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»Das Gedächtnis ist das Tagebuch,

das wir immer mit uns herumtragen.«

Oscar Wilde

(1854-1900)

1

Woodfield, England, 1889

Der kleine unauffällige Mann kniete neben der Leiche, während die anderen um ihn einen Kreis gebildet hatten und mit ihren Fackeln den Platz am Fuß des Steilhangs ausleuchteten. »Er ist tot, wie man es nur sein kann«, stellte er nach einer kurzen eingehenden Untersuchung fest. »Und ich möchte stark bezweifeln, dass er auch nur einen einzigen Knochen besitzt, der nicht gebrochen ist.«

Von außerhalb des Lichtkreises ertönte das gedämpfte Schluchzen einer Frau.

»Und daran bestehen keinerlei Zweifel, Dr. Finch?«, erkundigte sich Walsh, ein Detective Inspector vom Scotland Yard.

»Leider nein, Inspector.« Finch schüttelte den Kopf. Er sah hoch in die Dunkelheit, die sich wie ein schwarzes Betttuch über ihnen ausgebreitet hatte. »Wie hoch schätzen sie die Kante?«

»Auf gut zweihundert Fuß«, erwiderte Walsh.

Finch zuckte die Achseln. »Das passt zu den Verletzungen.«

»Des Nachts ist das ein gefährlicher Ort. Niemand sollte um diese Zeit hier sein«, meldete sich eine tonlose Stimme aus dem Hintergrund. »Vor allem dann nicht, wenn man mit einem Mörder zusammen ist.«

Augenblicklich wandten sich dem Sprecher alle Fackeln zu, um ihm ein Gesicht zu geben. Er war hochgewachsen und hager. In seiner Wolljacke wirkte er gar ein wenig kleiner als er eigentlich war. Die Fackeln betonten alle Linien und Schatten, aber dennoch schienen seine Augen tief in ihre Höhlen gesunken zu sein. Er stand neben einem Mädchen mit rotgoldenen Haaren, das zu einem schulterlangen Haarknoten gebunden war. Sein Arm lag um ihre Schulter und seine Hand wirkte weiß und riesig auf dem schwarzen Tuch ihres Mantels.

»Aber Stephen! Stephen, Schatz!«, begehrte sie auf.

Der Mann sah auf sie herab und seine Wange zuckte kurz, ehe seine Augen die Blicke der Fackelträger streiften. »Ich glaube, dass ich ihn ermordet habe«, murmelte er halblaut.

»Beruhigen Sie sich, Mr. Drake«, beschwichtigte Walsh. »Jeder hier weiß, dass Dr. Bristow einer Ihrer engsten Freunde war. Sie dürfen sich für den Unfall nicht verantwortlich machen.«

»Ich glaube aber nicht, dass es ein Unfall war«, beharrte Stephen Drake. »Ich glaube wirklich, dass ich ihn ermordet habe …«

Ein junger Mann kam aus der Dunkelheit und ging auf Finch und den Inspector zu. Sein Profil war gut zu erkennen, und auch das er Reitkleidung trug. »Sehen Sie, Inspector Walsh«, sagte er mit gesenkter Stimme, als er heran war, und zwar so, dass es nur er und Finch hören konnten, »Stephen war sehr krank. Er ist völlig überarbeitet und erschöpft. Er weiß nicht, was er sagt. Wir sollten ihn nach Hause bringen.« Er wandte sich an den Doktor. »Habe ich das richtig verstanden, dass Sie hier in der Stadt Urlaub machen, Sir?«

»Das stimmt«, nickte Finch. »Darf ich erfahren, wer Sie sind?«

»Mein Name ist Ted Hunter. Ich bin sein Schwager. Stephen war mehrere Wochen in Bristows Obhut.« Hunters Blick huschte kurz über die am Boden liegende Leiche, ehe er Finch wieder ansah. »Würden Sie mit uns ins Haus zurückkehren? Ich fürchte Stephen braucht Hilfe. Sie sehen doch, dass er unter Schock steht.«

Dr. Charles Finch nickte. »Ja, selbstverständlich komme ich mit«, stimmte er zu, blieb aber noch stehen. »Ihr Schwager hat eine seltsame Art, sich auszudrücken, Mr. Hunter. In der Regel wissen Täter, ob sie einen Mord begangen haben oder nicht.«

***

Charles Finch: Ein verstörter Geist

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