, Miss Whiteman«, gab er gelassen zurück, ohne auf ihren Vorwurf einzugehen.
Sie wandte sich wieder an Dustin Steel. »Ich werde immer in der Nähe sein, Dustin«, lächelte sie ihm zu. »Wann immer du mich brauchst, ich bin sofort für dich da.« Mit diesen Worten verließ sie das Arbeitszimmer und zog die Tür hinter sich kräftig ins Schloss.
Pontypool durchquerte mehrmal wortlos den Raum, machte kehrt und stoppte dann unmittelbar neben Steels Sessel. »Wollen Sie mir ernsthaft weismachen«, sagte er betont langsam, »dass Sie die junge Frau nicht erkennen, die Ihnen erst vor wenigen Stunden einen Heiratsantrag gemacht hat?«
Steel sah zu ihm auf. Um seinen Mund zuckte es leicht und im grellen Licht der Leselampe zeigten sich kleine glitzernde Schweißperlen auf seiner Stirn.
***